Thomas Medicus

Melitta von Stauffenberg

Ein deutsches Leben

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Sturz, Flug, Krieg

ERSTES KAPITEL

«Immer anders als die anderen»: Kindheit im Zeichen des Krieges

ZWEITES KAPITEL

«Drang nach dem freien Spiel der Kräfte»: Eine junge Frau will nach oben

DRITTES KAPITEL

«Wunder undeutbar für heut»: Der Dichter und die Ingenieurpilotin

VIERTES KAPITEL

«Dipl. Ing. Flugkapitän Gräfin Stauffenberg»: Karriere im Dritten Reich

FÜNFTES KAPITEL

«Diese begeisterte und opferbereite Frau»: Soldatin ohne Uniform

SECHSTES KAPITEL

«An der Steilküste der Seele»: Der Luftkrieg und das EK II

SIEBTES KAPITEL

«Am Orte, Liebstes, wo Du weilst»: Der Absturz

EPILOG

Adel verpflichtet

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Danksagung

Bildnachweis

Prolog
Sturz, Flug, Krieg

Da staunte Dr. Georg Pasewaldt, Oberst im Generalstab und Entwicklungschef im Technischen Amt des Reichsluftfahrtministeriums. Eine Frau mit solch höllischem Wagemut hatte er noch nicht erlebt. Pasewaldt war auf Inspektionsbesuch in Rechlin – hundertfünfzig Kilometer nordwestlich von Berlin lag zwischen Wiesen, Wäldern, Feldern und Seen in Mecklenburg die bedeutendste Flugerprobungsstelle der Reichsluftwaffe. Hier wurden verschiedene fliegende Waffensysteme auf ihre militärische Einsatztauglichkeit überprüft, Flugzeugtypen, Bordinstrumente, Bordwaffen, Bomben. Ein Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren im Zuge der noch geheimen Aufrüstung der Luftwaffe im Umkreis Rechlins die Bewohner mehrerer Dörfer umgesiedelt, sodann Gutshöfe, Stallungen, Kirchen bombardiert und schließlich die Ruinen abgerissen worden. So schuf man am Südufer der Müritz Platz für ein fast kreisrundes Flugfeld von mehr als anderthalb Kilometern Durchmesser sowie moderne Flughafengebäude und Wohnsiedlungen. In diesem Sperrbezirk konnte Tag und Nacht für den deutschen Endsieg geflogen, geschossen, gesprengt, berechnet und gemessen werden.

Als Pasewaldt Anfang 1942 zum Himmel über Rechlin blickte, traute er seinen Augen nicht. Sollte die Ju 88, das von den Dessauer Junkers-Werken konstruierte zweimotorige Bomberflugzeug mit seiner so typischen Vollsichtkanzel, etwa zum Absturz gebracht werden? Was denn Sinn und Zweck solch eines waghalsigen Sturzfluges sei, wollte der Oberst wissen, das müsse doch ungeheure Vibrationen erzeugen, ließe sich da der Sturz überhaupt noch abfangen und das Flugzeug in den Normalflug zurückmanövrieren? Wer denn der Pilot sei, der an den «Grenzen des Zulässigen»1 fliege und diese enormen Beschleunigungskräfte aushalten könne?

Es war, erfuhr Pasewaldt von den Umstehenden, «die Melitta bei ihren Sturzversuchen». In den gemäßigten Sturzflug abzutauchen, erinnerte sich der promovierte Jurist und fronterfahrene Kampfpilot nach dem Zweiten Weltkrieg, habe «mancher männliche Pilot bereits als Heldentat»2 betrachtet. Für Melitta von Stauffenberg seien die extremsten Wagnisse über Jahre hinweg Alltag gewesen.

Sie brauchte keinen Schutzengel. Sicher wie immer setzte sie die Ju 88 auf, rollte über die Landebahn zum Hangar und entstieg frisch und wohlbehalten der Maschine. Die zierliche Frau war eine erfahrene und begabte Fliegerin. In Rechlin verbrachte sie gut zwei Jahre als Ingenieurpilotin und testete optische Zielgeräte von Sturzkampfbombern für den präzisen Bombenabwurf, sogenannte Sturzflugvisiere. Dabei hatte sie es auf fast tausend «vermessene und gefilmte steile Zielstürze, durchschnittlich von 5000 auf 1000 m Höhe»3 mit verschiedenen Kampfflugzeugtypen gebracht. Als sie diese Tätigkeit im Frühjahr 1944 beendete und bereits Mitarbeiterin der Luftkriegsakademie in Berlin-Gatow war, hatte sich die Zahl ihrer Sturzflüge auf rund 2200 erhöht – rekordverdächtige zwölf, später sogar fünfzehn Stürze pro Tag. Darauf war sie ebenso stolz wie auf ihre körperliche Konstitution, die solche extremen Belastungen, wie sie beteuerte, unbeschadet überstand. Im Gegensatz zu anderen Piloten machte sich bei ihr der sogenannte Schleier, eine mit Sehstörungen verbundene Blutleere im Gehirn, erst bei sehr hohen Sturzgeschwindigkeiten bemerkbar.

Niemand zuvor, ob Mann oder Frau, hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt derart riskanten Strapazen ausgesetzt. Mehr als vier Jahre lang raste sie regelmäßig mit heulenden Motoren dreißig Sekunden lang senkrecht dem Erdboden entgegen, um in letzter Sekunde und bei größtmöglicher Bombenzielsicherheit ihr Flugzeug abzufangen, nach Hause zu fliegen und dort Berechnungen anzustellen. Diese fliegerische wie wissenschaftliche Ausnahmeleistung würdigte der Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, im Januar 1943 höchstpersönlich mit der Verleihung des Eisernen Kreuzes II. Klasse. Das Goldene Militärfliegerabzeichen mit Brillanten und Rubinen bekam die ihren männlichen Kollegen in allen professionellen Belangen ebenbürtige, wenn nicht gar überlegene Ingenieurpilotin im Herbst desselben Jahres verliehen.

Der taktisch wie technisch versierte Kampfpilot Pasewaldt hatte Melitta von Stauffenbergs «geradezu einmalige Lebensauffassung», den «wahrhaft tödlichen Ernst ihrer Arbeitsweise»4 bei seinem Besuch in Rechlin intuitiv erfasst. Hinter der Maske der Unnahbarkeit, von der alle berichten, die ihr jemals begegneten, verbarg sich die nervöse Unrast einer extremen Persönlichkeit. Mit kühlem Verstand und heißem Herzen bis an die Grenzen des Möglichen zu gehen, das und nichts anderes war ihr Leben. Bequem, sicher und beschaulich leben, das wollte, das konnte sie nicht. Melitta von Stauffenberg liebte die Technik, die Maschine, die Geschwindigkeit. «Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen», schrieb Filippo Tommaso Marinetti im ersten Satz seines «Futuristischen Manifestes», «die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.» Dieser kämpferischen Melodie folgte Melitta von Stauffenberg ein Leben lang auf ihre ganz eigene Weise. Als Marinetti sein Gewalt, Zerstörung und die Kraft der Maschine verherrlichendes «Manifest» 1909 in der Pariser Tageszeitung «Le Figaro» veröffentlichte, war Melitta gerade sechs Jahre alt. Wenige Jahre später sollte der Erste Weltkrieg ihr Leben von Grund auf erschüttern.

Melitta von Stauffenberg war eine Ausnahmegestalt. Bis heute sind Frauen im Cockpit eine Seltenheit – der erste weibliche Flugkapitän in der Geschichte der Deutschen Lufthansa wurde im Jahr 2000 ernannt. Ehrenhalber hatte Melitta, die auch nach ihrer Heirat mit Alexander von Stauffenberg ihren Mädchennamen Schiller bevorzugte, den Titel «Flugkapitän» schon 1937 erhalten. Sie durfte sich so bezeichnen, weil sie die Flugzeugführerscheine aller Qualifikationsklassen erworben hatte und in der Lage war, sämtliche damals verfügbaren Flugzeugtypen zu fliegen, von der kleinsten Sport- bis zur schweren viermotorigen Kampfmaschine, eine in der Luftfahrt der dreißiger und vierziger Jahre phänomenale Leistung. Dass sie als eine von wenigen Frauen ihrer Zeit Technische Physik studiert hatte und anschließend Karriere als Diplomingenieurin in der Luftfahrtforschung der späten Weimarer Republik wie des Dritten Reiches machte, war ebenfalls singulär. Neben Hanna Reitsch, ihrer lebenslangen Kontrahentin, war sie die wichtigste Testpilotin im militärischindustriellen Komplex des NS-Staates. Doch anders als Reitsch besaß sie als Ingenieurin die Fähigkeit, die technischen Daten ihrer Testflüge selbst auszuwerten, Konstruktionsvorschläge zu unterbreiten oder auch Patente anzumelden.

Außergewöhnlich war Melitta von Stauffenberg aber nicht allein wegen ihrer Fähigkeiten als Fliegerin oder Luftfahrtingenieurin. Als Pilotin stand sie sogar im Schatten ihrer berühmteren, Höhen-, Strecken- und andere Rekorde brechenden Kolleginnen, neben Hanna Reitsch etwa Elly Beinhorn, Thea Rasche oder Marga von Etzdorf. Zwar zählte Melitta zu den Flugpionierinnen, die in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren für mediale Aufmerksamkeit gesorgt hatten. Anders jedoch als ihre deutschen, aber auch englischen oder amerikanischen Kolleginnen war sie kein fliegender Star, dessen Rekorde in die Geschichte der Luftfahrt Eingang gefunden hätten. Und doch ragten ihre Karriere und ihr Schicksal auf besondere Weise heraus. So widersprüchlich, so zerrissen waren ihr Leben und ihre Persönlichkeit, dass ihre Biographie geradezu als Sinnbild eines politisch wie ideologisch extremen Zeitalters erscheint.

Von Beginn ihres Studiums bis zu ihrem gewaltsamen Tod vier Wochen vor Kriegsende im April 1945 hielt sich Melitta Schiller überwiegend in einer männlich geprägten Umgebung auf. Als Studentin der Technischen Physik an der TH München war sie in den zwanziger Jahren weit mehr als nur eine Ausnahme, unter den männlichen Studenten dieser Disziplin war sie ein Einzelfall. Bereits am Ende des Jahrzehnts fand die Expertin für Aerodynamik ihren Platz in der Luftfahrtforschung und der Rüstungsindustrie, mit Beginn des Zweiten Weltkrieges arbeitete sie in Rechlin und in Berlin-Gatow überwiegend in militärischen Sperrbezirken, die unter Geheimhaltung standen, lebte sie unter Soldaten und Offizieren, in Kasernen und auf Flugplätzen. Allein unter Kriegern in einem totalitären System, das sich die Züchtung «rassereiner» Supermänner und stahlharter Kämpfer auf die Fahnen geschrieben hatte – wie konnte das funktionieren?

1931 lernte Melitta Schiller ihren späteren Mann Alexander von Stauffenberg kennen, den Zwillingsbruder von Berthold und älteren Bruder des Hitler-Attentäters Claus von Stauffenberg. Gemeinsam mit seinen Brüdern gehörte er seit Mitte der zwanziger Jahre zum Kreis der Jünger um Stefan George. Zeitlebens verstand sich der Historiker Alexander von Stauffenberg vor allem als Dichter. Wie passte ein solches Paar zusammen, die Ingenieurin verheiratet mit dem Dichter? Versöhnte sich hier etwa die technische Moderne mit dem auf eine ideale griechische Antike eingeschworenen, fortschrittsfeindlichen Ästhetentum des George-Kreises? Wie kam eine Ingenieurpilotin der Reichsluftwaffe, tätig in einem fast ausschließlich männlichen Beruf, mit einem Dichterhistoriker aus, der Mitglied eines homoerotischen Kreises von Wissenschaftlern und Künstlern war? Melitta lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Berlin, Alexander wanderte in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre als unbezahlter Dozent von Universität zu Universität, bevor er 1936 Professor für Alte Geschichte in Würzburg wurde. Konnte eine solche Ehe glücklich sein?

Als die Katastrophe von Stalingrad sich ihrem Höhepunkt näherte und Göring in seiner Berliner Residenz in Anwesenheit zahlreicher Gäste Melitta Schiller das Eiserne Kreuz verlieh, trank man Sekt, plauderte und fand sich sympathisch. Sie erhielt die Auszeichnung, obgleich ihr Vater Jude war und Melitta in der Terminologie der Nationalsozialisten als «jüdischer Mischling ersten Grades» galt. Wie konnte es ihr gelingen, in die militärische Funktionselite des Nationalsozialismus aufzusteigen, als Frau und sogenannte Halbjüdin dazu? Ein verwirrendes, an Unwahrscheinlichkeiten reiches Leben, in dem vieles vereinbar ist, was auf den ersten Blick unvereinbar erscheint.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sogar behauptet, sie sei in die logistischen Planungen des Attentats vom 20. Juli 1944 einbezogen gewesen und durch Claus von Stauffenberg persönlich über die Absichten des militärischen Widerstands zur Beseitigung Hitlers eingeweiht worden.5 Die Gräfin habe angeblich ihren Schwager nach dem Attentat auf den «Führer» in der Wolfschanze mit einem Fieseler Storch von Ostpreußen nach Berlin zurückfliegen sollen, damit dort der Walküre-Plan ausgeführt würde. War Melitta von Stauffenberg also in irgendeiner Form an den Vorbereitungen des 20. Juli beteiligt? Dann wäre sie die einzige Frau, der es gelang, in dem ausschließlich von Männern getragenen militärischen Widerstand eine aktive Rolle zu spielen. Sollte der seit Jahrzehnten ausgedehnten Forschung zur Geschichte des 20. Juli 1944 dieser Ausnahmefall bisher entgangen sein?

Tatsächlich erscheint in dieser Biographie nichts unmöglich. Von trennscharfen Bruchlinien oder klaren Frontverläufen kann im Falle Melitta Schillers keine Rede sein. Zu den herkömmlichen Deutungen wie Kategorisierungen von Lebensverläufen im NS-Regime steht ihr Werdegang in fundamentalem Widerspruch. Melitta von Stauffenberg, bei der man stets geneigt ist, sie Melitta Schiller zu nennen, war nicht nur eine bemerkenswerte, sie war auch eine rätselhafte Frau. Eine «Halbjüdin» im Dienst des NS-Regimes, eine Frau, deren Beruf Krieg, Waffen und Zerstörung sind – diese Widersprüche werfen viele Fragen auf.

Über eine historische Figur ist immer nur das bekannt, was die Archive an Material preisgeben. Bei Melitta von Stauffenberg ist die Quellenlage äußerst schwierig, denn kaum etwas aus ihrem persönlichen Besitz hat den Zweiten Weltkrieg überlebt. Beim Luftangriff der Royal Air Force am 16. März 1945 auf Würzburg, bei dem die historische Altstadt in Schutt und Asche versank und fünftausend Zivilisten starben, erhielt auch die gemeinsame Wohnung von Melitta und Alexander von Stauffenberg einen Volltreffer. Niemand war da, der in den Trümmern nach Überresten hätte suchen und diese hätte aufbewahren können. Was nicht verbrannt oder zerstört war, wurde gestohlen, kein einziger persönlicher Gegenstand, kein einziges persönliches Dokument blieb erhalten. Im August 1945 schrieb Melittas jüngste Schwester Klara Schiller an ihre älteste, in Neumünster lebende Schwester Marie-Luise Lübbert, «in Würzburg» sei «alles abgebrannt, nicht eine Stecknadel ist übrig geblieben»6. Dennoch konnte der Verfasser der vorliegenden Biographie unerwartet viel, bislang unbekanntes Quellenmaterial in privaten wie auch in öffentlichen Archiven ausfindig machen und auswerten. Hilfreich waren hier besonders die reichhaltigen Archive der drei Schwestern Klara, Jutta, vor allem aber Marie-Luise Schiller. Selbstzeugnisse von der Hand Melitta von Stauffenbergs aus den zwanziger und dreißiger Jahren sind allerdings auch hier so gut wie nicht vorhanden. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden die in den Privatarchiven zahlreich vorhandenen Fotografien als Quellendokumente herangezogen. Damit war auch der Versuch verbunden, Bild- und Textdokumente gleichrangig zu behandeln. Viel detektivischer Spürsinn und Kombinationsvermögen waren erforderlich, um das Zwielicht dieses von Dämonen heimgesuchten, so eigentümlich deutschen Lebens zu erhellen. Vertreiben wir also die Düsternis, begleiten wir die Rätselfrau Melitta von Stauffenberg auf ihren verschlungenen Lebenswegen.