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Es liegt an dir, die alten Kreisläufe zu durchbrechen.

Hélène Cixous, Das Lachen der Medusa

2015. Almería. Südspanien. August.

Heute habe ich meinen Laptop auf den Betonboden einer Strandbar fallen lassen. Ich hatte ihn unter den Arm geklemmt, aber er rutschte aus seiner schwarzen Gummihülle (die wie ein Kuvert aussieht) und landete mit dem Bildschirm nach unten. Jetzt ist das Display mehrfach gesprungen, funktioniert aber wenigstens noch. Mein Laptop enthält mein gesamtes Leben und weiß mehr über mich als irgendwer sonst.

Was ich damit sagen will: Wenn er kaputt ist, bin ich’s ebenfalls.

Mein Bildschirmschoner ist ein violetter Nachthimmel, an dem es von Sternen und Sternbildern wimmelt. Auch die Milchstraße fehlt nicht, deren Namen aus dem Lateinischen via lactea stammt. Vor Jahren sagte meine Mutter, ich müsse sie so schreiben: γαλαξίας κυκλος und im Übrigen habe Aristoteles von Chalkidike aus zur Milchstraße hinaufgeblickt, das Luftlinie vierzig Kilometer südöstlich vom heutigen Thessaloniki liegt, wo mein Vater geboren wurde. Der älteste Stern ist rund 13 Milliarden Jahre alt, die Sterne auf meinem Bildschirmschoner hingegen nur zwei, und sie stammen aus China. Dieses ganze Universum hat jetzt Risse.

Dagegen lässt sich leider nichts machen. Angeblich gibt es in der nächsten fliegenverseuchten Stadt ein Cybercafé, dessen Eigentümer manchmal kleinere Computermacken repariert, aber auch er wird einen neuen Bildschirm bestellen müssen, und bis der da ist, dauert es einen Monat. Bin ich in einem Monat noch hier? Keine Ahnung. Es hängt von meiner kranken Mutter ab, die nebenan unter einem Moskitonetz schläft. Gleich wird sie aufwachen und rufen: »Bring mir Wasser, Sofia«, und ich werde ihr Wasser bringen, und wie immer wird es die falsche Sorte Wasser sein. Ich bin unsicher geworden, was Wasser überhaupt bedeutet, aber ich werde ihr Wasser bringen, wie ich es verstehe; aus einer Flasche, die im Kühlschrank steht; aus einer ungekühlten Flasche; aus dem Kessel, in dem es abgekocht wurde und danach abkühlte. Wenn ich die Sternenfelder auf meinem Bildschirmschoner betrachte, schwebe ich oft auf eigenartigste Weise aus der Zeit davon.

Es ist erst elf Uhr abends, und eigentlich könnte ich auf dem Rücken liegend im Meer treiben und zum echten Nachthimmel, zur echten Milchstraße hinaufblicken, aber ich fürchte mich vor Quallen. Gestern Nachmittag bin ich mit einer Qualle kollidiert, die mir einen intensiv blauroten Striemen auf dem linken Oberarm hinterlassen hat, wie von einem Peitschenhieb. Ich musste über den heißen Sand bis zur Erste-Hilfe-Station am Ende des Strands laufen und mir bei dem Studenten (Vollbart), dessen Job es ist, den ganzen Tag rumzusitzen und quallengeschädigte Touristen zu verarzten, eine Salbe holen. Er verriet mir, dass Quallen auf Spanisch Medusen heißen. Ich kannte die Medusa nur als griechische Göttin, die verflucht und in ein Ungeheuer mit starrem Blick verwandelt worden war, das jeden, der sie anblickte, zu Stein werden ließ. Warum denn ausgerechnet Quallen nach ihr benennen? Stimmt schon, sagte er, aber der Grund sei wahrscheinlich, dass die Tentakel der Qualle Medusas Haar ähneln, das immer als wirres Nest sich windender Schlangen dargestellt wird.

Ich hatte die Medusenkarikatur auf der gelben Gefahrenflagge vor der Erste-Hilfe-Station gesehen. Sie hat Wildschweinhauer und irre Augen.

»Wenn die Medusenfahne gehisst ist, sollte man besser nicht baden, aber das ist natürlich deine Entscheidung.«

Er betupfte den Medusenbiss mit angewärmtem Meerwasser in Watte und legte mir dann ein Formular zum Ausfüllen hin, das mir wie eine Petition vorkam. Es war eine Liste aller Personen, die hier an diesem Tag mit einer Quallenverbrennung zu ihm gekommen waren. Ich sollte Namen, Alter, Beruf und Herkunftsland angeben – ganz schön viele Informationen, wenn der Arm brennt und Blasen wirft. Er müsse mich bitten, die Spalten auszufüllen, erklärte er, damit die Erste-Hilfe-Station trotz der spanischen Rezession nicht geschlossen werde. Wenn Touristen keinen Grund mehr hätten, diesen Service zu nutzen, würde er arbeitslos. Daher war er natürlich ein Freund der Quallen. Ihm erkauften sie Brot und seinem Moped Benzin.

Ich warf einen Blick auf das Formular und sah, dass das Alter der Quallengeschädigten an diesem Strand von 7 bis 74 reichte und dass sie in der Mehrzahl aus allen Regionen Spaniens kamen; es waren aber auch ein paar Touristen aus Großbritannien und ein Opfer aus Triest darunter. Trieste. Ich wollte schon immer mal nach Trieste, weil das klingt wie Tristesse, was sich eigentlich unbeschwert anhört, obwohl es ja im Französischen Traurigkeit bedeutet. Auf Spanisch heißt das tristeza, was schwerer wiegt als die französische Traurigkeit, es ist mehr ein Ächzen als ein Flüstern.

Im Wasser hatte ich keine Qualle bemerkt, aber der Student erklärte mir, dass ihre Tentakel sehr lang seien und sie ihre Feinde auch auf Distanz erwischten. Sein Zeigefinger war klebrig von der Salbe, die er mir auf den Arm schmierte. Er schien ziemlich gut über Quallen Bescheid zu wissen. Die Medusen, erfuhr ich, sind durchsichtig, weil sie zu 95 Prozent aus Wasser bestehen und sich folglich leicht tarnen können. Ein Grund, weshalb es in den Weltmeeren derart viele von ihnen gibt, ist die Überfischung. Auf keinen Fall dürfe ich an den Striemen herumreiben oder kratzen, sagte er. Es könnten noch Quallenzellen auf der Haut sein, die beim Reiben weiteres Gift freisetzen, aber diese Spezialsalbe deaktiviere die brennenden Zellen. Während er sprach, sah ich seine weichen rosaroten Lippen wie eine Qualle in seinem Bart pulsieren. Er hielt mir einen Bleistiftstummel hin und bat mich, das Formular auszufüllen.

Name: Sofia Papastergiadis

Alter: 25

Land: GB

Beruf:

Wozu das denn, den Quallen ist mein Beruf doch egal? Der ist leider ein wunder Punkt bei mir, schmerzhafter als ein Medusenbiss und ein größeres Problem als mein Familienname, den niemand aussprechen, geschweige denn schreiben kann. Ich verriet ihm, dass ich Anthropologie studiere, zurzeit aber als Kellnerin in einem Café mit Mittagstisch in Westlondon arbeite – es heißt The Coffee House und hat freies WLAN und renovierte Kirchenbänke, und wir rösten unsere Kaffeebohnen selbst und machen drei Sorten Edelespresso … und deshalb weiß ich nicht, was ich unter »Beruf« eintragen soll.

Er zupfte sich am Bart.

»Studiert ihr Anthropologen also primitive Völker?«

»Ja, aber die einzige primitive Person, die ich je studiert habe, bin ich selber.«

Auf einmal hatte ich Heimweh nach Großbritanniens freundlichen, feuchten Parks. Ich wollte meinen primitiven Körper flach im grünen Gras ausstrecken, wo keine Quallen zwischen den Halmen treiben. In Almería gibt es, außer auf den Golfplätzen, kein grünes Gras. Die kargen, staubigen Hügel sind so ausgedörrt, dass hier früher Spaghettiwestern gedreht wurden – einer sogar mit Clint Eastwood. Die echten Cowboys hatten bestimmt ständig rissige Lippen – auch meine Lippen reißen seit Neuestem von der Sonne auf, obwohl ich jeden Tag Balsam auftrage. Die Cowboys benutzten womöglich Tierfett. Blickten sie in den grenzenlosen Himmel hinauf und beklagten den Mangel an Küssen und Zärtlichkeit? Und verblassten ihre Probleme vor dem Mysterium des Raums, wie ich es manchmal erlebe, wenn ich die Galaxien auf meinem gesprungenen Bildschirm betrachte?

Der Student schien nicht nur über Quallen einiges zu wissen, sondern auch über Anthropologie. Er will sich, solange ich in Spanien bin, ein Thema für eine »originale Feldstudie« einfallen lassen. »Hast du die weißen Kunststoffzelte gesehen, die in ganz Almería herumstehen?«

Ja, hatte ich, gespenstisches weißes Plastik. Es erstreckt sich über Täler und Ebenen, so weit das Auge reicht.

»Gewächshäuser«, sagte er. »Werden bis zu fünfundvierzig Grad heiß. Für die Ernte der Tomaten und Paprikaschoten werden illegale Einwanderer eingestellt, aber das ist mehr oder minder Sklaverei.«

Das hatte ich mir gedacht. Alles Zugedeckte ist immer interessant. Unter etwas Zugedecktem ist niemals nichts. Als Kind verdeckte ich gern das Gesicht mit den Händen, damit keiner wusste, dass ich da war. Bis ich irgendwann kapierte, dass das Gesichtverdecken mich sogar sichtbarer machte, denn natürlich wollte jeder wissen, was ich denn so unbedingt verstecken wollte.

Er blickte auf meinen Nachnamen, den ich in das Formular geschrieben hatte, dann auf seinen linken Daumen, den er mehrfach krümmte, als prüfe er, ob das Gelenk noch funktionierte.

»Du bist Griechin, oder?«

Seine Aufmerksamkeit ist so ungerichtet, dass es einen verunsichert. Er sieht mich nie direkt an. Ich bete meinen üblichen Spruch herunter: Vater Grieche, Mutter Engländerin, in Großbritannien geboren.

»Griechenland ist kleiner als Spanien, aber es kann seine Schulden nicht zahlen. Der Traum ist ausgeträumt.«

Ob er die Wirtschaft meine, fragte ich. Ja. Er sagte, er studiere an der Uni von Granada, mache an der philosophischen Fakultät seinen Master und könne von Glück sagen, dass er hier am Strand einen Sommerjob als Ersthelfer habe. Wenn im Coffee House noch Leute genommen würden, würde er nach London gehen, sobald er mit dem Studium fertig sei. Er wisse gar nicht, warum er gesagt habe, der Traum sei ausgeträumt, denn er selber glaube das nicht. Wahrscheinlich habe er es irgendwo gelesen, und es sei hängen geblieben. Aber das sei nicht seine persönliche Meinung, ein Satz wie »der Traum ist ausgeträumt«. Wer sei überhaupt der Träumer? Der einzige öffentliche Traum, an den er sich erinnere, sei Martin Luther Kings Rede I have a dream …, aber der Spruch vom ausgeträumten Traum setze ja voraus, dass einer angefangen habe und jetzt vorbei sei. Nur der Träumer könne sagen, dass es vorbei sei, kein anderer könne das für ihn sagen.

Und dann sagte er einen ganzen Satz auf Griechisch und wirkte überrascht, als ich ihm gestand, dass ich Griechisch nicht spreche.

Es ist immer wieder peinlich, mit einem Nachnamen wie Papastergiadis herumzulaufen und die Sprache nicht zu sprechen.

»Meine Mutter ist Engländerin.«

»Ja«, sagte er in seinem perfekten Englisch. »Ich war nur einmal in Griechenland, in Skiathos, aber ich habe halt ein paar Sätze aufgeschnappt.«

Warf er mir vor, dass ich nicht griechisch genug sei? Mein Vater hat meine Mutter verlassen, als ich fünf war, und sie ist nun mal Engländerin und spricht meistens Englisch mit mir. Was geht ihn das an? Sein Job ist es doch, sich um die Quallenverletzungen zu kümmern.

»Ich hab dich mit deiner Mutter auf der Plaza gesehen.«

»Ja.«

»Sie hat ziemliche Schwierigkeiten beim Gehen, oder?«

»Manchmal kann Rose gehen, manchmal nicht.«

»Deine Mutter heißt Rose?«

»Ja.«

»Nennst du sie so?«

»Ja.«

»Du sagst nicht Mama?«

»Nein.«

In einer Ecke der Kabine brummte ein kleiner Kühlschrank und klang wie etwas Totes und Kaltes, das aber noch einen Puls hat. Ich fragte mich, ob darin wohl Wasserflaschen standen. Agua con gas, agua sin gas. Ich denke immer wieder darüber nach, wie ich das Wasser für meine Mutter eher richtig als falsch machen kann.

Der Student warf einen Blick auf seine Uhr. »Die Regel lautet, dass jede Person mit Medusenbiss fünf Minuten hierbleiben muss. Damit ich sicherstellen kann, dass du keinen Herzinfarkt bekommst oder sonst eine Reaktion zeigst.«

Er deutete noch einmal auf die Formularspalte »Beruf«, die ich leer gelassen hatte.

Es mag am Schmerz der Verbrennung gelegen haben, jedenfalls erzählte ich ihm auf einmal von meinem armseligen Miniaturleben. »Ich habe eigentlich keinen Beruf, sondern eine Berufung, und das ist Rose, meine Mutter.«

Er fuhr sich mit den Händen an den Schienbeinen entlang, während ich erzählte.

»In Spanien sind wir, weil in der Gómez-Klinik herausgefunden werden soll, was mit ihren Beinen nicht stimmt. Unser erster Termin dort ist in drei Tagen.«

»Sind ihre Beine gelähmt?«

»Das wissen wir nicht. Es ist ein Rätsel. Das geht schon eine ganze Weile so.«

Er packte in Frischhaltefolie gewickeltes Weißbrot aus. Ich dachte, es sei womöglich Teil zwo der Quallenbrandverarztung, doch es war ein Erdnussbuttersandwich, sein Lieblingsmittagessen, sagte er. Er biss ein kleines Stück ab, und sein schwarz glänzender Bart kaute kreisend mit. Anscheinend kennt er die Gómez-Klinik. Sie ist hoch angesehen, und er weiß sogar, welche Frau uns das kleine, quaderförmige Apartment am Strand vermietet hat. Das haben wir uns ausgesucht, weil es dort keine Stufen gibt. Alles ist auf einer Ebene, gleich neben der Küche sind die zwei aneinandergrenzenden Schlafzimmer, und es ist ganz nah bis zum Hauptplatz mit allen Cafés und dem örtlichen Spar-Supermarkt. Direkt nebenan ist außerdem die Tauchschule, Escuela de Buceo y Náutica, ein weißer Kubus auf zwei Etagen, die Fenster in Bullaugenform. Der Empfangsbereich wird momentan gestrichen. Zwei Mexikaner machen sich jeden Morgen mit riesigen weißen Farbeimern an die Arbeit. Auf der Dachterrasse der Tauchschule ist ein magerer, jaulender Schäferhund den ganzen Tag an einer Eisenstange angekettet. Er gehört Pablo, dem Chef der Tauchschule, aber Pablo ist am Computer festgewachsen und spielt Infinite Scuba. Der Hund reißt wie rasend an seiner Kette und versucht regelmäßig, sich vom Dach zu stürzen.

»Pablo ist allgemein unbeliebt«, pflichtete der Student mir bei. »Er ist der Typ Mann, der ein Huhn bei lebendigem Leib rupft.«

»Das wäre ein gutes Thema für eine anthropologische Feldstudie«, sagte ich.

»Was denn?«

»Warum Pablo unbeliebt ist.«

Der Student hielt drei Finger hoch. Ich dachte, das bedeutete, dass ich noch drei Minuten bei ihm in der Station ausharren musste.

Morgens unterweisen die männlichen Mitarbeiter der Tauchschule die Tauchschüler im Anlegen des Taucheranzugs. Der dauerangekettete Hund geht ihnen auf die Nerven, aber sie tun, was von ihnen erwartet wird. Dann müssen sie Plastikkanister durch einen Trichter mit Sprit befüllen und sie auf einem elektrischen Karren über den Strand zum Boot transportieren. Das ist eine recht komplizierte Technik verglichen mit dem, was der schwedische Masseur Ingmar tut, der meist zur selben Zeit sein Zelt aufbaut: Ingmar befestigt Tischtennisbälle an den Füßen seiner Massageliege und lässt sie einfach über den Sand gleiten. Er hat sich bei mir persönlich über Pablos Hund beschwert, als sei ich irgendwie Miteigentümerin des unglücklichen Schäferhundes, nur weil ich rein zufällig direkt neben der Tauchschule wohne. Ingmars Kunden können sich nie entspannen, weil der Hund während jeder Aromatherapiemassage winselt, heult, kläfft und sich umzubringen versucht.

Der Student von der Erste-Hilfe-Station fragte mich, ob ich noch atmete.

Ich überlegte, ob er mich vielleicht hierbehalten wollte.

Er hob einen Finger. »Du musst noch eine Minute bleiben, dann muss ich dich noch mal fragen, wie’s dir geht.«

Ich will ein größeres Leben.

Mein vornehmliches Gefühl ist, dass ich eine Versagerin bin, aber lieber im Coffee House arbeite, als dass ich im Auftrag einer Firma herausfinde, was Waschmaschinenkäufer zum Kauf dieser oder jener Waschmaschinenmarke veranlasst. Die meisten meiner Kommilitonen wurden früher oder später Ethnografen im Dienst irgendeines Unternehmens. Wenn Ethnografie das Niederschreiben von Kultur bedeutet, dann ist Marktforschung zwar eine Form von Kultur (wo leben die Menschen, in welcher Umgebung bewegen sie sich, wie ist die häusliche Arbeit des Wäschewaschens zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft aufgeteilt …), letztlich aber geht es doch immer nur um das Verkaufen von Waschmaschinen. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt echte Feldforschung machen will, bei der ich von einer Hängematte aus im Schatten grasende heilige Büffel beobachte.

Es war kein Scherz, als ich sagte, das Thema »Warum Pablo allseits verhasst ist« ergäbe eine passende Feldstudie.

Für mich ist der Traum ausgeträumt. Angefangen hatte er, als ich in dem Herbst, in dem ich auszog, um zu studieren, meine lahme Mutter allein in unserem Ostlondoner Garten Birnen vom Baum pflücken ließ. Ich habe ein erstklassiges Examen hingelegt. Der Traum ging weiter, als ich den Master machte. Er hörte auf, als sie krank wurde und ich meine Doktorarbeit hinschmiss. Meine unvollendete Dissertation lauert noch als Datei hinter meinem gesprungenen Bildschirmschoner wie ein nicht vollzogener Selbstmord.

Manche Dinge werden tatsächlich größer in meinem Leben (das Fehlen einer Richtung zum Beispiel), aber nie die richtigen. Die Kekse im Coffee House werden größer (so groß wie mein Kopf), die Quittungen werden größer (auf einem Beleg steht so viel, dass er schon fast eine Feldstudie ergibt), und größer werden auch meine Schenkel (Ernährung mit Sandwiches, Gebäck …). Kleiner wird mein Bankkonto, ebenso die Passionsfrüchte; Granatäpfel allerdings werden größer, wie auch die Luftverschmutzung sowie meine Scham, dass ich fünfmal in der Woche im Abstellraum über dem Coffee House übernachte. In den meisten Londoner Nächten falle ich komatös in das schmale Kinderbett. Nie habe ich eine Ausrede fürs Zuspätkommen. Das Schlimmste an meinem Job sind die Gäste, die mich bitten, ihnen mit ihren kabellosen Mäusen und Ladegeräten zu helfen. Während ich ihre Tassen einsammle und Bons für den Käsekuchen schreibe, sind sie schon anderswohin unterwegs.

Ich stampfte mit den Füßen, um mich vom pochenden Schmerz im Arm abzulenken. Und erst jetzt wurde mir bewusst, dass durch das Gestampfe meine Brüste auf und ab wippten und dass sie nackt waren, denn es hatte sich der Nackenträger meines Bikinioberteils gelöst. Der Träger war anscheinend schon beim Schwimmen gerissen, mit anderen Worten: Ich war barbusig über den Strand zur Erste-Hilfe-Station gerannt. Das mochte der Grund sein, weshalb der Student nicht wusste, wo er hinschauen sollte, während wir miteinander redeten. Mit dem Rücken zu ihm fummelte ich am Träger.

»Und, wie geht’s dir?«

»Alles okay.«

»Wenn du willst, kannst du gehen.«

Als ich mich wieder umdrehte, huschte sein Blick über meine endlich bedeckten Brüste.

»Du hast die Spalte ›Beruf‹ nicht ausgefüllt.«

Ich nahm den Bleistift und schrieb KELLNERIN.

 

Meine Mutter hat mich angewiesen, ihr gelbes Sonnenblumenkleid zu waschen, weil sie es zu ihrem ersten Termin in der Gómez-Klinik tragen will. Das ist mir recht. Ich wasche gern von Hand und hänge die Sachen dann zum Trocknen in die Sonne. Trotz der Salbe, die der Student großzügig auf meinem Arm verteilt hat, fängt die Verbrennung wieder zu pochen an. Auch mein Gesicht brennt, aber das liegt womöglich an meinen Schwierigkeiten beim Ausfüllen der Sparte »Beruf«. Als hätte das Gift der Medusa wiederum etwas Ätzendes freigesetzt, das jetzt in mir sitzt. Am Montag wird meine Mutter dem Facharzt ihre unterschiedlichen Symptome vorführen wie ein Sortiment geheimnisvoller Kanapees. Und ich halte das Tablett.

Da geht sie hin. Die schöne junge Griechin geht im Bikini über den Strand. Es ist ein Schatten zwischen ihrem Körper und meinem. Manchmal pflügt sie mit den Füßen durch den Sand. Sie hat niemanden, der ihr den Rücken eincremt und hier ja nein ja dort sagt.

Dr. Gómez

Wir hatten die weite Reise auf uns genommen, um einen Heiler zu finden. Der Taxifahrer, von dem wir uns zur Gómez-Klinik fahren ließen, konnte sich natürlich nicht vorstellen, wie nervös wir waren, noch konnte er ahnen, was auf dem Spiel stand.

In der Geschichte der Beine meiner Mutter hatte ein neues Kapitel begonnen, das uns in die Halbwüste Südspaniens führte.

Das ist keineswegs trivial. Wir mussten eine Hypothek auf Roses Haus aufnehmen, um die Behandlung in der Gómez-Klinik zu finanzieren. Die Gesamtkosten betragen fünfundzwanzigtausend Euro, ganz schön viel Geld, wenn man bedenkt, dass ich den Symptomen meiner Mutter nachgespürt habe, solange ich zurückdenken kann.

Meine Ermittlungen haben rund zwanzig meiner fünfundzwanzig Lebensjahre in Anspruch genommen. Vielleicht mehr. Mit vier wollte ich jedenfalls von ihr wissen, was Kopfschmerzen sind. Sie sagte, das sei wie eine zuknallende Tür im Kopf. Ich bin eine gute Gedankenleserin geworden, das heißt, ihr Kopf ist mein Kopf. Es werden ständig alle möglichen Türen zugeknallt, und ich bin die Hauptzeugin.

Macht es ihre Krankheit zu einem ungelösten Verbrechen, wenn ich mich als Detektivin wider Willen mit starkem Gerechtigkeitswunsch sehe? Wenn ja, wer ist der Täter und wer das Opfer? Der dauernde Versuch, ihre diversen Schmerzen und Leiden zu entschlüsseln, ist kein schlechtes Training für eine Anthropologin. Es gab Zeiten, in denen ich mich einer Erkenntnis nahe wähnte und zu wissen glaubte, wo die Leichen im Keller waren, nur um gleich darauf eines Besseren belehrt zu werden. Rose präsentierte einfach ein neues und völlig rätselhaftes Symptom, gegen das ihr neue und völlig rätselhafte Medikamente verschrieben wurden. Neulich verordneten ihr die britischen Ärzte Antidepressiva für ihre Füße. So hat sie es mir mitgeteilt – angeblich sprechen sie die Nervenenden in ihren Füßen an.

Die Klinik befindet sich in der Nähe der Stadt Carboneras, die für ihre Zementfabrik berühmt ist. Die Fahrt dorthin sollte eine halbe Stunde dauern, und meine Mutter und ich saßen schaudernd auf dem Rücksitz des Taxis; schaudernd deshalb, weil die Klimaanlage aus der Wüstenhitze einen sibirischen Winter machte. Der Fahrer sagte, carboneras bedeute Kohlenlager, und die Berge hier seien früher vollständig bewaldet gewesen, bis aus dem Wald Holzkohle wurde. Alles sei »für den Ofen« geopfert worden.

Ob er vielleicht so nett wäre, die Klimaanlage ein bisschen herunterzudrehen, fragte ich.

Er behauptete, die Anlage funktioniere automatisch, und er habe keinen Zugriff darauf, er könne uns aber verraten, wo wir Strände mit klarem, sauberem Wasser fänden.

»Der beste Strand ist die Playa de los Muertos, das heißt ›Totenstrand‹. Ist nur fünf Kilometer südlich der Stadt. Sie müssen ungefähr zwanzig Minuten bergab gehen. Eine Straße gibt es nicht.«

Rose beugte sich vor und tippte ihm auf die Schulter. »Wissen Sie, wir sind hier, weil ich eine Knochenkrankheit habe und nicht laufen kann.« Missmutig betrachtete sie den Plastikrosenkranz, der am Rückspiegel hing. Rose ist engagierte Atheistin, vor allem seitdem mein Vater konvertiert ist.

Das extreme Wetter im Auto hatte ihre Lippen blau werden lassen. »Und was den ›Totenstrand‹ betrifft« – sie zitterte beim Sprechen – »so weit bin ich noch nicht, aber ich sehe ein, dass es verlockender wäre, in klarem Wasser zu schwimmen als in einem Höllenofen zu brennen, für den alle Bäume der Welt gefällt und sämtliche Kohlebergwerke abgebaut werden müssen.« Ihr Yorkshire-Akzent war mit einem Mal angriffslustig geworden, wie immer, wenn sie eine Auseinandersetzung genießt.

Die Aufmerksamkeit des Fahrers galt einer Fliege, die auf seinem Lenkrad saß. »Vielleicht brauchen Sie auch ein Taxi für die Rückfahrt?«

»Das hängt ganz von der Temperatur in Ihrem Auto ab.« Ihre dünnen blauen Lippen dehnten sich zu einer Art Lächeln, als sich das Taxi leicht erwärmte.

Kein sibirischer Winter mehr, in dem wir gestrandet waren, nur noch ein schwedischer.

Ich öffnete das Fenster. Eine Decke aus weißem Plastik lag über dem Tal, genau so, wie es der Student von der Erste-Hilfe-Station beschrieben hatte. Die Wüstenfarmen deckten das Land zu wie eine wuchernde trübe, kränkliche Haut. Der heiße Wind blies mir die Haare in die Augen, und Rose lehnte den Kopf an meine Schulter, die noch immer von meinem Zusammenstoß mit der Qualle schmerzte. Ich wagte nicht, eine weniger schmerzhafte Haltung einzunehmen, weil ich wusste, dass sie Angst hatte und ich so tun musste, als hätte ich keine. Sie hatte keinen Gott, zu dem sie um Gnade oder Glück beten konnte. Man könnte mit Fug und Recht sagen, dass sie stattdessen auf menschliche Güte und Schmerzmittel angewiesen war.

 

Während der Fahrer auf das palmenumsäumte Gelände der Gómez-Klinik einbog, hatten wir einen ersten Eindruck vom Park, der im Prospekt als »Kleinod von großer ökologischer Bedeutung« bezeichnet wurde. Unter einem Mimosenbaum lag ein ineinander verschränktes Wildtaubenpärchen.

Die Klinik selbst war in den versengten Berg hineingeschlagen. In Form einer Kuppel aus elfenbeinweißem Marmor errichtet, sah sie aus wie eine riesige umgedrehte Tasse. Ich hatte sie viele Male auf Google Maps angeschaut, aber das digitale Bild sagte nichts darüber, wie beruhigt und getröstet man sich fühlte, wenn man in Echtzeit davorstand. Der Eingang hingegen bestand ganz aus Glas. Rund um die Kuppel war eine Fülle von purpurblühenden Dornbüschen und niedrigen, verknäulten Silberkakteen gepflanzt, die nur die Kieszufahrt frei ließ, sodass das Taxi neben einem kleinen geparkten Shuttlebus halten konnte.

Es dauerte vierzehn Minuten, Rose vom Auto zu den Glastüren zu führen. Die schienen unsere Ankunft vorherzusehen, denn sie glitten lautlos auseinander, wie um unseren Wunsch zu erfüllen: eintreten, ohne darum bitten zu müssen.

Ich blickte auf das tiefblaue Mittelmeer am Fuß des Bergs hinab und empfand Frieden.

Als die Dame am Empfang nach Señora Papastergiadis rief, nahm ich Rose am Arm, und wir humpelten gemeinsam über den Marmorboden auf die Rezeption zu. Ja, es war ein gemeinsames Humpeln. Ich bin fünfundzwanzig und hinke synchron mit meiner Mutter, um mit ihr Schritt zu halten. Meine Beine sind ihre Beine. Auf diese Weise gelangen wir zu einträchtiger Fortbewegung. So gehen Erwachsene mit Kleinkindern, die eben das Krabbelstadium hinter sich gelassen haben, und so gehen erwachsene Kinder mit alten Eltern, die einen unterstützenden Arm brauchen. Am Morgen war meine Mutter allein zum Spar gelaufen, um sich Haarnadeln zu kaufen. Sie hatte nicht einmal einen Stock als Stütze gebraucht. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken.

Die Empfangsdame verwies mich an eine Krankenschwester, die mit einem Rollstuhl wartete. Es war eine Erleichterung, Rose fremder Obhut übergeben zu können, hinter der rollstuhlschiebenden Schwester herzugehen und ihre sich wiegenden Hüften zu bewundern, während sie forsch voranging und ihr langes glänzendes, mit einer weißen Seidenschleife zusammengebundenes Haar schwang. Das war eine andere Gangart, eine völlig schmerzfreie, fürsorglich-mitfühlende, kompromissbereite. Die Absätze der wildledernen grauen Schwesternschuhe im Marmorflur klangen wie knirschende Eierschalen. Vor einer Tür mit dem Namen Gómez in goldenen Lettern auf einer blank polierten Holztafel blieb sie stehen, klopfte an, wartete.

Ihre Nägel waren tiefrot lackiert.

Wir hatten einen weiten Weg bis hierher zurückgelegt. Dass wir endlich hier waren, in diesem gekrümmten Korridor mit seinen bernsteinfarben geäderten Marmorwänden – es war wie eine Wallfahrt: die letzte Chance. Viele Jahre lang hatte eine wachsende Zahl britischer Ärzte ratlos, verdutzt, gedemütigt, resigniert im Trüben nach einer Diagnose gefischt. Dies musste die letzte Reise sein, und darüber war sich wohl auch meine Mutter im Klaren. Eine männliche Stimme rief etwas auf Spanisch. Die Schwester drückte die schwere Tür auf, und die Geste, mit der sie mich aufforderte, Rose in den Raum zu schieben, sagte gleichsam: Sie gehört ganz dir.

Dr. Gómez. Der Facharzt für Orthopädie, nach dem ich endlose Monate lang recherchiert hatte. Er sah aus wie Anfang sechzig, sein Haar war ein Pfeffer-und-Salz-Grau mit einer einzelnen überraschend reinweißen Strähne auf der linken Kopfseite. Er trug einen Nadelstreifenanzug, seine Hände waren sonnenbraun, die Augen blau und wach.

»Danke, Schwester Sonnenschein«, sagte er zu der Schwester. Ist es normal, dass eine Koryphäe für Muskel-Skelett-Erkrankungen seine Mitarbeiter nach dem Wetter benennt? Sie hielt noch immer die Tür offen, als seien ihre Gedanken abgeschweift und durchstreiften die Sierra Nevada.

Etwas lauter und auf Spanisch wiederholte er: »Gracias, enfermera Luz del Sol.«

Diesmal schloss sie die Tür. Ich hörte das Eierschalenknirschen ihrer Absätze im Flur, erst gleichmäßig, dann plötzlich immer schneller; anscheinend lief sie jetzt. Der Nachhall ihrer Schritte klang mir noch in den Ohren, als sie schon lange fort war.

Dr. Gómez sprach Englisch mit amerikanischem Akzent.

»Bitte. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Rose sah ihn verdutzt an. »Also genau das möchte ich gern von Ihnen wissen.«

Dr. Gómez lächelte; seine beiden oberen Schneidezähne waren ganz aus Gold, und ich musste an den männlichen Schädel denken, den wir im ersten Studienjahr untersucht hatten, um aus dem Zustand der Zähne auf seine Ernährung zu schließen. Sie waren voller Hohlräume, was vermuten ließ, dass er zähe Getreidekörner gekaut hatte. Bei näherer Untersuchung entdeckte ich ein winziges Leinenstück in einem größeren Hohlraum. Es war mit Zedernöl getränkt worden, um Schmerz zu lindern und die Entzündung zu stoppen.

Dr. Gómez’ Tonfall war unbestimmt freundlich und unbestimmt förmlich. »Ich habe mir Ihre Unterlagen angesehen, Mrs Papastergiadis. Sie waren viele Jahre Bibliothekarin?«

»Ja. Ich bin aus gesundheitlichen Gründen in Frührente gegangen.«

»Wollten Sie mit der Arbeit aufhören?«

»Ja.«

»Sie sind also nicht aus gesundheitlichen Gründen in Rente gegangen?«

»Es war eine Kombination von Umständen.«

»Verstehe.« Seine Miene war weder gelangweilt noch interessiert.

»Meine Aufgabe bestand darin, Bücher zu katalogisieren und zu klassifizieren und Karteikarten anzulegen«, sagte sie.

Er nickte und richtete den Blick auf den Bildschirm. Während wir darauf warteten, dass er sich uns wieder widmete, sah ich mich im Sprechzimmer um. Ein spärlich möblierter Raum. Ein Waschbecken. Eine Liege auf Rollen, die höhenverstellbar war, eine silberne Lampe daneben.

Hinter dem Schreibtisch befand sich ein offener Bücherschrank mit ledergebundenen Büchern. Und im nächsten Moment begegnete ich einem auf mich gerichteten Blick. Helle, neugierige Augen. Auf einem Regalboden auf halber Höhe hockte ein kleiner grauer ausgestopfter Affe hinter Glas. Sein Blick war in ewiger Starre auf seine menschlichen Brüder und Schwestern geheftet.

»Mrs Papastergiadis, ich sehe, dass Sie mit Vornamen Rose heißen.«

»Ja.«

Papastergiadis ging ihm so leicht über die Lippen, als hätte er Joan Smith gesagt.

»Darf ich Sie Rose nennen?«

»Bitte. Schließlich heiße ich so. Meine Tochter nennt mich Rose, und ich wüsste keinen Grund, warum Sie es nicht ebenfalls so halten sollten.«

Dr. Gómez lächelte mich an. »Sie nennen Ihre Mutter Rose?«

Zum zweiten Mal in drei Tagen wurde mir diese Frage gestellt.

»Ja«, sagte ich rasch, als sei das belanglos. »Aber wie sollen wir Sie denn ansprechen, Dr. Gómez, darf ich das fragen?«

»Natürlich. Ich bin Facharzt, also bin ich Mr Gómez. Aber das ist zu förmlich, und ich bin nicht beleidigt, wenn Sie mich einfach Gómez nennen.«

»Ach. Gut zu wissen.« Meine Mutter hob den Arm, um den Sitz der Haarnadel in ihrem Knoten zu überprüfen.

»Und Sie sind erst vierundsechzig, Mrs Papastergiadis?«

Hatte er vergessen, dass er seine neue Patientin beim Vornamen nennen durfte?

»Vierundsechzig und angeschlagen.«

»Sie waren also neununddreißig, als Sie Ihre Tochter zur Welt brachten?«

Rose hustete, wie um ihre Kehle freizubekommen, dann nickte sie und hustete noch einmal. Gómez begann ebenfalls zu husten. Er räusperte sich und fuhr sich mit den Fingern durch seine weiße Strähne. Rose bewegte das rechte Bein und stöhnte. Gómez bewegte das linke Bein und stöhnte.

Ich war nicht sicher, ob er sie nachahmte oder verspottete. Ob sie einander wohl verstanden, wenn sie eine Konversation aus Stöhnen, Husten und Seufzen führten?

»Es ist mir ein Vergnügen, Sie in meiner Klinik willkommen zu heißen, Rose.«

Er streckte die Hand aus. Meine Mutter beugte sich vor, um sie zu ergreifen, besann sich aber plötzlich, und seine Hand endete im Leeren. Der nonverbale Dialog hatte anscheinend nicht ihr Vertrauen gewonnen.

»Sofia, gib mir ein Taschentuch.«

Ich reichte ihr ein Taschentuch und nahm an ihrer Stelle Gómez’ Hand. Ihr Arm ist mein Arm.

»Und Sie sind Ms Papastergiadis?« Er betonte das »Ms« dermaßen, dass es wie Mizzzzzzz klang.

»Sofia ist meine einzige Tochter.«

»Haben Sie auch Söhne?«

»Wie gesagt, sie ist meine Einzige.«

»Rose.« Er lächelte. »Ich denke, Sie müssen bald niesen. Sind heute Pollen in der Luft? Oder irgendwas?«

»Pollen?« Rose wirkte gekränkt. »Wir sind hier in einer Wüstenlandschaft. Hier blühen keine Blumen, wie ich sie kenne.«

Gómez ahmte sogar die gekränkte Miene nach. »Später führe ich Sie durch unsere Gärten, damit Sie Blumen zu sehen bekommen, wie Sie sie nicht kennen. Violetter Strandflieder, Jujubesträucher mit ihren prächtigen Dornenzweigen, phönizischer Wacholder und diverse Buschlandpflanzen, die aus der Nähe von Tabernas importiert wurden, um Sie zu erfreuen.«

Er ging auf ihren Rollstuhl zu, kauerte sich davor nieder und starrte ihr in die Augen. Sie begann zu niesen. »Gib mir noch ein Taschentuch, Sofia.«

Ich gehorchte. Jetzt hielt sie in jeder Hand ein Taschentuch.

»Ich habe immer einen Schmerz im linken Arm, wenn ich geniest habe«, sagte sie. »Es ist ein scharfer, reißender Schmerz. Ich muss den Arm halten, bis das Niesen vorbei ist.«

»Wo sitzt der Schmerz?«

»In der Ellenbogenbeuge.«

»Danke. Wir werden eine vollständige neurologische Untersuchung veranlassen. EEG eingeschlossen.«

»Und in den Knöcheln der linken Hand habe ich chronische Schmerzen.«

Als Reaktion darauf wackelte er mit den Fingern der linken Hand in Richtung des Affen, wie um ihn zur Nachahmung zu ermuntern.

Nach einer Weile wandte er sich an mich. »Ich sehe die Ähnlichkeit. Aber Sie, Mizz Papastergiadis, sind dunkler. Ihre Haut ist blasser. Ihr Haar beinahe schwarz. Das Haar Ihrer Mutter ist hellbraun. Und Ihre Nase ist länger. Ihre Augen sind braun. Ihre Mutter hat blaue Augen, wie ich.«

»Mein Vater ist Grieche, aber ich bin in Großbritannien geboren.«

Ich war nicht sicher, ob blasse Haut als Beleidigung oder als Kompliment gemeint war.

»Da geht es Ihnen wie mir«, sagte er. »Mein Vater ist Spanier, meine Mutter Amerikanerin. Ich bin in Boston aufgewachsen.«

»Wie mein Laptop. Er wurde in Amerika designt und in China gebaut.«

»Ja, Identität lässt sich immer schwer gewährleisten, Mizz Papastergiadis.«

»Ich stamme aus der Nähe von Hull, Yorkshire«, verkündete Rose unvermittelt, als fühlte sie sich übergangen.

Als Gómez nach ihrem rechten Fuß griff, reichte sie ihn ihm wie ein Geschenk. Beobachtet von mir und dem Affen hinter Glas, begann er mit Daumen und Zeigefinger an ihren Zehen herumzudrücken. Sein Daumen bewegte sich zum Knöchel. »Dieser Knochen hier, das ist das Sprungbein. Und zuvor habe ich die Zehenknochen abgetastet. Spüren Sie das?«

Rose schüttelte den Kopf. »Ich spüre nichts. Meine Füße sind taub.«

Gómez nickte wissend. »Und wie geht’s der Stimmung?«, fragte er, als erkundigte er sich nach einem Knochen namens »Stimmung«.

»Keineswegs schlecht.«

Ich bückte mich und hob ihre Schuhe auf.

»Bitte«, sagte Gómez. »Lassen Sie sie dort stehen.« Er befühlte jetzt die rechte Fußsohle meiner Mutter. »Hier haben Sie ein Geschwür. Hier ebenfalls. Wurden Sie auf Diabetes getestet?«

»Oh ja«, sagte sie.

»Es ist nur ein kleiner Bereich auf der Hautoberfläche, aber da eine leichte Entzündung besteht, müssen wir uns sofort darum kümmern.«

Rose nickte ernst, wirkte aber erfreut. »Diabetes«, rief sie. »Vielleicht ist das die Antwort.«

Er schien nicht gewillt, dieses Gespräch fortzusetzen, denn er stand auf und trat ans Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. Während er nach einem Papierhandtuch griff, drehte er sich zu mir. »Interessieren Sie sich vielleicht für die Architektur meiner Klinik?«

Natürlich interessierte ich mich. Die ältesten Kuppeln, sagte ich, seien meines Wissens aus Mammutknochen und -stoßzähnen errichtet worden.

»Ja-a. Und Ihr Strandapartment ist ein Quader. Aber immerhin mit Meerblick …«

»Es ist unangenehm«, fiel ihm Rose ins Wort. »Mir kommt es vor wie ein Rechteck, das auf Lärm erbaut wurde. Es hat eine betonierte Terrasse, die privat sein soll, aber nicht ist, weil sie direkt am Strand liegt. Meine Tochter sitzt gern dort und starrt andauernd in ihren Computer, um nichts mit mir zu tun zu haben.«

Rose geriet in Fahrt, während sie sämtliche Missstände aufzählte. »Abends finden am Strand Zaubervorführungen für Kinder statt. Ungeheurer Lärm. Das Geschirrklappern aus den Restaurants, die schreienden Touristen, die Mopeds, die kreischenden Kinder, das Feuerwerk. Zum Meer komme ich nie, es sei denn, Sofia schiebt mich auf den Strand, aber es ist sowieso immer zu heiß.«

»Dann muss ich das Meer wohl zu Ihnen bringen, Mrs Papastergiadis.«

Rose sog die Unterlippe ein und biss mit den Schneidezähnen darauf, und so verharrte sie eine ganze Weile, ehe sie die Lippe wieder freiließ. »Das Essen hier in Südspanien finde ich sehr schwer verdaulich, alles.«

»Das ist bedauerlich.« Sein blauer Blick ließ sich auf ihrem Magen nieder wie ein Schmetterling auf einer Blüte.

In den letzten paar Jahren hatte meine Mutter abgenom