Der Seefahrer sieht den Norden nicht, weiß aber, dass die Nadel die Richtung kennt.
Emily Dickinson (1862)
Wagen wir einen Blick in die Wunderkammer des königlichen Antiquars des dänisch-norwegischen Reiches Ole Worm in Kopenhagen – vielmehr auf den Stich, den ein gewisser G. Wingendorp im Jahre 1655 davon gefertigt hat. Dieses Bild findet sich am Anfang des Buches Museum Wormianum, in dem Worm die Bedeutung vieler Objekte seiner Sammlung erläutert. Am rechten Bildrand erkennt man mit etwas Fantasie einen Riesenalk, über den es heißt, er sei Worm von den Färöern geschickt worden und er habe ihn dann als Haustier gehalten. Die letzten Exemplare dieses flugunfähigen Seevogels wurden 1844 auf einer Island vorgelagerten Insel gesehen. Von der Decke hängt neben einem Kajak ein miniaturisierter Eisbär herab. Hinten links sind ein paar Skier und verschiedene Arten von Harpunen und Pfeilen an der Wand angebracht. Im vorderen Teil des Raumes links, schräg unterhalb von ein paar Geweihen, befindet sich ein aus seltsam geformten Teilen zusammengesetztes Objekt: ein aus den Wirbelknochen eines Wals gefertigter Hocker.
Oberhalb davon, ein kleines Stück weiter hinten, am Rande des Fensters, lässt sich ein seltsamer länglich geformter Gegenstand ausmachen: ein Schädel mit einem spitzen Zahn, darauf ein schneckenartiges, nach oben zulaufendes Muster. Er stammt von einem in der Arktis beheimateten Narwal, mit lateinischem Namen Monodon monoceros, der seinen Weg nur selten in südlichere Gewässer findet. Worm konnte mit diesem Fundstück als einer der Ersten belegen, dass das sagenumwobene Einhorn seinen Ursprung nicht in einem pferdeähnlichen Vierfüßer hat, sondern in ebendiesem die Nordmeere bewohnenden Tier. Bis dahin meinte man sowohl in Europa als auch im Fernen Osten, solche Zähne würden von Einhörnern stammen. Der Narwalschädel ist das Prunkstück in Ole Worms Wunderkammer. Das sagenumwobene Elfenbein war so wertvoll, dass es zehnfach in Gold aufgewogen wurde.
Die gewundenen Beine und Speichen des dänischen Thronsessels, der vom biblischen Thron Salomons inspiriert sein soll, bestehen aus solch einem begehrten Knochen. Der mit goldenen Figuren geschmückte Prunkstuhl soll als Erstes im späten 17. Jahrhundert bei der Inthronisierung von Christian V., König von Dänemark und Norwegen, verwendet worden sein.
Doch zurück zu dem Stich: Viele kleinere Gegenstände sind fein säuberlich nach Kategorien gruppiert und mit lateinischen Begriffen ausgezeichnet in diversen Kästen untergebracht. Die dort einsortierten Mineralien hatte er von Markscheidern bekommen, die in Bergwerken in Norwegen, auf den Färöern und in Schonen, dem südlichen Teil Schwedens, tätig waren. Der Tisch in der Raummitte hatte vermutlich die Funktion, ausgewählte Objekte näher in Augenschein nehmen zu können. Möglicherweise diente der abgebildete Tisch aber auch nur als Vorwand für das Etikett auf dem Frontispiz des Buches, das diese Illustration ziert. Von einigen Ausnahmen abgesehen, stammen die naturhistorischen Kostbarkeiten aus dem Norden. Man mag sich darüber wundern, dass die meisten Artefakte mit Jagd und Fischerei zu tun haben, und vielleicht auch darüber, dass – abgesehen von einigen Juwelen dänischen Ursprungs – keine im weitesten Sinne »künstlerischen« Objekte darunter waren. Letztere gerieten erst im 19. Jahrhundert in den Blickpunkt.
Es ist nicht gerade ein Raum, der dafür geschaffen scheint, es sich darin bequem zu machen – man denke an den Knochenhocker. Jedenfalls ist der Norden hier überall anwesend. Worms Museum ist ein Fall von sammlerischer Nordenfaszination par excellence, wie sie nur das Umfeld dieser Zeit hervorbringen konnte. Dieses Museum war nicht das einzige seiner Art. Ole Worm war als Arzt, Runenforscher und Polyhistor eine Persönlichkeit mit ungeheurem Wissensdrang. Nach dem Studium in Marburg, Padua und Basel hatte er während einer langen Studienreise einer Reihe wichtiger Wissenschaftler Europas einen Besuch abgestattet und einige der berühmtesten Sammlungen und Wunderkammern aufgesucht, von denen er sich für sein Vorhaben inspirieren ließ: die des Apothekers Ferrante Imperato in Neapel, die Wunderkammer von Ulisse Aldrovandi in Bologna, das Theatrum Naturae von Francesco Calzolari in Verona, das Raritätenkabinett von Moritz, Landgraf von Hessen-Kassel, und das Museum des berühmten Sammlers Bernhard Paladanus im holländischen Enkhuizen. Zu dieser Zeit fing er auch schon damit an, selbst Objekte zu sammeln und von anderen Sammlern zu akquirieren. Das eigentliche Museum Wormianum entstand um 1620.
Schaut man sich Stiche einiger dieser Sammlungen im Vergleich an, sind Ähnlichkeiten nicht zu übersehen. In allen Fällen ist ein kunstvoll möblierter Raum an den Wänden und an der Decke mit allen möglichen Gegenständen bestückt. Mit Wissenschaft im heutigen Sinne hatte das Sammeln verschiedenster Kuriositäten freilich nichts zu tun. Man interessierte sich im Prinzip für alles und erkannte in den Objekten die große Schaffenskraft Gottes.
Die Auswahl und das Arrangement der Trouvaillen entsprachen nicht nur Worms eigenem Wunsch, sie zu verstehen, sondern auch dem Anliegen, »meinem Publikum möglich zu machen, sie mit den eigenen Händen berühren und den eigenen Augen sehen« zu können. Mehr noch: Da sie von weit entfernten Orten kamen, erlaubten sie den Betrachtern auch, sich einen Begriff von der gewaltigen Ausdehnung des Nordens zu machen – selbst wenn die genaue Herkunftsgeschichte der einzelnen Artefakte nicht immer ganz genau bekannt gewesen war. Worm war zu Recht stolz auf sie und soll über die ausgestellten Stücke Vorträge gehalten haben. Da diese Veranstaltungen auch von Isländern besucht wurden, geht man davon aus, dass sie ihm später einige Ausstellungsobjekte haben zukommen lassen.
Worms Wunderkammer war ein Speicher des kulturellen Gedächtnisses: Mineralien, Pflanzen, Tiere und sogenannte artificialia, also von Menschen gemachte Objekte. Noch nach Worms Tod soll das Kabinett von Besuchern aus ganz Europa aufgesucht worden sein. Etwa vierzig dieser Gegenstände gibt es bis heute; einige davon sind im Naturhistorischen Museum von Kopenhagen untergebracht, andere im Dänischen Nationalmuseum. Soviel auch über die Objekte der Kammer bekannt ist, kann man nur vermuten, wo sie sich befand. Seit damals sind Teile der Stadt von mehreren großen Feuern zerstört worden. Wahrscheinlich lag der Raum in einem der damaligen Universitätsgebäude – er dürfte Teil einer für Professoren vorgesehenen Wohnung gewesen sein, in die Worm nach dem Tode seines Vorgängers Professor Caspar Bartholin gezogen war. Es ist denkbar, dass Worm von seiner Wohnung aus einen Blick auf die im Stadtzentrum gelegene Krystalgade (Kristallstraße) hatte.
Wo Norden ist, hängt zunächst vom geografischen Standpunkt des nach Norden Schauenden ab. Ein Beispiel: Die 49 Quadratkilometer große Vulkaninsel Bouvetøya ist fast völlig mit Eis bedeckt. Niemand wohnt dort, und seit einem halben Jahrhundert ist sie Naturschutzgebiet. Sie trägt einen norwegischen Namen und gehört auch zu diesem Land. Dem französischen Seefahrer Jean-Baptiste Charles Bouvet de Lozier und seinen Begleitern gelang es wegen der hohen Gletscherkliffe nicht, die Insel 1739 zu betreten. Die legendäre deutsche Valdivia-Expedition nahm sie vom 24. bis 28. November 1898 in Augenschein. Zunächst hatte Großbritannien einen Anspruch auf das Eiland erhoben; das änderte sich jedoch, als der Norweger Harald Horntvedt sie im Jahre 1927 genauer untersuchte und bei dieser Gelegenheit auch die norwegische Flagge hisste. Großbritannien erklärte sich bereit, die Insel abzutreten.
Bouvetøya liegt in nördlicher Richtung, allerdings nur vom Südpol aus gesehen, denn die Insel befindet sich zwischen Südafrika und der Antarktis. Manchen gilt sie als »einsamster Ort der Welt«, denn hier sind nur Robben, Pinguine sowie für diesen Teil der Erde typische Meeresvögel zu Hause.
Der Norden beginnt, wo der Süden aufhört. Aber wo genau verläuft die Grenze, und an welchen Merkmalen lässt sie sich festmachen? Johann Wolfgang von Goethe sah noch den Brennerpass in den Alpen als »Grenzscheide des Südens und des Nordens«. Der aus Cornwall stammende britische Chemiker Humphry Davy, der 1824 im Rahmen einer siebenwöchigen Reise bis zur norwegischen Küste und nach Schweden vorstieß, wähnte sich schon im Norden, als er Hannover erreichte. Für den Schweizer Dichter Charles Victor de Bonstetten war es dann ein Jahr später die Heidelandschaft, wo er zum ersten Mal den Norden zu erblicken meinte:
»Bei Lüneburg beginnt der Anblick des Landes sich zu verändern; in diesen Haiden sah ich zum ersten Male jene so reichlich über den Boden nördlicher Länder hingebreiteten Seen. Diese stehenden Gewässer auf morigen Ebenen vermehren den traurigen Anblick der Landschaft; der gleichsam leblose Boden verengt den Horizont; ein niederdrückendes Gefühl von Einsamkeit bemächtigt sich der Seele; es scheint, als sei die Erde nichts wie ein dunkler Punct, den Nebel bald vermischen würden.«
Ähnlich ging es dem jungen französischen Historiker Jean-Jacques Ampère – Sohn des bekannten Physikers André-Marie Ampère –, der sich 1826 von Paris aus zunächst auf den Weg nach Osten und bald darauf nach Norden begab. Noch vor Berlin erfasste ihn das Gefühl, die Grenze zur Natur des Nordens, genauer zu der Skandinavien und Russland bedeckenden Vegetationszone, zu überschreiten: »Tannen auf Bergen, das hätte in der Schweiz, der Auvergne und der Dauphiné sein können; Tannen im Flachland, auf einer Sandebene, das war der Norden Europas. Wäre ich eingeschlafen und an achthundert Ortschaften vorbeigefahren, hätte ich genau dieselbe Natur wiedergefunden, wenn ich an den Ufern des Ob [Fluss im Westen Sibiriens] erwacht wäre.« Preußen war für Ampère so etwas wie das Vorzimmer seines skandinavischen Traums. Man merkt seinen Beschreibungen an, wie er den Übergang auskostete und die Kilometer am liebsten in die Länge gezogen hätte; immer wieder variierte er die assoziativen Zuschreibungen ein wenig. Rügen sah er als »eine Art Probe und Vorposten Skandinaviens«.
Hin- und hergerissen schien man bei der Zuordnung des deutschen Kulturraums gewesen zu sein, wie der Historiker August Ludwig von Schlözer in seiner Allgemeinen Nordischen Geschichte (1771) schrieb, hier wohlgemerkt noch hundert Jahre vor der Reichsgründung: »Wir Deutschen rechnen uns nicht mehr zum Norden; allein der Franzos begreift schon unser Land unter seinem Nord, und spricht von Berlin, wie wir von Stockholm. Den spanischen Schriftstellern ist es sehr geläufig, unter dem Norden Großbritannien zu verstehen, und es ist natürlich, daß der Afrikanische Erd- und Geschichtsschreiber das Mittelländische Meer die Nordsee nennt, und sich alle Europäer wie Nordische Völker denkt.« Es war also kompliziert. Und im Falle von Deutschland war neben Faktoren wie Kleinstaaterei und konfessionellen Unterschieden die Zuordnung auch dadurch erschwert, dass das Gebiet nur zum Teil natürliche Grenzen durch Flüsse und Meere aufwies.
Auch für jemanden, der in abgelegenen nördlichen Regionen lebt, ist seine Heimat nichts weniger als das Zentrum der Welt, die normale geografische Mitte. Und am Nordpol, dem »absoluten Norden«, stellt sich die Frage nach der Himmelsrichtung nicht einmal. Für die Dänen ist die »Nordsee« das Westmeer, Vesterhavet. In Großbritannien war die Nordsee lange mit dem Begriff »the German sea« belegt.
Zudem war das, was man unter »Norden« verstehen konnte, im Lauf der Geschichte eine veränderliche, bewegliche Kategorie. Ein realer wie imaginärer Raum, der sich bis zu den Grenzen des nördlichen und keltisch geprägten Europas, des nördlichen Teils der Britischen Inseln, bis hin zum englischen Teil Nordamerikas und sogar darüber hinaus erstrecken sollte.
»Nordeuropa« wird häufig mit »Skandinavien« gleichgesetzt, dabei umfasst Letzteres genau genommen nur Schweden und Norwegen. Während der größte Teil Dänemarks zu Kontinentaleuropa zu rechnen ist, gehören Island und Finnland nicht zu Skandinavien, obwohl Finnland vom Mittelalter bis 1809 ein Teil Schwedens war und Schwedisch dort bis heute die zweite Amtssprache ist (danach war es Teil Russlands, allerdings mit eigener Gesetzgebung und Religion, und 1917 wurde es unabhängig). Ein interessanter Sonderfall sind die in der nördlichen Ostsee gelegenen Åland-Inseln, die offiziell zu Finnland gehören, wo Schwedisch aber dennoch die einzige Amtssprache ist. Und was ist mit Grönland, der größten Insel der Erde, und den Färöern, die offiziell, wenn auch mit Sonderstatus, zu Dänemark (früher zu Norwegen) gehören? Und Estland und Lettland, die über Jahrhunderte im dänischen bzw. schwedischen Reich lagen? Russland zählte im allgemeinen Verständnis bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum »Norden« oder »Nordland«, bevor in Europa das Denken in »Westen« und »Osten« dominant wurde. »Northland« ist der Norden entlang der 9000 Kilometer langen kanadischen Grenze von Amerika aus gesehen. Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood, die einen großen Teil ihrer Kindheit in den Wäldern des nördlichen Quebec verbracht hat, schrieb einmal:
»Wo genau ist der Norden? Er ist nicht nur ein Ort, sondern auch eine Richtung, und als solche in seiner Lage relativ: für die Mexikaner sind die Vereinigten Staaten der Norden, für Amerikaner ist es Toronto, obwohl es ungefähr auf demselben Breitengrad wie Boston liegt. Wo immer er sich für uns befindet, es gibt ihn vielmals.«
Umfasst die »Nord-Welt«, wie der nicht näher bezeichnete Autor »F.M.« in seinem 1727 in Frankfurt und Leipzig erschienen Band Neu entdecktes Norden sie definierte, alle »mitternächtigen Länder und Insuln, die vom 63sten Gradu latitudinis biß unter den Polum Arcticum gelegen seynd«? Im Brockhaus von 1820 hieß es: »Unter dem Worte Norden versteht man […] die Länder, welche zunächst dem Nordpol liegen. In der letzten Bedeutung ist es ein äußerst unbestimmter Begriff, indem man bald mehr bald weniger darunter versteht. Es läßt sich vom Norden, sobald der Begriff einmal genau festgesetzt ist, eine allgemeine Charakteristik entwerfen, die dann die gemeinschaftlichen Eigenheiten der nordischen Länder und ihrer Bewohner (Nordländer) enthielte.« Eine andere Möglichkeit bestand darin, den Norden an den dort lebenden Tieren festzumachen wie etwa Friedrich Lange in seiner Erd- und Staatenkunde (1821): »In den Nordländern lebt das Rennthier und der Hund, auch geht das Pferd und das Schaf bis zum Polarkreis, nur ist das Pferd hier viel kleiner, als in den wärmeren Ländern, etwas südlicher das Pelzwild. Auch gehören die großen Meeresungeheuer, die Walfische, die Walrosse, so wie die Seebären und Seehunde den nördlichen Gegenden besonders zu. Von den Vögeln besonders die mit den warmen und weichen Daunen versehenen Eidergänse etc.«
Ist die entscheidende und interessantere Frage womöglich gar nicht, wo genau der »wirkliche« Norden oder die Arktis beginnt, sondern die, was wir für »Norden« halten? Das würde dafür sprechen, eher von vielen Norden auszugehen als von einem einzigen. Denken wir uns »Norden« im Folgenden stets mit Anführungszeichen: als ein relativ flexibles Konzept oder Konstrukt.
In diesem Sinne war der Geograf Johann Reinhold Forster (der Vater von Georg Forster), der von 1772 bis 1775 an der Cook’schen Expedition in die Antarktis teilgenommen hatte, seiner Zeit voraus. Er hatte begriffen, dass das Verständnis vom Norden »nicht zu allen Zeiten gleich gewesen« ist, sondern sich mit den Entdeckungen erst nach und nach erweiterte. Forster unterschied »unseren Norden« – er meinte damit den vertrauten europäischen Norden – von einem viel weiter gefassten, der dann auch Nordamerika, die Hudson Bay, Sibirien, Grönland und Spitzbergen miteinschloss.
Das Wort »Norden« hat indogermanische Wurzeln und bedeutet »links vom Sonnenaufgang«. Sich »einzunorden« heißt wörtlich, eine Landkarte so auszurichten, dass die Nordseite im freien Gelände nach Norden zeigt. Himmelsrichtungen ermöglichen als Koordinaten räumliche Orientierung, mit ihnen verbinden sich aber auch kulturelle und politische Bedeutungen.
Was war es, das die Menschen am Norden interessierte? Wie reagierten Reisende auf die Landschaften und Kulturen, denen Sie dort begegneten? Wie veränderte sich im Laufe der Zeit das Verhältnis zum Norden? Er existiert als realer Ort, aber wie korrespondiert er mit der Idee, die sich Menschen davon gemacht haben? Nicht zuletzt befindet sich der Norden im unvermeidlichen Gegensatz zum Süden, der oft den Blick leitete. Man kann sich die Idee des Nordens wie einen Schatten vorstellen, der derjenigen des Südens folgte und hier und da bestimmte Reaktionen, Reflexe hervorrief.
Die Geschichte des Nordens lässt sich mit verschiedenen Akzenten erzählen. Hier geht es um den Wandel der Zuschreibungen, Sehnsüchte, die sich – in Konkurrenz zu den anderen Himmelsrichtungen und geografischen Horizonten – mit dem Norden verbanden. Die Kunde von ihm verbreitete sich durch Schriften von Menschen, die ihn vielfach nicht einmal selbst bereist hatten, aber auch durch die Berichte von Entdeckern und Reisenden, sodass sich bei den zu Hause Gebliebenen ein Bild dieser Welt formen konnte. Obwohl die »Erfindung« des Nordens – hier auf überschaubarem Raum entfaltet – auch von nicht vorhergesehenen Entdeckungen flankiert wurde, kam sie nicht einfach aus dem Nichts. Sie war oft ein bewusst gesteuerter Vorgang, eine Konstruktion, die von bestimmten Interessen geleitet wurde, bestimmten Zwecken diente und ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgte. Dieses Buch versteht sich als kulturgeschichtlicher Katalog von Episoden und Schlaglichtern auf den Norden, die sich zum Teil zeitlich überlagern.
Gehen wir zunächst einen großen Schritt zurück in die Zeit, als sich die gebildete Welt im weiteren Mittelmeerraum konzentrierte. Dort lag das kulturelle Zentrum Europas. Die Weltsicht des Herodot von Halikarnassos, der fast fünf Jahrhunderte vor Christus lebte, wird auf einer Landkarte wiedergegeben, die dem Mittelmeer, dem Schwarzen Meer und den angrenzenden Regionen schon realistische Formen verleiht, sich im Nordwesten des Kontinents aber mit einer geschwungenen Linie zufriedengibt, die von den Britischen Inseln und den Landmassen Skandinaviens nicht einmal etwas erahnen lässt. Zum Vorwurf kann man ihm das natürlich nicht machen: Mehr als das, was damals bekannt war, konnte man nicht auf einer Karte abbilden. Norden war das phantomhafte, stets von Dunkelheit geprägte Gebiet, das sich jenseits der Nordgrenze der griechisch-römischen Welt, also jenseits der Alpen und des Schwarzen Meeres erstreckte.
Das sagenhafte Land Hyperborea verorteten die Menschen der griechischen Antike im Nordosten Europas, jenseits des Nordwindes Boreas – benannt nach dem gleichnamigen Gott, von dem man meinte, dass er den Winter brachte. Sie stellten es sich als Land des Überflusses vor, in dem Riesen leben, die weise, glücklich und unsterblich sind, sich Musik und Tanz hingeben und weder von Krankheiten noch von anderen Sorgen geplagt werden. Allerdings war es für Sterbliche nicht möglich, dorthin zu gelangen. Für den Geografen Strabo, der um die Zeitenwende lebte, umfasste der Norden dann schon konkreter den nordwestlichen Teil Galliens, die Britischen Inseln, das Niederrheingebiet und Skandinavien.
Und wo lag das sagenhafte Thule, das zum ersten Mal im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung von dem aus Marseilles (Massilia) kommenden griechischen Astronomen Pytheas gesichtet worden sein soll? Angeblich soll es nördlich der Insel Britannien gelegen haben und nach sechs Tagen Fahrt mit einem Segelschiff zu erreichen gewesen sein. Packeis soll es dort gegeben haben; man konnte weder segeln noch sich zu Fuß fortbewegen. War er womöglich bis Island, zu den Färöern oder sogar bis Grönland gekommen? Kenntnis über diese Reise gab ein Dokument, das vermutlich Über den Ozean hieß, aber verschollen ist – Verweise darauf finden sich in den Werken anderer Autoren und Astronomen. Thule bzw. Ultima Thule wurde im weiteren Verlauf mal mit Island, mal mit den Orkneyinseln, ein anderes Mal mit den Färöern oder selbst mit Norwegen gleichgesetzt. »Thule«, »Norden« und »Arktis« wurden sogar oft wie Synonyme verwendet. Dabei wurde »Arktis« von »Arktikos« abgeleitet: »von dem großen Bären«, also »Ursa Major«, dem gut sichtbaren Sternbild am Nordhimmel. Zweifel an der genauen geografischen Lage hinderten Kartografen noch im 16. Jahrhundert nicht daran, Thule als Insel auf einer Landkarte einzutragen – wie man eben generell auch Leerstellen nach bestem Wissen und Gewissen ausfüllte, wenn nichts Genaueres darüber bekannt war.
Schon früh war klar, dass sich die bekannte Welt kontinuierlich erweiterte. Im 1. Jahrhundert nach Christus griff der Philosoph Lucius Annaeus Seneca das Motiv in seiner Tragödie Medea auf. Prophetisch singt der Chor:
»Es durchsteuert schon jeder Nachen die Flut. / Kein Markstein verbleibt. In Neuland verlegt / nun manch eine Stadt ihrer Mauern Ring. Nichts lässt, wo es war, die erschlossene Welt. / Das eisige Nass des Araxes schlürft / der Inder, es trinkt der Perser bereits / aus Elbe und Rhein. Es wird kommen die Zeit, / wenn die Jahre vergeh’n, wo des Ozeans Strom / den Erdenring sprengt und ein riesiges Land / sich weithin erstreckt, wo Tethys enthüllt / was an Räumen sie barg – das Ende der Welt / ist Thule nicht mehr.«
Der Chor sollte recht behalten, denn der Horizont verschob sich tatsächlich immer weiter nach Norden. In einer Arbeit des irischen Mönches Dícuil, Liber de Mensura Orbis Terrae, die aus der Zeit um 825 stammt, taucht »Thule« erneut auf, und aus dem Zusammenhang lässt sich schließen, dass in diesem Fall damit Island gemeint war. Bis zum 9. Jahrhundert, als auf den Färöern und Island die ersten norwegischen Siedlungen gegründet wurden, galten die Shetlandinseln als Grenze der bewohnten Welt. Die Strecke von dort nach Island entspricht etwa jener nach Nordwestengland. Neben Orkney und den Hebriden stellten die Inseln so etwas wie das Sprungbrett nach Norwegen einerseits und andererseits nach Island und Grönland dar.
Der Norden galt lange als Hort des Teufels, es war der Ort, von dem das Unheil über die Welt kommen werde, im Süden hingegen, so hieß es, befinde sich die leuchtende Heimstatt Gottes. Der Prophet Jeremia spitzte den Dualismus noch weiter zu: Ihm zufolge werde das Unheil in Gestalt der Völker aus dem Norden hereinbrechen. Die Menschen des Nordens – wer auch immer im Einzelnen damit gemeint war – wurden im Volksglauben verschiedener Kulturen als Boten des Unheils gesehen.
Seit der Antike galt der Norden (wie auch der Westen) als Region der Kälte und Dunkelheit, ebenso als sonnenlos und lebensfeindlich. Dieses handliche Deutungssystem blieb das Mittelalter hindurch lebendig und fand seine Fortsetzung sogar in den alchemistischen Spekulationen des 16. und 17. Jahrhunderts.
Für Hildegard von Bingen war im 12. Jahrhundert die Hinwendung Adams nach Osten bei seiner Erschaffung Ausgangspunkt ihrer Überlegungen: Zu seiner Rechten habe der Süden der Seligkeit und zu seiner Linken der Norden der Finsternis gelegen. Die Himmelsrichtungen in der Kosmologie der Heiligen korrespondieren auch mit Winden. Der Norden sei die Himmelsrichtung, aus der der Kirche Schaden drohe, und »der bedrohlich im Zorn brummende Bär« stelle den Ausgangspunkt des »von Gott entfremdeten« und »von jeder Nützlichkeit, Glückseligkeit und Heiligkeit getrennten« Nordwindes dar, der Unheil und Unwetter mit sich bringe. Der Charakter des Nordwindes begründe dann sogar die Notwendigkeit der anderen Winde, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Der Norden selbst war für Hildegard von Bingen ein Unort.
All die vagen Ideen über den Norden konkretisierten sich mit den mal eher feindlichen, mal eher friedlichen Kontakten zu den dort beheimateten Menschen. Obgleich die zahlenmäßig kleine Bevölkerung des Nordens über ein Gebiet enormer Ausdehnung verteilt war, stellte sie doch, sobald es einmal zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, immer wieder einen bemerkenswert starken Willen unter Beweis. Am eigenen Leib zu spüren bekamen das die Römer, als sie im Jahr 9 n.Chr. versuchten, ihre Grenzen bis zur Elbe auszudehnen. In der legendären Varus- oder Hermannsschlacht im Teutoburger Wald erlitten sie im Kampf mit den Cheruskern eine katastrophale Niederlage. Am Ende des Jahrhunderts sahen sich die Römer in Schottland dann Zehntausenden von Kaledoniern gegenüber, die damals dort lebten. Auch wenn die Schlacht am Mons Graupius im Jahr 83 oder 84 für die Römer siegreich ausging, belegen die Aufzeichnungen des römischen Historikers Tacitus, wie viel Respekt man vor der Ausdauer der ›barbarischen‹ Stämme hatte. Bekannt ist auch seine detaillierte Darstellung der Mentalität und Bräuche der »Germanen«, deren Lebensweise Tacitus wohlwollend als offenherzig und freiheitsliebend charakterisierte, wenngleich sie in einem unfreundlichen Land und Klima lebten. »Germania« war im Übrigen eine Bezeichnung, die er einem Gebiet mit nicht klar definierten Gruppen von Menschen zuordnete; sie entsprang nicht ihrer eigenen Verwendung. Zum Teil können Tacitus’ Äußerungen als Kritik an den römischen Verhältnissen verstanden werden.
Während der folgenden Jahrhunderte versetzten zunächst die aggressiven, von Norden nach Süden vorstoßenden skandinavischen Krieger die Völker des Südens in Angst und Schrecken. Wikinger, von den Fjorden Norwegens kommend, unternahmen erst in England und bald im weiteren nordatlantischen Raum ihre gefürchteten Raubzüge; als Anfangspunkt gilt gemeinhin der Überfall auf das Kloster Lindisfarne auf der gleichnamigen Insel vor der englischen Nordostküste im Jahr 793. An einem Abend des Jahres 845 überfielen Wikinger dann auch Hamburg. Klosterbau und Bibliothek gingen in Flammen auf, und wer nicht rechtzeitig fliehen konnte, wurde erschlagen. Es dauerte lange, bis sich die damals kleine Siedlung von der brutalen Heimsuchung erholte. Einhundertfünfzig Jahre später fuhren Wikinger noch einmal die Elbe hinauf und terrorisierten Stade. Im Jahr 860 griffen die Waräger, die auch zu den Wikingern gezählt werden, Konstantinopel an, und im Jahr 885 fielen dänische Wikinger in Paris ein. In den darauffolgenden Jahrhunderten eroberten die Normannen die Normandie, Süditalien und England. Grönland wurde 980 von dem norwegisch-isländischen Seefahrer Erik dem Roten entdeckt. Obwohl das dortige Klima damals günstiger war als heute, gediehen weder Getreide noch Gemüse. Allerdings nannte er es trotzdem »grünes Land«, um es für Siedler attraktiver erscheinen zu lassen. Und sein Trick hatte Erfolg: Bald brachen 25 Schiffe von Island dorthin auf, von denen 14 ihr Ziel auch tatsächlich erreichten. Sein Sohn Leif Eriksson soll dann im Zuge seiner Reise weiter nach Westen das legendäre »Vinland« erreicht und Amerika entdeckt haben.
Irische Mönche waren vermutlich schon im 7. Jahrhundert bis zu den Färöern und nach Island gelangt. 1136 wurde im nordrussischen Archangelsk ein Kloster gegründet, und hundert Jahre später gab es vielerorts auf der skandinavischen Landmasse und auf Island Klöster. Über mehrere Jahrhunderte war das Christentum das Bindeglied, das den Norden und Süden Europas mit fortschreitender Missionierung immer mehr zu einer kulturellen Einheit verband – bevor diese Teile nach der Reformation in Skandinavien auseinanderzudriften begannen.
Die Bilder von den ungestümen Menschen aus dem Norden wirkten noch lange nach. Neben der Konsolidierung der skandinavischen Herrschaften (die vor allem durch verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden und keine Staaten im heutigen Sinne waren) trug das Aufkommen der Hanse, die ihr Handelsnetz sukzessive vom deutschen Nord- und Ostseeraum zum südlichen Skandinavien und bis nach Island hin ausdehnte, im 12. Jahrhundert dazu bei, dass etwas Ruhe einkehrte.
Vormoderne Darstellungen des Nordens sind gerade wegen ihrer mythischen Vorstellungen eine faszinierende Lektüre. Der erste eher systematische Autor war der Kleriker Adam von Bremen, der im 11. Jahrhundert lebte. Er hatte eine Vielzahl von Quellen studiert und neben Geistlichen in auswärtigen Klöstern auch Schiffer, Kaufleute sowie König Sven Estridsen von Dänemark befragen können, und man verdankt ihm wertvolle Informationen »über die Beschaffenheit der Länder im Norden« aus der Zeit um die erste Jahrtausendwende. Seine Bücher enthalten auch tradierte Vorstellungen, etwa die eines Mahlstroms, der alle Schiffe in die Tiefe zieht. So ganz aus der Luft gegriffen ist dieses Detail nicht: Wie wir heute wissen, findet ein solcher seine zurückhaltende Entsprechung im Moskenstraumen, einem starken Gezeitenstrom zwischen zwei Inseln der Lofoten in Nordnorwegen.
Ähnlichkeiten weist die Schrift De inventione fortunata des Oxforder Geistlichen Nicholas de Linna auf, der um 1360 eine Fahrt zu den nördlichsten Inseln der Welt unternommen haben soll, wo er dann, angeblich am Nordpol angekommen, einen gigantischen, von einem Bernsteinmeer umgebenen Magnetstein gesehen haben will. Die Tatsache, dass de Linna in Wirklichkeit kaum über die bewohnten Zonen hinausgekommen sein dürfte, tat der Beliebtheit der Fabel vom Magnetberg jedoch keinen Abbruch.
Tatsächlich geisterte die Vorstellung eines Magnetbergs im Norden schon seit der Zeitenwende durch die Aufzeichnungen; sie findet sich bereits bei Plinius und Ptolemäus, die ihrerseits von solchen Bergen zu berichten wussten – allerdings im Fernen Osten. Da aber in den über das Nordkap hinaus befahrenen Gewässern nie ein solcher Berg gesichtet werden konnte, ging man davon aus, dass er sich eben noch weiter nördlich befinden müsse. Und je weiter man nach Norden gelangte, umso weiter verschob sich seine angebliche Lage in diese Himmelsrichtung, bis zu den nördlichsten Ausläufern Grönlands und schließlich zum Pol selbst. Dante Alighieri verfolgte im 13. Jahrhundert noch eine andere Fährte; er löste sich von der Idee eines Berges und vertrat die Auffassung, die magnetischen Kräfte würden vom Polarstern selbst ausgehen.
Bevor man verstand, dass die Erde selbst wie ein Magnet funktioniert, war die Vorstellung eines solchen Berges ein willkommenes Erklärungsmodell für die stete Ausrichtung der Kompassnadeln nach Norden. Und der Grund, weshalb von Fahrten in den Norden abgeraten wurde: Auf der runden Weltkarte, die der Benediktinermönch Andreas Walsperger 1448 in Konstanz anfertigte, findet sich nordwestlich von Norwegen der Hinweis: »Auf diesem großen Meer fährt man nicht wegen der Magnete.« Und auf der Karte von Johann Ruysch aus dem Jahre 1508 gibt es zum nördlichen Grönland folgende Legende: »Hier fängt das Bernsteinmeer an. Der Schiffskompass bleibt hier nicht mehr fest, und Schiffe, die Eisen an sich tragen, können nicht zurückkehren.«
Auf einer Karte Gerhard Mercators aus dem Jahre 1595 hat dieses mysteriöse Gebilde dann sogar konkrete Formen angenommen: ein schwarzer Felsen im eisfreien Meer, der den Pol markiert, wobei das Meer seinerseits von vier voneinander getrennten Landmassen umgeben ist. Hier fällt der Pol mit dem Fantasma eines in früheren Darstellungen weiter südlich gelegenen Meeresschlunds zusammen, der Schiffe in die Tiefe zu reißen vermag. Der Mythos vom eisfreien Polarmeer befeuerte wiederum die Vorstellung, dass man Ostasien direkt über eine Nordostpassage erreichen könne, was Anlass für eine ganze Reihe von Expeditionen war. Die meisten davon endeten in Katastrophen, weil es den Abenteuerlustigen nicht mehr gelang, rechtzeitig zurückzukehren.
Der mysteriöse Magnetberg inmitten des eisfreien Polarmeers hielt viele Seefahrer davon ab, zu weit nach Norden vorzustoßen. Auch der Kartograf Gerhard Mercator scheint dieser Illusion verfallen zu sein (1595).
Obwohl so gut wie alle Erfahrungen dagegen sprachen, gab es Berichte von holländischen Seefahrern, die nicht nur behaupteten, den Pol tatsächlich mit ihren Schiffen erreicht zu haben, sondern auch, dass die Temperaturen dort so hoch gewesen seien wie im Sommer in Amsterdam. Unterfüttert wurde diese Vorstellung nicht zuletzt durch die Theorie des im 18. Jahrhundert tätigen Naturforschers Georges-Louis Leclerc de Buffon, der fest überzeugt war: »Der strenge Frost des Poles kann also dem Meereswasser wohl eine stärkere Kälte, als das Eis hat, ertheilen; es ist aber darum noch nicht nötig, daß die Oberfläche des Meeres wirklich gefrieren müsste; besonders da die Oberfläche des Meeres, wenn sie auch mit vielem Schnee und süßem Wasser untermengt ist, sogar unter dem 80. oder 82. Grad nur an den Küsten Eis ansetzt.« Anhänger der Vorstellung eines offenen Polarmeers fanden sich bis weit ins 19. Jahrhundert – zuletzt war sie vom Mythos zur Hypothese geworden.
Im Reigen geografischer Fantasmen darf auch das legendäre Atlantis nicht fehlen, das, folgt man Plato, mitten im Atlantischen Ozean gelegen haben soll. Der schwedische Universalgelehrte Olof Rudbeck der Ältere, Sohn des Bischofs von Västerås, war es, der im 17. Jahrhundert die Lage von Atlantis einer kühnen Umdeutung unterzog und in sein Heimatland, genauer: nach Uppsala, verlegte – damit war nicht nur ein nördliches Arkadien geboren, sondern die angebliche Überlegenheit des Nordens und Schwedens auf ein, wenn auch höchst spekulatives, um nicht zu sagen flugs herbeigezaubertes Fundament gestellt. Auf Rudbeck wird der Ausspruch »Ex septentrione lux« (Aus dem Norden kommt das Licht) zurückgeführt. Und er griff den Götizismus erneut auf, demzufolge die Schweden die eigentlichen Goten gewesen seien.
Rudbecks Verortung von Atlantis im Norden gehört zu den Vorstellungen, die im Laufe der Jahrhunderte von anderen aufgegriffen, dabei jedoch in einer Weise verändert wurden, die dem Schweden vermutlich nicht ins Konzept gepasst hätte. Unter ihnen war Jean-Sylvain Bailly, kein Geringerer als der erste Bürgermeister von Paris (wenn auch nur von Juli bis Oktober 1789), Präsident der ersten Nationalversammlung und bekannt dafür, als Astronom die Umlaufbahn des Halleyschen Kometen berechnet zu haben. Bailly war davon überzeugt, dass Atlantis weiter nördlich, auf den Inseln von Spitzbergen, Grönland und Nowaja Semlja, gelegen habe bzw. damit zusammenfiel. Er ging davon aus, dass das Innere der Erde zu einem früheren Zeitpunkt heißer und die Atmosphäre in der Nähe der Pole weniger trübe gewesen sei, sodass dort ein ewiger Frühling geherrscht habe. Mit dem Kommen der Kälte seien die Atlantier als Träger einer uralten Kultur zur Auswanderung gezwungen worden, womöglich in den Kaukasus. Über diese und verwandte Themen korrespondierte Bailly, durchaus kontrovers wohlgemerkt, unter anderem mit Voltaire.
Als Ole Worm seine Wunderkammer schuf, war die 1539 in Venedig gedruckte Carta Marina des schwedischen Bischofs Olaus Magnus, eine in der ersten Fassung aus neun Einzelblättern bestehende Land- und Meereskarte Nordwesteuropas, schon über hundert Jahre alt. Sie zeigt etliche fantastische Seeungeheuer, von denen eine zweihundert Fuß lange, von Fischern vor der norwegischen Küste gesichtete Seeschlange, die in der oberen Mitte der Karte abgebildet ist, die größte Berühmtheit erlangt hat: die »serpens Norvagicus«. Das scharlachrote Ungetüm schlingt sich um ein Segelschiff, offenbar in der Absicht, dieses mit sich in die Tiefe zu reißen. Dieses Bild illustrierte die Erzählung von Fischern, dass sich so etwas in hellen Sommernächten tatsächlich zutrage. Der zuvor erwähnte Mahlstrom ist hier auch deutlich zu erkennen, in nordöstlicher Richtung von der Schlange, auf der Höhe der Lofoten.
Während Magnus die auf der Landmasse Skandinaviens dargestellten Tiere selbst während einer von 1518 bis 1519 unternommenen Reise beobachtet hatte, musste er sich für die Meerestiere auf die Schilderungen von Seeleuten verlassen. Im Vergleich zu der Karte, die der humanistische Theologe Jakob Ziegler wenige Jahre zuvor angefertigt hatte und die zum ersten Mal Finnland zeigte, stellte die Magnus’sche Karte einen wichtigen Fortschritt dar, der, wie der Skandinavist Stephan Michael Schröder schreibt, »das Bild von Nordeuropa kartografisch für fast einhundert Jahre und diskursiv noch weit länger prägen« sollte. Die Tatsache, dass sie »technische Mängel bei der Breitengradeinteilung« aufwies, keine Kompassabweichung berücksichtigte, Orte an falscher Stelle zeigte und Grönland in zwei Teile gliederte, »Finnland viel zu spitz« und »Nordskandinavien, Island und die Färöer viel zu groß« darstellte, tat dem keinen Abbruch.
Dass keine 200 Fuß langen schiffsfressenden Seeschlangen existieren, konnte man damals ja nicht wissen. Olaus Magnus’ Carta Marina (hier von Antonio Lafreri koloriert, 1572) birgt eine Vielzahl an fantastischen Ungeheuern.
Magnus verband landeskundliche, militärtechnische, ethnografische und Beobachtungen von Flora und Fauna, die er durch Erzählungen und Legenden ergänzte, wobei er des Öfteren die Grenze zum Erfundenen überschritt. Seine Historia de gentibus septentrionalibus