Das Watt

Inhaltsübersicht

so alt wie die Erde selber – den Ort

ursprünglicher Begegnung der Elemente

Erde und Wasser, einen Ort der Kompromisse,

des Konflikts und des ewigen Wandels.

RACHEL CARSON (1955)

Niedrigwasser sehen kannst, dann

denken sie, du übertreibst oder lügst,

obwohl du nur besonders wunderbare

Dinge möglichst klar erklärst.

JIM LYNCH (2005)

Die Bucht Königshafen im Norden von Sylt.

Ich war schon acht, als ich zum ersten Mal in Nordseewellen schwamm. Das Meer ließ mich spüren, wie leicht es mich trug. Damit hatte es mich für immer gewonnen.

Als Zehnjähriger bin ich erstmals um die flache Bucht auf Sylt gelaufen, die Königshafen heißt, bei List, wo ich bis heute wohne und forsche. Meine Beine waren die kürzesten, aber ich war stolz, mit den Großen laufen zu dürfen. Vom Schwimmen am Inselende, der Ellenbogenspitze, rieten mächtige Strudel unmissverständlich ab. Schafe betreuten die Salzwiesen, Strandflöhe hüpften wohl aus Freude durcheinander, und dazwischen fand ich eine vom Bohrschwamm durchlöcherte Austernschale für meine kleine Sammlung. Die Austernschale sah aus wie ein Sieb. Seit dieser Zeit liebe ich wie das Meer auch das Watt, so matschig und nutzlos es auch lange galt. Für mich war es nie nutzlos. Für mich gab es eine Welt zu entdecken, die auf magische Weise mal sichtbar und mal unsichtbar war. Wurde sie sichtbar, zog sie mich unwiderstehlich an.

Wer kennt nicht die Verlockung, zwischen zwei Fluten so weit wie möglich ins Watt zu waten, wohin bei Ebbe und ablandigem Wind das Meer zurückgewichen ist? Wen zog nicht ins Watt die Neugier auf das Leben am Grund, den das Meer nur für einen Augenblick dort bloßlegte? Was hat das Watt, dass man so etwas macht: nicht weiß, ob die Flut genug Zeit lässt, wieder an Land zu kommen, zu Fuß oder schwimmend? Wer blieb weit draußen sogar einfach mal stehen, bis Garnelen und Grundeln nicht nur an Zehenspitzen kitzelten,

Das Watt zwischen Land und Meer bleibt ein Abenteuer. Für uns Landtiere sowieso, die im Watt immer nur kurz zwischen zwei Fluten zu Besuch sein können. Schlick saugt an den Füßen, plötzlicher Seenebel raubt die Orientierung, bei Gewitter sind wir verlockend für einschlagende Blitze. Selbst für alle Meereswesen, die dort wohnen, aber immerzu auf- und abtauchen müssen, sich bei Ebbe verkriechen, ausharren oder wegschwimmen, ist das Wattleben voller Unwägbarkeiten. Auch für das viele Wattgevögel: Wo gibt es was zu picken, zu stochern oder zu ertauchen? Und was passiert mit Wattrippeln bei Flut? Was wird aus den Schalen, wenn eine Muschel ihr Leben aushaucht? Was überhaupt ist Sand, was ist Schlick, und wozu sind die Priele da?

Von solchen Watterkundungen und Wattforschungen erzählt dieses Buch. Und es fragt auch, warum dort kaum natürliche Harmonie zu finden ist, warum Watt entstand und wieder verschwand, sich immerzu veränderte und dennoch schließlich für uns an Reiz und Wert gewann. Stecken in so einem Watt nicht nur Wunder, sondern auch Hoffnung und Zuversicht?

Ich erforschte Watten weltweit und im kleinen Königshafen von Sylt bereits seit 20 Jahren, als mich Tony Chapman 1995 besuchte, ein kanadischer Algenforscher. Tony und mich verband ökologisches Experimentieren an Meeresküsten. So tat er mir den Gefallen und ließ sich auf eine Wattwanderung durch den Königshafen ein. Wir fanden hier und da einzelne Algen, aber nichts Spektakuläres. Handfeste Algen lieben Felsen in starker Brandung, nicht aber haltlosen Schlick. Für Tony war deshalb der Königshafen alles andere als einladend.

Das merkte er, und wir mussten lachen. Es entspann sich ein Gespräch über die Wirkung von Watt und Felsküsten auf unser ökologisches Denken, auf unseren Charakter. War Tonys Hang zu harten Fakten und klaren Aussagen von steilen Klippen geprägt? Dort wachsen von oben nach unten erst grüne, dann braune und schließlich rote Algen in geordneten Zonen. Oder hatte er ein Forschungsgebiet gefunden, das seinen Neigungen entsprach? Hat sich beides wechselwirkend verstärkt? Wir sackten immer noch etwas tiefer in den Matsch. Und wie lag das bei mir? Was hat das Watt über all die Jahre mit mir gemacht? War ich matschig im Kopf geworden und versandeten bei mir klare Gedanken? Wie sich Würmer und Muscheln im Wattboden verteilen, ist nicht so offensichtlich wie Algen an felsigen Küsten. Ich musste erst mühsam nach den Tieren im Wattboden graben und sie aussieben, um Zonierungsmuster zu erkennen. Die blieben zudem ziemlich verschwommen. Vermutlich war das Watt nicht steil genug und die Bodenarten zu sehr durchmischt. Fühlte ich mehr mit den Versackten und Tony mit denen, die immer sauber blieben?

Wir waren nicht nur ins Gespräch vertieft, sondern außerdem mittlerweile tief verschlammt. Nur unter Mühen gelangten wir ans Ufer, und Tony hatte leicht das letzte Wort: «Now Ja, ja. Aber lag der Reiz des Watts nicht gerade im Verborgenen? Und hat es nicht außerdem die große Weite, die Ruhe und die Vogelscharen bis zum Horizont? Im Schlick zu stecken ist lästig. Aber auf rutschigem Felsenufer hinzuschlagen tut auch nicht gut. Im nordspanischen Galizien setzen mutige Fischer in tobender Brandung ihr Leben aufs Spiel, um von Felsen Entenmuscheln abzukratzen. Zweifellos färbt die Mitwelt auf uns ab, aber ebenso sicher formen wir uns zumindest im Geiste unsere Mitwelt so, wie wir sie aushalten oder sogar lieben können.

Seit fast 50 Jahren bin ich nun Wattforscher und ich weiß noch, wie vom nahen Deich im Abenddämmern pausenloses Knallen erscholl, Hunde mit Gebell ins Watt wetzten und mitbrachten, was taumelnd vom Himmel fiel. Das Watt ist heute nicht mehr zum Schießen da. Aus ihm wird auch nicht mehr eingedeichtes Land, sondern es ist unschätzbar wertvoll geworden. Wie es zu diesem Sinneswandel kam, habe ich selbst miterlebt und es drängt mich, davon zu erzählen. Auch, wie es gelang, dass eine einst als trügerisch und öde verkannte Flachküste schließlich als Wattenmeer 1985 zum Nationalpark und 2009 zum Erbe der Menschheit erklärt wurde. Nicht nur änderte sich unser Blick auf diese sonderbare Naturlandschaft, sondern auch das Watt selbst wandelte sich, hat seine Geschichte und Geschichten. Die Erforschung der Ökosysteme hatte ihr Konzept von Wald und Wiese dem Watt zunächst einfach übergestülpt, und die Meeresforschung hatte sich kaum um diesen verschwommenen Saum zwischen Land und Meer gekümmert. Das gefiel mir nicht und ich fand, die Wattforschung sollte ihr eigenes Konzept entwickeln, um den Eigenheiten dieser amphibischen Welt besser gerecht zu werden.

Und ein Nebeneinander kommt auch noch vor. Gemeinsam ist allen nur das sichere Zeitgefühl für Ebbe und Flut. Auf ihre Art tuscheln im Watt Land und Meer miteinander. Belauschen wir sie, entdecken wir vielleicht neue Wege zu ersehnten Ufern. Die werden wir brauchen. Weltweit stauen sich an den Küsten mehr Menschen in Metropolen, die kaum über und manchmal sogar schon unter dem Meeresniveau gebaut sind, und das, obwohl der Meeresspiegel klimabedingt nun wieder schneller zu steigen beginnt. Bei Sturm bremst das Watt das hochwogige Meer, bevor es unsere Ufer erschüttern kann. Das Watt ersetzt harte Grenzen durch seine Allmählichkeit. Schon darum lohnt es, der Wattnatur achtsam zu begegnen und auf den Grund zu gehen.

Dieses Buch erzählt vom oft untergründigen und flüchtigen Leben im Watt und empfiehlt, in dem Mit- und

Viele Rätsel sind noch ungelöst. Enttäuscht kam ich nie

Watten gibt es fast überall

Weltweit betrachtet gibt es nicht viel Watt. Doch das größte zusammenhängende Wattgebiet taucht im Wattenmeer an der Nordseeküste auf.

Watten säumen viele Küsten unseres Planeten, aber meist sind sie in kleine Buchten gedrängt. Ihre Gesamtfläche von knapp 130000 Quadratkilometern ist vergleichsweise gering. Eine einzelne Bucht kann zwar zwischen oberem und unterem Gezeitenbereich – also der Uferzone, die bei Ebbe auftaucht und danach bei Flut wieder im Wasser versinkt – verschiedene Ausprägungen des Wattbodens und seiner Bewohner aufweisen, aber erst über lange Küstenabschnitte zeigt sich die Vielfalt verschiedenster Wattsedimente, Mischungen zwischen Süß- und Salzwasser, viel und wenig Nährstoffen, vor Wellen geschützte oder ihnen ausgesetzte Watten sowie Unterschiede im Tidenhub von Zentimetern bis zu mehreren Metern.

Die über 500 Kilometer lange Wattenmeerküste der Nordsee

Weltweite Wattfläche im Vergleich: kaum größer als Java oder die Schweiz und Österreich oder die deutsche Waldfläche (ein Drittel Deutschlands).

Die Frage, wie viel Watt es weltweit gibt, blieb lange offen. Seekarten kennzeichnen Watten nicht einheitlich genug. Satellitenbilder zeigen die volle Wattausdehnung nur, wenn sie bei niedrigstem Tidenstand aufgenommen wurden. Das hat seine Tücken, denn jeder Küstenort hat seine eigene Niedrigwasserzeit, je nach Lage zum Drehpunkt des regionalen Gezeitenwirbels und der Form des Küstenverlaufs. Die Höhen astronomischer Tiden werden außerdem vom aktuellen Wind mal angehoben und mal gesenkt. Außerdem sind die Übergänge zu Salzwiesen, Mangroven, Korallen oder Geröll oft gleitend und verschwommen. Sehr komplexe Filterprogramme mussten erst entwickelt werden, um Watt von

Das Team des Australiers Nick Murray errechnete aus über 700000 Satellitenbildern, aufgenommen zwischen 1984 und 2016, eine weltweite Wattfläche von fast 130000 Quadratkilometern. Das ist wenig mehr als die Fläche von Java oder – für Binnenländer – von Österreich und der Schweiz zusammen und entspricht der Waldfläche Deutschlands. Mangroven und Seegraswiesen haben eine ähnliche Ausdehnung. Zehnmal größer ist dagegen die Anbaufläche für Sojabohnen in Südamerika. Obwohl breiter als Strände, sind im globalen Maßstab Watten doch immer nur ein schmaler Saum zwischen Land und Meer.

Besonders viel Watt taucht am Gelben Meer von Shanghai bis zur Spitze der koreanischen Halbinsel auf. Große Wattflächen säumen das Delta vom Indus bis nach Bombay, vom Ganges-Brahmaputra-Delta bis ins nördliche Myanmar sowie beiderseits der Meerenge von Malakka zwischen Malaysia und Sumatra. Das größte zusammenhängende Wattgebiet befindet sich indessen im europäischen Wattenmeer der Nordsee. Es umfasst eine zusammenhängende Wattfläche von 4700 Quadratkilometern, nur unterbrochen von tiefen Gezeitenrinnen sowie den Mündungstrichtern von Elbe, Weser und Ems. Diese Fläche entspricht einem zehn Kilometer breiten Korridor von Sylt bis Berlin. Die Anbaufläche für Raps in Deutschland ist etwa doppelt so groß. Dennoch, für eine Wildnis im heutigen Europa ist das Watt von Skallingen in Dänemark bis Texel in den Niederlanden beachtlich groß. Watten in den Buchten der Britischen Inseln oder entlang der französischen Atlantikküste sind wesentlich kleiner.

Graues Watt im Wattenmeer von Skallingen bis Texel.

Dieses Wattenmeer fügt sich in einen trichterförmigen Küstenverlauf mit den Mündungen von Elbe und Weser im Zentrum. Dort schwankt der Salzgehalt am stärksten und ist der Tidenhub am größten. Von etwa vier Meter fällt er zum westlichen und nördlichen Ende auf anderthalb Meter ab. Nur dort könnte ich an der Niedrigwasserlinie stehen bleiben und die Flut würde mir nicht über den Kopf steigen, allerdings nur, wenn ausnahmsweise mal keine Wellen schwappen. Im Abstand von fünf bis 15 Kilometer zum Festland liegen Düneninseln aufgereiht wie auf einer Perlenkette. Die meisten Inseln sind durchs Watt zu Fuß erreichbar, wenn die Priele bei niedrigstem Wasserstand durchquert werden. Dabei kommt es auf ein geschicktes Timing an. Zur Mitte des Küstentrichters hin werden die Inseln kürzer und die Dünen flacher, während die Wattflächen dort am größten sind. Jede Teilregion hat ihre Eigenheiten. Das dänische Watt wächst, während das angrenzende nordfriesische Watt schrumpft. Dort aber wurzelt das meiste Seegras. Im Watt nördlich der Elbmündung versammeln sich im August die Brandenten Westeuropas zum Mausern. Im zentralen Wattenmeer

So wie der Planet Erde selbst ist auch jeder Fleck dieser Erde einzigartig. Das ist zwar messbar, aber liegt doch weitgehend im Auge des Betrachters. Als mich der Wattforscher Akio Tamaki aus Japan im Wattenmeer besuchte, kam er aus begeistertem Staunen nicht heraus. In Japan sind Watten höchstens mal einen Kilometer breit. Da an der Küste Japans ebener Baugrund rar war, wurden viele der spärlichen Watten zugeschüttet. Umso wichtiger wurde dadurch der verbliebene Rest. Die Weite im Wattenmeer faszinierte Akio so sehr, dass er mir heute noch davon schreibt. Dadurch weiß ich das Wattenmeer in seiner Gesamtheit, über Ländergrenzen hinweg, erst recht zu schätzen.

Es war im Jahre 1988 über dem Watt vor Borkum. Zu dieser Insel ließ sich der amtierende Umweltminister Klaus Töpfer zum Urlaub fliegen. Vom Piloten auf das ungewohnte Grün im Watt aufmerksam gemacht, veranlasste er einen Forschungsauftrag, um dem auf den Grund zu gehen. Auch im Watt vom Königshafen wucherten zu dieser Zeit grüne Algen in Massen, wo vorher sonst kaum welche gewesen waren. Erste Befunde dazu hatte ich bereits publiziert und so erhielt ich den Auftrag. Zuerst brauchten wir einen Überblick. Da die angebotenen Hubschrauber vom Bundesgrenzschutz viel zu laut dröhnten und alles Federvieh aufscheuchten, starteten wir mit einem kleinen Sportflugzeug. Jürgen Meyer-Brenkhof, ein begeisterter Pilot, flog uns übers Wattenmeer. Was wir damals nicht ahnen konnten: Daraus wurde eine Flugfreundschaft für die nächsten dreißig Jahre. Das Kartieren von Grünalgen und Seegraswiesen im Watt wurde zu einer Daueraufgabe der staatlichen Umweltbeobachtung. Gestartet wurde vom Flughafen bei Westerland auf Sylt: im Juni, wenn Grünalgen schon erste Teppiche im Watt bilden konnten, im Juli, wenn Seegrasblätter erste Wiesen formten, und im August, wenn das Seegras am dichtesten wuchs und bevor erste Herbststürme Grünalgen wieder wegspülen konnten. Beides, Grünalgen und Seegräser, wollten wir im Blick haben. Die Grünalgen waren für uns der Indikator für überdüngtes Küstenwasser und die Seegräser Indikator für saubere Verhältnisse.

So klar unsere normative Entscheidung zwischen Gut

Verloren waren wir, wenn Grünalgen und Seegräser durcheinanderwuchsen. Jürgen, der Pilot, erkannte unsere Not und flog dann so viele Runden um das fragliche Grün, bis wir uns entscheiden konnten oder einem davon speiübel wurde. Neben dem Piloten kartierten immer sechs Augen. Wer vorne im Cockpit saß, das war meistens ich, hatte den Überblick und das letzte Wort. Die beiden dahinter kartierten entweder zur linken oder rechten Seite. Zurück am Boden, entstand aus drei Versionen eine gemeinsame Karte. Keineswegs waren wir perfekt, aber wir vertrauten darauf, dass wir in jedem Jahr etwa gleich viele Fehlentscheidungen trafen, sodass trotzdem wahre Veränderungen erfasst wurden. Ergänzend oder klärend kamen immer auch Beobachtungen von unten mit hinzu.

Kein Flug endete ohne Extrarunden um den Königshafen. Das musste sein, denn außer Seegras und grünen Algen gab es für uns ja noch viel mehr von oben zu sehen. Muschelbänke und Muschelschill; goldbrauner Schlick durch Diatomeen (Kieselalgen); hellgrünes Schimmern von einzelligen grünen Algen, die bei Licht nach oben kamen und bei Flut wieder im Boden versanken; schwarzgrüne Polster von fädigen Schlauchalgen in der Elbmündung; mausernde Brandenten im Dithmarscher Außenwatt; Hausgrundrisse, Brunnen und Gräben beiderseits vom Rummelloch, einem Priel, der Spuren von vor vierhundert Jahren untergegangenen Marschdörfern wieder freilegte; Seehunde an Prielhängen und etwas abseits von ihnen die dunkelbraun melierten Damen und schwarzweißen Herren der Eiderenten; das Wrack der havarierten Pallas; vor Büsum im Watt flanierende Menschengruppen und ein Kreis um eine erklärende Wattführerin; Pferdekutschen von Neuwerk hinterließen eine helle Schneise, wo sie durch Grünalgenmatten rollten. Und vieles mehr.

Der Blick von oben lässt endlose Wattweiten zusammenschnurren. Dafür aber zeigt er das große Muster von Schlick

Zu Anfang überflogen wir das gesamte Wattenmeer von den Niederlanden bis Dänemark, denn Ökologie kennt keine Grenzen und das Watt keine Nationalfarben. Seehunde verteilen sich immer wieder neu, wahrscheinlich je nach Ergiebigkeit ihrer Fischgründe in Wattenmeer und Nordsee. Vogelschwärme rasten mal auf dänischen Sandbänken und picken danach deutsche Muscheln und umgekehrt. Plankton treibt parallel zur Küste mit der Strömung vorwiegend von Südwest nach Nordost im Wattenmeer, hinter den Inseln oft aber auch umgekehrt, und die wechselnden Windrichtungen haben immer das letzte Wort. Von oben aus ist die Zusammengehörigkeit der Watten und Priele von Texel bis Skallingen ganz offensichtlich. So verschieden die Menschen an der Küste auch sprechen mögen, das Wattenmeer ist eine natürlich gewachsene Einheit.

Den Naturbegriff verwende ich ohne esoterisches Flimmern und ideologisches Flackern. Mir geht es um die Substanz und nicht die Essenz, also um die reale Natur und nicht deren Wesen. Diese Natur hat Geschichte, aber das Wort Naturgeschichte (Historia naturalis) gilt als veraltet. In der Antike umfasste Naturgeschichte alles, was unsere Sinne wahrnehmen können (Aristoteles) im Gegensatz zur abstrakten Welt der Ideen (Sokrates und Platon). In der Neuzeit wurde daraus vornehmlich die Kunde von Sternen, Mineralien, Pflanzen und Tieren. Die galten im Abendland als zeitlose Werke einer Schöpfung. Als sich dann aber die Entwicklungsgeschichte unseres Planeten und seiner Lebewesen im wissenschaftlichen Denken etablierte, verstaubte die tradierte Naturgeschichte und wurde durch so selbstbewusste Disziplinen wie Astronomie und Geologie, Botanik und Zoologie oder Anthropologie ersetzt. Die Naturgeschichte überlebte nur noch in den Namen naturkundlicher Museen oder als Natural History im Nature Writing angelsächsischer Literatur.

Dabei finden heute historisch orientierte Naturbetrachtungen, also Naturgeschichte im wörtlichen Sinn, zunehmende Beachtung. Seit wann gibt es in Norddeutschland die Buchenwälder? Warum verzeichnet Olaus Magnus 1539 in seiner illustrierten Karte von Skandinavien für Finnland Pelikane («eyn Vogel groß wie eyn Schwan … Der hat eyn Kropff wie eyn Sack under der Kelen …»)? Welche Rolle spielte das Klima und welche der Mensch? Warum breitete sich Heide aus und wo verschwanden Moore aus der

Diese Fragen führen zum geschichtlichen Rahmen heutiger Ökosystemfunktionen, die als stoffliche Zyklen analysiert, durchgerechnet und modelliert werden, als wären sie schon immer so gewesen. Insbesondere für Ziele im Naturschutz ist es aber unerlässlich, die Geschichte einer Landschaft, eines Moores, Flusses oder der Küste gut zu kennen. Die Fragen gehen außerdem über die Ökologie hinaus bis in die Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hinein. Die Geschichtlichkeit der Natur liefert das Maß für mögliche, gewünschte oder unerwünschte Zukünfte – auch wenn es stets anders kommen kann, als man heute noch denkt.

Jeder Ort, jeder Mensch sowie jede nichtmenschliche – aber nicht übernatürliche – Natur hat eine Geschichte mit Anfang und Ende. Nicht nur Menschen schreiben Geschichte, sondern alle Welt schreibt Geschichte. Die können wir mit absolutem oder unserem relativen Zeitmaß zu erfassen versuchen. Wo uralte Eichen eine Landschaft prägen, gleichen wir Eintagsfliegen und dieser Baum erscheint uns wie eine Ewigkeit. Wo aber Priele sich von Jahr zu Jahr neu winden und wo Pionierpflanzen der Salzwiese weit ins Watt vorspringen, galoppiert uns die Natur wie ein Rennpferd davon. Dann ist sie uns unheimlich, denn wir nehmen unsere Lebenszeit als Maß. Wir möchten nicht, dass die Natur uns entgleitet. Entsprechend beunruhigt uns regionaler und globaler Wandel, wenn er sich überschlägt. Inzwischen haben wir gelernt, lokale Wetterkapriolen von regionalen Extremen und globalen Klimatrends zu unterscheiden. Der Klimaerwärmung folgt unvermeidlich ein schnellerer Meeresanstieg, der über

Die Geschichte der Natur liefert das Maß für ihre Zukunft. Eine kleine Wattenbucht auf Sylt dient als Messlatte für den Wandel im gesamten Wattenmeer. Die Episoden in der Natur des Königshafens am Nordende von Sylt habe ich über ein halbes Jahrhundert miterlebt und konnte sie vergleichen mit Aufzeichnungen aus den Jahrzehnten davor. Der Königshafen wurde mein Ausgangs- und Bezugspunkt für globale Küstenreisen. Was mir da als langer Zeitraum erscheint, ist dennoch nur ein Lidschlag in den gähnend langen Zeiträumen der Erdgeschichte. Doch auch die gilt es in Betracht zu ziehen, um Gegenwärtiges und Zukünftiges verstehen und bewerten zu können.

Um die Existenz dieser kleinen Bucht herzuleiten, denken wir uns zurück in die letzten Eis- und Warmzeiten unseres Planeten. Ein kilometerdicker Eisschild der vorletzten Kaltzeit (Saale-Kaltzeit vor 300000 bis 126000 Jahren) überzog ganz Nordeuropa vom Harz bis zu den Britischen Inseln. Unsere verflossenen Verwandten, die Neandertaler, erlebten damals ein mehrfaches Vor und Zurück gewaltiger Gletscher. Einer davon gebar die Sylt-Moräne, einen Haufen Erdreich und Gestein, abrasiert und ausgehobelt vom Eis. Die kurze Warmzeit danach (Eem-Warmzeit vor 126000 bis 115000 Jahren) ließ das Meer rasch steigen, und die Moräne wurde für mehrere Jahrtausende zur Insel. Dann wurde es wieder bitterkalt, das Meer zog sich erneut zurück und Sylt lag trocken als Hügel in baumloser Tundra oder Taiga mit Birken und Nadelwald. Nicht weit, nur etwa 70 Kilometer

Das wiedergeborene Sylt ist gemessen an dieser langen Geschichte noch jung, etwa acht- bis siebentausend Jahre. Gleichzeitig zogen weiter im Süden schon Viehzüchter mit gezähmten Ziegen über Land, und Frauen kreuzten erste Getreidesorten. Sylt reichte anfangs noch mehrere Kilometer weiter raus in die See. Doch Wellen spülten nach und nach Sand und Lehm vom eiszeitlichen Hügel fort: Davon zeugt das grandiose Rote Kliff von Kampen. Was dort ins

Sylt schräg von oben mit Königshafen und noch anderem Watt drum herum.

Die meisten anderen Inseln im Wattenmeer sind jünger und ganz aus Sandbänken entstanden, also aus dem Meer geboren. Sie nahmen durch Wind und Wellen die Gestalt von Bananen an, so wie die ostfriesischen Inseln. Im Schutz ihrer Dünen wuchsen Salzwiesen aus dem Meer. Keine dieser Inseln blieb, wo sie entstanden war. Manche verschmolzen mit Nachbarn, andere tauchten wieder ab. Seit etwa tausend Jahren bestimmt zunehmend der Mensch die Küstenform mit. Landbesitz wurde gegen das Meer verteidigt und Neuland gewonnen. Doch das Meer schlug zurück. Vor 500 Jahren erlangte das Wattenmeer seine größte Ausdehnung, denn eingedeichte Marschen sackten ab, und nach Sturmfluten zog sich von dort das Meer nicht wieder zurück. So entstanden Dollart, Jadebusen und Wattflächen vor Nordfriesland. Andere Watten wurden zu Land und dann erneut eingedeicht.

Sylt war vermutlich auch einmal über Salzwiesen und Moore mit dem Festland verbunden und wurde dann durch Sturmfluten getrennt, bis 1927 ein Bahndamm durchs Watt die Insel fest mit dem Festland verband. Im Watt veränderte sich viel und immerzu. Oft wurde der Mensch zum Auslöser. Wir wissen von der vernichtenden Jagd auf Wale und Robben, auf Vögel, dem letzten Fang großer Fische und dem Raubbau

Im Wattboden des Königshafens haben sich in den letzten hundert Jahren mehr als dreißig Tier- und Algenarten aus Übersee in die Lebensgemeinschaften eingemischt – und sind geblieben. Sie kamen als blinde Passagiere mit Schiffen und breiteten sich entlang der Nordseeküste bis in den Königshafen aus. Nimmt man hinzu, was bisher nur von Hafenanlagen bekannt ist, sind es im gesamten Wattenmeer von den Niederlanden bis Dänemark mehr als dreimal so viele Immigranten. Manche davon übernahmen sich in den ersten Jahren und blieben danach auf Mittelmaß.

Am aufdringlichsten wurde eine Auster aus dem Pazifik. Sie wurde absichtlich eingeführt und im Sylter Watt gemästet. Sie sollte ein wirtschaftlicher Trost für die durch Raubbau verlorene Europäische Auster sein. Diese Pazifische

Bei der Überdüngung des Nordseewassers vom Land aus scheint das Schlimmste überstanden zu sein. Die Nährstoffeinträge über die Flüsse sind zwar immer noch sehr hoch, aber sie gingen in den letzten dreißig Jahren wieder zurück. Wohl zuvor davon ausgelöst, wucherten im Königshafen in den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts im Sommer fädige Grünalgen wie nie zuvor. Wie schon erzählt, bedeckten sie als Matten weite Watten. Darunter wurde der Sauerstoff knapp. Die Bodentiere flüchteten oder starben, und das Watt stank zum Himmel. Dieser Spuk war nach etwa zehn Jahren wieder vorbei. Jetzt ist die Klimaerwärmung zum stärksten Treiber von Veränderungen

Der Königshafen dient uns als Messlatte für Veränderungen im gesamten Wattenmeer. Diese Bucht wurde vergleichsweise wenig durch Menschenhand verformt. Die Wehrmacht allerdings bezog Stellung im Dorf List am Rande des Königshafens und deichte 1937 die Salzwiese am Südufer ein. Ein Plan tauchte auf, die Bucht in einen Militärflugplatz zu verwandeln. Dafür wurde schon mal eine Sandinsel aufgespült. Dann tauchte der Plan aber wieder ab. In der Salzwiese im Westen der Bucht rostete lange Zeit ein britischer Panzer. Betrunkene Soldaten waren damit vom Weg abgekommen. Auf dieser Salzwiese wurden später immer nach der Sommersaison große Zielscheiben aufgespannt. Deswegen düsten im Tiefflug Militärjets über den Königshafen, um sich im Schießen zu üben. Vögel stoben in alle Richtungen davon. Nach 1992 wurden dann aber im Königshafen nur noch Fotos geschossen.

Die Dünen um den Königshafen herum waren einst ein sagenhaftes Brutgebiet für Küstenvögel. Neben Seeschwalben, Brandenten, Austernfischern und kleinen Regenpfeifern gab es dort bis zu 30000 Brutpaare von Silbermöwen. Die Lister Bauern hatten Sammelrechte für Möweneier und ernannten einen «Eierkönig», der während der Brutzeit auf dem Ellenbogen wohnte. Der wachte darüber, dass den Möwen höchstens die ersten zwei Gelege genommen wurden und nie das dritte. So blieb die Kolonie durch nachlegende Möwen erhalten. Entdeckte der König unbefugte Eiersammler in seinem Reich, begrüßte er sie unter heftigem Abklopfen, damit alle Eier zu Brei gingen, die in den Taschen steckten. Auch ein freilaufender Bulle hielt Eierdiebe fern. Welchen

So bewegt die Naturgeschichte des Königshafens auch war, andernorts hat sich in Mitteleuropa noch viel mehr verändert: Wälder wurden abgeholzt, Sümpfe trockengelegt, Agrar- und andere Industrien, Straßen und ausufernde Städte übernahmen das Landschaftsbild. Dem gegenüber gleicht das Watt einer weiten, nur wenig befleckten Wildnis. Doch es wird auch nie wieder das Watt sein, das es einmal war. Weder Natur- noch Menschengeschichte sind rückspulbar. Das viel zitierte natürliche Gleichgewicht halte ich für reine Fiktion, ein romantisches Hirngespinst, das es in der Natur nie wirklich gab. Als erinnernde Wissenschaft hilft die Ökologie, die fortlaufende Naturgeschichte zu verstehen und die heutige Natur vergleichend zu bewerten. Nur wo wir die Geschichte der Natur gut kennen, können wir uns auch mit Augenmaß auf Schutzziele verständigen.