42 Grad

Verona, Norditalien, Battistero di San Giovanni in Fonte

Innentemperatur: 28,7 Grad

Padre Agostino hob die Arme und wartete, bis er die Aufmerksamkeit aller Besucher hatte.

«Liebe Mutter, verehrte Gäste, wir sind hier versammelt, um ein neues Erdenkind in die Gemeinschaft der katholischen Kirche aufzunehmen.»

Er legte eine Pause ein, um die Worte wirken zu lassen.

«Das geweihte Wasser ist der Ursprung des Lebens, der Anfang von allem. Mit dem Wasser der Taufe reinigen wir uns von den Sünden, das Wasser gibt uns Lebenskraft und erneuert uns. So wird auch von dem Kinde alles abgewaschen, was es belasten könnte, es wird offen für das Neue, das Gott ihm gibt.»

Die Worte des Geistlichen hallten von den Wänden des Baptisteriums wider. Nur das Surren der Ventilatoren störte die andächtige Stimmung, aber die Eltern hatten auf den Geräten bestanden, der Hitze wegen, die seit Wochen jeden Aufenthalt im Freien unerträglich machte und sogar in die Mauern der Kirche gekrochen war. Padre Agostino konnte sich in seiner fünfzigjährigen Amtszeit nicht daran erinnern, jemals in diesem Raum so geschwitzt zu haben. Die meterdicken Wände, die über Jahrhunderte auch im Sommer zuverlässig Kühlung gespendet hatten, versagten nun, es war stickig, die heiße Luft stand im

Dennoch es gab keinen schöneren Ort, ein neues Mitglied der katholischen Glaubensgemeinschaft zu begrüßen, fand Agostino, als die Taufkapelle des Doms mit dem über achthundert Jahre alten Taufbecken. Es war aus einem einzigen Marmorblock gemeißelt. Die acht Reliefs an den Seiten mit biblischen Szenen wie der Geburt Jesu zu Bethlehem und die Verkündigung an Maria begeisterten ihn immer wieder.

Alle Gäste sahen ihn erwartungsvoll an, manche fächelten sich mit dem Liederblatt Luft zu, die Mutter wiegte ihre Tochter im Arm.

Padre Agostino stieg die beiden Stufen zum Taufbecken hinauf und gab den Ministranten ein Zeichen, den silbernen Krug am Rand abzustellen. Er bedeutete den Gästen, näher zu treten. Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten stellten sich um das Marmorbecken herum auf. Die Taufpatin stand mit der Kerze bereit, die Mutter hielt das Baby darüber.

Agostino zelebrierte das Sakrament der Taufe mit immer gleicher Routine und Begeisterung, ein Zeremonienmeister, der um seine Fähigkeiten wusste.

Er träufelte etwas Wasser auf die Stirn des Babys.

«Chiara, ich taufe dich im Namen des Vaters und …»

Das rosige Gesicht der Kleinen verzog sich, ein langgezogener Schrei kam aus ihrem Mund. Für einen Moment war der Geistliche irritiert. Nicht das Schreien des Babys störte ihn, das hatte er bereits Hunderte Male erlebt. Sondern etwas anderes, ein Rumoren, ein Grollen aus den Eingeweiden der Erde. Die Gäste schienen auch etwas gespürt zu haben, sie sahen sich verstohlen um. Padre Agostino wischte seine Irritation beiseite. Wieder goss er Wasser über die Stirn des Kindes und fuhr fort:

Er bemerkte ein Zittern in seinen Händen, das sich auf die Silberkanne übertrug, die Oberfläche des Wassers kräuselte sich. Das war ihm bisher noch nie passiert. Feiner Nebel verschleierte plötzlich die Sicht. Es dauerte einen Wimpernschlag, bis Padre Agostino begriff: Der Schleier kam von oben. Von der Decke der Kirche rieselten Putz und Staub. Kerzen fielen um und erloschen. Zugleich begann das Goldkreuz zu tanzen, das an Drahtseilen von der Decke hing.

Ein mahlendes Geräusch – als rieben Steine gegeneinander – übertönte die Ventilatoren, wurde immer stärker.

Ein Raunen ging durch die Gemeinde, ängstliche Blicke irrten zur Decke, Besucher verließen mit eingezogenen Köpfen im Laufschritt die Kirche. Das Kind schrie lauter, die Mutter drückte es an sich.

Für einen Moment verspürte der Geistliche den Impuls, alles abzubrechen und ebenfalls nach draußen zu laufen. Aber er rief sich die Pflichten seines Amtes ins Gedächtnis, er würde die heilige Handlung zu Ende bringen, schneller als sonst, aber mit Würde.

Auf sein Zeichen hin hielt die Mutter ihr Baby wieder über das Becken. Ein Wasserstrahl rann über den Kopf der Kleinen.

«… und des Heiligen Geistes.»

Das «Amen» des Geistlichen ging in einem Krachen unter. Der Boden schwankte wie auf einem Ruderboot. Die Wände begannen zu zittern.

Dann ging alles ganz schnell. Die Säulen der Seitenschiffe fielen in sich zusammen, es regnete Holzbalken und Steine auf die Taufgemeinde. Eine Staubwolke hüllte alles ein.

Keuchen, Schreie, Panik.

Die Menschen versuchten sich mit bloßen Händen vor den herabfallenden Trümmern zu schützen. Einige lagen verletzt am

War das die Apokalypse, wie sie die Bibel angekündigt hatte? Padre Agostino suchte nach einer Gebetszeile, aber ihm fiel nichts ein. Sein Gehirn war leer. In einer Art Reflex wollte er die Silberkanne in Sicherheit bringen, er griff danach, da traf ihn etwas an der Schläfe. Er glitt am Taufbecken zu Boden. Das Letzte, was er sah, bevor ihn die Dunkelheit umhüllte, war das Marmorrelief, das die Geburt Jesu zeigte.

Wien, Österreich, Leopoldstadt

Außentemperatur: 29,1 Grad

James Coleman breitete theatralisch die Arme aus und drehte sich um die eigene Achse. «Hab ich dir zu viel versprochen, Grace?»

«Darling, es ist perfekt, viel besser als auf den Fotos.»

Die Silhouette des Riesenrads zeichnete sich gegen das Blau des Himmels ab. Die Kabinen sahen aus wie kleine Gartenhäuschen, sie schwebten an der Außenseite der Stahlkonstruktion im behäbigen Rhythmus nach oben und dann wieder nach unten. Walzermusik würde dazu passen, dachte Grace und summte eine Melodie.

Ihr Mann und sie waren bereits zwei Tage in der Stadt und hatten sich den Wiener Prater bis zum Schluss ihres Besichtigungsprogramms aufgehoben, bevor sie zurück in die USA flogen. Sie lösten zwei Tickets und hatten das Glück, eine Kabine für sich allein zu haben.

James gab ihr einen Kuss.

Sie nahmen auf der Holzbank Platz, hielten sich an den Händen und genossen den Moment. Ein kaum merkliches Vibrieren, die Kabine stieg empor, vor ihnen breitete sich das Panorama Wiens aus.

Als sie fast den Scheitelpunkt erreicht hatten, zog James sie hoch. «Komm ans Fenster, da sehen wir den Stephansdom am besten.»

Plötzlich schien der Horizont zu verschwimmen. Grace setzte die Sonnenbrille ab, um besser sehen zu können. Aber es lag nicht an der Brille – der Boden unter ihnen schaukelte, und sie hörte irgendein seltsames Geräusch. Sie hielt sich an ihrem Mann fest, verstand nicht, was gerade geschah.

Das Schaukeln steigerte sich zu einem Rütteln und Schütteln, als zerrte jemand mit aller Gewalt an ihrer Kabine. Die anderen Waggons schwankten wie Lampions im Wind, das Gestell des Riesenrads schien sich zu verzerren.

Ein Knall. Und ein zweiter.

Direkt vor ihnen waren zwei Stahlverstrebungen gerissen, die den äußeren Reifen wie Speichen eines Fahrrads mit der Achse verbanden. Weitere Speichen lösten sich und schlugen gegen die Verstrebungen. Grace und James sahen, wie sich auf halber Höhe Kabinen aus ihrer Verankerung lösten und nun schräg in die Luft ragten.

Dann traf ihren Waggon ein Schlag und warf sie zu Boden.

Nachher wusste Grace nicht mehr, wie lange sie geschrien hatte. Doch sie spürte, das Riesenrad war zum Stillstand gekommen. James nahm sie in den Arm, sie beruhigte sich, beide wagten es nicht, sich zu rühren, aus Angst abzustürzen.

Sie hörten Schreie und Rufen. Nach einiger Zeit ertönten Alarmsirenen und Martinshörner.

Nach einer gefühlten Ewigkeit spürten sie, dass sich jemand

«Alles in Ordnung, everything okay?»

Was für eine Frage, dachte Grace, nichts ist okay. Sie wollte nur noch raus aus diesem Horrorfilm.

Ein zweiter Mann erschien. Die Feuerwehrleute halfen ihnen auf und legten ihnen einen Klettergurt an. Sie müssten sie abseilen, alles sei vorbereitet.

Grace verstand nicht, was sie damit meinten.

«Nicht nach unten schauen, ruhig bleiben, keine unnötigen Bewegungen.» Die Anordnungen der Feuerwehrmänner klangen routiniert. Sie schoben Grace zur Tür, ein Stahlseil spannte sich.

Sie blickte in die Tiefe, es war ein Reflex, sie sah die Leere unter sich und irgendwo in weiter Entfernung den Park. Ihr Magen drehte sich um, wieder fing sie an zu schreien, plötzlich verlor sie den Boden unter ihren Füßen, sie schloss die Augen, spürte, wie sie nach unten sackte.

Jemand fing sie auf. Ihre Beine berührten einen Steinboden. Sie zitterte, wagte es nicht, die Augen zu öffnen, bis ihr Mann sagte:

«Darling, es ist vorbei. We are safe.»

Nationalpark Triglav, Slowenien, Tolminer Klamm

Außentemperatur: 31,4 Grad

Die Wandergruppe passierte die Brücke, die sich über den Fluss Tolminka spannte, und folgte den Schildern in die Schlucht. Das Wasser glänzte smaragdgrün, Gischt spritzte auf, eine willkommene Erfrischung in der Hitze.

Die Klamm war gut erschlossen, Stufen halfen beim Gehen, Eisengeländer verhinderten, dass jemand versehentlich in die Tiefe abstürzte.

Das Rauschen des Flusses übertönte die Gespräche. Neben ihnen erhob sich der Fels, der Pfad war direkt in den Stein gehauen, weiter oben war ein Tunnel erkennbar. Einige blieben stehen, holten ihre Fotoapparate heraus und machten Aufnahmen.

Der Führer rief etwas, winkte hektisch und zeigte nach oben. Einzelne Steine kollerten herab, der Weg schien sich zu bewegen.

«Erdbeben», brüllte jemand.

Plötzlich regnete es Felsbrocken. Die Männer und Frauen versuchten, ihren Kopf mit den Armen zu schützen, und liefen, bis sie den rettenden Tunnel erreichten.

 

In den Tagen danach listeten die Fernsehstationen Rai 1 und Euronews sowie die Tageszeitung Corriere della Sera die Schäden auf: Das Erdbeben hatte eine Stärke von 6,91 auf der Momenten-Magnituden-Skala, das Epizentrum lag wenige Kilometer südlich von der Stadt Trient.

Die Auswirkungen waren auch in den Nachbarländern zu spüren: In Österreich fielen Dachziegel von Wohnhäusern und verletzten Fußgänger, in Colmar im Elsass rissen die Beläge von Bürgersteigen über eine Länge von einhundertzwanzig Metern auf und zerstörten die geparkten Fahrzeuge. Eine zwei Meter hohe Flutwelle lief an der französischen Mittelmeerküste auf und spülte mehrere Strandcafés und einen Bootssteg weg.

In Norditalien dagegen kostete das Unglück hundertneunzig Menschen das Leben. Neunzehn Kirchen, zwei Brücken und weitere 2384 Gebäude waren beschädigt, darunter die

Die Behörden in Italien sprachen vom schwersten Erdbeben seit dem Unglück von L’Aquila im Jahr 2009.

Schweiz, Autobahn A2

Außentemperatur: 30,2 Grad

Julius Denner hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und genoss den Fahrtwind, der sein Haar zerzauste. Die Berge zogen vorbei, ein Postkartenhimmel wölbte sich über ihm. Im Radio kündigte der Moderator im Schweizer Dialekt die Rockband Lovin’ Spoonful an, aus dem Lautsprecher tönte der Oldie Summer in The City.

Wie passend, dachte Julius und sang die Melodie mit. Es war wirklich ein perfekter Sommertag. Die Julisonne bescherte traumhafte Urlaubsgefühle, und dazu musste man nicht einmal ins Ausland fahren. Er hatte die letzten Wochen der Semesterferien als Aushilfe in einer Tauchschule am Gardasee gearbeitet, die reine Erholung. Er wurde dafür bezahlt, seinem Hobby nachzugehen und Gästen die Welt unter Wasser zu zeigen.

Er hatte Mailand längst hinter sich gelassen, die Grenze bei Chiasso passiert und fuhr nun auf der Autobahn A2 an Luzern vorbei. Er fuhr gemächlich, eilig hatte er es nicht, er würde es schon rechtzeitig bis Freiburg schaffen. Bei Basel überquerte er abermals die Grenze und wechselte auf deutscher Seite auf die A5 in Richtung Norden.

Der Verkehr floss wie ein träger Strom, der Asphalt flimmerte, in der Ferne schienen Wasserpfützen die Fahrbahn zu bedecken, aber Julius wusste, dass es nur Spiegelungen waren. Ihm kam es

Bremslichter vor ihm rissen ihn aus seinen Gedanken. Er stieg ebenfalls auf die Bremse, die Reifen quietschten, sein Auto kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen, Stoßstange an Stoßstange mit dem Vordermann. Überall leuchteten nun Bremslichter auf.

Ein Stau.

Hundert Meter vor sich sah er die Ausfahrt auf einen Rastplatz. Er setzte den Blinker und folgte einigen Autos, die wie er auf den Standstreifen ausscherten. Vorsichtig fuhr er an der stehenden Kolonne vorbei und war froh, als er auf den Parkplatz abbiegen und sein Auto abstellen konnte. Lieber wollte er dort warten, als ewig auf der Autobahn zu stehen. Er ging zur Toilette, kramte aus seiner Tasche einen Apfel und eine Flasche Orangensaft und machte es sich im Schatten bequem.

Der Parkplatz war mittlerweile bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Stau reichte bereits kilometerweit zurück. Polizeiwagen und Sanitäter und die Feuerwehr zwängten sich mit Blaulicht durch die stehenden Fahrzeuge und stoppten etwa achthundert Meter weiter, dort, wo der Auslöser des Staus sein musste.

Nach einer Dreiviertelstunde hatte sich der Stau immer noch nicht aufgelöst, die Verkehrsnachrichten gaben auch keinen Hinweis auf die Ursache. Wann ging es weiter? Julius musste heute irgendwann noch in Freiburg ankommen.

Deshalb beschloss er nachzusehen, was die Ursache des Staus war. Er ging auf dem mit Gras bewachsenen Streifen parallel zur Autobahn in Richtung der Unfallstelle. Viele Menschen hatten inzwischen ihre Autos verlassen, sie saßen auf der Leitplanke, sprachen miteinander oder starrten in Richtung der Unglücksstelle in der Hoffnung, dort ein Zeichen für die Weiterfahrt zu erkennen.

«Das ist schon mein dritter Stau diese Woche», sagte ein anderer, «nichts als Baustellen und Geschwindigkeitsbegrenzungen. Und ich muss diesen Mist noch mit meinen Steuern finanzieren.»

«Genau, die sind selbst zu blöd, diese Blow-ups oder wie die Dinger heißen, zu reparieren.»

«Das ist lebensgefährlich, hab ich im Internet gelesen», warf eine Frau ein. «Und die da oben kümmert es einen Dreck.»

Tatsächlich waren in diesem Jahr bereits mehrere Motorradfahrer durch Blow-ups ums Leben gekommen. Sie entstanden durch Hitze: Die Fahrbahndecke dehnte sich, riss und platzte auf wie die Kruste eines frisch gebackenen Brotes. Die Verwerfungen wurden zur tödlichen Falle.

Julius besah sich die Unfallstelle aus der Ferne. Er wollte den Rettungskräften nicht im Weg sein. Über die gesamte Breite der Fahrspur hatte sich ein Krater gebildet und damit die Autobahn blockiert. Ein Vorbeifahren war unmöglich. Die Sanitäter schnallten gerade einen Verletzten auf die Bahre und schoben ihn in den Rettungswagen, die Menschen traten zur Seite, das Fahrzeug wendete vorsichtig und fuhr im Schritttempo mit Martinshorn durch die Rettungsgasse zurück.

Die Feuerwehr zog mit einer Seilwinde das Unglücksauto aus dem Krater. Viel war nicht mehr davon übrig, das Dach war eingedrückt, die Front gestaucht und die Seiten zerbeult. Funksprüche waren zu hören, die Polizei dokumentierte den Schaden.

Julius ging jetzt näher heran. Er stutzte: Das war nie im Leben ein Blow-up. Sein Interesse regte sich. Er suchte sich eine Position, von der aus er ins Innere des Kraters blicken konnte, ohne die Arbeiten zu behindern. Der Boden war fast zehn Meter tief abgesackt und hatte die Form eines Kegels angenommen, verschiedene Gesteinsformationen waren an dessen Wand zu sehen,

Ein Abschleppwagen fuhr vom Notausgang des Parkplatzes heran, bahnte sich mit Hupen den Weg bis zur Unfallstelle und wendete vorsichtig. Der Angestellte schwenkte den Kran, befestigte Ketten am zerstörten Auto und hievte es auf die Ladefläche.

Julius erkannte seine Chance, doch noch dem Dauerstau entfliehen zu können, denn es würde Stunden dauern, bis der Krater provisorisch überbrückt wäre, damit der Verkehr wieder fließen konnte. Er sprintete zu seinem Auto und schaffte es, gleichzeitig mit dem Abschleppwagen dort zu sein.

Der Fahrer öffnete mit einem Spezialschlüssel das Zufahrtstor zum Parkplatz und stieg wieder ein. Hinter dem Begrenzungszaun führte eine einspurige Straße von der Autobahn weg. Julius startete den Motor und fuhr direkt hinter dem Abschleppwagen hinaus auf die Straße. Nach einigen Metern hielt der Fahrer, um das Tor wieder zu schließen. Julius nutzte den Moment. Er lenkte durch das Tor, scherte vor dem Abschleppwagen auf die Wiese aus und fädelte danach wieder in die Straße ein. Ohne sich umzusehen, fuhr er weiter, bis er schließlich wieder auf die Landstraße nach Freiburg fuhr. Der Anblick des Kraters ließ ihn nicht los: Dieses Bild der Zerstörung passte nicht zu oberflächlichen Fahrbahnschäden.

Die Bodenschichten in dieser Region bestanden vor allem aus geklüftetem kristallinem Festgestein, dazu etwas Mergel und Sandstein. Das hatte Julius in seinem Studium der Hydrologie über diese Region gelernt. Diese sogenannten Kluftgrundwasserleiter speicherten das Wasser nur sehr schlecht, deshalb verfügte die Gegend südlich von Freiburg bis hinunter zum Rhein nur über geringe Grundwasservorkommen.

Die durcheinandergeratenen Gesteinsschichten am

Wenn das stimmte, dann zogen sich die Deformationen der Bodenschichten kilometerweit unter der Oberfläche hin. Niemand wusste, wie stabil die Gesteinsschichten noch waren und ob nicht an anderer Stelle Ähnliches wie auf der Autobahn geschehen konnte.

Julius überlegte. Sollte er die Sache auf sich beruhen lassen? Das wäre fahrlässig. Am einfachsten und schnellsten wäre es, seine Beobachtungen der Polizei zu melden, die Informationen an die richtigen Stellen weiterleiten sollte. Er änderte seine Fahrtroute und fuhr zu einem Polizeirevier im Süden von Freiburg.

Am Empfangstresen der Dienststelle stand ein älterer Beamter mit schütterem Haar, er notierte gerade etwas auf einem Formular.

Julius grüßte.

«Ja?» Der Polizist sah ihn prüfend von oben bis unten an.

«Ich möchte einen Vorfall melden.»

«Einen Vorfall …» Der Mann dehnte die Worte. «Was meinen Sie mit einem Vorfall? Einen Einbruch, Diebstahl, eine Schlägerei oder einen Autounfall?»

«Eine konkrete Gefahr, die von einem Unfall ausgeht, auf der A5.»

«Sie meinen den Stau, wir kennen die Meldungen der Kollegen.»

«Ich hab dort gesehen, wie der Boden weggesackt ist.»

«Ach ja? Das wissen wir ebenfalls schon, nichts Neues also. Danke trotzdem für Ihren Hinweis. Schönen Tag noch.»

Der Beamte wandte sich ab.

So einfach wollte sich Julius nicht abwimmeln lassen.

Der Polizist beugte sich zu ihm.

«Und woher haben Sie Ihre Weisheiten?»

«Geologie gehört zu meinem Studienfach.»

«Sie studieren was?»

«Hydrologie. Ich steh vor meiner Master-Abschlussarbeit.»

«Hydro… aha.»

Der Mann sah ihn an, als hätte er gerade etwas in einer fremden Sprache gesagt.

Julius kannte diesen Blick voller Fragezeichen. Wenn er Fremden über sein Studium erzählte, erntete er oft Stirnrunzeln und Unverständnis. Hydrologie, abgeleitet vom griechischen Wort für Wasser, galt als Exotenfach. Selbst Freunde zogen ihn auf als «Wasserprediger». Dabei war Wasser ein zentrales Element der Natur. So einfach und doch so komplex, scheinbar wertlos und doch die Basis allen Lebens, seine wichtigste Vorbedingung, der Schlüssel zur menschlichen Existenz. Und ein Rohstoff, der immer wichtiger wurde. So weit er zurückdenken konnte, hatte Wasser ihn fasziniert. Deshalb war für ihn schon früh klar, dass er sich in seinem späteren Beruf mit diesem Urstoff befassen wollte. Woher kommt das Wasser? Wie entsteht es in der Umwelt? Was ist darin enthalten? – das waren die Fragen, die er beantworten wollte. Dazu musste er sich auch Fachwissen aus Chemie, Biologie, Geologie und Physik aneignen. Am Anfang war es schwierig gewesen, sich in Themen wie Meteorologie, Bodenkunde oder Hydroinformatik einzuarbeiten, aber mittlerweile kam ihm das selbstverständlich vor.

«Also gut, da Sie weder eine Zeugenaussage noch eine Anzeige machen wollen, reicht eine einfache Meldung, die ich an die

«Julius Denner, sechsundzwanzig Jahre alt, ledig, Student am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig.» Er gab seine Adresse an, fügte Mobiltelefonnummer und E-Mail hinzu und gab dem Beamten eine Zusammenfassung seiner Beobachtungen.

Freiburg, Deutschland

Innentemperatur: 30,4 Grad

Das Altenheim lag am Stadtrand von Freiburg auf einer Anhöhe, eingebettet in Bäume und Grünflächen. Julius stellte sein Auto auf dem Besucherparkplatz ab. Es war später geworden als geplant, die Abendessenszeit war vorbei. Er ging den vertrauten Weg in das Zimmer im ersten Stock, klopfte und trat ein.

Der Raum war hell eingerichtet mit einem Tisch, zwei Stühlen, einem Schrank, einer Fernsehecke. An der Wand stand ein Bett. Darin lag eine Frau, sie schien zu schlafen.

«Oma.» Sacht berührte Julius ihren Arm.

Sie schlug die Augen auf. «Bub, wie schön, dass du doch noch gekommen bist. Ich habe auf dich gewartet, ich muss kurz eingenickt sein.»

«Ich freu mich, dich zu sehen.» Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Wie geht es dir heute, wie war der Tag?»

«Die Beine haben mir wieder einen Streich gespielt, sie wollen nicht mehr so, wie ich will. An manchen Tagen ist es besser, an manchen schlechter. Aber das weißt du ja, ich will nicht

Sie berichtete ausführlich von ihren Gesprächen beim Abendessen, von den kleinen Gehässigkeiten ihrer Zimmernachbarn, von den Eheproblemen einer Pflegerin, die verheult zum Dienst erschienen war, von den beiden alten Herren, die in ihren Zimmern unter dem Dach einen Kreislaufkollaps erlitten hatten. «Die Hitze macht uns schon sehr zu schaffen, musst du wissen.» Dann schien ihr etwas einzufallen. «Ich hab dir einen Apfel aufgehoben», sagte sie und öffnete ihr Nachtkästchen. «Ich kann ihn ja nicht mehr beißen mit meinen alten Zähnen. Sie denken halt nicht nach in der Küche, sonst würden sie uns so was nicht auf den Teller legen.»

Julius nahm das Obst. Er hatte schon immer eine innige Beziehung zu seiner Großmutter gehabt. Als Kind hatte er viele unbeschwerte Ferien bei ihr verbracht, sie hatte auf ihn aufgepasst, wenn seine Eltern dienstlich unterwegs waren. Sie hatte nach dem Tod von Großvater jahrelang allein gelebt, bis sie selbst einsah, dass ein Umzug in ein Heim das Beste war. Trotz ihrer sechsundachtzig Jahre und ihrer körperlichen Gebrechen war ihr Verstand hell und wach.

Sie richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante.

«Willst du ein wenig gehen, oder soll ich dich fahren?» Julius deutete auf den Rollator und den Rollstuhl, die in der Ecke standen.

«Ich bleib lieber hier sitzen. Erzähl. Was gibt es Neues? Was machen Tina und Peter?»

«Sie schicken dir Grüße aus Sydney.»

Julius rief eine Datei auf seinem Handy auf und zeigte seiner Großmutter ein Foto. «Das ist vor dem Opernhaus aufgenommen. Sie sind gut angekommen und freuen sich schon auf die nächsten Wochen. Sie wollen sich regelmäßig melden.»

«Und was ist mit dir, hast du endlich wieder eine neue Freundin?», fragte sie prompt.

«Es hat sich nichts ergeben.»

«Ich versteh nicht, warum du keine findest, Bub. Du bist groß, sportlich, nicht dumm und hast ein nettes Gesicht, den Mädchen müsste das doch gefallen …»

«Oma, bitte.» Julius kannte ihre direkte Art, ihn über sein Liebesleben auszufragen. «Ich muss mich momentan auf meine Abschlussarbeit fürs Studium konzentrieren, ich hab noch gar nicht damit angefangen.»

«Studium ist nicht alles, es gibt Wichtigeres im Leben. Das wirst du schon noch merken. Bleib nur du selbst. Aber nun erzähl von deinem Gardaseeurlaub. Hast du gut gegessen?»

Die nächste Stunde verging mit dem Bericht über seinen Job in der Tauchschule, seine Ausflüge mit dem Mountainbike und die Erdbebenschäden in Norditalien. Julius merkte, dass seine Großmutter allmählich müde wurde. «Leg dich hin, Oma. Ich besuche dich bald wieder.» Er deckte sie zu und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. «Ich benutze nur noch mal dein Badezimmer.»

Er ging zum Waschbecken, um sich kurz die Hände zu waschen. Das war der Nachteil an der Hitze: Je länger der Tag dauerte, desto verschwitzter fühlte man sich. Er drehte den Hahn auf. Außer ein paar Tropfen kam kein Wasser aus der Leitung. Er probierte es nochmals. Nichts passierte. Er drückte die Klosettspülung. Wieder nichts.

«Der Wasserzulauf ist kaputt, Oma, ich sage dem Hausmeister Bescheid.»

«Normal?»

«Die Heimleitung hat uns gestern informiert, dass ab sofort spätabends das Wasser für zwei Stunden gesperrt wird. Eine Vorsichtsmaßnahme, haben sie gesagt. Denn das Heim verfügt über einen eigenen Wasserspeicher. Sie wollen Wasser sparen, aus Umweltgründen, haben sie gesagt.»

«Und wenn jemand aufs Klo muss?»

«Normalerweise ist ein Vorrat Wasser im Spülkasten, das kann man aufbrauchen.»

«Ich hab die Spülung gedrückt, da kam kein Wasser.»

«Weil ich zuvor schon die Toilette benutzt hatte.»

«Und wenn jemand danach nochmals muss?»

«Dann sollen wir bei der Zentrale anrufen. Die schicken dann jemand vorbei, der sich darum kümmert. Mach dir keine Sorgen, Bub, es ist alles in Ordnung.»