Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Abbildungen im Innenteil: Franca Parianen
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Abbildung und Gestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-40626-1
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-40626-1
Und sagen Sie jetzt nicht Freud. Neben einigem anderen Unsinn fand der, dass Klitoris-Stimulation kindisch und Vaginal-Stimulation erwachsen ist, wobei unser heutiger Wissensstand mehr in die Richtung geht: «Vagina vielleicht doch involviert in Lust.» Selbst wenn man das Jahrhundert einbezieht, hätte Freud es besser wissen können, denn zur gleichen Zeit war eine von Napoleons Großnichten schon viel weiter in ihrer Forschung zum Thema «Warum sind Orgasmen ohne Penisse leichter», indem sie die Nähe von Klitoris und Vagina untersuchte und einige interessante Hinweise zu den optimalen Stellungen für Frauen gab.
Moderne Autodesigns haben sich in ihrer Ausdrucksstärke übrigens bemerkenswert angeglichen und tendieren zu den Persönlichkeitsmerkmalen «kalt», «arrogant» und «aggressiv».
Sollten Sie sich als Mann jetzt fragen, ob das auch für Sie gilt, kann ich dazu leider nur den passenden Artikel zitieren: «The functions of male nipples are poorly understood.»184 Und das, obwohl die Forschung doch sonst immer alles so gern nur bei Männern erforscht (siehe Teil 3). Immerhin lässt sich sagen, dass Oxytocin am Ersteifen der Nippel beteiligt ist. Wenn Sie erigierte Nippel haben, obwohl es draußen gar nicht kalt ist, dann ist das schon mal ein guter Hinweis für Oxytocinausschüttung.
Wenn die Natur auf Haremsbildung wie bei den Gorillas ausgerichtet ist, dann sorgt sie üblicherweise auch für eine Gorillastatur. Sprich, Spezies mit Haremsbildung bauen meistens auf einen ziemlich ausgeprägten Größenunterschied zwischen Männlein und Weibchen. Dagegen müssten bei den Menschenmännern viele um ihre körperliche Dominanz fürchten, sobald die Partnerin die Fünf-Zentimeter-Absätze rausholt.
Von wegen. Lesbische Albatrospärchen und ihre gemeinschaftlich aufgezogenen Kinder sind ein Garant für das Überleben der Spezies.
Sehr schön zusammengefasst gibt es diese Infos auf YouTube bzw. HBO unter «Last Week Tonight with John Oliver:Lead»
Mexikos Chemie war gerade eher mit Zucker und Öl beschäftigt.
LSD ist, was das angeht, weniger suchtgefährdend, aber dann ist es halt eine doofe Idee aus Sicht Ihres Serotoninsystems. Zumindest außerhalb des psychiatrischen Bereichs.
«Was meint er denn damit?» Juliette dreht sich zur anderen Bettseite und strahlt ihrem Freund stirnrunzelnd den Handyschirm samt Twitterfeed ins Gesicht. Leo zuckt die Schultern. «Keine Ahnung», rückt sein Kopfkissen zurecht und wendet sich wieder seinem eigenen Bildschirm zu.
In seinem Kopf fragt sich unterdessen ein ganzes Hormonsystem, warum es nicht dunkel wird. Es kennt weder Handys noch den spannenden Wikipedia-Artikel über «der Welt einsamsten Walfisch», den Leo gerade liest. Aber es weiß, dass die Stäbchen im Auge immer noch Licht melden. Genauer gesagt: blaues Licht. Denn das ist es, was Bildschirme so absondern, und das signalisiert den Hormonen «helllichter Tag». Um drei Uhr nachts. Melatonin wird langsam nervös. Es muss heute noch diverse Fettzellen in Wärme umwandeln, freie Radikale einfangen. Wenigstens ein kleines Anti-Aging-Programm wollte es noch einschieben, und zusammen wollten sie ein paar emotionale Erlebnisse aufarbeiten. Nichts Dramatisches. Irgendjemand hat Leos E-Mail nicht beantwortet, aber das Hirn meint, er neige zum Selbstmitleid. So oder so geht Aufarbeiten nicht ohne eine Tiefschlafphase. Aber das Hirn hat seine persönliche Kollektion der garantiert ereignislosesten Schlaflieder schon bereitgelegt und wartet nur auf Melatonins Signal, den aufgeweckten Zustand zu verlassen. Vom Eindösen zum Tiefschlaf kriegen sie ihn in knapp 20 Minuten.
Hektisch beobachtet Melatonin die Signale, die es über die Aktivität der Lichtsensoren aufklären. Wenn hier tatsächlich noch die Sonne scheint, müsste es laut seiner Jobbeschreibung wahrscheinlich den Sommer einleiten. Keine leichtfertige Entscheidung, weil es dadurch Sexhormone, Stimmung und Immunsystem mit reinzieht. Nervös zieht es die Stirn in Falten. «Weißt du, was lustig ist?» Das Wachstumshormon knufft ihm Energieriegel-kauend in die Seite. Melatonin stöhnt. Wachstumshormon arbeitet in Teilzeit, während der ersten zwei Schlafzyklen, kriegt aber die ganze Anerkennung, nur weil es wichtig ist für … Wachstum … und kognitive Entwicklung. Das Wachstumshormon kaut ungerührt. «Naaah?», schiebt es hinterher. «Was?», fragt Melatonin kurz angebunden. Wachstumshormon grinst: «Die Tagschicht beschwert sich auch ständig. Der Typ bekommt nicht genug Sonnenlicht! Darum ist er ständig so unterkühlt und schmerzempfindlich. Sein Serotoninspiegel ist der Horror!» Melatonin zieht ungläubig die Augenbrauen hoch. «Hochsonne bis drei Uhr nachts, und er hat Lichtmangel?» Grimmig beugt es sich wieder über seine Monitore. «Womit haben wir es hier nur zu tun?» Aber es kommt nicht weit. Kortisol kommt mit eiligen Schritten um die Ecke: «Also ihr könnt hier jetzt erst mal einpacken. Das Gehirn hat ein Klingelgeräusch gehört, das es an Arbeit erinnert hat. Ich hab alles wieder hochgefahren, und wir spielen jetzt ein Medley aus ‹Sorgen von morgen›.»
Vier Stunden später wird Leo von einem Wecker aus dem Schlaf gerissen. «Bah, ist das kalt hier», grummelt er, «… und warum hab ich solche Kopfschmerzen?»
Leo wird das Rätsel des verlorenen Schlafes heute nicht mehr lösen. Genauso wenig wie das der Kopfschmerzen oder das der allgemeinen Grummeligkeit. Sonst wüsste er, dass es die individuelle Lichtempfindlichkeit unseres Melatoninkreislaufs ist, die mitentscheidet, ob wir Typ Eule sind oder Lerche oder mehr so chronisch zerrupfter Spatz. Oder welchen Beitrag seine Abendunterhaltung dazu leistet.
Genau genommen gibt es fast nichts, was Hormone nicht tun. Sie managen unsere Knochenqualität, unsere Sehkraft, unsere Erregung und den ganz privaten Wasserkreislauf, sie sorgen dafür, dass Herz und Lunge im Takt arbeiten, dass Immunsystem und Verdauung immer bereitstehen und dass Ihre Arme gleich lang sind, ohne dass Sie sie jeden Morgen zweifelnd nebeneinanderhalten mussten (das Wachstumshormon lässt grüßen). Aber das ist natürlich nur das Körperliche. Das, was uns am Leben hält. Unwichtiges Zeugs.
Wirklich spannend wird es, wenn die Hormone mitdenken. Wenn sie mitentscheiden, wie schnell wir reagieren; wie stark wir fühlen; was uns begeistert, beruhigt oder Angst macht … und ob wir auf diese Angst mit dynamischer Problemlösung reagieren oder uns sicherheitshalber erst mal totstellen (mehrere Hormone halten das für eine gute Idee).
Wenn in Ihrem Hirn etwas passiert, sind Hormone eigentlich immer beteiligt. Als anerkannte Botschafter zwischen Kopf und Körper sind sie mit Herz und Nieren per du und erhalten vom Gehirn intimste Informationen über Ihre Sexualität bis zur noch viel persönlicheren Frage nach Ihrem eigentlichen Stresslevel.
Wir haben natürlich immer geahnt, dass sich Körper und Geist irgendwo treffen und zusammen was trinken gehen. Allzu viel wissen wir zwar nicht über den Ort oder darüber, was sie sich dabei erzählen. Aber dass Hormone unser Hirn nicht kalt lassen, das sehen wir ja überall: Warum sonst würden sich Menschen mit Bungeeseilen von Klippen stürzen, wenn nicht für den Adrenalinkick? (Mit macht das natürlich viel mehr Sinn.) Oder warum sollten sich Verliebte so aufführen? Oder Bodybuilder? Und wer soll uns den Schlaf rauben, wenn nicht unser Lieblingsstresshormon?
Dass Hormone an unserem Hirn andocken, das bezweifelt heute kaum noch jemand. Aber eine Frage bleibt dabei immer irgendwie offen: «Warum eigentlich?» In unserer Vorstellung wabern die Hormone ziemlich planlos durch unser Hirn und stellen dabei selten etwas Sinngebendes an. Sie tauchen plötzlich auf oder grätschen willkürlich wichtigen Gedanken dazwischen. Und dann bleiben sie noch mit dem Fuß an irgendeinem Kabel hängen und reißen Stecker aus der Wand, sodass wir plötzlich im Dunkeln stehen («Mein klares Denken war gerade noch da»). Oder noch schlimmer: Sie brechen einfach durch die Tür. (Testosteron: «Was? Warum guckt ihr alle mich so an?»)
Wir kennen Hormone vor allem aus ihren Rollen als Fehler im System («Muss ich jetzt mit Stresshormonen und Stress kämpfen?»), als nerviges Nebenprodukt von irgendeiner Körperfunktion («Ich dachte, ich hatte den Eisprung abbestellt?!») oder eben als evolutionäres Überbleibsel aus einer Zeit, wo Brusttrommeln noch als Flirtstrategie durchging («Hey, immer noch besser als Dick Pics!»). Und das alles trompetet dann in unserem Denken rum. Wie kleine Elefanten im Porzellanladen. Wir nehmen Hormone als unseren privaten Störfunk wahr – laut, nervös, und wenn wir ehrlich sind, bitte schön was für andere Leute. Wie Chihuahuas. Dabei tun wir ihnen in mehrerlei Hinsicht ziemlich unrecht – den Hormonen, nicht den Handtaschenhunden.
«Super Zusammenarbeit diese Woche! Fokus, höchste Konzentration, durchgehende Motivation *murmel* bis auf die üblichen Nachmittagshänger *murmel Ende*. Geborgenheit! Ein Feuerwerk an positiven Emotionen! Herausforderungen wurden bewältigt, der Körper auf Vordermann gebracht, dabei alle Rhythmen eingehalten – Tag, Monat, Jahr … Es gab mehrere Orgasmen! Sehr außergewöhnlich für die beiden. Ich wette, wir haben top Bewertungen.» Der Hormon-Abteilungsleiter schließt zufrieden seine Mappe: «Hat sonst noch jemand was?» Der Vertreter der Marketingabteilung rutscht ungemütlich auf seinem Stuhl hin und her und hüstelt ein wenig. Hinter ihm tritt der Rest der Marketingabteilung von einem Fuß auf den anderen und blickt angestrengt und betont unbeteiligt in verschiedene Richtungen. Der Abteilungsleiter zieht die Augenbrauen zusammen: «Was!?» Die Marketingabteilung räuspert sich noch einmal. «Hier … steht nichts von einem positiven Effekt auf die Bewertungen.» Der Abteilungsleiter runzelt die Stirn. «Was soll das heißen, da steht nichts?» Er zerrt das Klemmbrett aus der Hand, und ja: Da steht nichts.
Er schüttelt enttäuscht den Kopf «Aber … warum?» Das ist schon eher das Terrain der Marketingleute. Eine Brille wird zurechtgerückt. «Wir haben ein Imageproblem. Unsere Kernkompetenzen werden nicht mit uns in Verbindung gebracht. Weder die Konzentration noch die positiven Emotionen.» «Nicht mal die Orgasmen?» «Nicht mal die Orgasmen.»
Der Abteilungsleiter seufzt. «Was denken Sie denn, was wir den ganzen Tag tun?» Unruhiges Rascheln. Mehrere Marketingverantwortliche schubsen sich gegenseitig nach vorne, bis eine von ihnen anhebt: «Zu der Frage haben wir schon vor einiger Zeit mal was vorbereitet.» Sie holt tief Luft. Es folgt eine längere Aufzählung, in der mehrfach die Begriffe «Stresshormone» und «Panikattacken» fallen und etwas mit «Rührseligkeit» vorkommt, dann folgen einige Ausführungen zum Thema «Affengehabe». Der Vortrag schließt mit den Worten: «… genau genommen hat man uns die Pubertät nie ganz verziehen.» Von weiter hinten ertönt eine tiefe Stimme: «Die Idee mit der monatlichen Periode ist auch sehr unpopulär.» Der Abteilungsleiter schüttelt den Kopf. «Na ja, dafür hört sie ja später auch auf.» Mr. Marketing guckt auf sein Klemmbrett. «Das, was danach kommt, gefällt ihnen auch nicht.»
Und tatsächlich: Wir übersehen bei Hormonen wirklich oft das Positive. Die guten Gefühle, die sie uns bescheren im Flow, bei Orgasmen, in Sachen Fokussierung und Euphorie, und außerdem das noch viel, viel tollere Gefühl, wenn der Partner morgens früh aufstehen muss und man selbst noch weiterschlafen darf. Auch, wenn wir exakt 45 Minuten später aus diesem watteweichen Zustand gerissen werden, weil der eigene Wecker klingelt, denken wir weder an Melatonin noch Oxytocin, die die Geborgenheit erst möglich machen. Wir fragen uns vor allem, warum zur Hölle wir in einem Beruf arbeiten, der uns zwingt, das alles um 6 Uhr 30 hinter uns zu lassen. Im Dunkeln!
Nach Orgasmen sagt auch nie einer: «Sorry, waren die Hormone!» (Der Abteilungsleiter guckt ernsthaft getroffen.)
Tatsächlich sind Hormone aber nicht halb so konfus, wie wir uns das vorstellen: Was wir für nervige Schwankungen halten, nennt man bei den Hormonen flexible Anpassung. An die Tages- und Jahreszeiten, an Ihre Kondition, an alles, was Sie brauchen, um zur richtigen Zeit die richtige Antwort zu produzieren. Melatonin hat Ihren Lebensmittelpunkt angesichts der Kälte und Lichteinstrahlung mittlerweile erfolgreich als «definitiv Sommer am Nordpol» lokalisiert und Kortisol kann die Wundheilung anrufen, noch bevor wir die Schlittschuhe anhaben. Das muss man erst mal hinkriegen. Wir benutzen hormongesteuert im allgemeinen Wortgebrauch zwar gern als Synonym für hirnlos, aber ohne Hormone wäre unser Gehirn langfristig vor allem eins: aufgeschmissen.
Allein schon, weil sie inakkurat ist, könnte unsere Vorstellung von den Hormonen als planlos umherschwirrende Störenfriede dringend mal ein Update gebrauchen. Es müssten ein paar Bugs behoben werden in der Art, wie wir an sie herangehen (Leo: «Also, was ich hiervon mitnehme, ist: Hormone machen mich schmerzempfindlich und fröstelig»). Ein paar veraltete Ansichten könnten wir überschreiben («Männer haben interessanterweise weder Hormone noch Gefühle»). Aber der vielleicht wichtigste Grund für die Erneuerung unseres Denkens ist der, dass wir, wie bei jedem Update, viel zu lange auf «später erinnern» geklickt haben, als ginge es um das Jüngste Gericht. So lange nämlich, bis unser Hormonbild gecrasht ist und überhaupt nichts mehr läuft. Vor allem, weil es mittlerweile mit nichts mehr kompatibel ist. Schon gar nicht mit unserem Weltbild. Es bietet keine Antworten auf die großen Fragen, die wir uns heute stellen. All die Themen, die irgendwann mal tabu waren, die aber dafür heute endlich aufs Tapet kommen – Sex und Liebe, Burnout und Konzentrationsschwierigkeiten, Aggression, Ängste und Depressionen, Periode und Schwangerschaft, Kinderwunsch oder der Wunsch, Kinder auf mindestens drei Armlängen von sich fernzuhalten. Männer, Frauen und alle dazwischen. Wenn es um das Thema Hormone geht, hat fast jeder eine Geschichte dazu zu erzählen und die ein oder andere unbeantwortete Frage. Und manchmal auch ein mulmiges Gefühl in der Magengrube.
Also wie können wir anders über Hormone nachdenken? Vorzugsweise auf eine Art, die uns bessere Antworten bietet? Vielleicht ein bisschen dreidimensionaler?
Zum Glück ist wahnsinnig viel passiert seit dem Moment, als wir das erste Mal eingesehen haben, dass Hormone in unseren Gedanken mitmischen. («Zögerlich und unter Protest!») Statt als stolpernden Störfunk können wir sie uns heute als aktive Gestalter vorstellen, die in unserem Gehirn und Körper im Einsatz sind. Sie knüpfen Verbindungen, speichern Erinnerungen und führen sich im Allgemeinen so auf, als wären sie in Ihrem Oberstübchen zu Hause. Sind sie ja auch.
Wenn die Gene die Hardware bestimmen, dann wählen Hormone mindestens das Betriebssystem. Und wenn wir Glück haben, dann ziehen sie danach noch hier und da eine Schraube fest. Unser Leben lang bleiben wir ein hormonelles Großbauprojekt. Stresshormone werkeln an Ihrer Schockreaktion (basierend auf einer stressigen Kindheit, als immer irgendjemand wissen wollte, ob Sie Ihr Zimmer schon aufgeräumt haben). Bindungshormone bedienen sich am gleichen Werkzeugkasten und versuchen, Ihnen ein gut funktionierendes Beziehungsmodell zu bauen (basierend hauptsächlich auf Theorie). Währenddessen rennen immer wieder Sexhormone durch den Raum und rufen «Pubertäät!!» oder formen noch vor der Geburt unsere Spielzeugpräferenzen und unsere Genitalien gleich mit (hin und wieder in völlig unterschiedliche Richtungen).
Auf lange Sicht finden sich die Spuren der Hormone nicht nur in unserer Persönlichkeit wieder, sondern auch in unserem Gesundheitszustand und als Anhängsel an der DNA. Einen Großteil dessen, was wir sind, haben die Hormone gestaltet – und während Sie dies hier lesen, gestalten sie munter weiter. Aber meistens eben nicht willkürlich, sondern gut durchdacht. Mindestens gut gemeint.
Wenn wir uns die Hormone statt als Querschläger als tragende Säule unseres Selbst vorstellen, dann hilft es uns vielleicht, bei Schwierigkeiten mit ihnen drum herumzugehen, anstatt wütend gegen diese tragende Säule zu treten und uns dabei einen Zeh anzuhauen (Opioide lindern den Schmerz, Adrenalin schickt ein Alarmsignal).
Kurzum: Die Hormonwelt ist ständig im Wandel, und sie verwandelt uns gleich mit. Aber wenn wir den Hormonen lange genug bei ihrer Arbeit zugucken, gehen uns wahrscheinlich eine ganze Menge Lichter auf: über unseren Alltag, über uns selbst und über die Art, wie unsere Erfahrungen uns formen («Ich bin mir fast sicher, dass meine Eltern an allem schuld sind»). Wenn wir Glück haben, verraten sie uns vielleicht nebenbei auch den ein oder anderen Trick, wie wir’s besser hinkriegen. («… oder uns Hormonen wenigstens weniger im Weg rumstehen! Dürfte ich da mal ran?») Als Eltern, Partnerinnen, Lehrer, Ärztinnen oder einfach als Verantwortliche für unser eigenes Gehirn.
Es gibt fast kein Thema, zu dem Hormone nichts zu sagen hätten. Als offizielle Schnittstelle zwischen Geist und Körper verbinden sie Medizin mit Psychologie, uns selbst mit allem und allen um uns herum, Umwelt mit Politik und Arbeitsrecht mit Reizdarm. Hormone sind das Thema für Menschen mit Entscheidungsschwierigkeiten. Und wo sie schon dabei sind, können sie vielleicht auch Leo helfen, ein paar seiner Forschungsfragen zu beantworten darüber, warum ihm gerade wieder so fröstelig zumute ist.
Leos Gehirn: Mal abgesehen von deinem nicht vorhandenen Schlafrhythmus, isst du auch nie vernünftig. Es fehlt dir an sozialen Beziehungen, Intimität, Sport, geistiger Anregung und …
Leo (etwas lauter): Ich schätze, wir werden es nie erfahren!
Leos Gehirn: Oooh, mein Gott …
Nachdem wir uns mit ihnen vertraut gemacht haben, borgen die Hormone uns vielleicht sogar das ein oder andere Werkzeug aus. («Ähm, könnten wir nochmal auf das mit den losen Schrauben zurückkommen?») Wenn wir sie stattdessen ignorieren, macht uns das jedenfalls nicht gerade rationaler. Im Gegenteil: Wir geben genau diese Werkzeuge aus der Hand. Bevor wir überhaupt wissen, wozu sie gut sind und was wir damit alles schaffen könnten.
Wir haben also viele gute Gründe, über Hormone zu reden. Fragt sich nur, warum wir es trotzdem nicht tun? Bei unserer Entscheidungsfindung stellen wir uns fast nie vor, dass wir den Teil des Körpers einbeziehen, der sonst zum Herabsenken der Hodensäcke zuständig ist. Oder für die Wanderbewegung von Eibläschen. Und diese Einstellung trifft sich gut mit der Wissenschaft. Auch die tendiert bis jetzt vor allem zu «nicht darüber reden» (erste Regel des Hormonclubs). Also zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Hirnforscher begeben sich in der Regel nur ungern und unter Vorbehalt auf das Terrain des Körpers, spätestens seit sie mal gehört haben, dass es da riecht (Hirne riechen auch, aber nach Formaldehyd – das hat so was Aufgeräumtes). Außerdem sind Hormone unsicheres Terrain, und Wissenschaftler sind beruflich verpflichtet, so was zuzugeben. Darum halten sie sich mit klaren Take-Home-Messages gern zurück (Take-Home-Questions träfe es in dem Zusammenhang sowieso eher). Es ist ja auch nicht einfach, wenn sich die Wissenschaftler dabei auf wissenschaftliche Fachartikel stützen müssen, die meist klingen wie: «Metabolisten von Progesteron, speziell allopregnanolone modulieren GABA(A)-Rezeptoren, was in einigen Fällen zu angstlösenden aggressiven, in anderen zu nervös reizbaren Effekten führt»1 … um sich daraus eine vernünftige Botschaft rauszubasteln («Ah, schreib einfach, Progesteron macht Stimmung!»). Und dabei darf man die ganzen wirklich spannenden Erkenntnisse nicht unter den Tisch fallen lassen. Die Dosisabhängigkeit zum Beispiel oder den Teil, wo dasselbe Hormon die einen aggressiv und die andere nervös macht. Vor allem darf man dabei kein tragendes Stück Krimskrams weglassen, sodass uns plötzlich lauter Mythen und Missverständnisse entgegenkugeln wie aus dem Bücherregal der Pandora. Zum Beispiel wird die Verkürzung auf die angeblich stimmungsbeeinflussenden Hormone ziemlich explosiv, wenn jemand noch hilfreich hinzufügt, dass dasselbe Hormon mit Pille, Periode und Schwangerschaften schwankt …
Progesteron seufzt: «Ich weiß nicht, warum immer alle übersehen, dass ich auch wichtige neuro-protektive Effekte in Männern habe! Wahlweise sedative und … hallo? Kommt zurück! Wo seid ihr denn hin?» Aber da laufen schon alle durcheinander.
Hormonelle Debatten tendieren dazu, aus dem Ruder zu laufen, und das ist noch ein Grund, warum wir selten über Hormone reden: Die regen immer alle so auf. Darum haben wir das Thema noch bis vor kurzem gänzlich der Medizin überlassen. Manchmal auch den Ernährungswissenschaften, beziehungsweise der Abteilung Selbstoptimierung und Co KG. So als würde das, was wir mit den Hormonen in unserem Körper machen, unseren Kopf nichts angehen. So muss niemand an Hoden denken. Und das ist doch eine Win-Win-Situation. Für den Rest können wir ja einfach warten, bis wir das Hormonsystem mit Sicherheit verstanden haben (das kann sich ja nur um Jahrhunderte handeln)? Und bis dahin einfach diese Strategie fahren:
Solange Männer nicht zugeben, dass sie Hormone haben, müssen Frauen das auch nicht.
Problem gelöst. Oder? Klingt eher suboptimal. Aus mehreren Gründen.
Erst mal, weil es nicht heißt, dass die gesellschaftliche Debatte anderswo nicht schon in vollem Gange ist. Nur lauter. Hormone sind schließlich viel zu interessant, um nicht darüber zu reden. Sie vereinen die Weisheit und Tiefe von Erotikratgebern mit der Strahlkraft von Beziehungstipps, Fitness-Guides und Büchern mit den Titelbegriffen Mars und Venus. Wenn Hormone im Fernsehen vorkommen, machen sie Frauen verrückt. Kein Wunder, dass der Schrank unseres Hormon-Weltwissens so wackelig ist, so selten, wie wir ihn ausmisten. Immer, wenn man nach Antworten sucht, muss man sich da durchwühlen durch stapelweise veraltete Konzeptideen, angestaubte Sexualkundemodelle und liebgewonnene Mythen («Wenn man sich so hinstellt, wird man von Testosteron durchflutet»).
Im Zweifel stürzt einem dann alles entgegen und man muss die ganzen nervigen Klischees erst wieder reinstopfen und die Tür zu donnern in der Hoffnung, dass wir sie nie wieder öffnen müssen. Oder wenigstens nur ganz vorsichtig, damit einem der Sexismuszähler kein Auge ausschlägt.
Dabei könnten Hormone Vorurteile nicht nur bestätigen, sondern auch damit aufräumen. Wussten Sie zum Beispiel, dass Östrogen die männliche Sexualität formt? Dass Kortisol zu unserer Resilienz beitragen kann? Zu all dem kommen wir noch, und das ist ein weiterer guter Grund, um über Hormone zu reden: Wenn man sich vor dem Chaos und den lautstarken Diskussionen erschrickt und Pandoras Bücherregal einfach zunagelt (mach ich mit all meinen unordentlichen Schränken), dann gelangt man eben auch nicht an bessere Antworten. Und das wird zunehmend zum Problem.
Denn während die Theorie noch dabei ist, zur Praxis aufzuschließen, und die öffentliche Debatte beidem hinterherhinkt, schaffen wir Tatsachen. Dass wir immer noch viel zu wenig über unsere Hormone wissen, hält uns Menschen eigentlich nie davon ab, alles Mögliche damit anzustellen. Seit mindestens 3000 Jahren und in letzter Zeit in ziemlich großem Stil: von den Kastraten bis zur Kosmetik. In Medizin und Landwirtschaft. Ob wir den Schlafrhythmus über Schichtarbeit aushebeln, Hormone in Pillenform einnehmen oder über Plastikprodukte hormonelle Wirkstoffe so weit verteilen, dass man sie sogar auf dem Grund des Ozeans findet.2 Komischerweise wird man bei den Themen viel seltener von Debatten erschlagen, sondern höchstens von dröhnendem Schweigen.
Wir haben uns ziemlich lange auf der Idee ausgeruht, dass das Gehirn vom Rest des Körpers nicht viel mitbekommt und von allem, was nach unserem 18. Geburtstag passiert, schon mal gar nichts. Wenn man ihm laut landläufiger Meinung danach noch schaden wollte, brauchte man einen Knüppel.
Aber auf einmal fällt uns auf, dass man unser Gehirn auch durch Schlafmangel ausknocken kann, und wir müssen über eine ganze Menge Dinge, die wir mit unserem Kopf und Körper anstellen, neu nachdenken. Einschließlich der Frage, ob uns das geheuer ist. Das geht immer ein bisschen unter in der ganzen Hormonelle-Balance-Abnehm-Selbsthilfe-Thematik – wenn es um Hormone geht, ist das Private durchaus politisch. Aber auch dabei reden wir über Hormone zu leise und fast immer voll am Thema vorbei. Beispiel gefällig?
Unglaublich laut und voll am Thema vorbei
Es gibt vielleicht keine bessere Geschichte, um unser merkwürdiges Verhältnis zu Hormonen zu illustrieren, als die von zwei Staatschefs im Januar 2018, die gar nichts und gleichzeitig alles miteinander zutun haben.
Die eine Hälfte der Geschichte beginnt mit der neuseeländischen Premierministerin Jacinda Ardern, die zu diesem Zeitpunkt eine Sensation verkündete: ihre Schwangerschaft. Ein absolutes Novum für den Großteil der Welt – schwanger und gleichzeitig Staatschefin sein, das hat vor ihr nur Benazir Bhutto in Pakistan geschafft.
«Planen Sie Kinder?» war eine der ersten Fragen, die ein Journalist der frischgebackenen Parteichefin Jacinda Ardern gestellt hatte. Ihre Antwort lautete: «Das ist heutzutage keine Frage, die einer Frau am Arbeitsplatz gestellt werden sollte.» Jetzt plant sie nicht nur, sondern bekommt ganz offensichtlich ein Kind – und 800 internationale Zeitungen berichten. Was besonders bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, wie oft sonst irgendjemand etwas über Neuseeland berichtet. Googelt man Arderns Namen, ist «Baby» immer noch der erste Ergänzungsvorschlag (gefolgt von «Twitter» und «Christchurch»). Eine Daily-Mail-Reporterin wirft ihr Betrug am Wähler vor, der Südwestrundfunk nennt sie «kugelrund», und alle sind überrascht, dass sie beim Staatsbesuch weiterhin politische Vorschläge macht und mit Merkel über Russland diskutiert statt über Kinderklamotten (BILD: «Mit Babybauch bei Merkel!»). Ardern lässt verlautbaren, sie sei schwanger und nicht arbeitsunfähig und es wäre nett, wenn man sich auch wegen anderer Dinge an sie erinnert. (Frauenrechte? Regionalfonds? Energiereform?)
Fast zur gleichen Zeit, als Jacinda Arderns Schwangerschaft durch die Presse ging, wartete die Welt auf Donald Trumps ärztliche Untersuchung, die ihm zur allgemeinen Enttäuschung geistige Gesundheit bestätigte. Und damit kommen wir zur zweiten Hälfte unserer Hormongeschichte. Alle redeten damals über Trumps Arzt, und Trump selbst redete viel über seine Fähigkeit, in einem Demenztest Giraffen zu erkennen. Was aber völlig unterging, war ein Nebensatz: Trump nimmt Propecia, ein Medikament mit dem Wirkstoff Finasterid. Gegen Haarausfall. Es ist kein Satz, auf den Trump besonders stolz ist. Als sein privater Arzt ihn vor der Wahl ausplaudert, schickt Trump ein paar Handlanger in die Praxis, die alle Spuren der geteilten Vergangenheit beseitigen, einschließlich des gemeinsamen Fotos an der Wand. Allerdings geht es bei der Geschichte um weit mehr als um Ego-Fragen. Es geht um Hormone. Vor allem geht es um die gemeingefährlichen Sachen, die wir damit anstellen. Und dafür braucht es einen kleinen Exkurs: Finasterid, wie Trump es nimmt, wirkt auf den Hormonhaushalt. Die Inspiration für den Wirkstoff bildete eine Gruppe Menschen in der Dominikanischen Republik – die Guevedoces. Der Name klingt sehr malerisch und lässt sich grob übersetzen mit «Penis mit zwölf».
Guevedoces kommen scheinbar als Mädchen zur Welt und entwickeln erst in der Pubertät männliche Geschlechtsorgane (und Sie dachten, Ihre Pubertät war beängstigend). Wenn wir später mit dem Gender-Kapitel durch sind, verstehen wir vielleicht sogar, wie das funktioniert, warum sie schon vorher oft eine männliche Identität entwickeln oder was das für unseren Glauben an die Idee von den zwei Geschlechtern bedeutet. Für den Moment reicht es zu wissen, dass den Guevedoces genetisch bedingt ein Enzym fehlt, das Testosteron in sein ungemein stärkeres Alter Ego Dihydrotestosteron verwandelt, das wiederum die Ausbildung der männlichen Geschlechtsorgane steuert. Ein Umstand, auf den die Pharmaindustrie sinngemäß reagiert hat mit: «Aber schöne Haare haben die!» Weniger Haarausfall ist nämlich auch eine Folge des Dihydrotestosteronmangels (Androgene und Kahlköpfigkeit gehen oft miteinander einher). Genauso wie eine kleine Prostata.
Ruckzuck erfand man ein Medikament, das das Enzym bei jedem ausschalten kann, sodass sein Hormonhaushalt beginnt, dem unserer Spätentwickler aus der Dominikanischen Republik zu ähneln. Die Einführung dieses Medikaments wurde in den Medien gefeiert: «Viagra für die Kopfhaut» oder «Lebensfreude aus dem Labor»3 lauteten damals die Schlagzeilen. Inzwischen nehmen es eine ganze Menge Männer ein: für eine kleinere Prostata … oder eben gegen Haarausfall.
Und das mit ziemlich weitreichenden Folgen! Weil im Hormonsystem alles mit allem zusammenhängt, wirkt Finasterid nicht nur auf Dihydrotestosteron, es senkt auch den Testosteronspiegel, lässt Östrogen ansteigen, verändert ein paar entscheidende Rezeptoren, an die alle möglichen Hormone andocken … und das sind nur die Effekte, die sich schnell zusammenfassen lassen.4 Wenn wir Hormone beeinflussen, beeinflussen wir alles, was sie in unserem Inneren tun, sämtliche Reaktions-Dominoketten, in die sie eingebaut sind. («Ups, wieder alles umgefallen!») Und weil die Hormone, um die es hier geht, überall hinkommen, beeinflussen sie Kopf und Körper.5
Zu den häufigen körperlichen Nebenwirkungen von Finasterid gehören neben Erektions- und Ejakulationsstörungen auch Brustwachstum. Viele davon sind selbst nach der Absetzung irreversibel. Es gibt aber auch Beschwerden über Antriebsschwäche, Konzentrationsschwierigkeiten, kognitive Defizite, Reizbarkeit, schwere Depressionen, Suizide, Panikattacken, Muskelschwäche und den Verlust des Kurzzeitgedächtnisses.6 Ehemalige Nutzer berichten, dass sie einfache Aufgaben nicht mehr lösen konnten, mitten im Supermarkt nicht mehr wussten, warum sie überhaupt reingegangen sind. Also von der Tendenz, Dinge anzufangen und dann auf halber Strecke den Faden und die Orientierung zu verlieren.3 Kommt Ihnen das bekannt vor? Drei Viertel derjenigen, die sich Hilfe suchen, berichten von mentalem Nebel und schleppenden Gedanken.7 Wobei es gar nicht so einfach ist, herauszufinden, welche Nebenwirkungen Finasterid tatsächlich noch verursacht: Eine unabhängige Ärztekommission stellte substanzielle Fehler in sämtlichen Studien zu Risiken und Nebenwirkungen fest.8
Das Medikament ist seit mehr als zwei Jahrzehnten auf dem Markt. Aber mittlerweile laufen Klagen von Patienten in Deutschland und den USA; es gibt eine Stiftung für das Post-Finasterid-Syndrom. Das Bundesinstitut für Arzneimittel räumt in einem Rote-Hand-Warnbrief potenzielle Nebenwirkungen ein, darunter psychische Störungen, Depressionen, verminderte Libido und Angststörungen – und schließt sich damit Warnmeldungen aus 19 weiteren Ländern an.
Zusammengefasst bringt Finasterid, wie es der amerikanische Präsident nimmt, nicht nur das Gleichgewicht der Sexhormone komplett durcheinander, sondern auch das vieler anderer Hormone, und der Beipackzettel der Nebenwirkungen könnte noch sehr viel länger werden, als er sowieso schon ist. Trotzdem haben nur ein paar Zeitungen das Thema aufgegriffen («Warum Sie sich das Haarwundermittel trotzdem nicht sofort besorgen sollten»). Öffentlich diskutiert wurde stattdessen, wie Trump es geschafft hat, vor seiner Untersuchung genau die zwei Zentimeter zu wachsen, die es braucht, um auf der BMI-Skala nicht als übergewichtig zu gelten. Und natürlich die Schwangerschaft von Ardern. Dabei wirken Schwangerschaften auf Dauer nicht annähernd so gravierend wie dieses hormonell wirksame Haarwuchsmittel. Selbst wenn sie auch Brustwachstum verursachen.
Die beiden Geschichten sind exemplarisch für unseren Umgang mit Hormonen: Wir machen uns gleichzeitig zu viel und zu wenig Sorgen um sie. Zu viel um das, was die Hormone ohnehin seit Millionen von Jahren tun («Und du sagst, am Ende entsteht dabei ein Baby?»), um dann mit einem Achselzucken auf unsere eigenen bedenklichen Ideen zu reagieren, was die Hormone tun sollten. («Solange sie Haare machen, ist mir alles egal!») Und vor allem sind die Geschichten ein gutes Beispiel, warum das Hormonthema großes Potenzial mit sich bringt, die Fernbedienung an die Wand zu werfen. Und wenn das kein guter Grund zum Schreiben ist, dann weiß ich auch nicht.
Zum Aufbau
Wenn wir uns Schritt für Schritt unseren Hormonen nähern, kann ja eigentlich nichts schiefgehen. Das heißt, wir müssen erst mal (soweit möglich) verstehen, was die Hormone biochemisch tun, wenn sie ungestört ihre Arbeit verrichten. Um diese Grundlagen geht es in Teil 1: Was genau ist eigentlich ein Hormon, und warum interessiert mich das? Dieser Abschnitt hat den Vorteil, dass wir fast alles, was darin behandelt wird, mit ziemlicher Sicherheit wissen. So können wir uns diverse Hätte/Könnte/Würde sparen und auch die Angst, dass ganz plötzlich die drei Geister der Wissenschaft hinter uns auftauchen könnten. («Schuhuu, ich bin der Geist der zukünftigen Wissenschaft, und du glaubst ja nicht, was wir inzwischen rausgefunden haben!»)
Dann gehen wir zu Teil 2. Zum Alltagstest. Was machen unsere Hormone eigentlich den ganzen Tag mit unserem Denken, unserer Stimmung und Co? Alles Dinge, die wir bis jetzt ganz entspannt in die Hirnschublade eingeordnet haben, die aber ohne Hormone nicht denkbar sind. Hier wird das Gelände schon gefährlicher, mit einigen abenteuerlichen Brücken und Stolperfallen. («Hilfe, ich bin in eine Vereinfachung gefallen! Warum ist hier alles schwarzweiß?»)
Kein Wunder, dass unsere Debatten so oft vor dieser Hormongegend haltmachen, stecken bleiben oder zögernd vor einem reißenden Fluss uneindeutiger Studienergebnisse stehen, der uns so gar keine Anhaltspunkte gibt, wie wir ihn überqueren sollen. («Du meinst, wir haben zu Oxytocin mehr als 10000 Studien, und wir wissen immer noch nicht, was es genau tut?» «Na ja … vielleicht ja nach den nächsten 10000?») Am Ende unserer Diskussionen haben wir uns vielleicht gerade mal auf die Funktionsweise von Kortisol geeinigt – Stresshormone sind schließlich einfach (denkste, aber dazu kommen wir noch). Auf jeden Fall lieber nicht auf die von Testosteron und Östrogen («Nicht, dass mir hier noch jemand eine Genderdebatte auslöst …!»). Und wenn dann noch einer Kuschelhormon sagt, können wir gleich nach Hause gehen.
Zeit, die Steine im Fluss so lange mit dem Fuß anzustupsen, bis wir wissen, welche davon wir betreten können («Mein Turnschuh ist nass»). Am anderen Ufer ist dann ein Weg voller schöner Ausblicke, von dem wir mit ziemlicher Sicherheit wissen, dass er begehbar ist. Wenigstens auf einem Level, das es uns erlaubt, auf einer Party davon zu erzählen … – und wissend zu nicken, falls jemand was dazu sagen sollte. Oder noch wissender mit der Zunge zu schnalzen, wenn es was Blödes ist. («Frauen sind wie Männer mit Hormonen.») Merken Sie sich einfach den Satz: «Exzellente Frage! Leider nicht mein Fachgebiet.»
Danach, in Teil 3, geht es darum, was wir mit unseren Hormonen anstellen – und wie viele dieser Effekte sie uns postwendend zurückgeben. Wie ist das zum Beispiel mit den Hormonen in Medikamenten und Trinkwasser? Und war früher nicht trotzdem alles schlechter? Das ist der gefährlichste Teil bei unserem Ausflug aufs Hormonterrain, bei dem wir am besten nirgendwo drauftreten, aber immerhin mit erhobenem Zeigefinger in Richtung einer ganzen Menge Dinge fuchteln können. Alles voller schwelender Konflikte, brodelnd rauchender Krater und blubbernder Oberflächen – erinnert stark an Island. Und zu diesem Anblick können wir dann wild gestikulierend rufen: «Das ist bedenklich! Das sollten wir lassen! Gehen Sie da nicht so nah ran!» (Erinnert ebenfalls an Island.)
Aber immerhin geraten auf diese Art Themen in unser Blickfeld, die dringend mehr Aufmerksamkeit verdienen. Und zwar möglichst schnell. Denn solange die Theorie noch damit beschäftigt ist, zur Praxis aufzuschließen, schaffen wir bei all diesen Fragen Tatsachen. Ziemlich weitreichende, dank der Größenordnung, in der wir Industrie, Medizin und Landwirtschaft heute betreiben. Und je eher wir uns das klarmachen, desto besser sind wir gerüstet, wenn plötzlich wieder einer der Krater ausbricht, die Rote-Hand-Warnbriefe durch die Luft flattern und wir wieder alles überdenken müssen. Vielleicht können wir sogar vorher das Schlimmste verhindern. Oder wenigstens noch schnell ein «Ab-hier-keine-Touristen»-Absperrband drum herumziehen.