Otmar Jenner

Sarajevo Safari

Roman

Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG

Kurzübersicht

Inhaltsverzeichnis

Über Otmar Jenner

Otmar Jenner, geboren 1958, komponierte Filmmusik, tourte als Saxophonist durch Europa und berichtete für Tempo u.a. aus Afghanistan, Irak und Bosnien.

1995 wurden seine Reportagen als Buch veröffentlicht:

“Berichte vom Ende der Welt“.

“Sarajevo Safari“ ist sein erster Roman.

Über dieses Buch

»Sarajevo Safari« erzählt eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, handelt von einem schrecklichen Gerücht und widmet sich einem großen Thema unserer Zeit: der perversen Popularität von Gewalt und wie sie den verändert, der über sie berichtet.

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Erschienen bei KiWi Bibliothek

© 2016 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

 

Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

 

Impressum der Reprint Vorlage

ISBN (eBook) 978-3-462-41012-9

Sämtliche Figuren und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt. Orts- und Straßennamen wurden zum Teil verfremdet.

Orts- und Straßennamen wurden zum Teil verfremdet.

für Hajrudin

Die jetzt im Flug beieinander liegen:

So mag der Wind sie in das Nichts entführen.

Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben

So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben

Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.

Bert Brecht

ich fuhr ein in den stollen

und ganz ohne es zu wollen

geriet ich zu den trollen

Bert Papenfuß

Jedan

Es fällt einem viel ein, wenn man warten muß. So Sachen schießen einem durchs Hirn. Dinge, auf die man nie kommt, weil sie einem fernliegen, unerreichbar fern, fremd, zu fremd, um ihnen im Leben nahe zu sein. Kann sein, daß die Distanz im Moment des Todes schwindet.

Immerhin ist er frei von Haß. Wartet. Raucht. Ißt. Raucht. Denkt nach. Träumt. Und wartet. Und überlegt, daß einige Gedanken gar nicht so sinnlos sind. Auf jeden Fall muß man unbeteiligt sein. Das ist die Voraussetzung. Sonst würde man im entscheidenden Moment zögern, wankend werden im Entschluß und zittern vor Angst. Die Angst kam, sobald Gefühl da war. Gefühl, gleich welcher Art. Was man empfand, war nicht wichtig, die Natur der Empfindungen spielte eine untergeordnete Rolle, ob man eine Wut in sich trug oder Liebe, konnte vernachlässigt werden, solange nichts davon hochkam in jenem entscheidenden Moment, solange das Hirn, in diesem Augenblick, auf den es ankam, frei von Empfindungen war, denn im Kopf soll es windstill sein, der Geist muß klar sein und ohne dunkle Gedanken, und die Seele spiegelblank wie ein Gebirgssee an einem Spätsommertag.

Er horchte einen Moment in sich hinein und zündete sich eine Zigarette an. Das Nikotin löste eine Flut von Gedanken aus, die aber verebbten, ohne daß eine schillernde Idee in seiner Erinnerung hängenblieb. Dann fiel ihm ein, daß im Grunde genommen alle Menschen sterben wollten. Alle Menschen wünschten sich insgeheim, vor ihrer Zeit zu sterben, einige sprachen offen aus, wieso sie auf den Tod nicht warten mochten und sich danach sehnten, ihn herbeizuführen. Oder herbeiführen zu lassen.

Die Jungen, weil sie nicht altern mochten, die Alten, um nicht länger zu leiden, die Glücklichen, weil sie ihr Glück nicht ertragen konnten, die Unglücklichen, weil ihnen ihr Unglück unerträglich war, Mädchen, weil sie Angst hatten, Frauen zu werden, Frauen, weil sie Angst hatten, häßlich zu werden, Männer, weil sie meinten, sie müßten stärker als Frauen sein, es aber nicht waren, Jungen, weil sie sich davor fürchteten, Männer zu werden, Kinder aus Angst vor dem Erwachsenwerden, Säuglinge aus Angst vor dem Verlust der Mutterbrust, und Embryos aus Angst vor dem Licht der Welt. Ja, die Angst war da. Die Angst war allgegenwärtig. Und es war ein Segen, von der Angst erlöst zu werden.

Er sah sich gern in der Rolle des Erlösers. Die Rolle gefiel ihm. Sie machte die Dinge einfach. Aber die Liebe des Erlösers gestattete er sich erst viel später. Erst, wenn das Werk vollbracht war, erlaubte er sich so etwas wie Freude. Sie währte nur kurz, denn zuletzt mußte alles sehr schnell gehen. Einpacken und weg. Sonst hatte er die Meute auf den Fersen. Sie verfolgte ihn mit einer Hartnäckigkeit, die kaum zu bremsen war. Hängte sich an ihn ran, um ihn zur Strecke zu bringen. Es war schon eine Kunst, sich von ihrem geballten Haß nicht irremachen zu lassen. Noch hielt er stand, noch wußte er, er würde weitermachen, noch glaubte er daran, daß es seine Sache war. Was tat er nicht alles dafür! Nahm Risiken in Kauf, Unbequemlichkeiten, lange Reisen, hohe Ausgaben, die Suche nach geeigneten Orten, was schwierig war – mußten die Orte doch ständig wechseln – und wiederum mit steigenden Kosten und weiterer Mobilität verbunden. Ärgerte sich über Gerät, dessen Qualität häufig hinter seinen Erwartungen zurückblieb. Die Leute vor Ort wollten sparen und gaben sich mit Durchschnitt zufrieden. Jede Neuerung war eine Investition, die sie scheuten, weil sie nicht wußten, wo und wann sie die Ausgaben wieder reinbekamen, wofür er Verständnis hatte, denn Neuerungen gab es viele, die alle sündhaft teuer waren. Im wesentlichen ging es um Distanz. Die Systeme wurden immer ausgefeilter, um Distanz zu schaffen. Je größer die Distanz, um so schärfer mußte die Optik sein. Was nützte es, wenn er auf die sagenhafte Entfernung von zwölfhundert Yards eine Münze durchlöchern konnte, im Prinzip jedenfalls, aber die Optik nicht mitspielte und die Münze einem vor den Augen verschwamm, weil die Linsen nicht entsprechend vergütet waren. Auf fünfhundert Yards brauchte man natürlich nicht diese hochwertige Optik. Dann reichte 25fache Vergrößerung und man konnte einzelne Grashalme sehen. Auf achthundert Yards ging nichts mehr unter 30fach. Und alles, was dahinter lag, war natürlich ein Wahnsinn und verlangte olympische Disziplin. Den sportlichen Ehrgeiz hatte er. Selbstverständlich hatte er ihn. Alle hatten ihn. Na ja, die meisten jedenfalls. Wie er suchten sie das Abenteuer in der Entfernung, in der Vergrößerung der Entfernung, was eben nur mit Hilfe neuester Technik zu erreichen war. Es gab allerdings auch Leute, die gingen den umgekehrten Weg, wollten zurück in die Steinzeit und wieder einen Faustkeil in die Hand. Wollten das Echte, die Nähe, das Unmittelbare. Dabei kam einem wahrscheinlich jede Form von Kunst abhanden. Aber vielleicht war das auch nur eine Naturellfrage. Vermutlich hatte er eben nicht das Temperament dafür. Im Herzen war er wahrscheinlich Uhrmacher, einer, der mit feinsten Präzisionsinstrumenten an den Zahnrädern der Zeit drehte, um sie zu bestimmten, magischen Momenten anzuhalten. Eine Erfahrung, die einzigartig und durch nichts zu übertreffen ist.

Die Erfahrung: Das ist der Treffer, der durch die Blutschranke in einen fremden Schädel schlägt. Die Erfahrung: Das ist die Kugel, die sich als verlängerte Faust in das Gesicht des Gegenübers gräbt. Ein Faustkampf ist wie Sex, direkt und vulgär. Der gezielte Schuß hingegen ist erotisch. Sanft und mit Fingerspitzengefühl abgefeuert, findet er aus weiter Ferne sein Ziel. Das ist die Erfahrung. Und was der Erfahrung vorausgeht, ist das Vorspiel, die Jagd. Man muß schon ein guter Jäger sein, um überhaupt zum Schuß zu kommen. Zielstrebig sein, warten können, die Gewohnheiten des Wildes wittern, Verhaltensweisen vorausahnen. Aber diese Dinge sind kein großes Geheimnis, man kann sie lernen, überall, nicht nur bei der Menschenjagd.

Warten konnte er. Seit dem Morgengrauen wartete er. Und manchmal, wenn ihm das Warten lang wurde, brachte er das Gewehr in Anschlag, blickte durch das Zielfernrohr auf den Platz, der sich nicht beleben wollte, legte den Zeigefinger der rechten Hand an den Abzug und flüsterte: »Peng! Du bist tot!«

Dva

In einer Stadt wie dieser ist die Zeit mein größter Feind. Läuft sie mir davon, überfällt mich Panik, und ich habe keine Ahnung, wie ich sie wieder einholen kann, ziehen sich aber Stunden wie ganze Tage hin, verfüge ich über so viel Zeit, daß ich nicht weiß, wie ich sie totschlagen soll und bin zu allem fähig, um sie mir zu vertreiben. Ich sah auf die Uhr. Der Sekundenzeiger marschierte über das Zifferblatt, und das war ein Scheinangriff gegen die Zeit, eine Einheit, die meiner Meinung nach nur dazu diente, von der Wahrheit abzulenken, in die Irre zu führen, einen verrückt zu machen, denn bei den Stunden und Minuten bewegte sich nichts. Wenn man neunundzwanzig Jahre alt war wie ich, für CLEO um die halbe Welt geschickt wurde, also verdammt jung war für einen Reporter und deshalb noch ein hungriger Hund, dann war Warten das Schlimmste, was einem passieren konnte.

Weil die Stadt seit Stunden ruhig war, blieb ich im Hotel, zog mich auf mein Zimmer zurück, legte mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Bis Sheela anrief. Ihre Stimme klang Lichtjahre entfernt, dabei bewohnte sie ein Zimmer im Stockwerk über mir. Sie meinte, ihr Klo sei verstopft, und fragte, ob sie zum Scheißen runterkommen dürfe, und ich sagte, »ja«, weil das eine willkommene Abwechslung war, und ging noch schnell ins Bad, um mir die Zähne zu putzen, bevor sie kam.

Sheela hatte Shit dabei und baute einen Joint. Ich nahm ein paar Züge, dann verzog sie sich mit dem Joint aufs Klo. Ich wollte ihr hinterherrufen, ob das jetzt so eine Art Jointventure sei, ließ es aber bleiben, weil sie solche Scherze womöglich in den falschen Hals bekam, dachte noch, ›bei mir haut es aber ziemlich rein‹, und dann rief Sheela, sie sei fertig und habe Hunger und wolle mit mir ins Restaurant, und ich rief »okay« in der Annahme, es werde irgendwie auch in meinem Sinne sein. Wir nahmen den Fahrstuhl, fuhren rauf in den zwölften Stock.

Das Restaurant war wirklich schön. Kronleuchter, goldblaue Lilientapeten, abgetretene Veloursteppiche, tizianrot, und Kakerlaken auf Verfolgungsjagd. Der Kellner begrüßte Sheela mit französischem Kuß. Er trug ein T-Shirt, auf dem ›I hate myself and I want to die‹ zu lesen war, und direkt darüber grinste Kurt Cobain von seiner Brust. Das Grinsen störte mich. Ich hob die Augen und sah dem Kellner ins Gesicht. Er grinste ebenfalls und trug den gleichen Bart und ließ seine Haare auch genauso in die Stirn fallen wie Cobain, und einen Moment lang sah es so aus, als habe Cobain den Kellner huckepack genommen – in meinen Augen eine verdammt nette Geste. Bestimmt hatte der Kellner einen Riesenerfolg bei Mädchen, weil ihm der Suizid ins Gesicht geschrieben stand. Die Vorstellung ärgerte mich ein wenig, dann sagte ich mir, Sheela war nicht der Typ, um auf einen Kerl wie Cobain oder den Kellner zu fliegen.

Da saßen wir schon am Fensterplatz, aber der Kellner war immer noch da. Sheela meinte, dieser Tisch sei ihr Lieblingstisch und bedankte sich bei ihm. Das fand ich jetzt ein wenig übertrieben, weil man von der Stadt wegen der Dunkelheit nichts sah.

Am Nachbartisch aßen die Holländer. Den dicken Regisseur hatte ich am Nachmittag schon unten im Foyer gesehen. Ab Mittag hingen dort in den grünen Samtsesseln zwei Mädchen rum, und sobald ein Kerl vorbeikam, standen sie auf, stramm wie Soldaten, und öffneten ihre Daunenjacken, obwohl die Lobby nicht beheizt wurde, was in Anbetracht der Mädchen eine Schande war – sie öffneten also ihre Jacken, und die Blonde hatte wirklich erstklassige Titten, die sich durch ein enges T-Shirt drückten, worauf ›Bitch‹ gedruckt war. Bei der Schwarzhaarigen stand ›fuck me‹ drauf, aber als ich an ihr vorbeiging, konnte ich nur den Abdruck von einem Nippel sehen, was mich wunderte. Später erwischte ich den Regisseur im Fahrstuhl, und weil bloß die Blonde neben ihm stand, fragte ich ihn, was von den Titten der Schwarzhaarigen zu halten sei. »Eine ist okay«, meinte der Dicke, »die andere hat ihr ein Schrapnell abrasiert.«

Der Regisseur lächelte mir jetzt verschwörerisch zu, nickte und sah den Kellner an und dann wieder mich. Für mich ein Wink mit den Augen. Ob er mir sagen wollte, daß der Kellner die Schwarze vögelte? Nach meinem Dafürhalten konnte es gut sein. Bei dem Gedanken war mir nicht wohl. Ich vermied es, den Kellner anzusehen. Um ein Haar hätte ich die Beherrschung verloren und laut losgelacht. Dann begriff ich, daß Sheela ihre Bestellung schon gemacht haben mußte, und er nun auf meine wartete, und sagte, »das gleiche, bitte«. Der Kellner zog sich mit der Andeutung einer Verbeugung zurück. Sheela murmelte, der Balkan sei die Heimat der Kavaliere. Der Kellner steuerte auf die grüne Flügeltür zu, die den Speisesaal von der Küche trennte. Auf seinem Rücken war Cobains Hinterkopf zu sehen. Auch von hinten sahen sich Cobain und der Kellner ähnlich. Im gleichen Moment, als ich das bemerkte, fiel mir dieses idiotische Sprichwort ein: Aller guten Dinge sind drei. Ich sagte also, »aller guten Dinge sind zwei«. Und Sheela kicherte und erwiderte, »ist schon in Ordnung, Mann«, woraufhin ich »ja« sagte, im nachhinein aber darüber nachdachte, ob mein Ja eine Frage oder eine Antwort war.

»Diese Stadt ist eine Droge«, meinte Sheela, »einige Leute kommen hier ziemlich schlecht drauf.«

Ich sah, wie die grüne Flügeltür aufgestoßen wurde und Cobain mit einem Tablett aus der Küche trat, und sagte: »Pech, wenn man auf einen Horror kommt.«

Aus irgendeinem Grund fand Sheela das lustig und lachte, und dann stand der Kellner zwischen uns, beugte sich über den Tisch, und ich hörte Sheela hell auflachen. Sie hörte sich an, als habe sie jemand an einer empfindlichen Stelle gekitzelt. Ich fühlte, daß ich ebenfalls lachen mußte, wollte dem Drang aber nicht nachgeben, was mir schwerfiel. Ich hatte einen trockenen Mund. Vielleicht hatte Sheela den Shit von Cobain gekauft. Roter Libanese. Über Split und Mostar durch den Tunnel geschmuggelt, erste Qualität, ungestreckt, weil Schuhcreme wie jeder andere Scheiß hier verdammt teuer war. Jedenfalls überkam mich jetzt das blöde Gefühl, daß ich gleich albern werden würde, eine Albernheit, die wie ein Anfall war, ein Krampf, nicht zu stoppen, selbst wenn man sich mit aller Kraft in den Arm kniff.

Und zu allem Elend fiel mir in diesem Moment auch noch die Beerdigung meines Vaters ein. Robert Mandel Senior. Robert Mandel Junior rief er mich. Als der Alte verscharrt werden sollte, verliefen sich die Sargträger. Sie fanden die Grube einfach nicht. Ein Skandal. Der Friedhof war riesig. Berlin zentral. Eine Stunde liefen die Träger im Kreis. Meine Mutter weinte. Sie weinte die ganze Zeit, und Robert Mandel Junior lachte Tränen. Eine Stunde lang. Dabei hatte ich vorher nichts geraucht.

Scheiße, wenn ich jetzt einen Krampf bekäme. Falls der Kellner Sheela das Haschisch verkauft hatte, wußte er wenigstens, daß ich sonst einigermaßen normal war. So normal, wie man eben sein konnte, wenn man sich ohne tieferen Grund in diese Stadt begab.

»Das ist Krieg«, hörte ich Sheela sagen, und dabei lachte sie, und ich glaube der Kellner lachte auch, nur eine Tonlage tiefer als sie. Ich war mir aber nicht sicher, weil ich die Szene jetzt auch irgendwie einigermaßen lustig fand und meine eigene Stimme mitschwingen hörte, was mir zugleich ein wenig peinlich war.

»Nur Haut und Knochen, und die auch noch verkohlt«, sagte Sheela. Und ich war froh, daß der Kellner nicht mehr zwischen uns stand. Cobain lehnte in Habachtstellung an einer Säule, die Arme über der Brust verschränkt, und schaute zu uns herüber. Keine Ahnung, worauf er wartete.

Sheela nahm ihr Rotweinglas, lächelte und prostete mir zu. Ich trank. Ihr Lächeln wärmte mich. Plötzlich wünschte ich mir, ihr zu gefallen. Schade, daß sie nicht verliebt in mich war. Wenn sie mich mochte, würde mir das einen irren Schub geben. Oder mich wahnsinnig bremsen. In so einem Fall hing ich nur noch rum, dachte an sie, wartete auf sie und kam zu gar nichts mehr. Wahrscheinlich zog sie mich nicht in Betracht, weil ich ihr zu jung war. Schätze, sie war fünf Jahre älter als ich, vielleicht auch sechs. Jedenfalls hatte sie Zähne, die ebenmäßig wie die Skyline von Manhattan waren, und konnte großartig lächeln. Es gab Leute im Hotel, Kollegen, die behaupteten, daß Sheela über Leichen ging. Es hieß, sie rase mit einem mörderischen Tempo durch die Gegend und stelle unglaubliche Geschichten auf. Schwer zu sagen, was sie antrieb. Uribe Varrete, ein Mexikaner, der in New York lebte und für US-News schrieb, nannte sie ein wahnsinniges Geschoß. Irgendwie war das sehr treffend. Jeder hier fand Sheela umwerfend, egal, ob Reporter, Korrespondenten oder Hotelpersonal. Und einige Kerle waren rollig auf sie.

»Zum Kotzen!« schimpfte Sheela und fuchtelte mit ihren dünnen Kate-Moss-Armen durch die Luft. Sie hob einen Hühnerschenkel hoch, besah ihn von allen Seiten, verzog schließlich das Gesicht, grinste und ließ den Schenkel zurück auf ihren Teller fallen. Es gab einen hellen Klang. Das Geräusch stach scharf aus den übrigen Restaurantgeräuschen hervor, den Unterhaltungen der Holländer am Nachbartisch, dem Schaben von Messern und Gabeln, den Anweisungen, die der Kellner in die Küche rief. All das hörte ich. Ich hörte es so genau, daß ich sagen konnte, wo jeder Laut herkam. Nur die Stadt hörte ich nicht. Seit Stunden lag sie ruhig. Kein Ton drang zu uns herauf. Fand ich seltsam. Bemerkte Sheela das nicht?

»Scheiße, Mann«, sagte sie, »selbst Hühner finden hier nichts mehr zu fressen.«

»Wie lange wirst du in Sarajevo bleiben?« fragte ich.

Darauf antwortete sie nicht. Vielleicht war ihr Lächeln auch als Antwort anzusehen. Um die Augen hatte sie kleine Falten, und ich stellte mir vor, eine Krähe habe ihre Spur hinterlassen. Ich sah sie an. Sie war furchtbar schön in diesem Moment. Ich glaube, wegen ihres blendenden Aussehens hatte ich Angst vor ihr. Ich spielte mit dem Gedanken, aufzustehen, zu ihr herüberzugehen und sie anzufassen. Allein der Gedanke tat mir in der Seele weh. Sie sah mich noch immer an, und ihr Blick kam von weit her und hatte etwas Strahlendes, und das war schrecklich für mich. Und während sie mich jetzt angrinste, bildete sich neben ihrem linken Mundwinkel ein Grübchen, ein vollkommener, kreisrunder kleiner Krater, ein winziger Einschlag, den das Leben ihr mit auf den Weg gegeben hatte zum Beweis, daß selbst sie nicht perfekt geraten war. Ich starrte den Krater an.

»Nur noch eine Woche, Mann. Eine Woche für so eine Stadt«, sagte Sheela, und plötzlich verschwand ihr Grinsen, und auch der Krater neben ihrem Mundwinkel war weg.

»Jeden Tag passiert hier was«, sagte ich und starrte auf die Stelle, wo der Krater gewesen war.

»Jeder Tag ist voller Geschichten, voller Bilder, die Geschichten erzählen.« Sheela kniff die Augen zusammen. Sie sah verwegen aus.

»Ja«, sagte ich, »in Sarajevo kann man wirklich sehr gut arbeiten«, und hoffte, daß die Delle in ihrem Gesicht wieder zum Vorschein kam.

»Prima kann man hier arbeiten. Besser geht’s nicht. Du kannst jederzeit die Seiten wechseln. Beide Kriegsparteien wollen mit dir reden. Und wenn du mal nicht weiterkommst, in Ordnung, dann kostet es dich ein nettes Lächeln, und du mußt Bakschisch zahlen.«

Das Grinsen war jetzt wieder da, das Grübchen aber nicht. Irgendwie fühlte ich mich betrogen. Das ging mir immer so. Ich lernte ein Mädchen kennen, fand es wunderschön, was mich abstieß, weil Schönheit mir Angst einjagte, dann entdeckte ich eine Macke an ihr, einen Makel, einen Leberfleck, einen Pickel, die linke Brust war zu groß, das eine Bein zu kurz, die Ohren standen ab oder so – und schon hatte ich mich verliebt. Mußte dauernd auf die Ohren sehen, die Titte, die zu klein war, den Leberfleck, auf dem womöglich Haare wuchsen, der Pickel, der am nächsten Morgen aufplatzen würde, und das war eine wahnsinnige Erleichterung für mich, denn auf einmal war meine ganze Scheißangst wie weggeblasen. Aber nun war Sheelas Grübchen wieder verschwunden, und das war ein Riesenverlust, keine Ahnung, wie ich damit fertig werden sollte. Ich konnte ja schlecht den Rest des Abends auf den Mundwinkel starren und warten, daß der Krater wiederkam.

Ich stand auf, ging um unseren Tisch herum, trat ans Fenster, sah hinaus, konnte aber nichts erkennen, alles dunkel, wahrscheinlich Stromausfall. Das Hotel verfügte über einen Generator. Warum, zum Teufel, lag die Stadt so ruhig? Hatten die Kämpfe aufgehört? Sonst genoß man von diesem Tisch eine phantastische Aussicht. Während der Angriffe blitzten ganze Viertel auf. Der Einschlag der Granaten erinnerte an Leuchtfeuer. Das Hotel war während der letzten Wochen nicht getroffen worden. Nur einmal klirrten Scheiben und tanzten Gläser auf dem Tisch, als ein Natojet über der Stadt die Schallmauer durchbrach. Die Druckwelle schüttelte die Wolken durch, ließ das Stockwerk erbeben und zog mein Gesicht lang.

»Was ist los?« fragte Sheela.

»Nichts«, erwiderte ich. »Alles dunkel, sieht aus, als hätten sich die Bewohner davongemacht.«

»Keine Sorge«, sagte Sheela, »sie hocken in ihren Löchern und beten, daß jemand die ausgebombte Elektrik repariert.«

Ich lehnte den Kopf an die Scheibe und sah auf den Parkplatz vorm Hoteleingang. Weil an einem Auto noch das Standlicht brannte, konnte ich zwei Silhouetten sehen. »Willst du später noch mal raus?«

»Heute nicht.« Sheela schüttelte den Kopf.

»Sieht aus, als wartet dort unten jemand auf dich.«

Sheela plinkerte wie ein kleines Mädchen mit den Augen und sagte: »Eine Menge Leute warten nur auf mich.«

Ich widerstand dem Drang, einen blöden Witz zu machen, und fragte: »Hast du deinen Fahrer nicht nach Haus geschickt?«

»Kann sein, daß ich es vergessen habe«, antwortete Sheela. Sie war ebenfalls aufgestanden und stand jetzt neben mir. Sie war einen Kopf kleiner als ich. Ich überlegte, ob es ihr gefiel, wenn ich ihr meine Zunge in den Mund steckte. Ich würde sie hochheben müssen, wenn ich mich nicht zu ihr runterbeugen wollte.

»Ist verdammt kalt draußen«, sagte ich.

»Ist auch verdammt kalt hier drinnen«, sagte sie und ging zum Tisch zurück. Ich setzte mich ebenfalls wieder hin. Dann hörte ich einen Knall, nicht laut. Es klang, als habe jemand eine Fliege geklatscht.

»Ich dachte schon, es hätte aufgehört«, sagte Sheela mit Erleichterung in der Stimme, zog eine Zigarette aus der Packung, steckte sie in den Mundwinkel, wo sonst gleich daneben das Grübchen war, zündete sie an, paffte, sog Rauch in ihre Lunge, legte die Zigarette in den Aschenbecher, blies den Rauch in einem Schwall durch Mund und Nase aus, während sie gleichzeitig eine weitere Zigarette aus der Packung nahm, der Länge nach mit der Zunge befeuchtete, sie auf den Tisch legte und entlang der feuchten Spur aufdröselte.

»Ja«, sagte ich, »sie schießen wieder.«

»Ja, Mann, Heckenschützen«, echote sie und fischte einen Klumpen Haschisch aus der Innentasche ihres Sakkos.

 

Am Flughafen von Sarajevo hatten wir uns zum ersten Mal gesehen. Um ehrlich zu sein, ob sie mich sah, weiß ich nicht. Ich kam aus Ancona, Italien, und man ließ mich in Sarajevo nicht durch die Paßkontrolle. Der Zöllner zählte mein Geld. Alte, schmierige Zehnmarkscheine, die an den Fingern klebenblieben, hundert davon insgesamt, fünfzig Zwanzigmarkscheine, die ebenfalls reichlich fettig aussahen und zehn druckfrische Hundertmarknoten, deren blaue Farbe leuchtete und einem hundsarmseligen Zöllner wie ihm wahrscheinlich den Himmel auf Erden versprach. Kann sein, daß er den Kontrast nicht ertragen konnte und sich deshalb verzählte. Konnte aber auch angehen, daß ich Valium nicht vertrug und mich deshalb verrechnete.

Beim Landeanflug auf Sarajevo hatte ich eine Beruhigungstablette geschluckt. Und nach einer halben Stunde stand ich immer noch mit dem Zöllner da und wußte nicht weiter. Valium verlangsamte. Keine Ahnung, was ich machen sollte. Dann kam die Maschine aus Split und mit ihr kam Sheela, stemmte die Hände in die Hüften, sagte »no bodycheck« und rauschte vorbei. Es sah so einfach aus, daß ich es gar nicht erst versuchte. Wie durch ein Wunder kam ich dann doch noch frei. Wahrscheinlich nur, weil der Zöllner in Gedanken mit Sheela beschäftigt war. Ich sah, wie sie am Ausgang in einen Hummer krabbelte, und stieg ihr hinterher.

Die Besatzung des Panzers waren UNO-Soldaten aus Ägypten. Links und rechts gab es Sitze zum Runterklappen. Ich schnallte mich neben Sheela fest. Während wir durch Dobrinja fuhren und beschossen wurden, drehte sich der Beifahrer grinsend um. Sheela zog eine goldene Zigarettendose aus der Tasche, ließ sie aufschnappen und klemmte sie zwischen ihre Knie, was bestimmt nicht leicht war, weil der Tank während der Fahrt vibrierte. Meine dreißig Kilo schwere Panzerweste hüpfte wie ein Gehäuse auf und ab. Ich kam mir wie ein Käfer vor. Sheela fragte mich, ob ich mitrauchen wolle. Ich nickte. Die Valium würde verhindern, daß ich schlecht draufkam. Der Franzose, der rechts neben ihr saß, lehnte ab. Sheela hatte erstklassiges Jointpapier mit hinduistischen Heiligen darauf. Ich meinte, die Hindus würden auch Hitler und Mussolini verehren. Mussolini nicht, erklärte Sheela, und Hitler habe sie in Amsterdam geraucht. Dort habe sie die Papers gekauft. Hitler sei das Deckblatt gewesen.

»Verdammte Scheiße«, sagte ich.

»Schöne Scheiße, Mann«, sagte Sheela. Wir rauchten einen Kerl mit weißen Haaren, den keiner von uns kannte. Bhagwan oder so war es jedenfalls nicht. Als wir am serbischen Checkpoint angehalten wurden und der Funker die Hintertür öffnen mußte und ein Mensch mit Tarnuniform und ernstem Gesicht zu uns hereinsah, versteckte Sheela den Joint unter dem Sitz. Ich konnte mir kaum vorstellen, daß es Leute gab, die Shit nicht rochen. Jedenfalls durften wir weiterfahren. Das Haschisch hatte keinerlei Wirkung auf mich. Sheela stöpselte sich Kopfhörer in die Ohren. Ich versuchte durch ein winziges Fenster nach draußen zu sehen, was nur unter großen Verrenkungen möglich war, weshalb ich meine Versuche aufgab. Während der vergangenen Wochen hatte ich Sarajevo oft im Fernsehen gesehen. Weil Sheela auf irgendwas zu warten schien, grinste ich sie an und nannte ihr meinen Namen: »Mandel, Robert.«

»Ah, Menndell«, meinte Sheela und gab mir den linken Ohrhörer. Ich steckte ihn mir rechts rein. Gegrüßet seist du, Maria! Sie hörte das Ave-Maria mit deutschem Text. Wenn das kein Wahnsinn war. Stell dir vor, du fährst in einem Panzer und spielst dieses Lied. Das geht in einen Kopf doch gar nicht rein. Dafür müßte man schon so eine Art Heiliger sein.

»Hey, Bob«, sagte Sheela, »was meinst du, vielleicht ist Jesus noch lustiger als Gott?«

Zu gern hätte ich das Ave-Maria noch mal gehört. Und vielleicht wäre mir heute abend eine Antwort eingefallen. Ein Jammer, daß sie ihren Walkman jetzt nicht dabei hatte. Sheela riß ein Stück Pappe aus der Zigarettenschachtel, rollte es zu einem Filter und schob es in den Joint, der wie eine gewöhnliche Zigarette aussah. Zum Glück lehnte der Kellner nicht an der Säule. Womöglich hätte er mitrauchen wollen. Sheela reichte mir die Rolle. Ich berührte ihre Hand, und weil ich fühlte, daß sie feucht war, dachte ich darüber nach, ob mit ihr alles in Ordnung war, beruhigte mich aber schnell mit dem Gedanken, daß sie wohl einen schwachen Stoffwechsel und schlechte Durchblutung hatte, was vielleicht auch mit der schlechten Ernährung zusammenhing. Während ich anrauchte, fiel wieder ein Schuß.

»Sie ballern rum, damit sie nicht einschlafen«, sagte Sheela.

Ich reichte ihr den Joint. »Vielleicht wollen sie ihre Mädchen beeindrucken.«

»In der Dunkelheit treffen sie doch keine Sau.« Sheela nahm zwei Züge und gab mir den Joint zurück.

»Hauptsache, es knallt?«

»Ja, Mann, mehr ist es nicht.«

Ich nahm einen Zug, trank einen Schluck Wein und nahm noch einen Zug. »Manche Leute sind verdammt scharf drauf, Morde zu begehen.«

»Männer töten aus Lust.«

»Und Frauen, wenn sie sich anders nicht zu helfen wissen.«

Sheela grinste: »Nur Kerle sehen andere Kerle für ihr Leben gern in die Kiste springen.«

»Bumm.« Ich tippte mit dem Zeigefinger gegen meine rechte Schläfe.

»In Ordnung. Es soll Ausnahmen geben, die bringen sich lieber um, bevor sie anderen was zuleide tun. Bist du so ein seltenes Exemplar, Bob?«

»Ich bin ein Träumer«, erwiderte ich, »und Träumer richten keinen Schaden an.«

»Ich glaube, viel mehr Menschen als man denkt, träumen davon, wenigstens einmal in ihrem Leben jemanden umzubringen«, sagte Sheela und blickte an mir vorbei. Und auf einmal war der Krater neben ihrem Mundwinkel wieder da. »Nicht, weil sie jemanden hassen, sondern weil sie meinen, das ist die letzte große Erfahrung, die ihnen noch fehlt.«

Ich versuchte, auf den Grund des Kraters zu sehen, sagte aber nichts.

»Es muß ein wahnsinniges Gefühl sein, wenn einer abgeht.«

»Soldaten erzählten mir, es ließe sie kalt.«

»Die lügen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich war dabei, als sie jemanden erschossen. Nicht hier, in Beirut bei den Falangisten. Sie ließen mich zusehen, weil sie dachten, es würde mich beeindrucken. Der Kerl, den sie umbrachten, war angeblich von der Hisbollah und trug ein Gewehr mit Zielfernrohr, als sie ihn gefangennahmen. Kann aber auch sein, daß sie ihm das Gewehr erst hinterher gaben, damit es in meinen Augen so aussah, als wäre er ein Scharfschütze, ein Killer, den man töten durfte.

Sie legten ihn mit dem Bauch auf den Boden. Er hielt sich mit der linken Hand den Mund zu, damit kein Schluchzen, kein Weinen, kein Klagelaut sie reizte. Einer nahm ihm das Gewehr aus der rechten Hand, hielt es ihm an die Schläfe und drückte ab. Das Klicken des Verschlusses krachte wie eine Detonation in meinen Ohren. Das Magazin war leer gewesen, und ich hörte den Mann atmen. Einen Moment lang glaubte ich, wenn sie mit dem hier fertig sind, bist du an der Reihe. Dann reichte mir einer der Soldaten sein Gewehr, aber ich gab es ihm zurück.

Das fanden alle komisch. Lachend standen sie um den Kerl, der am Boden lag, herum. Der Soldat, der mir das Gewehr geben wollte, drückte ihm den Gewehrlauf an den Hintern und schoß ihm mit einer Salve in die Hoden. Der Mann schrie, krümmte sich, versuchte sich umzudrehen, aber sie hielten ihn fest und preßten ihn auf den Boden. Und ein anderer Soldat schoß ihm durch den Rücken ins Herz. Danach reckten sie ihre Hände gen Himmel und beteten. Sie machten glückliche Gesichter dabei. Mich ließen sie gehen, als wäre nichts gewesen. Der Soldat, der zuerst geschossen hatte, brachte mich in die Stadt zurück. Mann, ich hatte eine Scheißangst.«

 

Die Holländer am Nachbartisch johlten und klatschten in die Hände. Der schwarze Kameramann vom amerikanischen Fernsehsender BCS spielte Entertainer und mimte den Clown. Um frei agieren zu können, war er aufgestanden. Während er redete, breitete er die Arme aus und beugte den Oberkörper nach hinten, als wollte er einen Gospel anstimmen. Hin und wieder griff er sich an den Kopf und zupfte seine braune Wollmütze zurecht. Die nahm er auch im Restaurant nie ab.

Er war der Prediger, und sie waren seine Gemeinde. Er sprach davon, daß heute morgen nach drei Tagen wieder Wasser aus dem Hahn gesprudelt sei, er die ganze Wanne vollaufen lassen und sich in das eiskalte Wasser gelegt habe. Wieder streckte er beide Arme aus. Es sah aus, als wollte er das Wasser im nachhinein segnen. Ja, es sei höllisch kalt gewesen, er habe geklappert wie ein Haufen Knochen in der Grube. Aber hinterher sei sein teuflischer Körpergeruch weg gewesen. Jetzt, heute abend, fühle er sich immer noch wie neugeboren, frisch wie ein Baby nach dem Baptising. Ein Wunder, bei der widerlichen, rostigen, gottlosen Brühe, in der er sich gebadet habe. Ein Wunder, weil sie in das Wasser doch ihre Leichen warfen.

Ich hörte ein Maschinengewehr rattern. Das war wohl so eine Art Antwort auf die Schüsse von eben. Der Prediger vom Nachbartisch rief »Two hundred beats per minute«, wackelte mit den Hüften, stöhnte »Wow« und machte »Ratatatack«, um den Rhythmus zu imitieren, nur zum Atemholen setzte er aus. Und der dicke Regisseur, der einen dünnen Haarkranz um seine Glatze trug und in Amsterdam lebte, sang »Bowowow« als Baß. Dazu stampften alle mit den Füßen, klatschten, und eine der Assistentinnen des Predigers kam hinzu, erinnerte sich an einen alten Soulhit und krähte: »War is what we are fighting for.«

»Nur im Krieg kannst du töten, ohne daß du dafür ins Gefängnis kommst«, sagte Sheela.

»Aber du mußt aufpassen, daß dich niemand in der Zeitung einen Kriegsverbrecher nennt.«

Sheela winkte dem Kellner. »Das ist vielen Leuten hier verdammt egal.«

»Wenn du getötet hast, lebst du in einem Gefängnis, auch wenn man die Mauern nicht sieht.«

»Du bist doch nicht etwa religiös?« Sheela lächelte.

»Nicht wirklich.«

Der Kellner verschwand hinter der grün lackierten Flügeltür, die den Speisesaal des Restaurants von der Küche trennte, trat aber im nächsten Moment wieder heraus. Sheela winkte ihm wieder. »Hörte sich aber so an, Bob.« Der Kellner zeigte keine Reaktion.

»Einigen Leuten ist es gleich, in was für einem Gefängnis sie leben.« Ich merkte, wie der Wein über das Haschisch die Oberhand gewann. Mein Kopf fühlte sich leicht benommen an.

»Vielleicht hast du recht«, sagte Sheela und schüttelte den Kopf.

»Diese ganze Stadt ist ein Knast, und keiner kommt, die Bewohner zu erlösen«, sagte ich.

Sheela stieß sich vom Tisch ab und stand auf, um dem Kellner ein Zeichen zu geben. Er nickte mit den Augen.

»Wenn ich die Scheiße hier gefilmt habe, bin ich weg. Ciao Sarajevo. Adios«, sagte Sheela mit erhobener Stimme.

Die Assistentin vom Nachbartisch, die das Lied gesungen hatte, drehte den Kopf und sah mit spöttischem Gesicht zu uns herüber.

»Und weil Journalisten wie wir in jeder Jauchegrube wühlen, hocken wir in diesem Hotel und fressen der hungernden Bevölkerung die letzten Hühnerschenkel weg«, sagte ich, »das ist wirklich nett.«

Ob die Assistentin zum erstenmal in Sarajevo war?

»Das stinkt zum Himmel«, erklärte Sheela salbungsvoll.

»Amen«, sagte ich.

»Bäh«, machte Sheela und kicherte.

Der Kellner schlängelte sich durch die Flügeltür. In der rechten Hand balancierte er ein Tablett.

»Journalismus widert mich an«, sagte ich.

»Ich liebe meine Arbeit.« Sheela lächelte.

»Ich bin Journalist, weil ich sonst nichts gelernt habe«, sagte ich, »und jetzt sitze ich in der Scheiße.«

Der Kellner näherte sich unserem Tisch.

Sheela lächelte noch immer: »Da mußt du durch, Bob.«

»Ja, ich weiß, das ist die Wahrheit. Aber vielleicht interessiert mich die Wahrheit in Wahrheit nicht.«

»Die Wahrheit ist«, grinste Sheela, »daß dir nichts Besseres einfällt. Sonst wärst du Dichter, würdest deinen inneren Schweinehund bekämpfen und Bücher schreiben.«

Der Kellner beugte sich vor und legte das Tablett auf den Tisch. Sein Ebenbild auf dem T-Shirt zog die Stirn in Falten und machte ein betrübtes Gesicht.

»Die Welt braucht uns nicht«, erklärte ich, »das ist die Wahrheit, nur wollen wir sie nicht wahrhaben.«

Der Kellner sah erst mich und dann Sheela an.

»Ist mir egal, Mann«, sagte Sheela und rieb sich die Hände. »Urlaub in der Hölle, das ist fun.«

»Ja«, sagte ich, »eine Menge Leute haben es furchtbar eilig, in die Hölle zu kommen, weil das Paradies verdammt langweilig ist.«

»Ja, Mann«, sagte sie, als wir gezahlt hatten und musterte mich mit einem furchtbar bekifften Blick, »es ist ein Unglück, daß das Paradies so scheißlangweilig ist.«

Ich dachte, es würde sie jetzt vielleicht interessieren, daß ich einen deutschen Söldner suchte, und erzählte es ihr, aber sie sagte nur: »Yeah’m.«

Irgendwas durchschnitt rechts neben ihrem Kopf leuchtend den Himmel. Eine Sternschnuppe, dachte ich und überlegte, was ich mir wünschen sollte, aber mir fiel nichts ein.

»Leuchtspurmunition«, erklärte Sheela, »damit sie die Einschläge sehen.« Dann sagte sie, sie sei müde. Ich fragte, ob ich sie zu ihrem Zimmer bringen solle, aber sie wollte nicht. Ich schenkte mir den Rest vom Wein ein. Keine Ahnung, wie 89er Bardolino in die eingeschlossene Stadt kam. Auch die Holländer vom Nachbartisch waren abmarschiert. Weiter hinten, direkt neben der Flügeltür, saßen noch zwei türkische Reporter, und ich war froh, daß sie mit mir die Stellung hielten. Ich leerte das Glas und dachte darüber nach, was ich die nächsten Tage tun würde. Dann überlegte ich, ob Sheela zum Einschlafen noch einen Joint rauchte. Ich vermutete, ja.

Der Kellner weckte mich, indem er mir auf die Schulter tippte. Die Wolkendecke mußte aufgerissen sein. Ich konnte Sterne sehen. Vielleicht stieg die Temperatur. Womöglich war der Winter vorbei. Sowie es wärmer wurde, flammten die Kämpfe auf, hieß es. Daran konnte man sehen, daß der Frühling kam. Der Kellner fragte nach Sheelas Zimmernummer. Er sagte, ihr Fahrer sei vor wenigen Minuten vorm Haus erschossen worden. »Heckenschützen«, der Kellner kniff seine Augen zusammen, »mit Nachtsichtgeräten.«

»Verdammt«, murmelte ich und sah auf das T-Shirt, ob Cobain jetzt auch ein verkniffenes Gesicht machte.

»Ehrlich«, sagte Cobain, »ich bin Pazifist, aber eines Tages gehe ich raus und knalle einen von denen ab.«

Draußen schossen sie wieder. Sicher würden die Kämpfe die ganze Nacht über weitergehen. Ich überlegte, ob ich bleiben sollte, bis das Restaurant geschlossen wurde.

 

Ich bin wahrscheinlich ein typischer Journalist. Ich sage das nicht gern, weil es mir ein bißchen peinlich ist. Und deswegen sage ich es auch so gut wie nie. Meine Freunde sagen das. Sie sagen, für jemanden wie mich gäbe es keine Freundschaften, nur Zweckbündnisse. Aber dann wäre die Verbindung zu ihnen von meiner Seite aus vollkommen unerklärlich, antwortete ich einmal bei so einer Gelegenheit. Sie seien mir immerhin zu gar nichts nütze, könnten mir keine Jobs verschaffen, mich nicht mit dem und dem wichtigen Menschen bekannt machen, nicht in dieser oder jener Redaktion meinen Namen fallenlassen. Zu so was wären sie nicht in der Lage, weil ihnen dafür die Verbindungen fehlten. Wozu sei unsere Verbindung dann ihrer Meinung nach noch gut? Daraufhin zögerten sie und wanden sich. Schließlich meinten sie, in unserem Fall handle es sich um ein Bündnis, dessen eigentlicher Zweck im Laufe der Jahre verlorengegangen war. Ich fand das zum Lachen und erwiderte, daß so ein Gedanke sicher nur die Hälfte der Wahrheit war, ihre Hälfte, und ich wäre jetzt absolut nicht in der Stimmung, mir so einen Bullshit zu eigen zu machen.

»Siehst du«, sagten sie daraufhin. »Nichts nimmst du ernst, selbst wenn es sehr ernst ist. Deswegen bist du ein typischer Journalist.«

Ich fand dann, sie mußten wohl irgendwie recht haben, und schloß mich der Argumentation an, halbwegs zumindest, obgleich sie mir, wie gesagt, zuwider war. Auch ein paar andere Dinge akzeptierte ich, obwohl sie mir genauso zuwider sind. Daß Journalisten nahezu ausnahmslos dasselbe Sternzeichen haben und immer hektisch sind, rauchen oder Nägel kauen, nie Zeit haben, es sei denn, sie wird ihnen bezahlt, immer neugierig sind, aber nur, so lange sie die Infos für ihre Story brauchen, und zu Oberflächlichkeit und Hedonismus neigen, was besonders groteske Züge annehmen kann. Eben noch haben sie wen im Regen stehen lassen, im nächsten Moment beschweren sie sich, daß der Kerl unverschämterweise beleidigt ist, weil sie bei all den aufgezählten Charakterschwächen auch noch Mimosen sind. Dauernd gestreichelt werden wollen, gelobt, geliebt, in den Himmel gehoben. Ja, das wollen Journalisten, und ich natürlich auch, weil ich einer bin. Aber ich habe gerade das Rauchen aufgegeben. Jetzt kaue ich Fingernägel.

Natürlich bilde ich mir ein, die Dinge ernst zu nehmen. Meine Freunde nehme ich ernst, meine Zweckbündnisse ebenso. Und wenn jemand Schmerzen hat, nehme ich die ernst und tröste ihn. Allerdings bin ich selten da, wenn der Schmerz wiederkommt. Ich meine, das ist eine Frage der Zeit. Sie rinnt mir durch die Finger. Und meistens bin ich sowieso weg. Auf Reisen. Auf Recherche. Immer neue Leute. Nie dieselben Orte. Meine Freunde kann ich schlecht mitnehmen, nur weil es ihnen bei meiner Abreise gerade miserabel geht. Also telefonieren wir. Ich vertelefoniere wahnsinnig viel Geld nur durch meine Freunde. Dummerweise schätzen sie das nicht. Sondern klagen und beschweren sich. Und das auch noch am Telefon. Manchmal denke ich, es ist zum Wahnsinnigwerden.

»Du bist eben ein typischer Journalist«, sagen sie. Ich denke, Sheela ist noch typischer. Aber vielleicht ist sie deswegen schon besonders, ich meine unter den Journalisten. Jedenfalls ist sie neugieriger als ich. Neugierig im aggressiven Sinn. Ich bin kein Eroberer, lege keinen Wert darauf, mir die Geschichte anderer einzuverleiben. Ich habe lediglich ein starkes Interesse an meiner Umwelt und werde ärgerlich, sobald man mir Grenzen zeigt. Erkundige ich mich nach dem Befinden von irgendwem, verlange ich eine ehrliche Antwort, und erzählt mir jemand ein Detail aus seinem Leben, gebe ich mich selten zufrieden damit und erfrage die gesamte Biographie. Falls sie mich interessiert. Falls nicht, höre ich gar nicht erst hin. Und versucht man mich zu zwingen, kriege ich ein Rauschen in den Ohren. Ich bin vielleicht nur Durchschnitt, so lala, als Mensch und als Schreiber. Ich kann ganz schön schreiben, wirklich, ich gebe mir große Mühe, aber damit bin ich nicht der einzige auf der Welt. Manchmal denke ich, ich bin wahrscheinlich ziemlich durchschnittlich, ich hoffe, gut durchschnittlich, sagen wir, vielleicht ein klein wenig überdurchschnittlich, ein winziges bißchen zur Beruhigung meiner grenzenlosen Eitelkeit. Ich brauche das. Sonst würde ich sterben. Von der Hoffnung lebe ich. Früher haben sie deswegen gesagt, daß ich ein Träumer bin.

»Wach auf, Robert«, sagte meine Mutter immer, »und sieh zu, wie du durchs Leben gehst.« Über meine Familie gibt es wenig zu sagen. Außer, daß es keine war. Mein Vater war viel unterwegs, und manchmal, meistens morgens, sagte meine Mutter, der Vater habe in der Nacht angerufen und lasse Grüße bestellen. Mein Vater war ein praktischer Mann und rief an, wenn ich längst im Bett war, weil ihn das Gespräch dann nicht so teuer kam. Nie holte meine Mutter mich ans Telefon, und das einzig wirklich Persönliche, was ich von meinem Vater erfuhr, wenn er auf Reisen war, war der Name der Stadt, in der er sich gerade aufhielt. Der Klang des Namens wurde für mich ein Teil von ihm, und weil mein Vater viel herumkam, verband ich in meiner Phantasie die halbe Welt mit seiner Person.

Auf dem Schreibtisch meines Vaters stand ein leuchtender Globus. Am Morgen, nachdem mein Vater angerufen hatte, führte meine Mutter mich in sein Arbeitszimmer und drehte die Kugel, bis der entsprechende Kontinent und das besagte Land vor unseren Augen lagen, und tippte mit dem Zeigefinger auf den Ort, wo mein Vater in jenem Augenblick war. Das war ein magischer Moment für uns. Ich beugte mich so dicht über die Weltkugel, daß sie meinen gesamten Horizont einnahm. Landmassen, Plateaus, Gebirge traten mir erhaben entgegen, die großen Gräben schnitten sich tief ins blaue Meer. Ich kam mir vor wie ein Astronaut, der seinen Fuß auf einen fremden Planeten setzte. Mein Vater war schon dort unten und hatte alles ausgekundschaftet. Ich sollte ihm nachfolgen. Ich war gespannt, was es noch zu entdecken gab. Meine Mutter fand es so aufregend, daß sie Tränen vergoß. Ich glaube, als sie mir Saigon zeigte, hat sie eine halbe Stunde geweint. Vielleicht auch länger. Damals war ich noch sehr jung und Saigon der erste Ort, den ich in Erinnerung behielt. Keine Ahnung, wo mein Vater vorher war. Ob er vorher überhaupt irgendwo war. Die Erinnerung an meinen Vater fängt jedenfalls mit der Nennung dieses Namens an. Saigon, das war ein Gongschlag für mich. Der Klang versetzte mich in eine märchenhafte Stadt. Erst viel später verstand ich, warum sich meine Mutter damals große Sorgen um meinen Vater machte. Hin und wieder kam er nach Haus. Dann mußte ich mich still verhalten. Aber ich schlich mich heimlich an seine Tür und beobachtete ihn durch das Schlüsselloch. Er saß an seinem Schreibtisch und schrieb. Manchmal stand er auf, ging in seinem Zimmer herum, trat an den Globus, gab der Kugel einen Schwung und setzte sich wieder hin, um weiter zu schreiben. Wenn er damit fertig war, fuhr er wieder weg. An andere Orte, die andere, schöne, klingende Namen hatten, und meine Mutter hatte wieder Angst um ihn. Ich glaube, es gefiel ihr nicht, daß ich den gleichen Beruf wie mein Vater ergriff. Vielleicht gefiel ihr aber auch nicht, daß die Zeitung, für die ich arbeitete, in ihren Augen nicht ernst zu nehmen war.

Aufklärungsbedarf. So nennt sich das. Es gibt wirklich einen riesigen Bedarf. Die Leute wollen all diese wahnsinnigen Bilder sehen. Sie wollen sehen, wie andere Leute zu Tode kommen, und bezahlen horrende Summen dafür, daß sie mit anschauen dürfen, wie jemand erschossen, erstochen, aufgehängt oder sonstwie umgebracht wird. Wie, ist an und für sich egal. Was zählt, ist das Ende. Ein qualvolles Ende treibt den Preis in die Höhe. Wenn man so ein Ende von irgendwem zu sehen bekommt, wird man aufgeklärt. Dafür gibt es diesen Riesenbedarf. Und deswegen werden auch Riesensummen gezahlt. Ich fand es gut, daß es diesen Bedarf gibt. Ohne den wäre ich nicht hier. Die Leute sind ja nicht scharf darauf, was über die Stadt zu erfahren, weil sie so wunderbar ist. Ich sollte sie aufklären, wie in Sarajevo gestorben wird. Und gemordet. An den Mördern ist natürlich jeder interessiert. Es gehört zur Aufklärung, über die Mörder zu informieren. Die waren hier natürlich in einer privilegierten Situation. Sie konnten es immer wieder tun. Insofern war es ratsam, sich an so einen ranzuhängen. Mit ein bißchen Glück erfüllte sich der Aufklärungsbedarf dann von ganz allein. Mein eigener Bedarf liegt sechzehn Jahre zurück. Damals war ich dreizehn und mein Vater in Angola von UNITA-Rebellen erschossen worden. Es heißt, er wurde hingerichtet. Vielleicht kannte ich ihn so wenig, daß mir sein Tod nicht wichtig war. Jedenfalls habe ich mir nie die Mühe gemacht, ihn aufzuklären. Irgendwie war ich sicher, daß jeder Versuch sinnlos war. Meine Mutter behauptet, seitdem er tot ist, habe ich eine ziemliche Wut auf ihn. Ich glaube, sie hat unrecht. Was meinen Vater betrifft, so habe ich einfach gar nichts. Da herrscht tiefe Finsternis.

Tri

Wegen der Dunkelheit konnte ich die Zeiger meiner Uhr nicht erkennen und tastete mit der linken Hand zum Nachttisch, fand den Lichtschalter aber nicht. Später als sieben Uhr morgens kann es nicht sein, sagte ich mir, weil um die Zeit die Sonne aufging, und dachte, ›in Ordnung, bis acht kannst du ruhig liegenbleiben‹. Dann klingelte das Telefon. Ich öffnete die Augen einen kleinen Spalt weit, blinzelte durch die Wimpern und sah auf Berge, die sich als graue Schatten aus der Nacht erhoben, und auf ein Tal, in dem Felder aus unterschiedlich dunklen Streifen lagen, angeordnet wie die Muster auf einem Tigerfell. Das Fell glänzte, und einen Augenblick lang glaubte ich, im nächsten Augenblick käme die Sonne hinter den Bergen hervor und beschiene das Tal, dann fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, im Bad das Licht zu löschen und das Muster ein Lichtreflex auf der Tapete gegenüber von meinem Bett war.

Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln, und ich rollte mich rüber auf die unbenutzte Seite des Doppelbettes, am zweiten Nachttisch mußte noch ein Lichtschalter sein. Als ich ihn anknipsen wollte, klingelte das Telefon nicht mehr, weshalb ich auch das Licht nicht anmachte, sondern mich wieder auf meine Seite zurückrollte, die Decke zum Kinn hochzog – morgens kam es mir immer besonders kalt vor – und weiterzuschlafen versuchte. Es gelang mir aber nicht, weil ich die ganze Zeit daran denken mußte, wer wohl der Anrufer gewesen war. Ich kam nicht drauf und spielte mit dem Gedanken, aufzustehen, ins Bad zu gehen und das Licht auszuschalten, damit der Reflex auf der Tapete mich nicht mehr störte, ließ es aber bleiben, weil ich zu faul war.

Vom Restaurant hatte ich noch einen Umweg zum Foyer gemacht. Die Vorstellung meines leeren, kalten Zimmers hielt mich davon ab, auf direktem Wege zu Bett zu gehen. Die Blonde war schon weg, nur die Schwarze war noch da. Sie kaute auf einer Haarsträhne, und als ich sie ansah, kniff sie das linke Auge zu. Ihre Jacke öffnete sie nicht. Ich ging zu ihr und fragte sie, ob sie mitbekommen habe, daß einer der Fahrer vorm Haus erschossen worden sei, und ob sie ihn gekannt habe. Beide Male sagte sie, ja. Dann fragte sie mich, ob ich gekommen wäre, ihre Titte anzusehen.

Ich sagte: »Nein.«