Michael Schneider
Die Traumfalle
Künstlernovellen
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
> Buch lesen
> Titelseite
> Inhaltsverzeichnis
> Über Michael Schneider
> Über dieses Buch
> Impressum
Michael Schneider wurde 1943 in Königsberg geboren, studierte Naturwissenschaften, anschließend Philosophie, Sozial- und Religionswissenschaft. 1974 Promotion über Marx und Freud. Lektor, Journalist, Schauspieldramaturg und freier Schriftsteller.
Dreimal variiert Michael Schneider in »Die Traumfalle« ein Thema, das schon Leitmotiv seiner vielbeachteten Zauberernovelle »Das Spiegelkabinett« gewesen ist: den Widerspruch zwischen Leben und Kunst, Illusion und Wirklichkeit. Dem Credo einer Kunstreligion, dem zufolge der Künstler sein Künstlertum mit dem Ausschluß vom Leben zu bezahlen habe, setzt Schneider den Traum von der Versöhnung der Gegensätze entgegen. Aber auch der erweist sich zuletzt als Falle.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41193-5
Dieses Buch ist vom Deutschen Literaturfonds e. V. Darmstadt gefördert und unterstützt worden.
Für Ingeborg
Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. Alle pfeifen wir; aber freilich denkt niemand daran, das als Kunst auszugeben, wir pfeifen, ohne darauf zu achten, ja, ohne es zu merken … Wenn es also wahr wäre, daß Josefine nicht singt, sondern nur pfeift und vielleicht gar, wie es mir wenigstens scheint, über die Grenzen des üblichen Pfeifens kaum hinauskommt – wenn das alles wahr wäre, dann wäre zwar Josefinens angebliche Künstlerschaft widerlegt, aber es wäre dann erst recht das Rätsel ihrer großen Wirkung zu lösen.
Franz Kafka, Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse
Ich kann nicht mehr lesen und schreiben. Vor den Augen habe ich einen schwarzen Schleier, der alles verdeckt. Sprechen kann ich nur noch zu mir selbst.
Die Ärzte haben sich zurückgezogen. Madame hat sich zurückgezogen. Wenn Bianchon hier wäre, er würde mich retten. Leider gibt es ihn nur in meinen Romanen. Er läßt mich grüßen. Père Goriot, Oberst Chabert, Vetter Pons – sie alle lassen mich grüßen.
Ich hasse die Romane. Vor allem die, welche nicht mehr geschrieben werden können!
Um mich nur noch der Schatten meiner Mutter … Dank Deiner Fürsorge, Maman, Deiner unübertrefflichen! Deine Ökonomie ist bewundernswert. Du spartest wieder einmal Hunderte von Franken: Die Blumen, mit denen Du mein Haus geschmückt hast zum Empfang der Braut, zieren auch das Totenbett des Bräutigams … Immerhin: Zweimal in meinem Leben warst Du für mich da: Am Anfang und am Ende. Alpha und Omega! Dazwischen liegt das ganze Alphabet Deiner aufgesparten Mutterliebe.
Eva! Laß mich nicht allein mit dem Schatten meiner Mutter, nicht in dieser Stunde! Wenn Du wüßtest, was sie für ein Ungeheuer ist! Oh, Eva, mein Polarstern, Du mein Engel, den ich ein Leben lang wie eine geliebte Illusion umschmeichelt – ich werd Dich immer, ewig lieben, bis zu meinem letzten Atemzug. Gib mir Deine Hand! … Madame hat sich zurückgezogen. Erträgt sie den Geruch nicht der Verwesung, der von meinem Bett aufsteigt? … Sie pflegte sich in Wolken von Parfüm zu hüllen gegen meinen ewig schwitzenden Körper … Der Duft des Todes dringt auch in Dein Boudoir, mein Engel!
Das Letzte, was ich von ihr sah: Das Glitzern der Brillanten um ihren blendend weißen Hals. Sie kaufte sie par occasion für 25000 Franken bei einem Juwelier in Dresden, auf der Rückreise von Wierzchownia. Wie gerädert, im Fieber schon und halb erblindet, lag ich im Verschlag der Kutsche. Da öffnet sich die Wagentür und sie – sie beugt sich, um den Hals ein Sternenband, gleich einer Himmelsfürstin über mich … Gleich einer Himmelsfürstin? Das Ende bedeutet auch das Ende der Metaphern, Millionärstochter! 25000 Franken um den Hals, indes Dein Bräutigam bis zum Hals in Schulden steckt! … Auf dem Père La Chaise erst bin ich sicher vor den Gläubigern. Wenn sie könnten, würden sie auch meinen Grabstein noch verpfänden!
Es muß ein seltsam Schauspiel sein, wenn der Autor des »Chagrin Leder« stirbt. Das Leder schrumpft mit jedem Wunsch, der in Erfüllung geht … Meinen letzten, innigsten hast Du erfüllt, Eva: mich zum Bräutigam gemacht. Aber warum so spät? Warum erst, als ich ein todkranker Mann war? … Meinen letzten Wunsch erfülltest Du – und willst mir die letzte Frage schuldig bleiben?
Ich weiß, Sie schämten meiner Herkunft sich und meiner plebejischen Manieren, stolze Gräfin. Daß ein Ragout ich mit dem Messer aß und mit Servietten mir die Nase schneuzte. Mein Embonpoint belustigte Sie mehr als alle meine »contes drolatiques«. Oh, wenn Sie wüßten, was Ihr Troubadour alles getan, sich Ihrer würdig zu erweisen, den Zutritt sich in Ihre hohe Sphäre zu erzwingen! Der mit der Feder hat vollendet, was Napoleon mit dem Degen nicht erreichte, schmeichelte dem Faubourg Saint Germain und ging für einen Grafentitel vor Hofschranzen und Lakaien in die Knie, damit Sie sich keiner Mesallance zu schämen brauchten. Der stets Verschuldete, von Gläubigern Gejagte, stürzte sich, der reichen Braut ein würdiges Nest, einen Palast zu baun, in den Ruin, während Sie in der Ukraine sich vornehmem Müßiggang ergaben. Fünfmal mindestens, nicht achtend seiner schon zerrütteten Gesundheit, legte er ein Viertel des Erdumfangs zurück, um Sie zu sehen, um Sie zu werben. Ja, Ihr Muschik war sogar bereit, ein Untertan des russischen Zaren zu werden, wenn Sie dafür die Seine würden. Gingen Sie auf Reisen, war er Ihr Begleiter, und geruhten Sie, ihn zu besuchen, stürmte er an Rußlands Grenzen Ihnen schon entgegen. Drängten in Paris auch die Verleger, wartete Europas Leserschaft auf ein neues Werk aus seiner Feder – ein Wink von Ihnen, und er warf sie hin und sich, sein Herz zu Ihren Füßen. Die Comédie humaine, dies Riesenwerk, für Sie allein, Ihr Bild vor Augen, schuf er sie und brach sie ab, als Sie, sein Lebensroman, ihn riefen in die Ukraine. Die Kälte des russischen Winters nicht gewöhnt, sank er bald lungenkrank darnieder, während Sie und Ihre Tochter vor seinen Fieberaugen die allerneuesten Toiletten tanzen ließen. Vom Bazar in Kiew träumten Sie – er nur davon, endlich heimzuführn die Braut, um die er siebzehn Jahr geworben. Zum Abschied legten Sie statt Ihrer selbst einen russischen Pelz ihm um den Hals, ein Halsband, ach, auf Lebenszeit!
Eva, warum hast Du mich so lange warten lassen in der Hölle aus Papier und Tintenfaß? Nach dem Tode Deines Mannes warst Du doch frei, der letzten Rücksichten enthoben … Immer neue Erklärungen hab ich erfinden müssen, um die Aufschiebung der Eheschließung vor der Familie und den Freunden zu begründen: Madame Hanska hat noch einen komplizierten Prozeß in Rußland abzuwickeln. Madame Hanska kann in diesem Jahr ihre Güter unmöglich verlassen, die halbe Ernte ist verbrannt. Madame Hanska ist gerade damit beschäftigt, ihre Tochter zu vermählen … Statt mich zu heiraten, begleitest Du Deine Tochter auf die Hochzeitsreise, Deine abgöttisch geliebte Tochter … Und ich ward zum Gespött von ganz Paris, der Hanswurst der Madame von Hanska!
Weißt Du, was die Pariser Journaille damals über uns geschrieben? Ich hab Dir den Artikel nie gezeigt, um Dich nicht zu verletzen. Von den Kritiken meiner Bücher nahm ich kaum Notiz, aber diese Glosse brennt mir jetzt noch auf der Haut, ich weiß sie noch par cœur: »Monsieur de Balzac, dem der Schuldturm stets näher war als der Hochzeitsaltar, hat die Feder aus der Hand geworfen, um sich ganz seiner neuen Leidenschaft widmen zu können: der Bric-à-Bracologie, der Sammelleidenschaft. Wo immer er sich aufhält, in jeder Stadt grast er die Trödler und Antiquitätenhändler ab. Aus Neapel, aus Genua, aus Dresden, aus Holland kommen, noch ehe er weiß wohin und meist ohne daß er die Frachtkosten bezahlen kann, die Kisten mit seinen königlichen Schätzen. Bloß der Schatz, dem er all diese Schätze zu Füßen legen will, Madame Hanska aus der Ukraine, läßt auf sich warten: zwei Jahre, fünf Jahre, zehn Jahre, fünfzehn Jahre. Hätte Monsieur de Balzac diesen Roman nicht selbst erlebt, man könnte ihn für eine seiner genialsten Erfindungen halten. Apropos! Das Beste aus seiner ganzen ›collection‹, die er für sein höchstpersönliches Louvre hält, ist seine verstaubte Kaffeemaschine aus schlichtem Metall. Ohne die Ströme jenes schwarzen Giftes, das Nacht für Nacht durch seine Kehle floß, wäre die ›Comédie humaine‹ nie geschrieben worden. Aber vielleicht wäre sie rechtzeitig vollendet worden, wenn Monsieur de Balzac die letzten Jahre nicht, wie sein ›Vetter Pons‹, buchstäblich vertrödelt hätte.«
Die böse Zunge der Journaille, Eveline! Kannst Du, können wir sie widerlegen?
Madame hat sich zurückgezogen … Sortiert sie für die Nachwelt schon die »Briefe an die Fremde«, Liebespost aus siebzehn Jahren? … Liebte sie meine Briefe mehr als mich?
All meine Romane hab ich zigfach überarbeitet, zehnmal, fünfzehnmal, manche sogar achtzehnmal. Nur diesen einen nicht. Ich glaubte, er bedürfe keiner Korrektur, hielt ihn für die Reinschrift meines Herzens. Aber begann er nicht schon mit einer Fälschung?
Dein erster Brief war ein Gemeinschaftsfabrikat von Dir und Deiner Kammerzofe. Die dumme Gans konnt’s nicht für sich behalten, daß sie miteingefädelt den Liebesroman ihrer Herrschaft. Die adeligen Damen hatten Langeweile und schrieben mir aus Kurzweil. Man spielte sich bei einer Tasse Tee die Sätze zu, voltigierte mit den Worten, spielte Fangball mit den Komplimenten, die dem Dichter schmeicheln sollten. Ein blumiger Handkuß aus der Ferne für den Dichter des Père Goriot. Es war ein Brief wie viele andre auch, die ich erhielt. Ich überließ ihn Madame Carraud, der treuen Freundin, die meine Leserpost beantwortete … Ja, auch mein erster Brief war eine Fälschung, Eva! Ich hatte nie den Mut, es Dir zu sagen. So wirst Du’s nie erfahren … War auch der Köder falsch, auf den wir beide angebissen, die Leine war es nicht, an der ich siebzehn Jahre gezappelt. Kaum wußt ich Deinen Vornamen, hab ich mich Dir in alle Ewigkeit verschrieben, hoffnungslos verschrieben … Wieviel Falschheit, Verstellung, Lüge war vonnöten, um unsern Himmelstraum von Liebe rein zu halten! Ich spreche nicht von Deinen Lügen, Eva, nur von meinen, auch wenn diese letzte Beichte Dein Ohr nicht mehr erreicht … Nach unserm heimlichen Verlöbnis empfahlst Du mir, meine körperlichen Bedürfnisse mit Professionellen abzutun. Du sagtest wörtlich »abtun«. Entrüstet wies ich damals diese Vorstellung zurück. Ich gelobte meinem Engel Enthaltsamkeit und kein Brief an Dich, in dem ich mich Dir nicht als keuschen Joseph präsentierte, der, eingesperrt in seine Klause, im Mönchskittel vor dem Schreibtisch sitzt und mit dem Bilde seiner Himmelsfürstin sich zu Bette legt. Ich glaubte, Dir diese Keuschheitslegende schuldig zu sein. Denn nichts sollte unsern Traum beflecken … Er wurde so manches Mal befleckt. Nicht nur von Professionellen aus dem Quartier Saint Latin, auch durch einige Affären aus adeligen Häusern, die ich schamhaft Dir verschwieg. Denn ich wollte, konnte mich nicht trennen von der geliebten Illusion, die ich für Dich verkörpern wollte, so wenig wie von jener anderen, die Du für mich verkörpertest … Verkörpern? Nein, verkörpern ist der falsche Ausdruck. Denn Dein Körper war ein Luxus-Schloß, das aus der Ferne ich bewundern, kein Haus, in dem ich wohnen durfte … Ausgenommen jene Nacht, jene eine Nacht … Ach, Eva, warum gabst Du mir Dein Jawort erst, als mir der Père Lachaise schon näher war als Dir der Brautaltar? Warum nicht schon, als ich in Deinem Leibe lebte? Ich hätte nie geglaubt, daß ich ein Wesen, das erst im Beginne war, so lieben könnte. Warum starb es, ehe es geboren? … Hast Du es totgewünscht? … Verzeih, verzeih, mein Engel, mein Verstand verwirrt sich.
Mir ist, als sei es nie mehr Tag geworden zwischen jener Nacht und dieser meiner letzten. Die Aussicht auf den Himmel war verdeckt, zugeklebt mit Briefen, Tausenden von Briefen: »Für Sie bin ich die Unbekannte und ich werde es mein Leben lang bleiben. Sie werden niemals wissen, wer ich bin.« Recht haben Sie behalten, schöne Fremde! Ihre Briefe waren Blanko-Schecks oder vielmehr ungedeckte Wechsel, auf die nie erfüllten Träume des Empfängers ausgestellt. In unzähligen Briefen suchte ich Ihr Sphinx-Gesicht zu deuten, zu enträtseln. Umsonst! Wollen Sie mir bis in alle Ewigkeit des Rätsels Lösung schuldig bleiben? … Ist es vielleicht dies: Daß Sie und ich verliebt nur in den Traum von Liebe waren und ihn über Raum und Zeit hinweg gehegt und fortgesponnen – aus Angst, aus Todesangst vor der Erfüllung? Vielleicht bin von uns beiden ich sogar der größre Deserteur. Denn warum schwand die Lebens- und die Schaffenskraft mir just in dem Moment, da unser Leben erst beginnen sollte? Mein Tod, ich weiß, hat etwas tödlich Kränkendes für Sie! …
Ein Schatten schleicht durchs Zimmer. Bist Du es, Eva? Oder ist es meine Mutter? Warum sagst Du nichts? … Es ist meine Mutter. Ich spüre ihre Hand auf meiner. Knochenhand auf Knochenhand.
Eva, laß mich nicht allein mit dem Schatten meiner Mutter, nicht in dieser Stunde! Oder willst Du, daß der Alptraum meines Anfangs auch zum Alptraum meines Endes wird? … Sie haßte mich, eh ich geboren war. Als Wöchnerin schon schaffte sie den Säugling aus dem Haus und überließ ihn irgendeiner Amme. Das fünfjährige Kind übergab sie einer fremden Familie in Halbpension. Den Knaben schob sie in ein Internat ab … Nie habe ich ein weiches Wort von ihr gehört, und wenn ich mich an ihre Knie drängte, scheuchte sie mich fort. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr habe ich sie zweimal nur gesehen. Ich kannte keine Mutter, die an meinem Bett stand, wenn ich krank war. Jetzt hat sie kein Recht, an meinem Sterbebett zu stehen, die verdammte Alte! … Ich habe ihr das Haus verboten, als Du hier einzogst. Du solltest Dich ihrer nicht zu schämen brauchen. Und ich wollte nicht, daß Du ihn kennenlernst: den Grund allen Übels in meinem Leben … Um alle Freuden der Kindheit hat sie mich betrogen. Ich mußte mir eine eigene Welt schaffen, um die leeren Blätter meiner Kindheit auszufüllen. Ich wär umgekommen vor Kälte und vor Einsamkeit, hätt ich sie nicht mit den Gestalten meiner Phantasie bevölkert. Die Comédie humaine – ein Bilderbogen, mit dem ich die nackten Wände meines Verlieses tapezierte. Ich schrieb und schrieb nur in der Hoffnung, daß mir einmal eine Frau erscheint, die mich herauszieht aus dem Hungerturm der Liebe … Sie reichten mir die Hand, Madame, Ihre schöne, weiße Hand, endlich nach siebzehn Jahren – und ziehn sie jetzt zurück? Warten nicht einmal, bis meine Hand erkaltet ist? Überlassen sie statt dessen dem knochigen Zugriff meiner Mutter? Soll in meiner letzten Stunde meine Rabenmutter Ihnen noch den Rang ablaufen?
Wie ein Hund habe ich um Eure Liebe gebettelt. Mein ganzes Werk war ein Betteln um Liebe. Soll ich als Bettler aus dem Leben scheiden? War denn mein ganzes Werk umsonst? … Ich liebe Sie, Eva, wie nur ein Sohn seine Mutter … Mein Verstand ist zusammengebrochen wie ein geschundenes Pferd.
Wieviel Gerede macht man um die erste Liebe! Ich kenne nichts Grausigeres als die letzte. Sie stranguliert einen.
Eine Theaternovelle
Wer sich immer als Opfer sieht oder träumt,
ist selbst ein Täter
Als Klara sich in den Drehstuhl vor dem Schminktisch fallen ließ und die warmen Hände der Maskenbildnerin auf ihren Wangen spürte, hörte das Brausen in ihren Ohren, der Nachhall jenes Beifalls allmählich auf, der über sieben Vorhänge in unverminderter Stärke angehalten hatte. Und doch war sie, bei aller Erleichterung über den guten Verlauf der Premiere, mit der die neue Spielzeit eröffnet wurde, eigentlich traurig; traurig darüber, daß das Spiel nun zu Ende war und sie wieder aus der faszinierenden Welt des Büchnerschen Woyzeck heraustreten mußte, von der sie sich in den letzten Wochen hatte gefangennehmen lassen. Während sie im Spiegel sah, wie die Maskenbildnerin ihr Gesicht mit einer fettartigen Gelatine einrieb, beschlich sie das gleiche enttäuschende Gefühl, das sie manchmal verspürte, wenn sie aus einem geheimnisvollen Traum erwachte, den sie eigentlich weiterträumen wollte.
Lange hatte keine Theaterarbeit sie derart in Bann geschlagen wie diese. Schon die erste Lektüre des Woyzeck übte auf sie einen eigentümlichen Sog aus, der im Verlauf der Bühnenproben immer stärker geworden war. Von Anfang an hatte sie sich an den konzeptionellen Vorüberlegungen zu dieser Inszenierung beteiligt und sich auch mit Büchners historischer Vorlage beschäftigt: dem authentischen Fall des entlassenen Soldaten und stellungslosen Perückenmachers Johann Christian Woyzeck, der am 21 Juni 1821 in Leipzig seine ihm untreu gewordene Geliebte erstochen hatte und drei Jahre später auf dem Marktplatz zu Leipzig öffentlich hingerichtet wurde. Sogar den umfänglichen juristisch-psychiatrischen Gutachterstreit, der damals um die Zurechnungsfähigkeit des Täters geführt wurde und großes öffentliches Aufsehen erregte, hatte sie nachgelesen. Und es faszinierte sie, wie das Drama das gegen den Delinquenten gerichtete Verfahren der Gutachter und der Justiz umkehrte und den Prozeß gegen die Herrschaftsvertreter, Instanzen und Umstände führte, die Schicksale wie dasjenige Woyzecks verursachten. Noch nie war ihr die Geschichte eines Mörders so nahe gegangen, vielleicht weil dieser in Büchners Darstellung auf eine so beklemmend-dumpfe Weise selber als Opfer erschien: als Opfer der Armut und der Arbeit, der Militärdisziplin und der medizinischen Experimente, der herrschenden Moral und – nicht zuletzt – als Opfer seiner eigenen Gesichte und Stimmen, die ihn verfolgten.
Mit Verwunderung hatte sie schon bald auf den Proben festgestellt, daß sie sich mit dem Woyzeck stärker identifizierte als mit ihrer eigenen Rolle, der Marie. Manchmal, wenn Ziegler einen »Hänger« hatte, half sie ihm – noch vor der Souffleuse – auf die Sprünge, weil sie seinen Text bereits besser kannte als er selbst. Und oft, wenn Ziegler nicht wußte, wie er eine Szene anlegen oder eine Situation spielen sollte, gab sie ihm den entscheidenden Hinweis. Denn sie besaß – sie wußte auch nicht woher – einen schier untrüglichen Instinkt für seine Rolle. Sie hatte eine genaue Vorstellung, welches Gesicht Woyzeck macht, wenn er seine Stimmen hört, wie er über die Bühne geht, ohne Braut, Kind und Vorgesetzte wahrzunehmen, in welcher Haltung er seinen Hauptmann rasiert, der ihm die großen Tugendpredigten hält, wie er seine Marie auf der Gasse ansieht, nachdem sie ihn mit dem Tambourmajor betrogen hat, wie er sich die Nase am Wirtshausfenster platt drückt, wenn er draußen die Marie mit dem Tambourmajor vorbeitanzen sieht, wie er dann mit dem Juden um das Messer feilscht und sein Gesicht in der blitzenden Klinge spiegelt, wie er vor dem Doktor und seinen Studenten vergebens versucht, seine Ohren zu bewegen, und wie er dann, in der Szene am Moor, das Messer zieht und die Spitze sekundenlang gegen die eigene Brust richtet, bevor er Marie ersticht: »Stich, stich die Zickwolfin tot!«
Sie konnte sich in das Drama dieses gehetzten Menschen, der am Ende zum Mörder wird, weil er immer nur herumgestoßen worden ist, so gut hineinversetzen, daß Ziegler oft staunend danebenstand, wenn sie ihm wieder einen bestimmten Tonfall oder eine Haltung Woyzecks vorführte. Einmal hatte er, halb im Scherz, halb im Ernst, zu ihr gesagt, es sei schade, daß Woyzeck ein Mann sei, sonst wäre sie die ideale Besetzung für diese Rolle. Tatsächlich waren ihre Anregungen und Vorschläge so überzeugend, daß Ziegler bald mehr auf sie als auf den Regisseur hörte. Und unter den Mitgliedern des Ensembles galt es als ausgemacht, daß sie die heimliche Regisseuse dieser Inszenierung war, was um so mehr Erstaunen hervorrief, als sie noch nie irgendwelche Regieambitionen gezeigt hatte.
Am meisten freilich wunderte sie sich selbst, daß die Rolle ihres Partners sie mehr beschäftigte als ihre eigene. Sie hatte mit der Marie einige Schwierigkeiten gehabt. Im Grunde lag ihr die Rolle dieses anmutig-armen und koketten Mädchens aus dem Volke nicht, das sich auf eine so leichtfertige Weise mit dem Tambourmajor einließ und an ihrem und Woyzecks Schicksal mitschuldig wurde. Auch war sie für die Marie eigentlich etwas zu alt. Und bis zur Premiere wußte sie nicht, ob es ihr gelingen würde, sich in Stimme, Gestik und Mienenspiel derart zu verjüngen, daß man ihr das junge und leichtfertige Ding auf der Bühne auch wirklich abnehmen würde.
»Wie du die Woyzeck-Marie gepackt und gegen deinen Typ und dein Alter angespielt hast, das macht dir so schnell keine nach!« rief die Maskenbildnerin bewundernd aus, als habe sie Klaras Gedanken verfolgt. Mit einem Tempotaschentuch wischte sie ihr die fettartige Schicht samt der Schminke wieder aus dem Gesicht.
»Du hast mich ja auch glatt um zehn Jahre heruntergeschminkt«, sagte Klara, um auch den Anteil der Kollegin an ihrer erfolgreichen Verwandlung zu erwähnen.
»Ach, das war das wenigste«, entgegnete diese im Ton jener gespielten Bescheidenheit, die den sofortigen Einspruch, das heißt noch mehr Lob herausfordern möchte.
Eine leichte Enttäuschung kroch in Klara hoch, als sie im Spiegel sah, wie unter dem künstlichen Rouge ihrer Wangen, das Mädchenfrische vorgetäuscht hatte, nun ihre bleiche und grobporige Haut und rund um den kirschroten Mund der Marie der feine Faltenkranz wieder zum Vorschein kamen. Und fast fürchtete sie den nächsten Augenblick, da die Maskenbildnerin ihr die blonde Perücke mit den aparten Locken vom Kopf ziehen würde, die ihre Stirn so hübsch umrahmte. Mit einem bänglichen Gefühl musterte sie das Ergebnis dieser ernüchternden Rückverwandlung: Jetzt, ohne Perücke und ohne Schminke, hatte ihr Gesicht mit den schräg stehenden, verschatteten Augen, den eckig wirkenden Backenknochen und den tiefen Mundwinkelfalten wieder alle Frische und allen Schmelz verloren. Während die Maskenbildnerin ihr die Haarklammern aus dem hochgesteckten Schopf zog, starrte Klara unwillkürlich auf ihre großen Ohren, deretwegen sie schon als Mädchen von den Jungen der Nachbarschaft gehänselt worden war und die sie unter ihren schulterlangen fuchsroten Haaren schamhaft zu verbergen suchte. Und sie mußte wieder an jenes stereotype und demütigende Kompliment denken, das kein Mann, kein Liebhaber ihr erspart hatte: daß sie schöne Haare habe. Sie wußte längst, daß dies eine der üblichen männlichen Trostformeln für eine Frau war, die als nicht schön empfunden wurde. Andererseits – mit diesem Gedanken verscheuchte sie ihre selbstquälerische Anwandlung – wäre sie wohl niemals eine Schauspielerin dieser Güte geworden und hätte wohl nie die für diesen Beruf erforderlichen Energien aufgebracht, wenn sie, wie manche ihrer Kolleginnen, mit dem Kapital ihrer weiblichen Reize hätte wuchern können. Die Tatsache, daß sie keine Schönheit wie die Veith oder die Berger war, gab ihr immerhin die stolze Gewißheit, daß ihre Schauspielkarriere sich nicht den Lockmitteln einer verführerischen Weiblichkeit, sondern einzig ihrem Talent und ihrem Fleiß, das heißt der unermüdlichen Arbeit an ihrem schauspielerischen Handwerk verdankte.
»Kommst du mit zur Premierenfeier?« fragte die Maskenbildnerin, nachdem sie Klaras Haare gekämmt und gebürstet hatte.
»Ja, natürlich!« Doch eigentlich hatte Klara wenig Lust, sich jetzt in das Gewühl einer Premierenfeier zu stürzen, wo sich die Theaterleute und die Kulturschickeria der Stadt das übliche Stelldichein gaben.
Als sie eine Stunde später die Jugendstilvilla in der Beethovenstraße betrat, wurde sie gleich in der Tür von Dr. Raaben, dem Gastgeber und ersten Theaterkritiker der Region, mit einer Laudatio empfangen.
»Ich staune immer wieder, wie Sie sich auf der Bühne verjüngen, Frau Sismondi! Sie haben der Marie eine wunderbare Mischung aus Schwermut und Leichtfertigkeit gegeben«. Wenn Dr. Raaben sprach, hatte er die Gewohnheit, die Augenbrauen hochzuziehen und zugleich die Lider hinter der randlosen Brille zu senken, sodaß man nie wußte, ob sein Gesicht Herablassung oder Müdigkeit ausdrückte. »Überhaupt haben Sie eine einmalige Bühnenpräsenz, meine Liebe, egal ob man Sie in der Rolle der Sonja, der Nora, des Fräulein Julie oder der Marie zu sehen bekommt.« Und in einem fast ehrfürchtigen Ton setzte er hinzu: »Und Ziegler als Woyzeck war eine Offenbarung, eine wirkliche Offenbarung. Man darf dem Regisseur gratulieren: Breuer hat sich selbst übertroffen.«
Klara hatte noch nie erlebt, daß Dr. Raaben, der bei jeder Premiere mit unbewegter Miene in der ersten Reihe saß und nie ein Urteil über eine Aufführung oder eine schauspielerische Leistung abgab, bevor seine Kritik nicht in der D … ner Rundschau erschienen war, sich so spontan und begeistert äußerte. Und sie fühlte, wie sein Lob sie erröten ließ, weniger das erste als das zweite Lob, das Ziegler und Breuer galt und doch eine schauspielerische Leistung meinte, die sie durch ihre Ideen und Vorschläge entscheidend beeinflußt hatte. Daß Ziegler nun als der große Star dieses Theaterabends erscheinen und auch Breuer Lorbeeren ernten würde, die er nicht unbedingt allein verdient hatte, machte sie keineswegs neidisch. Ihre heimliche Mitinszenierung war frei von Ehrgeiz gewesen; es war ihr nicht darum gegangen, sich selbst in Szene zu setzen oder dem Regisseur Konkurrenz zu machen, sondern sie war, wie schon lange nicht mehr, dem Bann einer Rolle erlegen, die sie einfach mitgestalten mußte, auch wenn es nicht ihre eigene war.
Dr. Raaben hakte sich sogleich bei ihr unter und führte sie an das Büffet, vor dem sich die Premierengäste drängten. »Nach meiner Erfahrung«, meinte er, nun in einen lockeren Plauderton verfallend, »ist der Appetit der Premierengäste ein sichereres Kennzeichen für die Güte einer Aufführung als das Lob eines Theaterkritikers. Eine gute Aufführung macht eben Appetit. »Klara lächelte. Soviel Selbstironie hatte sie dem Kunstrichter mit der leicht näselnden Stimme und den hufeisenförmig nach unten gezogenen Mundwinkeln gar nicht zugetraut.
Erst jetzt nahm sie den Raum wahr, in dem sie sich befand. Sie fühlte sich dem schroffen Kulissenwechsel nicht gewachsen. Eben noch war sie mit Woyzeck über die leere, mit schwarzen Tüchern verhängte Bühne gegangen, über der eine rote Mondsichel hing »wie ein blutend Eisen«, und zwischen jedem Satz lag ein Abgrund aus Schweigen. Und jetzt stand sie, mit einem Sektglas in der Hand, kaum mehr ihr eigenes Wort verstehend, zwischen lauter elegant gekleideten und redseligen Gästen inmitten einer hellerleuchteten Fin-de-siècle-Wohnung, die mit wenigen kostbaren Stilmöbeln bestückt war, in einer Kulisse aus Weiß: weiß die Tapeten, die Velourvorhänge, die Teppichböden, die Chaiselongues und die stoffbespannten Lampenschirme, weiß selbst die Kissenbezüge, die Tisch- und Sofadecken. Dr. Raaben schien eine unüberwindliche Abneigung gegen alles Farbige und Bunte zu haben: auch die wenigen Bilder, die in weißen Rahmen hingen, ließen kaum Konturen noch Farben erkennen. Ein mattes Beige, ein dezentes Hellbraun, ein Hauch von Orange waren das Äußerste, was der Bewohner dieser Räume seinen empfindlichen Augen zuzumuten wagte. Wie kann man so wohnen, fragte sich Klara unwillkürlich, und sich zugleich für den Woyzeck begeistern?
»Ich muß Sie für einen Augenblick allein lassen«, wandte sich Dr. Raaben ihr mit einem bedauernden Lächeln zu. »Aber Sie wissen, die Pflichten des Gastgebers …« Er eilte zurück in den Flur, um zwei Honoratioren der Stadt zu begrüßen, die keine Premiere am Staatstheater versäumten. Klara kannte sie schon von früheren Empfängen. Der eine, Stadtrat und Baudezernent, der sich um den Neubau und die Modernisierung des Staatstheaters große Verdienste erworben hatte, schien Mühe zu haben, seine korpulente Masse durch das Gedränge zu schieben. Dr. Raaben ging mit bittendem Blick vor ihm her, um ihm wie ein Lotse den Weg zum Büffet zu bahnen. Der andere, ein Mann mit eisgrauen Haaren und der statuarischen Miene eines Pharaos, saß im Vorstand irgendeiner Bank und zugleich im Aufsichtsrat des Staatstheaters. Als er Klara sah, ging er gemessenen Schrittes auf sie zu, begrüßte sie mit der Andeutung eines Handkusses und sagte, kaum die Lippen bewegend: »Sie wissen, Frau Sismondi, daß ich seit langem ein stiller Verehrer Ihrer Kunst bin. Die Ökonomie Ihrer Mittel ist bewundernswert. Keine Bewegung zuviel. Kein Ton zu laut … Ich wünsche Ihnen auch weiterhin viel Erfolg!«
Jetzt trat auch der Stadtrat hinzu, ergriff Klaras Hand und drückte sie so fest, daß es ihr fast weh tat. »Sie haben uns eine fabelhafte Marie gegeben. Wirklich fabelhaft!« sagte er. Dann wandten sich beide dem Büffet zu.
»Also, dieser Büchner war schon ein genialer Hund!« erhob der Stadtrat seine Stimme, als eröffne er eine Magistratssitzung. Er hatte seinen Teller so beladen, daß kein Rand mehr zu sehen war. »Vor allem ein Meister des Epigramms!« raunte der Bankier, der sich mit einer teelöffelgroßen Portion Krabbensalat begnügte. »Ein abgründiges Stück – dieser Woyzeck. Da kann einem schon schwindlig werden«, bekräftigte der Stadtrat zwischen zwei Bissen.
Während die beiden Stadtgewaltigen im Beisein Dr. Raabens ihre Bewunderung für den »frühvollendeten Dichter des Vormärz« ausdrückten, betrachtete Klara das kunstvoll-penible Arrangement, mit dem der Stadtrat die Tatsache seiner Glatzköpfigkeit zu verbergen suchte. Die spärlichen randständigen Haare hatte er in die blanke Schädelmitte gekämmt, wo sie haargelverstärkt eine Art künstlicher Tolle bildeten, die aus einiger Entfernung sogar die Illusion von Haarfülle hervorrief.
Inzwischen hatten die Herren zweimal das Thema gewechselt. Von Büchners Woyzeck kamen sie sogleich zur Eröffnung der Oper und von dort zu den neuesten städtischen Bauvorhaben. Im Nachhinein ärgerte sich Klara über das gefällige Lächeln, mit dem sie ihre Komplimente aufgenommen hatte. Lag die Erfüllung ihrer Schauspielkunst etwa darin, von diesen Stützen der Gesellschaft beklatscht und anerkannt zu werden, bei denen selbst ein so verzweifeltes und herzergreifendes Stück wie der Woyzeck nichts weiter auslöste als einen flüchtigen Nervenkitzel?
Als das Gespräch schließlich bei der Entwicklung der Aktienkurse angelangt war, entfernte sie sich. Sie ging auf zwei Kollegen zu, die in einer Gruppe von Premierengästen standen. Kunze, der den Hauptmann gespielt hatte, gab gerade seine Theateranekdoten zum besten, die Klara fast auswendig kannte. Dieser breitschultrige Hüne mit dem kleinen, weichlichen Mund, den er unter einem Oberlippenbart versteckte, hatte offenbar schon einiges getrunken, denn seine Zunge schleppte sich mühsam von Anekdote zu Anekdote. Sieburg, noch in der Uniform des Tambourmajors, zählte gerade einigen Damen die illustren Namen jener Regisseure auf, mit denen er schon gearbeitet hatte. Nun ging er mit erhobenen Armen auf Klara zu, als habe er nicht nur auf der Bühne, sondern auch sonst eine Art Vorzugsrecht auf die »Pech-Marie« erworben, wie er seine Partnerin seit den Woyzeck-Proben nannte. Unter dem Vorwand, Elfriede zu suchen, entzog sich Klara seinem Zugriff. Sie wunderte sich, wie rasch die Kollegen aus der unheimlichen Welt dieses Dramas wieder heraustreten und in ihre Alltagsrollen zurückfinden konnten.
Ein paar Meter von Sieburg entfernt posierte im Türrahmen die Veith in einem weißen, bis zu den Oberschenkeln geschlitzten Lederrock. Nach Art der Lili Marleen eine silberne Zigarettenspitze zwischen den Fingern jonglierend, redete sie mit dem ihr eigentümlichen Singsang auf einen älteren Herrn ein, in dem Klara den Kolumnisten einer bekannten Theaterzeitschrift erkannte: »Wissen Sie, als ich zum Theater kam, war ich besessen von Ehrgeiz und Geltungsdrang. Davon bin ich, gottlob, schon lange erlöst. Seither fühle ich mich viel freier und kreativer. Das Urteil des Publikums ist mir, ehrlich gesagt, schnurzegal. Ich spiele nur noch für mich selbst.« Klara traute ihren Ohren kaum, dieses trotzige Bekenntnis ausgerechnet aus dem Munde der ehrgeizigsten Kollegin des Ensembles zu vernehmen.
Sie überlegte, ob sie zu Elfriede gehen solle, die mit ihrem Freund, einem jungen Schriftsteller, der fast ihr Sohn hätte sein können, vor der Balkontüre stand. Seit den Woyzeck-Proben hatte sie die Freundin ein paarmal in der Kantine getroffen, aber sie hatten nie Zeit für ein längeres Gespräch gehabt. Elfriede war jedoch so sehr mit ihrem Partner beschäftigt, daß Klara zu stören glaubte.
Aus einer Gruppe von Gästen, die sich um den Chefdramaturgen versammelt hatte, löste sich jetzt ein untersetzter Mann, der einen dunkelblauen Samtsakko trug, und eilte mit glänzenden Augen auf Klara zu. Grünberg war gerade neu ans Staatstheater verpflichtet worden. Ihm ging der Ruf voraus, ein sehr progressiver und sensibler Regisseur zu sein. Erst kürzlich hatte Klara eine Shakespeare-Inszenierung von ihm gesehen, die sie allerdings eher enttäuschend fand; nach ihrem Empfinden hatte der von der Kritik so hochgelobte Newcomer in der Regieszene den König Lear durch allzu viele, den Figuren äußerlich bleibende Regieeinfälle verflacht. Grünberg, dessen buschige Augenbrauen wie die Ausläufer seines dunkelblonden wallenden Stirnhaares wirkten, schloß Klara in seine Arme und küßte sie, wie zum Zeichen der künstlerischen Bruderschaft, erst auf die rechte, dann auf die linke Wange. Für die Woyzeck-Aufführung fand er die überschwenglichsten Worte, wobei er durchblicken ließ, daß er über ihren Anteil am Premierenerfolg sehr wohl informiert sei. Klara glaubte, sein Kompliment irgendwie erwidern zu müssen, und sagte, seine König Lear-Inszenierung habe sie auch sehr beeindruckt. Im gleichen Moment fragte sie sich, warum sie log. Grünberg machte eine abwehrende Handbewegung, als habe er dieses Lob nicht verdient. Gemessen an den schlechten Probenbedingungen, unter denen er habe arbeiten müssen, brauche er sich dieser Regiearbeit zwar nicht zu schämen, aber eine »Spitzenleistung« sei es nicht gewesen. Dann kam er auf die Notwendigkeit der »künstlerischen Mitsprache und Mitbestimmung« zu sprechen, die ja auch, wie man sehe, der Woyzeck-Aufführung sehr gut bekommen sei, und versicherte Klara, wie sehr er sich gerade auf die Zusammenarbeit mit ihr freue. Dies beruhe ganz auf Gegenseitigkeit, sagte Klara. Sie war wirklich gespannt auf die Zusammenarbeit mit Grünberg, unter dessen Regie sie in dieser Spielzeit zwei große Rollen, die Alice aus Strindbergs Totentanz und die Laura aus Tennessee Williams Glasmenagerie, spielen würde.
Nachdem Grünberg sich einer jungen Frau zugewandt hatte, die vorgab, ihn schon den ganzen Abend gesucht zu haben, stand Klara eine Zeitlang unschlüssig herum. Ihr Blick blieb schließlich an einer Szene hängen, die aus einem gehobenen Boulevardstück hätte stammen können: Auf der Chaiselongue neben dem Jugendstilvertiko saßen der Schauspieldirektor und seine Frau, die vollgehäuften Teller vor sich auf den Knien, im vertrauten Gespräch mit der Berger, der unverwüstlichen Salondame und First Lady des Ensembles. Beide Frauen schwatzten und lachten miteinander, als seien sie alte Freundinnen. Offensichtlich wußte die Frau des Direktors bis zur Stunde nicht, worüber in der Kantine und in den Garderoben seit Wochen geklatscht wurde: daß ihr Mann ein Verhältnis mit der Berger hatte. Oder wußte sie es doch und wollte nur vor dieser Gesellschaft demonstrieren, wie wenig ihr dies ausmachte und wie tolerant sie war? Jedenfalls würde diese Frau, dachte Klara, gewiß niemals in Versuchung geraten, das Messer, mit dem sie gerade ihr Roastbeef zerteilte, gegen ihren untreuen Ehemann zu zücken.
Noch einmal ging Klara an den Getränketisch zurück, um ihr Glas nachzufüllen. Gerade hatte sie eine der unetikettierten Flaschen ergriffen, da legten sich von hinten zwei Männerarme um ihre Taille. »Friert dich, Marie? Und doch bist du warm. Was du für heiße Lippen hast. Heiß, heiß, Hurenatem!« Obwohl sie sofort Zieglers Stimme erkannte, fuhr sie zusammen. Das Woyzeck-Zitat hatte sie augenblicklich in die Szene am Moor zurückversetzt.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Ziegler mit halb besorgter, halb lachender Miene und ließ sie wieder los. »Ich wollte dir nur noch einmal sagen, wie gerne ich mit dir gespielt habe. Und wie dankbar ich für deine Mitarbeit bin. Ohne deine Ideen und Vorschläge wäre ich nur halb so gut gewesen.«
Dann begann er mit ihr über die kommenden Projekte der Spielzeit zu reden. Doch Klara hörte nicht richtig zu, weil sie den Woyzeck, der noch vor zwei Stunden neben ihr auf der Bühne gestanden und sie mit den Augen durchbohrt hatte, in dem Ziegler kaum wiedererkannte, der jetzt wie ein Wasserfall sprach und gleichzeitig dauernd an ihr vorbeisah, um ja keinen Blick zu verpassen, den ihm die vorbeiflanierenden Frauen zuwarfen. Und sie mußte wieder an jene wechselhaften Empfindungen denken, die sie in den zurückliegenden Wochen mit Ziegler verbunden hatten Je mehr sie sich mit seiner Rolle beschäftigte, desto stärker war die Beziehung zwischen ihr und ihm geworden. Bald glaubte sie, sich in diesen nervösen Schauspieler verliebt zu haben, der die Stimmen, von denen Woyzeck sich verfolgt fühlt, so glaubhaft wiedergeben konnte. Doch kaum war die Probe zu Ende, kaum saß sie wieder in der Kantine mit Ziegler zusammen, der mit seinen frivolen Späßen und seinen etwas schlüpfrigen Witzen die ganze Kollegenschaft zu unterhalten verstand, war diese Verliebtheit wie weggeblasen und wich dem gleichen Gefühl der Enttäuschung, das sie auch jetzt wieder empfand. Klara wollte ihn eben fragen, warum er immer so leicht ablenkbar sei, da kam – wie auf ein Stichwort – eine in schwarzes Leder gegürtete junge Frau mit Korkenzieherlöckchen vorbei. Zieglers Augenlider begannen zu flackern, und wie an unsichtbaren Drähten gezogen, setzten seine Beine sich in Bewegung. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal nach Klara um und sagte mit verlegenem Lächeln: »T’schuldige. Bin gleich wieder da.«
Klara glaubte auf einmal, jemanden vergeblich zu suchen, den sie nicht kannte und den es in dieser Gesellschaft auch gar nicht geben konnte. Die Erleichterung, mit der sie hin und wieder einem vertraut scheinenden Menschen begegnete, war immer nur von kurzer Dauer, denn dieser hatte bereits einen anderen im Auge. Um für alle da zu sein, war man für keinen richtig da. Während sie die übervollen Räume der Beletage durchstreifte, diesen und jenen Bekannten begrüßte, fing sie immer wieder erstaunte und ungläubige Männerblicke auf. Nur zu gut kannte sie diese Blicke, die besagten: Was? Diese Frau soll die Sismondi sein? Sie wußte längst, daß man in ihr nie die Frau wiedererkannte, die sie zuvor auf der Bühne verkörpert hatte, und daß sie die Verzauberung und Faszination, die als Maria Magdalena, Sonja, Nora, Fräulein Julie oder Marie von ihr ausging, sofort erlosch, wenn sie ihrem Publikum ohne Kostüm und Maske, im grellen Licht der Kantine, des Foyers oder einer Premierenparty gegenübertrat. Sie las die Enttäuschung in den Augen der Männer, die sie noch eben auf der Bühne bestaunt und in ihr weiß Gott was für eine Frau, vielleicht eine Art Traumfrau, erblickt hatten. Wie sehr hatte sie unter dieser Erfahrung früher gelitten, doch inzwischen war sie daran gewöhnt.
Die Gespräche über das jüngste Theaterereignis und die politischen Aktualitäten schienen sich erschöpft zu haben. Die Premierengäste standen etwas gelangweilt herum, stocherten lustlos in den Resten des Büffets oder wandelten mit schlaffen Bewegungen durch die Flure und Flügeltüren der weitverzweigten Beletage. Die ersten Gäste, unter ihnen die Honoratioren der Stadt, begannen sich zu verabschieden. Nur in einer Gruppe von Theaterleuten und Theaterfreunden, die sich um die Cheflektorin eines bekannten Bühnenverlages gebildet hatte, war noch ein heftiges Gespräch im Gange.
Es ging wieder einmal um die Krise des zeitgenössischen Theaters. Die Lektorin, eine Frau in den Dreißigern mit auberginefarbener Lackhose und einer eleganten Strickweste, deren Lamettaton genau zu ihren silbergrauen Lidschatten paßte, beklagte laut die Gefühlsarmut der neueren Literatur. Sie begreife nicht, warum es in den Werken und Stücken der zeitgenössischen Autoren immer so deprimiert und hoffnungslos zugehe, überall höre man das gleiche Gejammer über Einsamkeit, Kommunikations- und Beziehungslosigkeit. Ob die Autoren eigentlich nichts Besseres zu tun hätten, als den ganzen unsäglichen Müll der modernen »Beziehungskiste« noch einmal in ihren Büchern und auf der Bühne abzuladen. Sie jedenfalls erkenne sich und ihre Erfahrungen in diesen ausgedünnten und blutleeren Texten nicht wieder. Vielleicht liege dies auch daran, daß die Spezifika weiblichen Fühlens noch immer keinen Eingang in die von Männern bestimmte Kultur gefunden hätten. Jedenfalls sei sie davon überzeugt, daß eine Reemotionalisierung und Revitalisierung des kulturellen und literarischen Lebens allein von den Frauen zu erwarten seien. Die Männer, auch die Künstler unter ihnen, seien offenbar nicht mehr in der Lage, sich auf jene Leiden und Leidenschaften einzulassen, aus denen die alten Kunstwerke ihre Kraft und ihren Glanz bezogen hätten. Sicheres Indiz dafür sei die Tatsache, daß es kaum noch Autoren gebe, die eine wirklich passionierte Liebesgeschichte erzählen könnten.
Dies war natürlich eine Herausforderung für die versammelten Männer, vor allem für die Künstler unter ihnen. Und sogleich wurde die Lektorin, die ihre Rede mit scharfen, kreuzweis verabreichten Handkantenschlägen durch die Luft unterstrichen hatte, gefragt, was sie denn – bitte schön! – unter einer ›wirklich passionierten Liebesgeschichte‹ verstehe. Schlagfertig konterte sie, daß sich eine solche Frage wohl kaum theoretisch beantworten lasse. In der nun entstehenden Pause ergriff Dr. Raaben das Wort. Diesem Liebhaber der gedämpften Töne, in dessen Gesicht jene vornehme Depression und jener gepflegte Weltekel geschrieben standen, die er an den Stücken gewisser zeitgenössischer Autoren so schätzte, war solch massive Kulturkritik, noch dazu aus dem Mund einer Frau, offensichtlich ein Ärgernis.
»Liebe Ulla«, begann er mit dem verbindlichsten Lächeln, »so sympathisch dein Plädoyer für eine Reemotionalisierung unserer Kultur auch klingt, so fürchte ich doch, du überforderst die Kunst und die Künstler. Die Literatur ist immer ein Spiegel der Zeit, und wenn die Zeit selbst eine gefühlsarme und liebeleere ist, können wir von der Kunst schwerlich das Gegenteil erwarten. Wo sollen unsere Autoren den Stoff für eine ›wirklich passionierte Liebesgeschichte‹ denn hernehmen« – er gab dem Zitat einen ironischen Beiklang – »wenn die Wirklichkeit den Stoff dafür nicht mehr bereithält? Im übrigen machst du es dir zu leicht, wenn du die Gefühlsverarmung unserer Kultur allein aus den Beschädigungen der Männerwelt zu erklären suchst. Im Zeitalter der permissiven Sexualmoral ist von der ursprünglichen Himmelsmacht der Liebe kaum mehr als der erotische Kitzel übriggeblieben, zu dessen Befriedigung keine Leidenschaft alten Stils mehr nötig ist. Im Scheinparadies der totalen Erlaubnis findet jedes Begehren sofort seine Befriedigung, noch bevor es sich je zur amour fou auswachsen könnte. Wo eine Versagung, der Liebeskummer oder gar die Verzweiflung drohen, bieten sich Trost und Tröster wie von selber an. Tausenderlei Ablenkungen und Surrogate stehen heute bereit, um etwaigen, für den Partner oder die Sozietät gefährlichen Ausbrüchen von Liebesleidenschaft vorzubeugen. Die Risikoverminderung der Gefühle im freien Spiel der Partnerwahl hat den Leidenschaften alten Stils längst das Wasser abgegraben. Davon sind die Frauen nicht weniger betroffen als die Männer. So sehr wir es auch bedauern mögen, doch die großen Passionen kommen nur noch in der Oper oder in der Regenbogenpresse vor. Und weil dem so ist …«
»Vielleicht«, fiel die Lektorin dem eloquenten Kritiker ins Wort, »vielleicht finden die großen Passionen nur deshalb keinen Niederschlag mehr in unserer Literatur, weil Leute wie du ständig behaupten, es gäbe sie nicht mehr.« Ihre Bemerkung löste eine allgemeine Heiterkeit aus, die Dr. Raaben durch ein bemühtes Lächeln quittierte, das jedoch eher an ein Zähneblecken erinnerte.