Es gibt das stolze Glück, ein Glück, das guter Arbeit am hellen Tag entspringt, jahrelanger lohnender Schufterei, und hinterher ist man müde und froh und umgeben von Familie und Freunden, zutiefst zufrieden und bereit für die wohlverdiente Ruhe – Schlaf oder Tod, es wäre einerlei.
Dann gibt es das Glück des eigenen privaten Elends. Das Glück, allein zu sein und angesäuselt von Rotwein auf dem Beifahrersitz eines uralten Wohnmobils, das irgendwo in Alaskas tiefem Süden parkt, in ein Gekritzel schwarzer Bäume zu starren, nicht schlafen zu wollen aus Angst, irgendwer könnte jeden Moment das Spielzeugschloss an der Wohnmobiltür knacken und dich und deine zwei kleinen Kinder, die oben schlafen, umbringen.
Josie blinzelte in das schwache Licht eines langen Sommerabends auf einem Rastplatz in Südalaska. Sie war an diesem Abend glücklich, mit ihrem Pinot, in diesem Wohnmobil in der Dunkelheit, umgeben von unbekannten Wäldern, und wurde mit jedem neuen Schluck aus ihrer gelben Plastiktasse ein bisschen weniger ängstlich. Sie war zufrieden, obwohl sie wusste, dass es sich um eine flüchtige und künstliche Zufriedenheit handelte, wusste, dass alles falsch war – sie sollte nicht in Alaska sein, nicht so. Sie war Zahnärztin gewesen und war nun keine mehr. Der Vater ihrer Kinder, ein rückgratloser, häufig an Durchfall leidender Mann namens Carl, ein Mann, der Josie erklärt hatte, eine standesamtliche Heirat sei Heuchelei, die Urkunde überflüssig und einengend, hatte achtzehn Monate, nachdem er ausgezogen war, eine andere Frau gefunden, die ihn heiraten wollte. Er hatte eine andere Person kennengelernt, eine Person aus Florida, und würde sie – es war unglaublich, unmöglich – heiraten. Es würde im September stattfinden, und Josie hatte alles Recht der Welt, sich vom Acker zu machen, unterzutauchen, bis alles vorbei war. Carl hatte keine Ahnung, dass sie Ohio mit den Kindern verlassen hatte. Fast Nordamerika verlassen hatte. Und er durfte es nicht wissen. Und was könnte ihr mehr Unsichtbarkeit bieten als das hier, ein Zuhause auf Rädern, keine feste Anschrift, ein weißes Wohnmobil in einem Staat mit einer Million anderer launischer Reisender in weißen Wohnmobilen? Niemand könnte sie je finden. Sie hatte erwogen, das Land ganz zu verlassen, aber Ana hatte keinen Pass, und um einen zu beantragen, wäre Carl nötig gewesen, somit war diese Option ausgeschlossen. Alaska war dasselbe Land und zugleich ein anderes Land, fast Russland, fast Vergessen, und solange Josie ihr Handy ausließ und nur Bargeld benutzte – sie hatte dreitausend Dollar dabei, in einem Samtsäckchen, das aussah, als wäre es für Goldmünzen oder magische Bohnen geschaffen –, blieb sie unauffindbar, unaufspürbar. Und sie war Pfadfinderin gewesen. Sie konnte einen Knoten binden, einen Fisch ausnehmen, Feuer machen. Alaska machte ihr keine Angst.
Sie und die Kinder waren früher am Tag in Anchorage gelandet. Es war ein grauer Tag ohne Verheißung oder Schönheit, aber sobald sie aus dem Flugzeug gestiegen war, fühlte sie sich beflügelt. »Okay, Leute!«, hatte sie zu ihren übermüdeten, hungrigen Kindern gesagt. Die beiden hatten sich nie für Alaska interessiert, und jetzt waren sie hier. »Da wären wir!«, hatte sie gesagt, und sie hatte einen kleinen Freudenmarsch hingelegt. Keines der Kinder lächelte.
Sie hatte sie in dieses gemietete Wohnmobil verfrachtet und war losgefahren, ohne jeden Plan. Der Hersteller hatte das Fahrzeug »das Chateau« genannt, aber das war dreißig Jahre her, und jetzt war es schrottreif und eine Gefahr für seine Passagiere und alle, die den Highway mit ihm teilten. Doch nach einem Tag auf Tour ging es den Kindern gut. Sie waren seltsam. Da war Paul, acht Jahre alt, mit den kalten, fürsorglichen Augen eines Eispriesters, ein sanfter, bedächtiger Junge, der sehr viel vernünftiger und freundlicher und klüger war als seine Mutter. Und da war Ana, erst fünf, eine ständige Gefahr für die Gesellschaft. Sie war ein grünäugiges Tier mit wildem, absurd rotem Haar und hatte ein Talent dafür, den zerbrechlichsten Gegenstand in einem Raum anzupeilen und dann mit unglaublichem Elan kaputt zu machen.
Josie hörte einen Truck auf dem nahen Highway vorbeidonnern und goss sich eine zweite Tasse ein. Das darf ich, sagte sie sich, und schloss die Augen.
Aber wo war das Alaska der Magie und Klarheit? Alles lag unter einem Schleier aus Dutzenden Waldbränden, die sich im Staat ausbreiteten wie eine Gefängnismeuterei, und es war nicht majestätisch, nein, noch nicht. Alles, was sie bis jetzt gesehen hatten, war chaotisch und hart. Sie hatten Wasserflugzeuge gesehen. Sie hatten Hunderte Häuser gesehen, die zum Verkauf standen. Sie hatten am Straßenrand die Werbetafel einer Baumschule gesehen, die einen Käufer suchte. Sie hatten ein anderes Wohnmobil gesehen, ähnlich wie ihres, das neben der Straße vor einer hohen schroffen Felswand parkte. Die Mutter der Familie hockte neben der Straße. Sie hatten lackierte Blockhütten gesehen. Sie hatten einen Minimarkt gesehen, der ebenfalls aus lackierten Holzstämmen erbaut war, ein Anti-Obama-T-Shirt mit der Aufschrift: Don’t blame me. I voted for the American.
Wo waren die Helden? Sie wusste nur, da, wo sie herkam, waren Feiglinge. Nein, einen tapferen Mann gab es, und sie hatte dazu beigetragen, dass er getötet wurde. Ein mutiger Mann, der jetzt tot war. Jeder nahm alles, und Jeremy war tot. Zeigt mir jemanden, der kühn ist, bat sie die dunklen Bäume vor sich. Zeigt mir jemanden mit Tiefgang, forderte sie von den Bergen dahinter.
Sie hatte Alaska nur wenige Wochen in Erwägung gezogen, ehe sie beschloss, Ohio zu verlassen. Sie hatte eine Stiefschwester, Sam, oben in Homer, eine Stiefschwester, die keine richtige Stiefschwester war und die sie seit Jahren nicht gesehen hatte, die aber etwas sehr Geheimnisvolles an sich hatte, weil sie in Alaska lebte und ein eigenes Unternehmen besaß und ein Boot oder Schiff oder so was steuerte und zwei Töchter größtenteils allein großgezogen hatte, da ihr Mann, ein Fischer, oft monatelang fort war. So wie Sam es beschrieb, war er kein Gewinn und seine Abwesenheit kein großer Verlust.
Josie war noch nie in Alaska gewesen, und abgesehen von Homer hatte sie keine Ahnung, wohin sie da fahren oder was sie da machen sollte. Aber sie schrieb Sam, erklärte ihr, sie würde kommen, und Sam schrieb zurück, das sei in Ordnung. Josie fasste es als gutes Zeichen auf, dass ihre Stiefschwester, die sie fünf Jahre nicht gesehen hatte, einfach »in Ordnung« schrieb und weder drängte noch ermunterte. Sam war jetzt Alaskanerin, und das bedeutete, da war Josie sicher, eine schlichte und geradlinige Existenz, die sich um Arbeit und Bäume und Himmel drehte, und nach genau dieser Wesensart sehnte Josie sich bei anderen und sich selbst. Sie hatte keine Lust mehr auf sinnlose Lebensdramen. Falls Theatralik notwendig war, gut und schön. Falls ein Mensch einen Berg bestieg und dabei mit Unwetter, Lawinen und Blitzen vom stürmischen Himmel geplagt wurde, dann konnte sie Dramen akzeptieren, an Dramen partizipieren. Aber Vorstadtdramen waren so ermüdend, so offensichtlich grotesk, dass sie niemanden mehr um sich haben konnte, der sie für echt oder interessant hielt.
Also flogen sie hierher und holten ihr Gepäck, und dann sahen sie Stan. Ihm gehörte das Wohnmobil, das sie gemietet hatte – das Chateau –, und er wartete in der Ankunftshalle hinter der Gepäckausgabe mit einem Schild, auf dem Josies Name stand. Er war so, wie sie ihn sich vorgestellt hatte – ein Ruheständler Mitte siebzig, herzlich und mit der Angewohnheit, die Hände zu schwingen, als wären sie schwere Gegenstände, Bananenbüschel, die er ablieferte. Sie luden ihre Sachen ein und fuhren los. Josie drehte sich zu ihren Kindern um. Sie sahen müde und unsauber aus. »Cool, was?«, fragte sie und zeigte auf die Ausstattung des Chateau, ein Patchwork aus Karomustern und Holzfurnier. Stan war weißhaarig und trug eine gebügelte Jeans und saubere taubenblaue Sneaker. Josie saß vorne, die Kinder hinten auf einer Bank, während sie die zehn Meilen vom Flughafen zu Stans Haus fuhren, wo sie den Papierkram für die Vermietung des Chateau erledigen würden. Ana schlief schon bald gegen die Jalousie gelehnt. Paul lächelte matt und schloss seine Eispriesteraugen. Stan drehte den Rückspiegel so, dass er sie sehen konnte, und Josie wusste, mit Stans Augen betrachtet sahen sie nicht wie ihre Kinder aus. Sie sahen weder ihr noch einander ähnlich. Josies Haar war schwarz, Pauls dunkelblond, Anas rot. Josies Augen waren braun und klein, Pauls riesig und blau, Anas grün und geformt wie geschwungene Mandeln.
Als sie in Stans Einfahrt bogen, parkte er das Chateau, und die Kinder wurden aufgefordert, im Garten zu spielen. Ana lief sofort zu einem großen Baum mit einem Loch im Stamm und steckte die Hand hinein. »Guckt mal, ich hab ein Baby!«, rief sie mit einem unsichtbaren Baby im Arm.
»Tut mir leid«, sagte Josie.
Stan nickte ernst, als hätte Josie gesagt: Mein Kind ist verrückt und unheilbar. Er holte die Bedienungsanleitung hervor und ging die Funktionen des Wohnmobils mit der Ernsthaftigkeit eines Menschen durch, der die Entschärfung einer Bombe erläutert. Herd, Tachometer, Kilometerzähler, Bad, Abwassertankentleerung, Stromanschluss, verschiedene Hebel und Puffer und versteckte Fächer.
»Sie sind doch schon mal ein Wohnmobil gefahren«, sagte er, als könnte es gar keine andere Antwort geben.
»Natürlich. Schon oft«, sagte Josie. »Und ich bin früher Bus gefahren.«
Sie hatte weder das eine noch das andere je getan, spürte jedoch, dass Stan die Sache ernst nahm, Josie dagegen weniger. Sie musste ihm das Vertrauen einflößen, dass sie das Chateau nicht von einer Klippe fahren würde. Er führte sie um das Fahrzeug herum, notierte Vorschäden auf einem Klemmbrett, und während er damit beschäftigt war, sah Josie einen etwa sechsjährigen Jungen im Erkerfenster von Stans Haus, der zu ihnen herüberstarrte. Der Raum, in dem er stand, schien völlig weiß zu sein – weiße Wände, weißer Teppichboden, eine weiße Lampe auf einem weißen Tisch. Dann trat eine großmütterliche Dame, wahrscheinlich Stans Frau, hinter den Jungen, legte ihm die Hände auf die Schultern, drehte ihn herum und führte ihn zurück in die Tiefen des Hauses.
Josie rechnete damit, dass sie und die Kinder nach der Fahrzeugübergabe ins Haus eingeladen werden würden, wurden sie aber nicht.
»Bis in drei Wochen dann«, sagte Stan, denn das war die vereinbarte Mietdauer. Josie dachte, sie könnte die Reise verlängern wollen, um einen Monat oder auf unbestimmte Zeit, und dass sie Stan anrufen würde, wenn das konkreter wurde.
»Okay«, sagte Josie und setzte sich hinters Steuer. Sie zog den langen Hebel, der vom Lenkrad abstand wie eine Geweihstange, nach unten auf R und wurde das Gefühl nicht los, dass Stan eigentlich vorgehabt hatte, sie und die Kinder hereinzubitten, dass ihn aber irgendetwas veranlasst hatte, sie von seinem makellosen weißen Haus und seinem Enkelsohn fernzuhalten.
»Gute Fahrt«, sagte er und schwenkte seine Bananenhände.
Sie mussten drei Tage totschlagen, ehe Sam von einer ihrer Touren zurückkam. Sie führte eine Gruppe französischer Manager in die Wälder, um sich Vögel und Bären anzuschauen, und würde erst Sonntag zurück sein. Josie hatte vor, ein oder zwei Tage in Anchorage zu verbringen, aber als sie mit dem quietschenden und ruckelnden Chateau durch die Stadt fuhr, sah sie ein Straßenfest und Tausende Menschen in knalligen Tanktops und Sandalen und wollte nur noch weg. Sie verließen die Großstadt in südlicher Richtung und entdeckten bald Hinweisschilder zu einer Art Tierpark. Angeblich die Beliebteste Publikumsattraktion in Alaska. Gerade als Josie sicher war, dass sie an dieser Attraktion vorbeikämen, ohne dass Ana etwas merkte, meldete Paul sich zu Wort.
»Tierpark«, sagte er zu Ana.
Dass er lesen konnte, hatte das Familienleben stark verkompliziert.
Die Kinder wollten unbedingt hin, und Josie wollte unbedingt schnell an der Attraktion vorbei, aber die Schilder hatten Bären und Bisons und Elche angekündigt, und der Gedanke, dass sie all diese Säugetiere schon in den ersten paar Stunden von ihrer Liste streichen könnten, war durchaus reizvoll.
Sie hielten an.
»Du brauchst deine Jacke«, sagte Paul zu Ana, die schon an der Tür des Chateau war. Paul hielt sie ihr hin wie ein Butler. »Halt deine Ärmel fest, sonst rutschen die hoch«, sagte er. Ana hielt ihre Shirt-Ärmel fest und schob die Arme in die Jacke. Josie beobachtete die Szene und fühlte sich überflüssig.
Im Innern eines Blockhüttenbüros bezahlte Josie eine unverschämte Summe, sechsundsechzig Dollar für sie drei. Normalerweise gab es Guides und kleine Wagen, in denen Besucher durch den Park gefahren wurden, aber alle waren unterwegs oder machten Urlaub, sodass Josie und die Kinder allein in einem Gelände standen, das aussah wie ein Zoo nach der Apokalypse. Sie dachte an den irakischen Zoo nach den Bombardierungen, die Löwen und Geparden, die frei, aber ausgehungert herumstreiften und nach Katzen und Hunden als Beute suchten und keine fanden.
So schlimm war es hier nicht. Aber es war traurig, wie jeder Zoo traurig ist, ein Ort, wo keiner wirklich sein will. Die Menschen haben ein schlechtes Gewissen, weil sie überhaupt da sind, niedergedrückt von Gedanken an Gefangennahme und Gefangenschaft und schlechtes Futter und Medikamente und Zäune. Und die Tiere bewegten sich kaum. Sie sahen ein Elchpaar mit einem Kälbchen, und alle drei rührten sich nicht. Sie sahen einen einsamen schlafenden Bison, das Fell zottelig, die Augen halb geöffnet und wütend. Sie sahen eine Antilope, staksig und dumm; sie ging ein paar Schritte, blieb dann stehen, um verloren auf die grauen Berge in einiger Entfernung zu starren. Ihre Augen sagten: Nimm mich, o Herr. Jetzt bin ich gebrochen.
Sie gingen zurück zum Blockhaus, um eine Erfrischung zu sich zu nehmen. »Guckt mal«, sagte ein Parkführer zu Josie und den Kindern, als sie ihre Limonade tranken. Er zeigte auf einen Bergzug in der Nähe, wo, wie er sagte, etwas Seltenes zu sehen war: ein kleines Rudel Dickhornschafe, das auf einer waagerechten Linie von Osten nach Westen über den Kamm zog. »Schaut durch das Fernglas«, sagte er, und Paul und Ana rannten zu einem auf der Veranda verschraubten Fernrohr.
»Ich seh sie«, sagte Paul. Während Paul Ana durchs Fernrohr schauen ließ, spähte Josie mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne und konnte das Rudel ausmachen, ein paar am Berg verteilte undeutliche weiße Flecken. Es war verblüffend, zwölf oder fünfzehn Tiere zu sehen, die entspannt in einer scheinbar senkrechten Felswand standen. Als Josie selbst durchs Fernrohr schauen konnte, fand sie die Schafe und sah am Himmel einen dunklen Schatten, der ihren Weg kreuzte. Sie nahm an, dass es ein Falke oder so was Ähnliches war, doch als sie das Fernglas herumschwenkte, konnte sie nichts entdecken. Sie richtete es wieder auf die Schafe, fand eines, das sie genau anzublicken schien. Das Schaf sah sehr zufrieden aus, sorglos und unbekümmert, obwohl es in sechshundert Metern Höhe auf einem halben Zentimeter breiten Felsvorsprung stand. Josie stellte die Schärfe ein bisschen nach, sah das Schaf jetzt noch deutlicher, und als sie eine wunderbar klare Sicht auf das Tier hatte, geschah zweierlei in sehr rascher Abfolge.
Als Erstes schienen die Wolken über dem Schaf aufzureißen, sich zu teilen, als wollten sie einen dünnen Strahl göttliches Licht auf den flaumigen Kopf des Tieres leuchten lassen. Josie konnte die hellgrauen Augen des Schafes sehen, sein fedriges cremeweißes Haar, und während Josie das Schaf anstarrte und das Schaf Josie, während es Josie vor Augen führte, was reine Glückseligkeit war, die Geheimnisse seines unkomplizierten Lebens hoch über allem offenbarte – während dies geschah, drang eine dunkle Gestalt in Josies Gesichtsfeld. Ein dunkler Flügel. Es war ein Raubvogel, riesig, seine Flügelspanne weit und undurchsichtig wie ein schwarzer Schirm. Und dann schoss der Vogel nach unten, und seine Klauen packten das Schaf an den Schultern, hoben es nur ein paar Zentimeter hoch und weg vom Felsen und ließen es los. Das Schaf fiel aus Josies Blickfeld. Sie richtete sich auf und sah mit bloßem Auge, wie das Schaf in die Tiefe stürzte, selbstvergessen und kampflos, eine Stoffpuppe, die unaufhaltsam einem unsichtbaren Ort der Ruhe entgegenfiel.
»Adler«, sagte der Guide und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Wunderbar, wunderbar.« Er erklärte, dass das eine übliche, aber selten beobachtete Methode von Adlern war, größere Beutetiere zu töten: Der Adler hob ein Tier an und ließ es aus großer Höhe fallen, sodass es in den Tod stürzte und ihm unten auf den Felsen jeder Knochen im Leib zerschmettert wurde. Dann segelte der Adler hinab, packte das tote Tier entweder als Ganzes oder in Stücken und brachte das Fleisch seinen Jungen zum Verzehr. »Warum wollten Sie, dass wir das sehen?«, fragte Josie den Guide. Sie wusste, dass ihr das im Kopf herumspuken, bei ihren Kindern Narben zurücklassen würde, doch der Guide war schon weg.
»Was ist passiert, Mama?«, fragte Ana. Paul hatte die Erläuterung des Guide gehört und verstanden, und Josie bedauerte, dass er von der Heimtücke auf jeder Ebene der Tierwelt erfahren hatte, war aber dankbar, dass Ana dieses Wissen vorläufig erspart geblieben war.
»Nichts«, sagte Josie. »Gehen wir.«
Es war am besten, so erklärte sie den Kindern, den Großraum Anchorage zu verlassen, wirklich loszufahren, sich aufzumachen und ihren eigenen Weg zu finden. Also hielten sie an einem Supermarkt und deckten sich mit Vorräten ein. Der Laden war acht Hektar groß, hörte gar nicht auf. Er verkaufte Stereoanlagen, Gartenmöbel, Perücken, Schusswaffen, Benzin. Er war voll mit Truckern, einigen Großfamilien, einigen Leuten, die offenbar indigener Abstammung waren, einigen wettergegerbten Weißen, und alle sahen sehr müde aus. Josie kaufte genug Lebensmittel für eine Woche, verstaute sie, so gut es ging, in den Spanholzschränken des Chateau, und sie fuhren los.
Das Tempolimit schien auf den meisten Highways in Alaska fünfundsechzig Meilen zu betragen, aber das Chateau schaffte höchstens achtundvierzig. Es dauerte elend lange, um auf vierzig zu kommen, und ein zehnminütiges asthmatisches Röcheln untermalte die Beschleunigung von vierzig auf siebenundvierzig, und danach schien die ganze Karosserie kurz davor auseinanderzufliegen wie ein explodierender Stern. Also fuhr Josie die ersten paar Stunden konstant achtundvierzig, während der übrige Verkehr zwanzig Meilen schneller war. Auf zweispurigen Straßen waren meist vier bis sechs Autos hinter ihr, hupten und schimpften, bis Josie einen Randstreifen sah, der breit genug war, um rechts ranzufahren, die anderen vorbeizulassen und dann wieder auf die Straße zu biegen, wohl wissend, dass sie in fünf Minuten erneut eine Schlange von wütenden Verfolgern angesammelt haben würde. Von alldem hatte Stan nichts gesagt.
Sie hatte den Kindern Sandwiches gemacht und auf richtigen Tellern serviert, und jetzt hatten sie aufgegessen und wollten wissen, wohin mit den Tellern. Sie sagte, sie sollten sie auf die Küchentheke stellen, und an der nächsten Ampel rutschten die Teller runter und zerbrachen und schleuderten die Reste vom Lunch in jeden Winkel des Chateau. Die Reise hatte begonnen.
Josie wusste nichts über Seward, aber es lag irgendwo in der Nähe von Homer, daher beschloss sie, dass der Ort ihr Tagesziel sein sollte. Sie fuhren rund eine Stunde und kamen zu einer wahnsinnig schönen Bucht, das Wasser ein harter Spiegel, weiße Berge, die dahinter aufragten wie eine Wand aus toten Präsidenten. Josie hielt an, nur um ein paar Fotos zu machen, aber im Wohnmobil war bereits alles verdreckt – der Fußboden klebrig, überall lagen Klamotten und Verpackungen herum, und der größte Teil von Anas Chips war auf dem Boden verstreut. Josie spürte, wie eine plötzliche Erschöpfung sie überkam. Sie zog die Jalousien runter, ließ die Kinder Tom und Jerry gucken – auf Spanisch, es war die einzige DVD, die sie bei ihrem überhasteten Aufbruch eingepackt hatten –, und sie schauten sich die Cartoons auf ihrem kleinen Gerät an, während Trucks an ihnen vorbeidonnerten und das Chateau jedes Mal sacht ins Schwanken brachten. Zwanzig Minuten später waren die Kinder eingeschlafen, Josie war noch wach.
Sie rutschte auf den Beifahrersitz, öffnete eine Flasche Pinot mit Schraubverschluss, füllte eine Tasse und machte es sich mit einer Ausgabe der Zeitschrift Old West gemütlich. Stan hatte fünf Exemplare im Chateau gelassen – eine vierzig Jahre alte Zeitschrift, die »Wahre Geschichten« aus dem »Alten Westen« versprach. Es gab eine Kolumne mit dem Titel »Verlorene Spuren«, in der Leser um Informationen über verschollene Freunde und Verwandte baten.
»Die Volkszählung der Republik Texas aus dem Jahre 1840«, lautete eine Anfrage, »erwähnt einen Thomas Clifton aus Austin County mit dem Vermerk, dass er 140 Hektar Land besaß. Ich würde mich freuen, wenn sich eventuelle Nachkommen von ihm bei mir melden würden.« Darunter stand der Name Reginald Hayes. Josie dachte über Mr Hayes nach, empfand Mitgefühl für ihn, stellte sich die faszinierenden Rechtsstreitigkeiten vor, die ihn erwartet haben mochten, als er versuchte, diese 140 Hektar in Austin County für sich zu beanspruchen.
»Vielleicht könnte uns jemand helfen, die Schwestern meiner Mutter zu finden«, lautete der nächste Eintrag, »die Töchter von Walter Loomis und Mary Snell. Meine Mutter Bess war die Älteste. Sie hat ihre Schwestern das letzte Mal 1926 in Arkansas gesehen. Sie hießen Rose, Mavis und Lorna. Meine Mutter, ein Wandervogel, hat nie geschrieben und seitdem nichts mehr von ihnen gehört. Wir würden uns freuen, wenn jemand etwas über die drei weiß. Sie müssten jetzt zwischen fünfzig und sechzig sein, glaube ich.«
Den Rest der Seite füllten angedeutete Geschichten von Verlassenwerden und Verzweiflung, und der ein oder andere Hinweis auf Diebstahl oder gar Mord.
»David Arnold starb 1912 in Colorado und wurde in McPherson, Kansas bestattet«, begann die letzte Anfrage auf der Seite. »Er hinterließ eine Frau und vier Kinder. Zwei Töchter leben heute noch, glaube ich. Ich hätte gern eine Kopie seiner Todesanzeige fürs Familienarchiv oder würde gern wissen, wo genau er starb und ob je bewiesen wurde, dass es Mord war. Ebenso, ob je bewiesen wurde, dass der Tod seiner beiden Söhne im Jahre 1913 mit seiner Ermordung in Zusammenhang stand. Er war mein Großonkel.«
Wieder füllte Josie ihre Tasse. Sie legte die Zeitschrift weg und blickte aus dem Fenster. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. So weit weg von Carl und seinen Missetaten zu sein, brachte sie zum Lächeln. Sie und Carl hatten sich getrennt, als er schon seit einigen Jahren eine Phase schweren Harnlassens durchmachte. Mit einer außergewöhnlichen, beispiellosen Häufigkeit. Er war ein gesunder Mann gewesen. Nicht unbedingt der Mann, der sie über die Schwelle tragen konnte – er war dünn, sie nicht so dünn –, aber doch ein aktiver, unverbrauchter Mann mit zwei Armen, zwei Beinen, einem flachen Bauch. Warum also pinkelte er ständig? Das Bild von Carl, das ihr jetzt, achtzehn Monate nach ihrer Trennung, in den Sinn kam, zeigte ihn im Stehen, mit gespreizten Beinen, vor der Kloschüssel, bei geöffneter Tür, wie er darauf wartete zu pinkeln. Oder schon pinkelte. Oder nach dem Pinkeln abschüttelte. Den Reißverschluss vor oder nach dem Pinkeln auf- oder zumachte. Seine karierte Freizeithose auszog, weil er nach dem Pinkeln nicht gründlich abgeschüttelt und sie betröpfelt hatte, sodass sie jetzt nach Pisse roch. Zweimal frühmorgens pinkelte. Sechs- oder siebenmal nach dem Abendessen pinkelte. Den ganzen Tag pinkelte. Jede Nacht dreimal aufstand, um zu pinkeln.
Du hast was an der Prostata, sagte Josie zu ihm.
Du bist Zahnärztin, sagte er zu ihr.
Es lag nicht an der Prostata, sagte sein Proktologe. Aber auch der Proktologe konnte sich nicht erklären, woran es lag. Keiner konnte sich erklären, woran es lag. Carl musste auch dauernd scheißen. Man konnte seine täglichen Stuhlgänge zählen, aber was sollte das bringen?
Mindestens sechs. Es ging mit seiner ersten Tasse Kaffee los. Dem ersten Schluck. Wieder sah Josie seinen Rücken vor sich, wie er an der Küchentheke vor seinem Kaffeeautomaten stand. In seiner bequemen Freizeithose. Die karierte wollene Freizeithose war zu kurz, zu dick und mit weißer Farbe bespritzt – er hatte das Badezimmer der Kinder gestrichen und sich dabei furchtbar ungeschickt angestellt. Und warum trug er diese mit Farbe bespritzte Hose? Um sich und die Welt daran zu erinnern, dass er ein Mann der Tat war. Ein Mann, der ein Kinderbadezimmer (schlecht) anstreichen konnte. Also stand er da und wartete darauf, dass der Automat seine kleine blaue Tasse füllte. Wenn seine kleine blaue Tasse endlich voll war, nahm er sie, lehnte sich gegen die Küchentheke, schaute hinaus in den Garten, und dann, beim ersten Schluck, als hätte dieser erste Tropfen seine Innereien verflüssigt, alles, was feststeckte, gelockert, stürzte er zur Toilette gleich neben der Garage und begann seinen Tag der Scheißerei. Acht, zehn Stuhlgänge am Tag. Wieso dachte sie jetzt daran?
Wenn er dann rauskam, prahlte er vor den Kindern damit, dass er da drin gute Arbeit geleistet hatte oder dass er die Sache erledigt hatte wie ein Mann. Er wusste, dass er viel schiss, und versuchte, es lustig darzustellen. Josie hatte zu Beginn ihrer Beziehung einen fatalen Fehler begangen, indem sie ihm erlaubt hatte, sich einzubilden, er wäre lustig, hatte mitgekichert, wenn er über seine eigenen Witze kicherte, und kam dann nicht mehr aus der Nummer raus. Jahrelanges gequältes Lachen. Aber wie konnte ein Mensch unter solchen Bedingungen weiterlachen? Die Kinder sahen ihn kaum außerhalb der Toilette. Er führte Diskussionen mit ihnen, während er auf dem Klo saß. Einmal reparierte er während einer Klositzung Pauls Walkie-Talkie – während Carl die Batterien herausnahm, arbeitete weiter unten sein Darmapparat. Und dann testeten sie die Walkie-Talkies! Während er weiterschiss oder versuchte zu scheißen. Carl auf dem Klo, Paul im Nebenraum. »Breaker I-9«, sagte Carl, dann: »Breaker Kacka!«
Es war abscheulich. Sie gewöhnte sich an, das Haus zu verlassen, ehe es losging. Es war wie Schrödingers Katze. Sie wusste, dass die Scheißerei passieren würde, aber wenn sie weg war, vor seinem ersten Schluck Kaffee aus der Tür war, würde die Scheißerei dann tatsächlich passieren? Ja und nein. Josie versuchte, dem einen Riegel vorzuschieben, aber er konterte: Was denn, sagte er, wäre dir ein analfixierter Mann lieber? Er meinte das ernst. Sie trank einen kräftigen Schluck von ihrem Pinot. Der Wein machte sie gelassen, öffnete sie.
Schon ganz zu Anfang beschlossen sie, niemandem zu erzählen, dass Carl ihr Patient gewesen war, als sie sich kennenlernten. Wenn man es erklärte, klang das Ganze viel zu prosaisch – er wollte eine professionelle Zahnreinigung und suchte online nach Zahnärzten. Ihre Praxis war die einzige, die kurzfristig noch einen Termin frei hatte. Welcher fühlende Mensch würde das als romantisch bezeichnen? Während der Untersuchung nahm sie ihn kaum wahr. Dann, ein paar Wochen später, war sie bei Foot Locker, um Socken zu kaufen, als ein Mann, ein Kunde, der in ihrer Nähe saß, eine Hand in einem Schuh, aufsah und Hallo sagte. Sie hatte keine Ahnung, wer er war. Aber er sah gut aus, mit Alabasterhaut, grünen Augen und langen Wimpern.
»Ich bin Carl«, sagte er, zog die Hand aus dem Schuh und streckte sie ihr entgegen. »Ich war bei Ihnen in der Praxis.«
Er lachte ausgiebig, als wäre die Vorstellung eines Jobs bei Foot Locker für jedermann der Witz des Jahrhunderts. »Nein. Nein, ich arbeite nicht hier«, sagte er.
Er war vier Jahre jünger als Josie und hatte die Energie eines im Haus eingesperrten Welpen. Ein Jahr lang war es schön. Sie hatte ihre Praxis erst seit Kurzem, und er half, wo er konnte, machte Erledigungen für sie, hängte Bilder im Wartezimmer auf. Mit ihm war alles aufregend und leicht. Er fuhr gern Fahrrad. Holte gern Eiscreme. Spielte gern Kickball. Er aß Schoko-Powerriegel aus knisternden goldenen Verpackungen. Seine Libido war unerschöpflich, seine Selbstkontrolle nicht existent. Sie hatte eine Beziehung mit einem Zwölfjährigen.
Aber er war siebenundzwanzig. Er war damals nicht erwerbstätig, und er hatte nie eine feste Anstellung gehabt, weder vorher noch nachher. Sein Vater besaß einen unermesslichen Teil von Costa Rica, den er abgeholzt hatte, um Platz für Rinder zu schaffen, die dazu bestimmt waren, von amerikanischen und japanischen Fleischfressern gegessen zu werden, daher war jede berufliche Tätigkeit, die nicht ganz so viel hermachte, irgendwie unter Carls Niveau.
»Wir haben einen Dilettanten großgezogen«, sagte seine Mutter Luisa. Sie war gebürtige Chilenin, in Santiago aufgewachsen, Mutter Ärztin, Vater Diplomat und ebenfalls depressiv. Sie hatte Carls rothaarigen amerikanischen Vater Lou als Doktorandin in Mexico City kennengelernt. Sie hatte Carl und seine beiden Brüder bekommen, während Lou, Sprössling einer Öl-Dynastie, Land in Costa Rica kaufte, Wälder vernichtete, Rinder züchtete, ein Imperium aufbaute. Zehn Jahre zuvor hatte er die Scheidung eingereicht, um die Exfrau eines berüchtigten und toten Drogenbarons aus Chiapas zu heiraten. Luisa und Lou hatten ein unwahrscheinlich gutes Verhältnis. »Aus der Ferne ist er so viel angenehmer«, sagte Luisa.
Jetzt war sie eine faltige, schöne Frau von sechzig Jahren und lebte nach eigenem Gusto zusammen mit einer Gruppe von sonnenverbrannten, trinkfreudigen Freunden in Key West. Wenn sie sich trafen, gefiel Josie alles an ihr – ihr Freimut, ihr makabrer Humor, ihre Einschätzung von Carl. »Er hat die kurze Aufmerksamkeitsspanne von seinem Vater geerbt, aber nicht dessen Weitblick.«
Carl hatte rund ein Dutzend Lizenzen und Qualifikationen angesammelt. Ein paar Jahre lang war er Immobilienmakler, ohne je etwas zu verkaufen. Er hatte es mit Möbeldesign, Mode, Sportfischen versucht. Er hatte einen ganzen Schrank voll mit Fotoausrüstung. Josie und Luisa waren zwar beide verpflichtet, Carl zu lieben, aber tragischerweise mochten sie einander sehr viel mehr, als sie ihn mochten.
»Letztes Jahr hat er sich von mir mit einer Videokamera filmen lassen«, sagte Luisa mit ihrer Reibeisenstimme. »Er ist noch immer dabei, seine Beziehung zur Welt zu entdecken«, sagte sie, »seinen eigenen Körper zu entdecken und so. Eines Tages hat er mich gebeten, ihn beim Gehen zu filmen – von vorne, von hinten und von der Seite. Er sagte, er wolle sich vergewissern, dass er so geht, wie er denkt, dass er geht. Also habe ich meinen Sohn gefilmt, diesen erwachsenen Mann, wie er die Straße rauf- und runterging. Er schien mit dem Ergebnis zufrieden.«
»Er ist hübscher als du.« Das sagte Sam, als sie Carl kennenlernte. »Das kann nicht gut sein.« Er konnte lustig sein. Feiglinge sind häufig ungemein charmant. Aber konnte etwas, das in einer Foot-Locker-Filiale begonnen hatte, wirklich großartig werden? Josie hatte Carl nie geheiratet, und das war eine Geschichte, eine Abfolge von miteinander verbundenen Geschichten, Episoden, Entscheidungen und Zurücknahmen, für die sowohl sie als auch Carl die Verantwortung trugen. Schließlich war er mit ihrer nachdrücklichen Befürwortung gegangen. Damals war sie froh darüber gewesen. Feigling. Feiger Feigling, dachte sie – das war der Grundstock seiner DNA, Feigheit und irgendeine Mutation, die seine haltlosen Gedärme hervorgebracht hatte. Er war in so vielerlei Hinsicht ein Feigling, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass er nach seinem Auszug derart verschwinden würde. Was hatte sie sich gewünscht? Sie hatte sich eine gewisse Einbindung gewünscht, vielleicht einen Besuch im Monat, einen Vater, der seine Kinder übers Wochenende abholte. Sein Umgang mit den Kindern war in Ordnung – harmlos gegenüber Ana, gutmütig gegenüber Paul. Er schien die Kinder wirklich zu mögen, glaubte, er könnte sie zum Lachen bringen, und seine infantile Lebenseinstellung schien perfekt zu der ihrer Kinder zu passen.
Er war, noch Jahre nachdem sie sich kennengelernt hatten, noch immer ein Kind, noch immer dabei, seine Beziehung zur Welt zu entdecken, seinen eigenen Körper zu entdecken. Eines Tages bat er auch Josie, ihn beim Gehen zu filmen. Josie war geschockt, behielt aber für sich, dass Luisa ihr von gleichen Erfahrungen mit ihm erzählt hatte. »Ich denke, ich weiß, wie ich gehe, aber ich hab’s noch nie objektiv gesehen«, sagte er. »Ich will mich vergewissern, dass ich so gehe, wie ich denke, dass ich gehe.« Also filmte Josie diesen erwachsenen Mann, wie er die Straße rauf- und runterging. Doch dann, sechs Monate später, war er weg. Er sah die Kinder zweimal in dem Jahr, in dem er fortging, einmal in dem danach.
Josie schaltete das Radio ein, hörte Sam Cooke irgendeinen einfachen Song singen und dachte, dass nur Popsongschreiber und Popsänger wirklich wussten, wie man lebt. Schreib einen Song – wie lange brauchte man dafür? Minuten? Vielleicht eine Stunde, vielleicht einen Tag. Dann sing den Song Leuten vor, die dich dafür lieben werden. Die die Musik lieben werden. Bereite Millionen Menschen erneuerbare Freude. Oder bloß Tausenden. Oder bloß Hunderten. Spielt das eine Rolle? Die Musik stirbt nicht. Sam Cooke, längst tot, nur noch Staub, war noch immer bei uns, vibrierte jetzt durch Josie hindurch und grub neue Nervenbahnen in die Köpfe ihrer Kinder, seine Stimme so klar, ein herrlicher Singvogel, der aus dem Radio kam und auf ihrer Schulter landete, selbst hier, selbst jetzt, um neun Uhr abends in diesem schrottreifen Wohnmobil irgendwo zwischen Anchorage und Homer. Obwohl zu früh gestorben, wusste Sam Cooke, wie man lebt. Ob er wusste, dass er wusste, wie man lebt?
Josie setzte sich im Chateau etwas bequemer hin und goss sich noch eine Tasse ein. Drei waren das Limit. Sie kurbelte das Fenster runter und sog die beißende Luft ein. Die Brände waren hundert Meilen entfernt, hatte man ihr gesagt, aber überall war die Luft verbrannt und ätzend. Ihre Kehle rebellierte, ihre Lunge bettelte um Erleichterung. Sie kurbelte das Fenster wieder hoch und meinte, durch die Scheibe hindurch einen Hirsch zu sehen, erkannte dann aber, dass es ein alter Sägebock war. Sie spülte den Wein im Mund herum, gurgelte kurz, schluckte. Gelegentlich brachte eine Windböe das Chateau in leichte Schieflage, und das Geschirr in den Schränken klapperte leise.
Sie blätterte ihre Old West durch, warf sie dann aufs Armaturenbrett. Selbst die schwermütigen Suchanfragen von »Verlorene Spuren« machten sie traurig, neidisch. Sie war als Leerstelle geboren worden. Ihre Eltern waren Leerstellen. All ihre Verwandten waren Leerstellen, obwohl manche Süchtige waren und sie eine Cousine hatte, die sich als Anarchistin bezeichnete; doch ansonsten bestand Josies Familie aus Leerstellen. Sie waren von nirgendwo. Amerikaner sein bedeutet, eine Leerstelle zu sein, und ein echter Amerikaner ist eine echte Leerstelle. Somit war Josie alles in allem eine wahrhaft großartige Amerikanerin.
Aber sie hatte gelegentlich vage Anspielungen auf Dänemark mitbekommen. Ein paarmal hatte sie gehört, dass ihre Eltern irgendeine Verbindung nach Finnland erwähnten. Ihre Eltern wussten nichts über diese Kulturen, diese Nationalitäten. Sie kochten keine internationalen Gerichte, sie lehrten Josie keine fremdländischen Sitten und Gebräuche, und sie hatten keine Verwandten, die internationale Gerichte kochten oder fremdländische Sitten und Gebräuche pflegten. Sie hatten keine Trachten, keine Fahnen, keine Flaggen, keine Sprichwörter, keine angestammten Länder oder Dörfer oder Volksmärchen. Als sie zweiunddreißig war und irgendein Dorf besuchen wollte, irgendwo, wo ihre Familie herstammte, hatte niemand in ihrer Verwandtschaft auch nur eine Ahnung, wohin sie reisen sollte. Ein Onkel meinte, er hätte einen hilfreichen Vorschlag: In unserer Familie sprechen alle Englisch, sagte er. Fahr doch nach England.
Der Song von Sam Cooke endete, die Radionachrichten begannen, das Wort »Gerichtsverfahren« fiel, und Josie spürte einen jähen, stechenden Schmerz, sah das Gesicht von Evelyn Sandalwood, die bohrenden Augen des streitsüchtigen Schwiegersohns der alten Frau, und war sicher, niemanden scherte es, dass man ihr ihre Praxis weggenommen hatte, war sicher, dass es auf der Welt nur Feiglinge gab, dass Arbeit niemandem etwas bedeutete, dass Leistung nichts bedeutete, dass Engherzigkeit und Arglist und Heimtücke und Gier immer triumphierten – dass nichts die diebischen Betrüger der Welt besiegen konnte. Letztlich würden sie die Tapferen, die Getreuen zermürben, jeden, der sein Leben unbescholten leben wollte. Die Betrüger triumphierten immer, weil Liebe und Güte ein Eis am Stiel waren und Heimtücke ein Panzer war.
Als sie Carl vor achtzehn Monaten gesagt hatte, sie sollten aufhören, die Liebenden zu spielen und einfach als Eltern von Paul und Ana weitermachen, verließ er das Haus – das Haus, das er gewollt hatte und dann, nachdem es gekauft und renoviert worden war, nicht mehr ausstehen konnte. Die Occupy-Bewegung hatte ihm die Idee eingeflößt, dass Hausbesitz nicht bloß bürgerlich war, sondern ein materielles Verbrechen an den neunundneunzig Prozent – und machte einen Spaziergang. Zwanzig Minuten später hatte er sich damit abgefunden und bereits einen Plan für Besuche und alles andere. Sie hatte das Gespräch ängstlich und wild entschlossen begonnen, war aber hinterher frustriert. Mit seinem bereitwilligen Einverständnis war es ihm gelungen, ihr jedes etwaige Triumphgefühl zu nehmen, und er hatte sich direkt auf die Logistik konzentriert.
Jetzt, mit vierzig, war Josie müde. Sie war ihrer Reise durch den Tag müde, der endlosen Stimmungen, die jede einzelne Phase brachte. Da war das morgendliche Grauen, unausgeschlafen, das Gefühl, sich etwas eingefangen zu haben, das sich anfühlte wie das Pfeiffer-Drüsenfieber, während der Tag ihr bereits davongaloppierte und sie ihm zu Fuß hinterherlaufen musste, mit den Schuhen in der Hand. Dann die kurze wohltuende Atempause nach der zweiten Tasse Kaffee, wenn alles möglich schien, wenn sie ihren Vater anrufen wollte, ihre Mutter, sich versöhnen, sie mit den Kindern besuchen wollte, wenn sie, während sie die Kinder zur Schule fuhr – die Leute, die das allgemeine Recht auf Schulbusse abgeschafft hatten, gehörten eingesperrt –, alle im Auto dazu brachte, den Soundtrack der Muppets »Life’s a Happy Song« mitzusingen. Waren die Kinder dann fort, ein elfminütiger Stimmungsabsturz, dann noch mehr Kaffee und noch mehr Euphorie bis zu dem Moment, wenn sie in ihrer Praxis ankam, die Wirkung des Kaffees abgeklungen war und sie für eine Stunde oder länger mehr oder weniger taub wurde und ihre Arbeit in einem distanzierten Zustand verrichtete, als wäre sie unter Wasser. Es gab gelegentlich fröhliche oder interessante Patienten, Patienten, die alte Bekannte waren, manches Gespräch über Kinder, während sie in nassen Mündern herumstocherte, während abgesaugt, gespuckt wurde. Mittlerweile gab es zu viele Patienten, es war nicht mehr zu bewältigen. Ständig war ihr Verstand mit den Aufgaben beschäftigt, die vor ihr lagen, den Reinigungen und Bohrungen, der Arbeit, die Präzision verlangte, doch im Laufe der Jahre war es weit einfacher geworden, das meiste davon zu erledigen, ohne voll bei der Sache zu sein. Ihre Finger wussten, was zu tun war, und arbeiteten in enger Kooperation mit ihren Augen, sodass der Verstand abschweifen konnte. Warum hatte sie sich mit diesem Mann fortgepflanzt? Warum arbeitete sie an einem herrlichen Tag? Was, wenn sie für immer fortging? Sie würden zurechtkommen. Sie würden überleben. Niemand brauchte sie.
Manchmal hatte sie Freude an Menschen. An manchen Kindern, an manchen Teenagern. An den vielversprechenden Teenagern mit dieser gewissen Reinheit in Gesicht und Stimme und Hoffnung, einer Reinheit, die alle Skepsis im Hinblick auf die fragwürdigen Motive und Fehlschläge der Menschheit vergessen machen konnte. Da war Jeremy gewesen, der Beste von allen. Aber Jeremy war tot. Jeremy, ein Teenager, war tot. Er sagte oft: »Kein Problem.« Der tote Teenager hatte gesagt: »Kein Problem.«
Die Mittagszeit war der Tiefpunkt. Die Mittagssonne verlangte Antworten auf offensichtliche und langweilige und unlösbare Fragen. Lebte sie ihr bestes Leben? Das Gefühl, sie sollte aufhören, dass die Praxis geisttötend war, öde, dass sie alle es woanders besser hätten. Wäre es nicht wunderbar, alles hinzuschmeißen? Alles abzufackeln?
Dann Lunch. Vielleicht draußen, in irgendeinem begrünten Innenhof, der Geruch von Efeu, mit einer alten Freundin, die gerade mit ihrem Schreiner gevögelt hatte. Kreischendes Lachen. Tadelnde Blicke von den anderen Gästen. Ein paar Schlückchen vom Chardonnay der Freundin, dann ein paar Pfefferminzbonbons und Pläne, am Wochenende zusammen wegzufahren, mit den Kindern, nein, ohne Kinder, Versprechen, Fotos von dem Schreiner zu schicken, eventuelle anzügliche Textnachrichten von ihm an sie weiterzuleiten.
Der Schub nach dem Essen, das anhaltende Glücksgefühl von eins bis drei, The King and I laut aus jedem kleinen Lautsprecher, das Bewusstsein, dass ihre Arbeit, dass Zahnmedizin, wichtig war, dass die gesamte Praxis ein wesentlicher Bestandteil der Allgemeinheit war – sie hatten elfhundert Patienten, und das war schon was, das war relevant, es gab Familien, die sich in einem wesentlichen Punkt ihres Wohlergehens auf sie verließen – und ein bisschen Heiterkeit, als alle mitbekamen, dass Tania, Josies jüngste Neueinstellung, in der Mittagspause Sex gehabt hatte und strahlte und nach Tierschweiß roch. Dann halb vier und totaler Kollaps. Das Gefühl von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, alles war kaputt, was sollte der ganze Scheiß? Wer waren diese beschissenen Leute, die sie umgaben? Was sollte das alles? Es war bedeutungslos, und sie schuldete noch immer so viel Geld für diese Geräte, sie war eine Sklavin des Ganzen, wer waren diese beschissenen Mitarbeiter, die keine Ahnung von dem schraubstockartigen Druck hatten, den die hohen Schulden in ihrem Schädel auslösten?
Dann die Befreiung, um fünf Uhr Feierabend zu machen … oder sogar schon um zwanzig vor. Um zwanzig vor fünf fertig! Die Erleichterung auf der Heimfahrt, der Gedanke an ihr hübsches kleines Zuhause, ihre schmuddelige Couch, den Besen, der in der Ecke stand und das bewachte, was sie am Vorabend zusammengefegt hatte, ohne die Energie zu haben, es aufzukehren und wegzuwerfen. Moment. Vielleicht würden im Garten neue Blumen blühen. Manchmal tauchten sie zwischen neun und fünf auf. Sie konnten an nur einem Tag wachsen, austreiben und blühen! Das liebte sie. Manchmal war das so. In die Einfahrt biegen. Keine Blumen, keine neuen Farben. Dann die Tür aufmachen, Estaphania begrüßen und verabschieden, ihr vielleicht Geld geben, ihr sagen wollen, was für ein Glück sie hat, so bezahlt zu werden, keine Steuern, Geld bar auf die Hand, sparen Sie auch genug, Estaphania? Sollten Sie, wo ich Sie schwarz bezahle.
Dann die Kinder umarmen, ihren Schweiß riechen, ihre verfilzten Haare, Ana zeigt irgendeine neue Waffe, die sie gebastelt oder gefunden hat. Die Erholung mit etwas Cabernet beim Kochen. Die Musik an. Vielleicht mit den Kindern tanzen. Vielleicht sie auf der Arbeitsplatte tanzen lassen. Ihre kleinen Gesichter lieben. Es lieben, wie sehr sie deine Liberalität lieben, deine Ausgelassenheit, deine Lustigkeit. Du bist lustig! Du bist eine von den Lustigen. Mit dir ist jeder Tag anders, oder? Du steckst voller Möglichkeiten. Du bist wild, du bist wundervoll, du tanzt, mit dem Kopf im Nacken, schüttelst dein Haar aus, siehst Pauls Vergnügen und Entsetzen und unsicheres Lächeln – du bist ungebunden, singst, jetzt mit dem Kopf nach unten, die Augen geschlossen, und dann hörst du etwas zerbrechen. Ana hat etwas zerbrochen. Einen Teller, hundert Scherben auf dem Boden, und sie entschuldigt sich nicht. Ana klettert von der Arbeitsplatte, läuft weg, hilft nicht.
Wieder der Kollaps. Das Gefühl, dass deine Tochter jetzt schon verhaltensgestört ist und es nur noch schlimmer werden wird. Schlagartig kannst du dir sie als düstere Pubertierende vorstellen, als tickende Zeitbombe, eine Explosion von unsichtbarer und sich ausbreitender Wut. Wo ist sie jetzt? Sie ist abgehauen, nicht in ihr Zimmer, sondern irgendwo anders hin, in einen Schrank, sie versteckt sich immer an verstörenden Stellen, einem Ort wie aus einem deutschen Märchen. Die felsenfeste Überzeugung, dass das Haus zu klein für euch alle ist, dass ihr die meiste Zeit im Freien leben solltet, in einer Jurte mit fünfzig Hektar drumherum – wäre es nicht besser, wenn die Kinder draußen wären, wo nichts kaputtgehen kann, wo sie damit beschäftigt wären, Ungeziefer zu jagen und Feuerholz zu sammeln? Die einzige logische Option wäre, auf eine Farm zu ziehen. Eine Tausend-Meilen-Prärie. All diese Energie und die kreischenden Stimmen innerhalb dieser kleinen Wände? Es war unsinnig.
Dann der Kopfschmerz, der wahnsinnige, der unsägliche. Der Pflock, der dir in den Hinterkopf getrieben wird und irgendwo vorne über der rechten Augenhöhle austritt. Paul bitten, Tylenol zu holen. Er kommt zurück, es gibt kein Tylenol im Haus. Und es ist zu spät, noch welches zu kaufen, nicht zur Abendessenszeit. Hinlegen, während der Reis kocht. Bald wird Ana ins Zimmer kommen. Sie anfauchen wegen des Tellers. Ein paar Allgemeinplätze, dass sie hübsche Dinge nicht zu schätzen weiß, dass sie rücksichtslos ist und nie gehorcht und nie hilft oder aufräumt. Zusehen, wie Ana aus dem Zimmer geht. Sich fragen, ob sie weint. Mit großer Mühe, dein Kopf ein Krater, in dem ein glückliches Zuhause versinkt, aufstehen und in ihr Zimmer gehen. Sie ist da. Sie kniet, hören, wie sie mit sich selbst redet, die Hände auf der Star-Wars-Bettdecke, unbeeindruckt, so lieb spielend, die Stimmen von Iron Man und Green Lantern nachahmend, die beide sehr gütig klingen, sehr langmütig in ihrem lispelnden Mitgefühl. Wissen, dass sie unzerstörbar ist, viel stärker als du. Zu ihr gehen und sehen, dass sie bereits vergeben hat oder vergessen, sie ist ein Schlachtschiff ohne Erinnerung, also sie auf den Kopf küssen und aufs Ohr und auf die Augen, und dann ist genug geküsst, wird Ana sagen, und sie wird ihre Mutter wegstoßen, aber ihre Mutter wird sich nicht wegstoßen lassen und wird Anas Shirt anheben und ihren Bauch küssen und Anas kehliges Lachen hören, und sie wird Ana so sehr lieben, dass sie es nicht aushält. Ana in die Küche bringen und sie wieder auf die Arbeitsplatte heben und sie den Reis probieren lassen, während Paul in der Nähe ist. Auch Paul umarmen, dein Glas Wein austrinken und ein neues eingießen und überlegen, ob du nach anderthalb Gläsern Rotwein in jeder Hinsicht eine bessere Mutter bist. Eine beschwipste Mutter ist eine liebende Mutter, eine Mutter, deren Freude, Zuneigung, Dankbarkeit vorbehaltlos sind. Eine beschwipste Mutter ist reine Liebe und keinerlei Zurückhaltung.