Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-12166-1
ISBN E-Book 978-3-688-11713-0
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11713-0
Die One-man-Band von der Vierzehnten Straße hatte keine Beine. Wo seine Knie hätten sein sollen, waren zwei Lederpolster, die es ihm ermöglichten, sich auf seinen Stümpfen in kleinen, langsamen Schritten vorwärts zu bewegen. Um den Hals hing ihm eine Baßtrommel, die er mit einem Stock schlug, den er in der rechten Hand hielt. In der linken Hand hatte er einen Flaschenkürbis voller Kerne, den er im Rhythmus seines stetigen Trommelschlags schüttelte.
Oben auf seine Trommel war ein Becken montiert, das durch ein System von an seinem linken Stumpf befestigten Hebeln bedient wurde, so daß die Beckenhälften sich automatisch auseinanderbewegten und mit regelmäßigem Scheppern wieder aufeinanderschlugen, wenn er sich fortbewegte. Während er ging und spielte, sang er den Text eines immer gleichen Liedes:
Long way ’cross town
Sein schwarzes Gesicht war, während er sich seinen Weg durch das Gedränge der Passanten bahnte, vom vielen Lächeln verzerrt. Seine Nähe zum Boden ließ große Stabilität vermuten – wie bei einem im Fuß beschwerten Plastikclown, der, ganz gleich, wie fest er angestoßen wird, stets in die aufrechte Position zurückwackelt. Er machte nie Halt, außer an roten Ampeln, und in solchen Wartepausen schwoll seine Musik zu größerer Lautstärke an:
Bumm! Klirr! Schika-schika
Long way ’cross town
Bumm! Klirr! Schika-schika
Uptown war ein anderer Schwarzer mit der gleichen Amputation und der gleichen Berufung auf einer ähnlichen musikalischen Pilgerreise. Seine Stümpfe ruhten in einer auf Brettern montierten und von Rollschuh-Rädern getragenen Apfelsinenkiste. Oben auf der Apfelsinenkiste, in Reichweite seiner Lippen, war eine Spielzeugtrompete befestigt. Mit der rechten Hand spielte er auf einem Spielzeugklavier, das in der Kiste zwischen seinen Stümpfen stand. Die linke Hand schlug eine Spielzeugtrommel, die am Rand der Kiste befestigt war. Er stieß sich selbst vorwärts, oder er ließ sich schieben, und vorn an seinem tiefliegenden Fahrzeug wehte eine amerikanische Flagge.
Er fuhr den ganzen Morgen, und er fuhr so weit downtown, wie das Schicksal ihn trug, Treibgut im Strom des Broadway, während er sein eigenes endloses Lied sang:
Columbus the Jim of the Ocean
Zwei Kids aus der Hell’s Kitchen, die sich am Times Square herumtrieben, beschlossen, eine Tournee mit ihm zu veranstalten. Sie schoben ihn weit downtown, über die Zweiundvierzigste hinweg und weiter durch die Dreißiger, die Zwanziger, durch Chelsea bis in die Zehner hinab.
Passanten an der Ecke Vierzehnte Straße und 7th Avenue konnten durch die stinkende Hitze des Sommertages und über den Verkehrslärm hinweg sonderbare und unterschiedliche Melodien näher kommen hören:
Bumm! Klirr! Schika-schika
Long way ’cross town
Schika-schika
Fraaaaak! Plinka-plinka
Columbus the Jim of the Ocean
Plinka-plinka, fraaaaak!
Die 7th Avenue entlang kam der Orangenkistenmann, er schüttelte den Kopf, klimperte auf dem Spielzeugklavier und blies auf der Spielzeugtrompete. Über die 7th Avenue kam mühsam humpelnd die One-man-Band von der Vierzehnten Straße und schlug dabei kräftig die Trommel. Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Im gleichen Augenblick verstummte ihre Musik. Trotz des Lärms von Bussen, Lastwagen und Taxis schien eine sonderbare Stille über der Kreuzung zu liegen. Der Chef der One-man-Band warf den Trommelstock beiseite, und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, und damit auch das wilde, fast irrsinnige Selbstvertrauen, das man stets in seinen Augen sah, wenn er auf seinen Stümpfen durch die Stadt marschierte.
Der Orangenkistenmann lehnte sich vor und linste über die Straße. Auch aus seinem Gesicht war das kraftvolle Grinsen gewichen, für das er auf dem oberen wie dem unteren Broadway bekannt war, und selbst auf die Kids aus der Hell’s Kitchen schien sein plötzlicher Schreck überzuspringen, denn sie standen reglos da, wie in einem Traum erstarrte Figuren.
Die Passanten, die Autos bewegten sich im Rhythmus der umspringenden Ampeln, doch die beiden Amputierten rührten sich nicht. Beide starrten sie auf ein Spiegelbild ihrer selbst – auf einen amputierten Schwarzen, behängt mit Spielzeuginstrumenten. Vor wenigen Augenblicken noch waren sie Leben und Freude der 7th Avenue und der Vierzehnten Straße gewesen, musikalische Riesen, ihr Lied der vollkommene Ausdruck weiter und treuer Herzen – jetzt waren sie verkrüppelte Bettler, bestürzt und beschämt, und voller Angst, einen Laut von sich zu geben.
Wieder und wieder sprang die Ampel um. Die beinlosen Statuen rührten sich nicht. Ihre trommelnden Lieder waren vergessen, jene Trommeln und Lieder, die irgendwann in der Vergangenheit den Weg zu ihnen gefunden hatten, um sie aus der stagnierenden Düsternis eines Behindertenheimes oder aus einem erdrückenden Zimmer in Manhattan hinauszuführen in die Straßen, Musik klimpernd, mit wehender Fahne, neugeboren!
Jetzt wußten sie nicht weiter. Eine Passantin blieb stehen und fragte die One-man-Band, ob alles in Ordnung sei. Der kleine Kerl sah sie nicht an. Auf der anderen Straßenseite fragten die Hell’s Kitchen-Kids den Orangenkistenmann, wohin er gern fahren würde, doch er antwortete nicht. Wie ein Haifisch aus dem Meer war plötzlich der furchtbare Augenblick der Amputation wieder aufgetaucht. Die ganze schreckliche Wirklichkeit ihres Verlustes bemächtigte sich ihrer, so wie wir uns manchmal an geliebte Menschen erinnern, die wir verloren haben – mit einem Schmerz, der nicht aufhört, uns zu überfluten, wenn wir ihm einen Augenblick zu lange Beachtung schenken. Jetzt schenkten sie ihm Beachtung, jetzt erkannten sie alles klar und deutlich; jetzt, wie schon einmal zuvor, als die Zähne eines abscheulichen Schicksals ihre Beine ergriffen hatten und der Schmerz unerträglich groß war, flüchteten sie sich in die betäubende Isolation.
Im Crosstown-Bus fuhr zu jener Stunde ein geistig zurückgebliebener Bote, klein, unproportioniert, und mitten auf dem Kopf trug er einen Hut, der zwei Nummern zu klein war. Mit den Augen eines Idioten, die die Welt in permanenter Verwunderung betrachteten, als sei sie ein für alle Zeiten fremder Ort, erkannte er seine Haltestelle – 7th Avenue und Vierzehnte Straße.
Er stand auf und ging zur Tür. Als der Bus hielt, stieg er zu den Klängen seiner eigenen Musik aus. Er war ein Pfeifer, doch nicht der gewöhnliche geistesabwesende Straßenpfeifer. Sein Pfeifen war ein kaum wahrnehmbarer Faden, eine unvollständige Tonleiter, die er wieder und wieder pfiff wie der Gehirnentzündungsvogel im Urwald sein Lied, und es war das einzige, was ihn daran hinderte, über den Rand der Welt in eine endlose Nacht zu stürzen.
Seine Lippen waren riesig, schlaff und geschwollen wegen seines stets gespitzten Mundes, und er trat auf den Gehsteig, pfeifend, mitten hinein in das tiefe Schweigen der schwarzen Amputierten. Er sah sich um und pfiff weiter seine eindringliche Symphonie. Die Musik des Abgrunds war ihm wohl vertraut, und er erkannte so klar wie Stokowski, daß die heimliche Antriebskraft des Seins bedroht war, denn zwei der Musiker hatten die Partitur vergessen, und die Partitur zu vergessen, bedeutete, alles an das Chaos zu verlieren. Er trat, genau zwischen den beiden Sängern, auf die 7th Avenue, hob die Hand, als wolle er den Verkehr anhalten, und gab mit unmißverständlicher Autorität den Einsatz.
Die Musik sprang aus ihnen heraus, schoß aus ihren Wesen hervor, genau im rechten Moment, im perfekten Zusammenspiel, untermalt von der Melodie des irren Pfeifers:
Bumm! Fraaaaak! Zwitscher
Long way Columbus
Klirr! Schika-plinka Zwitscher Zwitscher
Cross Jim of the Ocean town Zwitscher
Der verrückte Bote machte sich mit seinem Paket auf den Weg. Die Kids von der Hell’s Kitchen drehten ihren Maestro herum und schoben ihn zurück uptown Richtung Zweiundvierzigste Straße. Die One-man-Band von der Vierzehnten Straße zog weiter und lächelte westwärts Richtung Meer.
«Und hier, Sir, haben wir ein köstliches und, ich darf wohl sagen, traditionelles Exemplar …» Der Verkäufer deutete mit einem Finger auf die dekorative Kugel, die auf einem dunklen Samttuch lag.
Der Sammler lehnte sich auf die Kante des Tresens und betrachtete den wertlosen Nippes. Die handwerkliche Qualität mochte recht gut sein, doch ließ sich das schwer sagen, denn die Oberfläche war übersät von großen schwarzbraunen Flecken, unter denen Rost zu sitzen schien, oder irgendeine andere Form der Korrosion, die im Laufe der Zeit das Innere ruiniert hatte.
«Ich würde sie Ihnen billig lassen», sagte der Verkäufer, als er den skeptischen Blick des Sammlers bemerkte. Die Geschäfte liefen nicht besonders; nur selten kam jemand in den Laden.
«Ist sie –» der Sammler pochte mit seinem Monokel gegen die Kugel und betrachtete sie noch eingehender – «noch verzaubert?»
«Ein gelegentliches Klagen, Sir. Ich bin sicher, Sie kennen das Phänomen.»
«Der wahre Geist, oder lediglich ein Echo?»
Der Verkäufer seufzte. Er durfte kein falsches Bild von dem Stück vermitteln. Natürlich hätte er das gern getan. Er hatte den Verkauf bitter nötig. Aber er konnte es sich nicht leisten, einen guten Kunden zu verprellen. «Ich bedaure, sagen zu müssen, Sir, daß sie einen wahren Geist nicht mehr beherbergt.»
Der Sammler nickte und drehte die Nippeskugel ein wenig mit der Kante seines Monokels.
«Aber –» fuhr der Verkäufer etwas zu beflissen fort – «das Echo ist echt, Sir.»
«Da bin ich sicher», sagte der Sammler mit einem Seitenblick, und in seinen Augen war nur ein kurzes, geringschätziges Flackern zu erkennen.
«Nun ja, Sir», sagte der Verkäufer, um sich gegen den Blick zur Wehr zu setzen, «es gibt sehr geschickte Kopien. Der durchschnittliche Sammler könnte sich hinters Licht führen lassen. Nicht daß Sie, Sir –» er beeilte sich, seine Äußerung zu korrigieren – «ein durchschnittlicher Sammler wären.»
«Bin glücklich, daß Sie so denken.» Der Sammler drehte die Kugel in seinen Händen und untersuchte jene Teile der Oberfläche, denen Alter und schlechte Behandlung nicht zugesetzt hatten. Es war eine Schande, wie manche Stücke verkamen. Aber die Arbeit war echt, er brauchte nicht den Verkäufer, um ihm das zu sagen. Überall an dem Objekt ließen sich kleine Spuren der Echtheit erkennen, auch wenn sie stark überkrustet waren. Unglücklicherweise war es unmöglich, diese verfluchten Dinger zu reinigen, da konnte man tun, was man wollte; wenn die Korrosion einmal begonnen hatte, ließ sie sich nicht mehr rückgängig machen. Manchmal fragte er sich, warum er sich überhaupt mit den Dingern abgab.
Andererseits machte es Spaß, wenn jemand zu Besuch kam, und man konnte ein neues Stück zeigen. Er könnte sie in eine goldene Halterung legen; das würde ihr sehr zum Vorteil gereichen. Oder sie an einer Kette in sein Arbeitszimmer hängen, wo das Licht gewöhnlich so gedämpft war, daß die Mängel der Kugel nicht allzu sehr ins Auge fallen würden.
«Darf ich … bitte, Sir …» Der Verkäufer zog einen Lappen aus seiner Tasche und versuchte, die winzige durchsichtige Stelle auf der Kugel blank zu putzen. Doch als er sie mit dem Tuch berührte, ertönte lang, tief und durchdringend der Klagelaut; ob Echo oder nicht, er drang dem Verkäufer tief in die Seele.
«Das Echo ist noch frisch», sagte der Sammler und lächelte zum erstenmal. «Der Geist kann erst jüngst entschwunden sein.»
«So wurde mir gesagt, Sir.» Der Verkäufer fuhr fort, die eine Stelle der Oberfläche abzustauben, aber er war jetzt zuversichtlicher, denn er hatte das Lächeln gesehen und wußte, daß der Kauf so gut wie getan war. «Das genau sagte der Besitzer des Wohnwagens zu mir, als ich sie ihm abkaufte – der Geist sei erst jüngst entschwunden.»
Der Sammler blinzelte durch sein Monokel und genoß den Augenblick, weil er wußte, daß er das Stück würde haben müssen, denn das Klagen war kraftvoll; in Momenten der Muße würde er ihm lauschen, er würde die Geschichte der Nippeskugel erfahren, wer sie gemacht hatte und wann. Alles das würde noch in dem Echo gegenwärtig sein. Schade, daß der wahre Geist entflohen war – das wäre ein Fund gewesen!
«Nun, ich glaube, ich komme nicht umhin, sie zu nehmen», sagte er. «Meine Frau wird sie natürlich verfluchen.»
«Wegen des Klagens, Sir?»
«Es macht sie wahnsinnig. Jagt ihr eiskalte Schauer über den Rücken.»
«Ich muß zugeben –» Der Verkäufer fuhr fort zu wienern – «auch mir jagt es eiskalte Schauer über den Rücken.»
«Sie verstehen es nicht, auf die richtige Weise zuzuhören», sagte der Sammler. «Sie müssen den oberflächlichen Klang durchdringen und den Spuren ihrer inneren Stimme lauschen.»
«Kein Zweifel, Sir, Sie sind ein Kenner, was diese Dinge angeht.» Der Verkäufer verbarg seine Verachtung hinter einem heiteren Lächeln. Er würde froh sein, wenn das verfluchte Ding endlich aus seinem Laden verschwunden wäre und er das verdammte Klagen nicht mehr zu hören bräuchte.
«Es gibt viel zu lernen, sehr viel», sagte der Sammler und war sich durchaus bewußt, daß er zuviel Erregung verriet, was sich beim Aushandeln des Preises rächen würde, doch in diesem Augenblick kümmerte ihn das nicht. Das Klagen hatte ihn erregt. Diese kleinen Schmuckstücke steckten voller Überraschungen, immer, auch wenn sie schon so alt waren wie dies hier und ihnen von ihrer vergangenen Pracht nichts weiter geblieben war als ein verhallendes Echo.
«Mikroben», sagte er, während er die Kugel noch einmal inspizierte. «Sie verursachen den Verfall, wie es heißt.»
«Das gleiche habe ich auch gehört, Sir. Winzige Organismen, die sich von der Fermentation ernähren.»
«Einstmals», sagte der Sammler und hielt die Kugel empor ans Licht, «war sie nagelneu. Können wir jemals die Schönheit ermessen, die sie einmal in sich geborgen hat? Die Kunstfertigkeit der handwerklichen Arbeit? Hä?»
«Wenn Sie die kleine durchsichtige Stelle genau betrachten, Sir –»
«Guter Mann», sagte der Sammler und überging den Hinweis des Verkäufers, «wenn der Geist, den diese Kugel einmal beherbergt hat, noch in ihr weilte, könnte er uns mehr berichten als nur, wer sie geschaffen hat, und wann …» Er machte eine Pause und seine Augen glänzten im Rausch des Connoisseurs. «Er würde uns in tiefgreifende Erörterungen verwickeln, würde uns etwas über das wunderbare Funktionieren ihrer Mechanismen zuflüstern, würde uns das Geheimnis ihres Baumeisters verraten, er würde uns, mit einem Wort, die Ehre seiner verhexten Gesellschaft erweisen, doch …» Er legte die Kugel zurück auf ihr dunkles Samttuch. «Nunmehr ist sie nichts weiter als ein lebloses Stück Nippes.»
Der Verkäufer verbarg ein spöttisches Naserümpfen hinter seinem Polierlappen. Diese Sammler waren solche aufgeblasenen alten Langweiler; es machte ihn krank, ihrem Geschwätz zuzuhören. «Sie haben mein Ausverkauf-Schild gesehen, Sir. Alle Stücke im Laden zum halben Preis.»
«Ja», sagte der Sammler und bedauerte, daß es ihm nicht gelungen war, in dem Verkäufer wahre Wertschätzung zu wecken. Doch was verstanden diese Händler schon von Feinheiten? Und außerdem, wenn er erst einmal zu Hause war und Besucher kämen, dann würde er ganz auf seine Kosten kommen, dann würde er seinen Spaß haben, bequem zurückgelehnt im Lehnsessel in seinem Arbeitszimmer, bei knisterndem Kaminfeuer, die Nippeskugel an einer passenden Kette im Schatten beim Fenster, vielleicht. «Gut, wieviel verlangen Sie?»
«Wie Sie durch die kleine durchsichtige Stelle erkennen können, Sir, ist das Innere mit Juwelen gefüllt –»
«Aber das ist wahrlich nicht ungewöhnlich –»
«Die Fälschungen sind mit Glas gefüllt –»
Der Sammler rückte seinen Zylinderhut zurecht und schlug den Kragen seiner Pelerine hoch. Die Nippeskugel war in seiner Tasche, und ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. Er hatte hart und geschickt verhandelt.
Der Verkäufer hielt ihm huldvoll die Tür auf, einen verstohlenen Ausdruck von Befriedigung in den Augen. Er hatte für den Nippes das Doppelte seines Wertes bekommen. Diese Sammler von auswärts glauben oft, sie wüßten Bescheid.
«Erinnern Sie sich zufällig», fragte der Sammler und zog die Kugel aus der Tasche, während er hinaus auf die helle Straße trat, «wie der Wohnwagenbesitzer dies Ding genannt hat, als er es Ihnen verkaufte?»
«Ein höchst sonderbarer Name, Sir», antwortete der Verkäufer. «Er nannte es Erde.»
«Erde. Ich verstehe. Sehr schön, guter Mann, ich werde Sie bestimmt wieder aufsuchen.»
«Es wäre mir ein Vergnügen, Sir, jederzeit.»
Der Verkäufer schloß seine Tür und beobachtete durch das Fenster, wie der Sammler über die funkelnde Milchchaussee davonging.
Sie und Mutter sahen hinter den Vorhängen zu, wie der hübsche Fremde und Vater ihre Hochzeit besprachen. Der Fremde bot Geld, doch Vater fand, es sei nicht genug. Dann rauchten sie, und Vater wurde poetisch und nannte sie ein Mondjuwel, und sie fürchtete, die Verhandlung würde nie zum Ende kommen. Sie wünschte sich verzweifelt, es möge anders sein, denn der Fremde sah gut aus, und auch der froschgesichtige Teppichhändler aus dem Dorf bemühte sich um ihre Hand. Nimm mich mit dir fort, flüsterte ihr Herz, und vielleicht spürte der Fremde das zarte Pochen, denn plötzlich verdoppelte er sein Angebot an purem Gold, und Vater willigte ein.
Am Tag ihres Eheschlusses fand im Dorf eine Feier statt. Die Trommeln sangen ihr dumpfes Lied, sie tanzte, die Sonne schien hell. Dann, als der Nachmittag zur Neige ging, nahm er sie mit sich fort, über die Landstraße, in sein eigenes Dorf.
Verwirrt, ängstlich, erfreut, verrückt vor Verlangen, wußte sie, eine Jungfrau, nicht, was sie zu ihm sagen sollte, wenngleich ihre Schenkel durch ihr Gewand seidige Worte sprachen, während sie entflammt die Schotterstraße entlangging.
Die untergehende Sonne tauchte das Gesicht ihres Gatten in tiefes Rot. Seine Augen brannten durch sie hindurch, und auch sie wurde rot, und ihr Bauch schlug Purzelbäume, jung und albern, aber ihre Brüste wippten lieblich, während sie ging, und ihre Hüften waren voll und schwangen, und wie entzückend waren ihre lackierten bloßen Zehen. An ihren Ohren baumelten Ohrringe, und durch ihr Bimmeln hindurch hörte sie in der Ferne den Klang einer Flöte.
«Das ist der Spielmann aus meinem Dorf, der dich willkommen heißt», sagte ihr Gatte.
Sie verfiel in Traurigkeit. Zum Klang fremder Musik, hinein in eine fremde Stadt, läßt Mondjuwel sich führen, und die Kindheit bleibt hinter ihr zurück. Doch das Lied, wie es in der Luft kreiste und tanzte, lockte sie fort, machte sie träumen. Bald würde sie ihr schwarzes Haar öffnen.
Vor sich sah sie die Bäume und Dächer seines Dorfes, und wieder nagte der Zweifel an ihr. Nun hatte sie Angst, ihn anzusehen, und sie zog sich ihren Schleier über den Kopf, um sich zu verbergen, um zu sterben. Wie grausam von Vater, sie preiszugeben, Mondjuwel für zwei Säckchen Gold an diesen Fremden zu verschachern.
«Da sind wir», sagte er und bog in einen schmalen Sandweg.
Am Ende des Weges sah sie ein kleines Haus. Langsam, starr vor Angst, ging sie darauf zu. Immer noch bewahrte sie Würde, die sie, wie ihre Mutter sie gelehrt hatte, niemals preisgeben durfte, wie auch immer die Dinge lagen. Sie ließ nicht die Schultern hängen, sie zitterte nicht, sie wurde nicht ohnmächtig, als sie über die fremde Schwelle in die kühle Düsternis des Wohnzimmers trat. Aus dem Augenwinkel sah sie hinter einer schmalen Tür das aus Rattan geflochtene Fußende eines Bettes.
Ihr Gatte deutete in den Raum, und sie ging mit pochendem Herzen zur Tür.
Dort hing eine grellrote Lampe, und ihre Haut wurde blaß wie ein Mondschatten, als sie durch die Öffnung trat. Mein Gatte ist ein Exot, dachte sie, während sie den verzierten Lampenschirm betrachtete, auf dem ein tausendarmiger Gott sein nacktes purpurhäutiges Weib umschlang. Werde ich souverän sein, oder werde ich schreien? In der roten Liebeshöhle wandte sie sich zu ihm um.
Er wickelte sich den weißen Hochzeitsturban vom Kopf, und dunkles Haar fiel auf seine Schultern. Zärtlichkeit? Oder wird er mich mit blutigem Schwert schänden? Ihr Körper spielte die verschiedenen Möglichkeiten durch, während er das Räucherwerk auf dem winzigen Altar neben dem Bett entzündete.
Sie sah hinab auf ihre Zehen und hätte am liebsten alles andere vor ihm verborgen, wollte aber zugleich enthüllen, was er noch nicht gesehen hatte, wollte dies und wollte jenes, eine erstarrte Flamme an einem purpurroten Ort. Das Fenster war nah, und sie konnte fliehen, doch sehnte sie sich danach, ihn mit der Fülle ihrer Schenkel zu überraschen.
«Setz dich», sagte er. Sie setzte sich auf die Kante des Bettes und ließ ihre Hüften in die weiche Umarmung der Matratze sinken. Ich bin bereit.
Er kniete vor ihr nieder, sah ihr in die Augen. Der Augenblick ist gekommen.
«Ich werde hier unten schlafen», sagte er und streckte sich zu ihren Füßen auf dem Boden aus.
Ich muß aufwachen, dachte sie und versuchte, dem verrückten Traum zu entkommen.
«Vielleicht möchtest du ein Glas Milch und ein Stück geröstetes Brot?» fragte er und stützte sich auf den Ellbogen.
Starr blickte sie auf die gegenüberliegende Wand des Schlafzimmers, während ihr Gatte in die Küche eilte. Nervös öffnete sie das Band in ihrem Haar und ließ ihre langen schwarzen, duftenden und schimmernden Locken herabfallen. Ich bin das Mondjuwel. Warum spricht er von Milch und geröstetem Brot?
«Hier bin ich», sagte er und kam, Milch und geröstetes Brot haltend, auf den Knien zu ihr gekrochen.
Sie nahm den Teller. Er legte sich wieder zu ihren Füßen nieder. «Du brauchst mich nur zu treten, wenn du noch etwas möchtest.»
Ich habe einen Irren geheiratet. Mondjuwel linste über den Rand des Bettes.
Sofort öffneten sich die Augen ihres Gatten. «Möchtest du noch etwas, Vollkommene?»