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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2009

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Umschlagabbildung David Cuenca/Photoselection

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ISBN Printausgabe 978-3-499-23715-7 (11. Auflage 2008)

ISBN E-Book 978-3-644-20131-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-20131-6

Schon wieder: für meinen Sven ♥

«Warum den Mann, den man liebt, gleich zu Anfang überfordern?»

Entweder mache ich mir Sorgen oder was zu essen. So war das eigentlich immer in meinem Leben. Appetit, außer auf alles, was gesund ist, und Probleme, meist in Form von Männern, die Sachen sagen wie: «Elli, es liegt nicht an dir, ich bin einfach noch nicht bereit für eine neue feste Beziehung» – das waren jahrelang meine zuverlässigsten Weggefährten. Jetzt haben mich diese beiden Begleiter urplötzlich verlassen. Ich habe keinen Hunger und keine Probleme mehr. Schwer zu glauben.

Ich betrachte wohlwollend meine Oberschenkel und die fremde Stadt, die mir zu Füßen liegt. Wahrscheinlich ist es schon nach zehn und eigentlich zu kalt, um hier draußen im Dunkeln zu sitzen. Aber ich kann nicht genug bekommen von dem Anblick. Keine Stadt noch meine Schenkel haben jemals besser ausgesehen. Der Blick von hier oben reicht bis zur Alster. Die Baumkronen enden weit unter meinem exklusiven Hochsitz, und ich kann in helle, edle Wohnungen mit Parkettboden und indirekter Beleuchtung schauen. Über mir gibt’s nur noch Himmel. Und eigentlich, wenn ich an dieser Stelle mal so rührselig sein darf, ist für mich derzeit überall Himmel.

Vor vierzehn Tagen, sieben Stunden und vierunddreißig Minuten hat sich mein Leben verändert. Das weiß ich deshalb so genau, weil meine Uhr bei dem Unfall stehen geblieben ist. Und bei dem Unfall habe ich mich verliebt. In einen Mann mit rötlichen Haaren und Dachterrasse. Unbekanntes Terrain für mich, das eine wie das andere. Vor schierer Aufregung habe ich in kürzester Zeit massiv an Umfang verloren, habe Oberschenkel wie zuletzt als Sechzehnjährige, als ich noch regelmäßig Sport trieb, und einen Körperfettanteil wie zu Zeiten, als man den noch gar nicht messen konnte. Alles ist gut. Ich bin glücklich. Und das ist mir schon lange nicht mehr passiert.

 

«Hast du einen besonderen Wunsch?»

Ich tauche träge aus meinen Dachterrassen-Gedanken auf.

«Mmmmh, ich bin gerade so glücklich. Irgendwas mit möglichst vielen Toten wäre schön.»

«Elisabeth, du bist wirklich seltsam. Aber großartig seltsam. Bin in zehn Minuten wieder da. Bis gleich!»

Die Tür fällt ins Schloss, und ich lausche seinen Schritten im Treppenhaus hinterher.

Niemand, außer meinem Erdkundelehrer, hat mich je ungestraft Elisabeth genannt. Aber auf einmal gefällt mir sogar mein eigener Name. Auf einmal gefällt mir alles. Ich bin eine völlig verrückte Verliebte, und ich denke, dümmlich vor mich hin lächelnd, an die Armee dunkelblauer und dunkelgrauer Pullunder, die in seinem Schrank hängt.

Ich konnte Pullunder noch nie leiden. Ich finde, darin sieht jeder Mann aus wie der Bundespräsident, wenn er morgens im Frühstücksraum von Schloss Bellevue zusammen mit seiner Gemahlin für den Fotografen einer Frauenzeitschrift so tut, als schenke er sich gerade Kaffee nach. Mit Martin und seinen Pullundern ist das aber komischerweise ganz anders. Sie verleihen ihm zwar eine seriöse Ausstrahlung, wirken aber dennoch an ihm wie Reizwäsche, erregend und seine natürliche Männlichkeit hervorhebend.

Oder nehmen wir sein Autokennzeichen: HH-WC 2. Das ist natürlich völlig indiskutabel. Und die Tatsache, dass sein Vater mit HH-WC 1 rumfährt, macht die Sache nur noch schlimmer. Aber bei meinem Liebsten empfinde ich diese Autonummer als überlegene, selbstironische Anspielung auf seine berufliche Tätigkeit, von der er sich dadurch liebevoll distanziert. Martin ist Juniorchef eines Sanitärgroßhandels. Sein Vater ist, durch das Kennzeichen WC 1 unschwer zu erahnen, der Seniorchef. Tja, mein neuer Freund ist Herr über Mischbatterien und Toilettenspülungen.

Was soll ich sagen? Auch kein Beruf, den ich in der Spalte «Welcher Arbeit sollte Ihr Traummann nachgehen?» eingetragen hätte. Aber wie egal einem so was alles wird, wenn das Herz vor Liebesglück weich und milde gestimmt ist. Mit einem Mal überlegst du, warum dir nicht längst aufgefallen ist, wie faszinierend das Sanitärbedarfgewerbe im Grunde genommen ist. Und du fragst dich, warum es dir bisher entgehen konnte, wie zauberhaft Haare mit einem leichten Rotstich im Licht der Morgensonne glänzen.

Mir ist völlig klar, dass ich den Verstand verloren habe. Natürlich habe auch ich in Frauenzeitschriften gelernt, dass die erste Phase der Verliebtheit Serotoninmangel im Gehirn verursacht. Dass Wahrnehmung und Verhalten gestört sind und die Symptome insgesamt einer ernsthaften psychischen Störung ähneln. Aber mir ist egal, ob ich krank bin, wenn die Begleiterscheinungen – an dieser Stelle sei das Zauberwort Appetitlosigkeit erwähnt – allesamt so attraktiv sind. Ich meine, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gesagt habe: «Ich bin satt.» Schon gar nicht, während ich vor einem Teller Lasagne gesessen habe. Wann bin ich das letzte Mal lächelnd aufgewacht? Wann habe ich das letzte Mal auf dem Klo gesungen? Wann hat eine Tafel Vollmilchschokolade mit ganzen Nüssen in meiner Gegenwart länger überlebt als ein paar Stunden? Das sind doch Beschwerden, die man möglichst ein Leben lang behalten will!

Ich sollte mir eine Decke holen, aber ich bin zu faul und zu glücklich, um jetzt die Treppe zum Wohnzimmer runterzusteigen. Nehme lieber noch ein Schlückchen Wein, bestimmt ein guter.

Ich stelle mir vor, wie Martin den Abendrothsweg entlanggeht. Fünfhundert Meter bis zur Kreuzung. Wie er die sechsspurige Hoheluftchaussee überquert. Wie er die Videothek betritt und keine Ahnung hat, dass mein Zimmer direkt darüber liegt. Warum hätte ich ihm davon erzählen sollen? Diese Bleibe ist sowieso nur eine Übergangslösung, wie ich hoffe. Und Martin hat nie nachgefragt. Als wir uns kennen lernten, hatte ich meine genaue Adresse nicht parat, und als wir uns besser kennen lernten, schämte ich mich für meine genaue Adresse ein bisschen.

«Ich wohne vorübergehend bei einer Freundin, bis ich was Eigenes habe.» Damit hatte er sich zufrieden gegeben. Dass es sich bei der Freundin um einen untersetzten und massiv neurotisch veranlagten halbtürkischen Homosexuellen handelt, hatte ich vorsichtshalber verschwiegen. Auch hatte ich nicht erwähnt, dass ich nur sechshundert Meter Luftlinie von Martins Dachgeschosswohnung entfernt lebe, aber dennoch in einer anderen Welt, nämlich auf achtzehn Quadratmetern, im ersten Stock. Mein Zimmer ist das nach vorne raus, mit Doppelverglasung und Aussicht auf die zwei Busspuren und die Aral-Tankstelle gegenüber.

Warum den Mann, den man liebt, gleich zu Anfang überfordern? Man erzählt ja auch nicht beim ersten Date, dass man einen eingewachsenen Zehennagel hat, vier Jahre vergebliche Therapieerfahrung und einen Vetter, der bei Jeanette Biedermann Schlagzeuger ist. Solcherlei die knospende Beziehung unnötig belastenden Informationen muss man behutsam dosieren. Außerdem hege ich die heftige Hoffnung, dass meine Geheimniskrämerei in absehbarer Zeit von ganz allein unnötig werden wird.

Nicht, dass ich diese Hoffnung zu diesem Zeitpunkt irgendeinem Menschen gegenüber laut ausgesprochen hätte, aber für mich stellen sich die Tatsachen derzeit folgendermaßen dar: Unsere Liebe ist groß und seine Wohnung auch, und in den letzten zwei Wochen war ich sowieso kaum in meinem eigenen Zimmer. Natürlich habe ich gelesen, dass man eine junge Beziehung nicht mit zu hohen Erwartungen überfrachten soll. Aber was soll ich machen? Soll ich die Lässige spielen, die an ihrer Unabhängigkeit und ihrem Beruf hängt? Die die ganze Sache lieber langsam angehen lassen und sich zunächst allein durchschlagen möchte? Soll ich, wenn er mir anbietet, bei ihm einzuziehen, sagen: «Danke, Liebling, aber ich will mich nicht ins gemachte Nest setzen»?

Verdammt, was ist so schlimm an gemachten Nestern? Warum darf man es nicht gut haben, ohne dass man es vorher schlecht hatte? Ich habe keine Lust auf Umwege. Warum achtzehn Stunden Wehen aushalten, wenn mit einem Kaiserschnitt alles in dreißig Minuten erledigt ist? Ist doch wahr. Mich hat der Blitz getroffen. Ich will alles überstürzen. Ich will unvernünftig sein. Ehrlich, ich würde nichts lieber tun als auf dieser Dachterrasse bis an mein Lebensende Solitärpfanzen in Terrakottagefäße topfen und umschulen von Reisebürokauffrau auf Spätgebärende.

Ich schaue nochmal in die Weite mit einem Blick, wie ich ihn von den Hauptdarstellerinnen aus ZDF-Filmen kenne, die ‹Wagnis des Begehrens› oder ‹Sommerliebe an der Küste Cornwalls› heißen, und nehme mein Tagebuch vom Tisch. Eigentlich könnte ich die Zeit nutzen, um ein paar Zeilen zu schreiben. Ich habe früher nie Tagebuch geführt. Ehrlich gesagt, habe ich die Tagebuchschreiberinnen aus meiner Klasse sogar verachtet. Vielleicht, denke ich heute, habe ich sie auch beneidet, weil sie ganz anders waren als ich. Ich wollte im Grunde genommen nämlich auch ganz gerne ganz anders sein als ich.

Tagebuchmädchen, das waren die, die geflochtene Zöpfe und Kniestrümpfe trugen, die Glanzbilder auf dem Pausenhof tauschten, erröteten, wenn eine Lehrerin sie direkt ansprach, und sich ihre Poesiealben untereinander ausliehen, in die sie dann reinschrieben:

«Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein,

und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.»

Ein einziges Mal war auch mir ein Poesiealbum ausgehändigt worden. «Könntest du mir übers Wochenende was reinschreiben?», bat mich schüchtern Monika Gassmann aus der Parallelklasse. Ich fühlte mich wahnsinnig geehrt, gab mir entsprechend Mühe und malte auf mehreren Doppelseiten das, was mich gerade am meisten beschäftigte. Was da wohl etwas unglückselig zusammentraf, war meine mangelnde zeichnerische Begabung und mein damaliges Interesse für Asseln, Milben, Zecken – nun, Ungeziefer im Allgemeinen eben. Ich besaß etliche Bildbände, die mir als Zeichenvorlage dienten.

Danach hat mir niemals wieder jemand sein Poesiealbum gegeben, und ich beschloss, Mädchen doof zu finden. Und jetzt bin ich selbst ein Mädchen mit Tagebuch. Martin hat es mir gleich bei unserer zweiten Verabredung geschenkt. «Damit du die unvergessliche Zeit, die du hoffentlich vor dir hast, auch wirklich nie vergisst.» Ich hatte versucht, ihn irgendwie viel sagend anzuschauen, und mich gleichzeitig gefragt, worauf er wohl anspielte. Würde die nächste Zeit unvergesslich werden, weil ich gerade zum ersten Mal in meinem Leben in eine Großstadt gezogen war? Oder weil Martin und ich sie zusammen verbringen würden? Weil wir als Paar glücklich bis ans Ende unserer Tage sein würden?

Man erkennt hier deutlich, dass mich der gesunde Menschenverstand bereits vor dem ersten Kuss verlassen hatte. In jedem Fall erschien mir Martins Geschenk als deutlicher Hinweis auf seine ebenfalls in Wallung geratenen Emotionen. Ich nahm es dankbar an und verdrängte meine uralte Antipathie gegen Tagebücher sofort und vollständig. Ich hätte mit Martin Glanzbilder getauscht, wenn er es von mir verlangt hätte.

Es hat mich voll erwischt. Und das, obwohl ich ausnahmsweise mal nicht auf der Suche gewesen bin und mir glaubhaft eingeredet habe, dass ich noch nicht wieder bereit sei für eine neue feste Beziehung. Das jedenfalls hatte ich vor nicht allzu langer Zeit dem letzten Mann zu verstehen gegeben, von dem ich mich nach einer unerquicklichen Kurzbeziehung getrennt hatte.

Aber jetzt mal ganz ehrlich, wer glaubt eigentlich den Quatsch von wegen «Ich bin noch nicht bereit für eine neue feste Beziehung»? Der erste Kerl, der mich mit diesem Satz abserviert hat, war siebzehn und hatte meines Wissens nach vorher noch nie eine Beziehung gehabt. Der zweite, der mir mit dieser fadenscheinigen Begründung ankam, war erstaunlicherweise achtundvierzig Stunden später von seinen Bedenken geheilt und ließ sich auf eine sehr neue und sehr feste Beziehung mit Melanie K. ein.

Warum sind Männer in dieser Hinsicht nicht ehrlich? Warum sagen sie uns nicht, was sie wirklich stört? Warum sagen sie: «Es liegt nicht an dir», wenn sie in Wahrheit denken: «Deine gnubbeligen Knie kann ich nicht ansehen, ohne an den deformierten Schädel des Elefantenmenschen zu denken!» Na gut, vielleicht muss man es nicht ganz so roh ausdrücken und es schonender formulieren. Man könnte zum Beispiel sagen: «Ich bin einfach noch nicht bereit für eine neue feste Beziehung.»

Im Prinzip ist es natürlich trotzdem unfair, wenn dir nie jemand die Wahrheit sagt und dich dadurch der Möglichkeit beraubt, dich zu verändern. Oder zumindest über eine Veränderung nachzudenken. Ständig erklären einem die Männer, es läge nicht an einem. Du wunderst dich dein Leben lang, warum einer nach dem anderen Reißaus nimmt, und auf dem Sterbebett beichtet dir der Geistliche, dass du echt immer ganz fiesen Mundgeruch hattest. Nur mal jetzt so als krasses Beispiel, um deutlich zu machen, was ich meine.

Ach, wie ist das herrlich, über blöde, gemeine, unehrliche Männer nachzudenken, die einem das Leben schwer machen entweder durch ihre Anwesenheit oder aber, nicht weniger quälend, durch ihre Abwesenheit. Jetzt, wo ich keine Probleme mehr habe, liebe ich es, über die Probleme nachzudenken, die ich mal hatte. Das ist wie zu groß gewordene Hosen anprobieren: ein erhebendes Gefühl.

Wobei, ich will meinem bisherigen Leben gegenüber nicht ungerecht sein. Es ist nicht so, als hätte ich immer nur Pech gehabt. Zum Beispiel meine Beziehung mit Toni, die war leidenschaftlich und dennoch harmonisch. Jedenfalls für ein paar Tage. Bis mir klar wurde, dass ich es mit einem abnorm eifersüchtigen Menschen zu tun hatte.

Vorher hatte ich männliche Eifersucht selten erlebt, und wenn, dann als schmeichelhaft empfunden. Wie erhebend, dass sich da jemand vorstellen konnte, dass ich auch noch woanders Chancen hatte! Ich änderte meine Meinung, als Toni meine neuen Holzclogs in seiner Sitzbadewanne verbrannte, weil seiner Meinung nach der Verkäufer im Bioladen versucht hatte, bei der Übergabe des Zwölfkornmüslis meine Hand unsittlich zu berühren.

Zwei Monate lang ertrug ich haltlose Vorwürfe und Unterstellungen, ließ mich beschatten und kontrollieren. Dann platzte mir der Kragen, und ich dachte: «Wenn ich sowieso wie eine Betrügerin behandelt werde, wäre es rational betrachtet sinnvoller, auch eine zu sein.» Und, so bezähmte ich mein schlechtes Gewissen, schließlich war es ja Toni selbst gewesen, der mich auf den Bioladen-Verkäufer aufmerksam gemacht hatte.

Drei Wochen später war ich wieder allein stehend, dafür aber ausgestattet mit profunden Kenntnissen über die Zubereitung von Tofu und Dinkel.

 

Ich betrachte immer noch völlig entrückt mein wunderschönes, in rotes Leder gebundenes Tagebuch. Was schreibe ich denn mal? Ich könnte ein Liste machen mit Sachen, die ich dringend an mir ändern muss. Ich könnte aber auch die Liste nochmal durchgehen, die ich letzte Woche geschrieben habe, auch mit Sachen, die ich dringend an mir ändern musste. Mal sehen, der erste Punkt war: «Regelmäßig mindestens dreimal die Woche Sport mit Pulsfrequenz nicht über 135.» Nun, dazu war ich irgendwie noch nicht so richtig gekommen. Zählt Sex eigentlich als Sport, und wenn ja, wie ermittelt man dabei möglichst unauffällig die aktuelle Pulsfrequenz? Ein interessanter Gedanke. Ich schreibe in Schönschrift:

30. APRIL

Zeit: zwanzig Uhr dreißig

Ort: Dachterrasse

Stimmung: Ab morgen ist Wonnemonat Mai und ich bin mit dabai! (hi, hi, hi, neige zu Albernheit in meiner Verfassung)

Weitere Aussichten: ewige Liebe in der Endetage plus Idealgewicht, außer während der Schwangerschaften

Liebes Tagebuch!!!

Am liebsten würde ich es jedem erzählen, dem Metzger, dem Busfahrer, arglosen Passanten, den Kolleginnen im Büro. Besonders der fiesen Heike, die mich so von oben herab behandelt. Ich freue mich auf den Tag, an dem Martin mich von der Arbeit abholen wird, mit diesem großen, dunklen Auto, das aussieht, als sei es ausschließlich gebaut worden, um Diplomaten und Regenten darin zu befördern. Dann werde ich sagen: «Weißt du, Heike, mein Freund ist Geschäftsmann. Er findet es zwar überflüssig, dass ich arbeite, aber solange es Spaß macht, sage ich immer, ist das doch wie ein bezahltes Hobby, nicht wahr? Tschüs.»

Aber leider muss ich Martin zuliebe meinen Mitteilungsdrang noch etwas bremsen. Er möchte noch nicht, dass es alle wissen. Das mit uns. Und so habe ich es nur Erdal erzählt und Petra, der ich jeden Tag geistesumnachtete Mails und mehr oder weniger aussagekräftige Digitalfotos nach Goa schicke, die ihr von den winzigsten, in meinen Augen aber dennoch irrsinnig interessanten Details unserer Liebe berichten sollen. «Er muss alle zwei Wochen zum Nachschneiden, weil seine Haare über den Ohren so schnell wachsen», «Er isst gerne Marmeladenbrötchen zum Frühstück» oder «Sein Rasierwasser ist alle» – all das halte ich für absolut mitteilenswert. Hey, ich war zwei Jahre Single. Jedenfalls, wenn man die Kurzzeitbeziehungen nicht mitrechnet. Jetzt bin ich zweiunddreißig und habe den Mann fürs Leben gefunden! Das zu verheimlichen ist, als dürfe man über sechs Richtige plus Zusatzzahl nicht sprechen. Aber Martin will noch eine Weile warten, bis er seinen Freunden und seiner Familie von mir erzählt. Sie würden, meint er, womöglich etwas befremdet sein, weil das mit uns alles so schnell gegangen ist. Besonders seine Mutter sei eine sehr konservative Frau, die er nicht unnötig verstören wolle. Und außerdem sei es doch wunderbar und aufregend und viel intimer, die ersten Wochen nach unserem Kennenlernen nur zu zweit und wie im Geheimen zu verbringen.

Erdal findet das ziemlich komisch. Aber man muss sich vorstellen, habe ich ihm zu erklären versucht, dass diese hanseatischen Kaufmannsfamilien wohl ein ganz anderes Verhältnis zueinander haben als unsereins. Martin zum Beispiel fährt jeden Sonntag zum Kaffeetrinken zu seinen Eltern, und einmal im Jahr macht er mit seiner Mutter eine Woche Urlaub. Trotzdem erzählt er zu Hause so gut wie nichts Persönliches über sich. So sind sie, diese Hanseaten.

Erdal hingegen hält es für krank, interessante Informationen nicht weiterzugeben, egal, an wen. Er ist eben eine richtige Frau.

Ich klappe fröstelnd das Tagebuch zu. Mensch, jetzt wird’s mir aber richtig kalt. Martin braucht ganz schön lange. Aber ich finde es sogar toll, auf ihn zu warten. Ich will gerade aufstehen, um nach unten zu gehen, als mein Handy zweimal piept.

Neue Kurzmitteilung eingegangen. Absender: Amore mobil.

Ich hatte mir diese kleine Sentimentalität beim Speichern von Martins Nummer geleistet. Zum einen ist sein Nachname nicht so schön, und zum anderen war der Speicherplatz für «Amore» schon viel zu lange leer gewesen. Wahrscheinlich steht mein armer Liebster ratlos in der Videothek und weiß nicht, ob in «Natürlich blond 2» genügend Tote mitspielen. Ist der süß, denke ich, und öffne die SMS.

«Was ist denn jetzt los?», schaffe ich gerade noch zu denken. Und dann geht die Welt unter.

«Ob jemand zu Schaden gekommen ist? Das will ich meinen!»

«Ich kann einfach nicht glauben, was du da sagst! Das ist das absolut Entsetzlichste, was ich jemals gehört habe! Bin ich froh, dass mir das nicht passiert ist! Elli, Liebchen, du tust mir so unendlich Leid!»

Selbst in meinem Zustand fällt mir auf, dass die Worte, die mein schwuler Mitbewohner da für mich findet, nicht wirklich trostspendend sind. Es wäre mir lieber, er würde versuchen, die ganze Sache etwas herunterzuspielen, und Dinge sagen wie: «Na, so schlimm ist es nun auch wieder nicht» oder «Warte mal ab, es ist ja noch nicht aller Tage Abend». Oder dass er einen Satz begänne mit: «Also das Positive daran ist ja …» Stattdessen läuft Erdal aufgeregt durch die Küche, rauft sich die Haare und kippt ein Glas Rotwein nach dem anderen runter, ganz so, als habe nicht mich, sondern ihn selbst dieser Schicksalsschlag getroffen.

Seltsamerweise bin ich nicht unglücklich. Das liegt wahrscheinlich am Schock. So wie bei Leuten, die sich aus Versehen irgendwas amputieren, einen Finger oder von mir aus auch gleich den ganzen Arm. Ich habe gelesen, dass diese Unglückseligen zunächst keinen Schmerz empfinden, sondern nur komplett verwundert auf ihre Wunde starren und sich nicht erklären können, wo der betroffene Körperteil eigentlich abgeblieben ist.

So geht es mir. Ich sehe eine Frau mit blutendem Herzen auf einem Klappstuhl sitzen, die nichts fühlt – außer Unverständnis und Mitleid mit ihrem Mitbewohner, der sich gerade ein halbes Fläschchen Baldrian forte in den Wein kippt, um seine Nerven zu beruhigen.

«Elli, bitte, du darfst dich jetzt nicht aufregen. Du musst cool bleiben. Lass uns alles nochmal ganz in Ruhe durchsprechen.»

Erdal lässt sich schwer atmend auf den zweiten Klappstuhl fallen. Mir fällt auf, dass ich ihn mir noch nie richtig aufmerksam angeschaut habe. Na ja, nach meinem Einzug haben wir uns auch nicht häufig gesehen. Bin ja ständig unterwegs gewesen mit … mit – ach, nicht daran denken.

Erdal Küppers hatte ein Zimmer über die Mitwohnzentrale angeboten, für mich gerade zur rechten Zeit. Die Zentrale von «Erdmann-Reisen», dem Reiseveranstalter, bei dem ich arbeite, hatte eine Rundmail an alle Filialen in Deutschland geschickt, ob jemand kurzfristig in Hamburg einspringen könne, zunächst für vier Wochen, mit Option auf Verlängerung.

Von meinem Chef genervt, hatte ich mich in einem Anflug von Tollkühnheit gemeldet und war drei Wochen später bei Erdal in ein seltsam möbliertes Zimmer gezogen. Bis heute habe ich nicht genau kapiert, was Erdal eigentlich beruflich macht. «Dies und das», hat er mir wenig hilfreich erklärt. Jedenfalls steht er nie vor halb elf auf, und was immer er dann tut, so richtig viel kann er damit nicht verdienen, sonst müsste er wohl kaum für zweihundert Euro ein Zimmer untervermieten.

So wie die Dinge jetzt liegen, werde ich wohl sehr bald wieder ausziehen.

«Ich gehe zurück nach Hause, Erdal. Ich brauche meine gewohnte Umgebung. Sonst halte ich das nicht aus.»

«Woher kommst du eigentlich?»

«Aus Hiltrup.»

«Das liegt da ganz hinten an der polnischen Grenze, oder?»

«Nein, im Münsterland.»

«Ach so. Also weißt du, ich an deiner Stelle würde nicht so schnell aufgeben.»

«Was meinst du denn damit? Du hast doch als Erstes Rotwein und Baldriantropfen in dich reingeschüttet, als ich’s dir erzählt habe. Nimm’s mir nicht übel, aber deine Reaktion hat mich nicht gerade aufgebaut.»

«Das tut mir Leid, wirklich. Ich steigere mich immer gleich in alles so rein. Ich kann nichts dafür. Deswegen musste ich auch deinem Vorgänger kündigen. Ehrlich, ich ziehe nie wieder mit einem Schwulen zusammen. Der hat sich die Schamhaare in der Küche rasiert! Darüber habe ich mich so aufgeregt, dass ich einen Asthmaanfall hatte und den Notarzt rufen musste. Mit dem gehe ich übrigens noch manchmal ins Bett. Aber egal. Elli, bitte, du bist nicht in der Verfassung, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Erzähl mir bitte erst alle Einzelheiten und ohne ständig ‹Dieses miese Schwein!› dazwischenzurufen. Ich habe nur die Hälfte kapiert. Wer ist zum Beispiel Stumpi? Was hat es mit der Unkrautharke auf sich? Und ist eigentlich jemand zu Schaden gekommen?»

«Ob jemand zu Schaden gekommen ist? Das will ich meinen!»

Ich versuche, mich zu beruhigen und auf die Ereignisse der letzten beiden Stunden zu konzentrieren.

 

Ich saß glücklich auf der Dachterrasse, als ich eine SMS von Martin bekam. Ich glotzte völlig verwirrt auf den Text. Gesendet am 30. April um 22.23 Uhr von Amore mobil: «bringe jmd. mit. geschäftl. wichtig. bleib auf terrasse. hole dich, wenn fertig. bitte!»

Komische Nachricht. Offensichtlich in großer Eile und einem leichten Anflug von Panik geschrieben. Ich hatte schlimmste Befürchtungen. Was waren das für Geschäfte? Warum sollte ich mich auf der Dachterrasse verstecken? War Martin in irgendwelche schmutzigen Machenschaften verwickelt? Wurde er vielleicht erpresst? Schutzgeld? Die Toiletten-Mafia?

Mir wurde auf einmal richtig kalt, und ich sah mich nach einer Waffe um. Ich fand eine winzige Unkrautharke und stellte mich ganz dicht ans Geländer. Martin würde seinen ungebetenen Besuch bestimmt ins Wohnzimmer führen, und da die Fenster offen standen, konnte ich vielleicht von hier oben die Unterhaltung mitverfolgen, um Martin zu Hilfe zu eilen, sollte das notwendig werden. Gerade versuchte ich mich an den Hodenquetschgriff zu erinnern, den ich vor vielen Jahren mal in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte, als ich hörte, wie sich die Wohnungstür öffnete.

Dann eine schrille Stimme. Die Killerin war eine Frau! Na toll, da würde ein Hodenquetschgriff ja nicht viel ausrichten. Auf eine weibliche Gegnerin hatte man mich in dem Kurs nicht vorbereitet. Ich lehnte mich möglichst weit über das Geländer. Sehen konnte ich niemanden, aber von der Unterhaltung hörte ich jedes Wort:

«Wo ist sie? Nun sag’s mir schon. Ich sehe doch, dass du Besuch hast!»

Allmächtiger, die beiden Gläser auf dem Wohnzimmertisch! Ich befand mich in akuter Gefahr!

«Jetzt führ dich doch nicht so auf. Und sprich vor allem leiser. Mein Vater war eben hier, um mit mir über die neue Kampagne zu sprechen, und ich nehme nicht an, dass er neuerdings auch auf deiner Fahndungsliste steht, oder?»

Fahndungsliste? Oh, das klang blutig! Aber Martin hatte mich gerettet, mich verleugnet, um mich zu beschützen. Also nahm ich mir vor, wenn wir beide hier heil rauskommen würden, würde ich ihm gleich morgen einen Heiratsantrag machen. Was für ein mutiger Mann!

«Haha, verarschen kann ich mich allein. Wahrscheinlich steht sie jetzt auf der Dachterrasse und lacht sich kaputt.»

Hargh! Mir gefror das Blut in den Adern. Mit der Dachterrasse hatte das gefährliche Killerweib da unten natürlich Recht, aber von Kaputtlachen konnte keine Rede sein. Was, wenn sie hochkommt und mich hier findet, frierend und mit nichts als einer Unkrautharke bewaffnet?

«Auf der Dachterrasse? Astrid, ich bitte dich, du machst dich ja lächerlich. Schau doch einfach selbst nach, wenn du mir nicht traust.»

«Sehr witzig, du blöder Arsch. Du weißt genau, dass ich Höhenangst habe, oder hast du das schon vergessen? Du scheinst sowieso ziemlich gut zu sein im Vergessen.»

«Astrid, müssen wir uns das wirklich antun? Du wolltest doch die ganze Sache beenden, und jetzt tauchst du hier auf und tust so, als sei nichts geschehen.»

So langsam bekam ich meine Zweifel, dass es sich hier tatsächlich um eine geschäftliche Auseinandersetzung handelte. Ich hatte Angst vor dem, was ich da möglicherweise mitbekommen würde. Einen kurzen Moment dachte ich, es wäre vielleicht klüger wegzuhören, weil sich mein Leben sonst in einer mir nicht besonders angenehmen Art verändern würde. Aber da lehnte ich mich bereits noch weiter vor, um auch nur ja kein Wort zu verpassen. Wie eigentlich meistens bei mir siegte die Neugier über die Vernunft mit K.o. in der ersten Runde.

Die Stimme der Frau namens Astrid hatte jetzt den Ton einer über Kopfsteinpflaster scheppernden Blechbüchse.

«Ich habe gar nichts beendet! Alles, was ich gesagt habe, war, dass ich ein wenig Abstand bräuchte, um mir über meine Gefühle klar zu werden. Das ist doch wohl verständlich. Was erwartest du denn? In vier Wochen, am Tag nach dem Wolkenball, willst du bekannt geben, dass du nach Bielefeld gehst, um dort ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Und dass ich mitkomme, setzt du einfach voraus? Du spinnst doch! Und dann erlaube ich mir, zwei Wochen drüber nachzudenken, und schwups, hat Herr Martin Gülpen schon vergessen, dass er eine Verlobte hat. Du bist ein echtes Schwein!»

Wolkenball? Bielefeld? Verlobte? Ich starrte eindringlich die Unkrautharke an, als könne sie in meinen verworrenen Gedanken Ordnung schaffen.

Martins Stimme war schwerer zu verstehen. Er sprach leise und eindringlich, als würde er versuchen, eine Kuh mit Koliken zu beruhigen.

«Ich hatte den Eindruck, du hättest deine Entscheidung getroffen. Und zwar gegen Bielefeld und gegen uns. Und das habe ich akzeptiert.»

«Das hast du akzeptiert? Na bravo, Mister Obertolerant! Ich will aber nicht, dass du meine Entscheidung akzeptierst. Ich will, dass du mich überredest. Mich bekniest. Mich anflehst, mit dir zu kommen. Kapierst du das nicht? Das Letzte, was ich will, ist, dass meine Entscheidungen von dir akzeptiert werden, du blöder Idiot! Wenn du akzeptierst, dass ich nicht mit nach Bielefeld komme, liebst du mich auch nicht richtig!»

«Astrid, deine verquere Art zu denken, versteht doch kein Mensch!»

Nun, ich hegte wirklich keine großen Sympathien für Astrid mit der Blechbüchsenstimme, aber ich fand ihre Argumentation eigentlich in allen Punkten logisch und nachvollziehbar. Auch ich habe es stets als außerordentlich beleidigend empfunden, wenn meine Entscheidungen ohne Widerrede akzeptiert wurden.

Man bekommt bei Männern manchmal das Gefühl, sie stimmen einem nur zu, um ihre Ruhe zu haben. Da ist es ganz egal, ob du zum Abschluss einer mehrstündigen Beziehungsdiskussion sagst: «Meinst du nicht auch, wir sollten uns lieber trennen?» oder «Meinst du nicht auch, wir sollten morgen heiraten?» Die Antwort ist in jedem Fall: «Mmmh, von mir aus.»

Ich will gar nicht daran denken, wie viele der derzeit lebenden Männer Singles sind, bloß weil sie im entscheidenden Moment zu faul waren, ein Widerwort zu geben, und wie viele derzeit verheiratet sind, einzig aus dem Grund, weil sie mechanisch genickt haben.

Mir schien, dass Blechbüchse Astrid ähnliche Ansichten vertrat und über Martins Antwort richtig sauer war, denn jetzt klang es ganz so, als habe sie das Tablett mit den geschliffenen Karaffen auf den Parkettboden geschmissen, höchstwahrscheinlich nicht aus Versehen.

«Astrid, wenn ich eins hasse, dann Gefühlsausbrüche, bei denen auch noch was kaputtgeht. Erinnere dich bitte, dass dir deine Haftpflichtversicherung bereits mit Kündigung gedroht hat. Lass uns wie Erwachsene darüber reden.»

Astrid stieß ein hysterisches Lachen aus. Das wäre auch meine Reaktion gewesen. Dass ich nicht lache: wie Erwachsene darüber reden! Das ist der Satz, den ich mehr als alles andere auf der Welt hasse. Männer benutzen ihn gerne dann, wenn Frauen Gefühle zeigen. Negative Gefühle, versteht sich. Komischerweise pocht kein Mann jemals aufs Erwachsensein, wenn man ihm von Liebe überwältigt ins Öhrchen raunt, wie supersexy er sei. Nein, gegen diese Sorte Emotionen haben sie nichts. Unerwachsen finden sie nur die Gefühle, mit denen du ihnen auf die Nerven gehst. Ganz plötzlich ist Sachlichkeit ein hohes Gut, wenn du ihn nicht impulsiv anbetest, sondern impulsiv kritisierst. Das ist ungerecht und unmöglich, denn mir ist keine Frau bekannt, die in der Lage ist, ihm vor Liebesglück im Supermarkt an der Käsetheke stöhnend den Hintern zu kneten und wenig später bei einer Auseinandersetzung zu sagen: «Mein Lieber, ich schlage vor, diese Angelegenheit völlig frei von Emotionen zu diskutieren.»

Ich horchte angestrengt ins Wohnzimmer hinunter, um nichts von Astrids Reaktion zu verpassen. Seltsam, aber ich hatte in dem Moment noch gar nicht das Gefühl, dass das, was da einen Stock unter mir geschah, etwas mit mir zu tun hatte. Ich lauschte den beiden so gespannt wie einem Kriminalhörspiel, bei dem du nicht weißt, wer als Nächstes umgebracht wird. Mehrere Minuten hörte ich nur lautes Schluchzen, begleitet von beschwichtigendem Gebrummel. Ich war wirklich in Gefahr abzustürzen, so weit wie ich mich über das Geländer beugte. Dann wurden die Stimmen wieder lauter.

«Und da ist wirklich niemand auf der Dachterrasse?»

«Stumpi, was für ein Unsinn, natürlich ist da niemand.»

«Was meinst du, soll ich heute Nacht hier bleiben?»

Ich sah mich auf der Terrasse übernachten. Hatte er sie tatsächlich «Stumpi» genannt? Meine Güte, die beiden mussten sich wirklich schon länger kennen. In was war ich da nur reingeraten? Bis vor drei Wochen war ich noch eine durchschnittlich unglückliche Single-Frau aus Hiltrup im Münsterland, und jetzt war ich eine überdurchschnittlich unglückliche Frau auf einer Dachterrasse in Hamburg, deren Freund sich gerade ein Stockwerk tiefer mit seiner Verlobten zankte.

Bei billigen Komödien im Fernsehen habe ich mich oft gefragt, wie sich eigentlich derjenige fühlt, der sich im Schrank verstecken muss. Was geht in dem armen Deppen vor, der verheimlicht wird? Und wer war eigentlich in diesem Schauspiel die Betrogenere? Astrid, die nicht weiß, dass sie betrogen wird? Die nicht weiß, dass Elisabeth Dückers, 32, Reisebürokauffrau und frisch und sehr verliebt in Martin G. Gülpen, 42, Juniorchef eines Hamburger Sanitärgroßhandels, auf der Dachterrasse überm Geländer hängt und jedes Wort hören kann? Oder war Elli Dückers die Doofe, die versteckt wird von ihrem Geliebten, von dem sie nicht wusste, dass er verlobt ist? Die von einem Happy End träumte, während eine andere bereits an der Gravur für den Ehering feilte?

Nun, wie ich die Sache auch drehte und wendete, es fiel mir zunehmend schwer, mich als eindeutige Siegerin zu fühlen. Es gab nur eine Chance, das Ruder rumzureißen und noch dazu einen schweren grippalen Infekt zu vermeiden: Ich musste da sofort runtergehen, noch viel mehr und viel wertvollere Sachen kaputtmachen als die scheppernde Astrid, genannt Stumpi. Dann etwas total Cooles sagen und anschließend würdevoll und ohne einen Blick zurück die Szenerie verlassen.

 

«Großartig! Und hast du das auch gemacht?»

Ich zucke zusammen. Ich habe Erdal ganz vergessen. Er hat bereits die zweite Tüte Nervennahrung geöffnet, Chio Chips nach texanischer Art. Für alle Fälle hält er bereits sein Asthmaspray bereit.

«Ob ich das gemacht habe? Natürlich nicht. Ich bin nicht geschaffen für große Auftritte. Die imposanteste Szene, die ich je jemandem gemacht habe, war, als ich meiner Schwester vorsichtig vorschlug, sie möge endlich aufhören, meine Zahnbürste zu benutzen, um ihre von Tusche verklebten Wimpern auseinander zu kriegen.»

Erdal erbleicht. Er ist etwas eigen mit allem, was mit Hygiene zu tun hat, insbesondere mit Hygiene im Nassbereich. Erdal ist meines Wissens nach die einzige Privatperson mit einem sich selbst nach jedem Toilettengang desinfizierenden Klo.

Er sieht lustig aus, denke ich, als ob es in diesem Moment nichts Wichtigeres zu denken gäbe.

Ich hatte mir Erdal Küppers noch nie richtig angeschaut. Schließlich war er schwul und ich bis gerade eben so schwer wie frisch verliebt. Erdal sieht mit seinem schwarzen Haar und dem ständigen Bartschatten total türkisch aus. Er ist nicht groß, dafür aber sehr breit und, nun ja, ein wenig beleibt, was die Körpermitte angeht. Würde ich ihn nicht kennen, würde er mir wahrscheinlich Angst einjagen, allerdings nur so lange, bis ich seine Stimme gehört hätte. Erdal hat die totale Kinderstimme, hoch und zart und dünn, ein geradezu absurder Kontrast zu seinem Aussehen. Als er zum ersten Mal was zu mir sagte, dachte ich, er will mich auf den Arm nehmen. Ich bin heute noch froh, dass ich ihn nicht gebeten habe, endlich mit dem Quatsch aufzuhören und normal mit mir zu sprechen. Wahrscheinlich hätte ich das Zimmer dann nicht bekommen, weil Erdal so empfindlich und schnell beleidigt ist. Man glaubt, den Kerl könne nichts umhauen, aber ich weiß, dass er sich vor Kummer betrunken hat, als sich die «No Angels» trennten.

Ich mag ihn, denke ich. Er könnte eine gute Freundin werden. Er schaut mich an wie einen Thriller, der gerade in die blutigste Phase kommt.

«Nein», sage ich kleinlaut, «ich habe keine Szene gemacht. Ich habe still und verzweifelt abgewartet, bis Astrid endlich abgehauen ist.»

«Oh.»

Erdal versucht, seine Enttäuschung nicht zu zeigen – was ihm überhaupt nicht gelingt.

«Ach, mach dir nichts daraus, als ich Max nach zwei Monaten mit einem anderen Kerl unter der Dusche erwischt habe, wollte ich auch meinem zweiten Impuls folgen und das Badezimmer zu Kleinholz machen.»

«Und?»

«Ich bin dann doch meinem ersten Impuls gefolgt und weinend vor dem Waschbecken zusammengebrochen. Die beiden haben mich dann eine Stunde lang beruhigt und getröstet. Aber sag, musstest du auf der Dachterrasse übernachten?»

«Martin hat dieser Astrid die gemeinsame Nacht ausreden können. Die beiden haben sich wohl versöhnt. Zum Abschied sagte sie: ‹Bis morgen. Ich schau dann am Nachmittag mal vorbei.›»