Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-13368-8
ISBN E-Book 978-3-688-11849-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11849-6
Je näher uns jemand steht,
um so schwieriger scheint es
zu sein, Abschließendes
über ihn zu sagen.
Christa Wolf
Mehrere Jahre habe ich mit Brendel Mendelssohn verbracht, die sich Dorothea nannte und die Frau des Kritikers und Philosophen Friedrich Schlegel war. Immer wieder habe ich versucht, ihr nach-zu-denken, nach-zu-fühlen, ihr Handeln zu verstehen. Ich lernte sie zu lieben, zu bewundern; ich war verärgert und erbost. Dorothea Schlegel löst abwechselnd Bewunderung, Wut und Mitleid aus; nur Gleichgültigkeit läßt sie nicht zu.
Ihre Jugend fällt in eine Zeit, bestimmt von aufeinanderprallenden Widersprüchen und sich entladenden Gegensätzen. Ermuntert von den Philosophen, streckt der Mensch den Rücken, lernt aufrecht gehen, bedient sich seines Verstandes, stürmt die Gefängnisse, um seine Brüder zu befreien, erhebt sich selbst zum Souverän. Doch freigeworden, beugt er bald erneut den Rücken, läßt andere für sich denken, gehorcht und schießt auf seine Brüder.
Dorothea Schlegel erlebte die Französische Revolution und die darauf folgende Reaktion.
Sie ist «mitten durch die Armeen» gereist; Krieg und Besatzung sind ihr nicht erspart geblieben. Befreiung von Napoleon verband sich mit Nationalismus und Völkerhaß. Auch sie haßte die Franzosen und hatte doch gerade erst die Freundschaft und die Liebe neu entdeckt und zusammen mit den Jenaer Romantikern Geselligkeit zur Kunst erhoben. Dorothea Schlegel erlebte Herzenserguß und Pulverdampf, kriegerische Roheit und zärtlichste Empfindung.
Und während Joseph von Eichendorff, ihr junger Freund, «O Täler weit, o Höhen», den schönen grünen Wald besang, wurden im «andächtigen Aufenthalt» des Dichters Schienen für die Eisenbahn gelegt, und aus Caspar David Friedrichs Fichtenschonung ragten Telegrafenmaste. Dorothea Schlegel erlebte noch den Alten Fritz und schon das neue Industriezeitalter.
Jean-Jacques Rousseau, geistiger Mentor der Aufklärung, verkündet es: Nicht Elternwille, sondern Liebe solle die wichtigste Voraussetzung der Ehe sein. Die Tochter Moses Mendelssohns verwirklicht es: Sie bringt den Mut auf, sich von ihrem ungeliebten Mann zu trennen, den der Vater ihr bestimmte, und einem jungen Intellektuellen ohne Geld und Rang zu folgen. Kühn wechselt sie aus dem Geordneten in das nicht Vorausschaubare.
Das Zeitalter der Freundschaft hat begonnen. Wohlan, sie gehört mit zu den ersten, die Freundschaftsbünde gründen, und wird zeitlebens Menschen, besonders Frauen, eine liebevolle Freundin sein. Dichter und Dichterinnen verkünden, daß Frauen stärkerer Liebe fähig seien als Männer, ja daß ihre Natur, ihr Wesen Liebe sei, und diese Dorothea wird als Beispiel dafür gelten.
Das Biedermeier ist auf Ausgleich, Duldung, Selbstbescheidung eingestimmt. Und eben das sind die Maximen der siebzigjährigen Legationsratswitwe, die inmitten ihrer Enkelkinder den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten läßt.
Als aufgeklärte Salondame in Berlin, als romantisch-sinnliche Lucinde in Friedrich Schlegels gleichnamigem Roman, als katholische Gottesstreiterin in Köln und Wien und schließlich als Biedermeier-Oma inmitten der Familie ihres Sohnes Philipp Veit – Dorothea lebt stets im Mittelpunkt rasch aufeinanderfolgender Kulturperioden.
Aber was kann sie einer emanzipierten Frau am Ende des 20. Jahrhunderts bedeuten?
Dorothea Schlegel nimmt für sich ein durch ihren aus der Sehnsucht nach Glück gespeisten Mut, Konventionen zu durchbrechen, nicht darauf zu hören, was die Leute reden, sondern so zu leben, wie sie es für wahr und richtig hält. Und rührt zugleich an weibliche Erfahrung heute: Wie schwer ist es doch oft für Frauen, wie Kletten in den Kleidern hängende jahrhundertealte Traditionen abzuschütteln und ein freier Mensch zu werden! Ihr Wunsch nach Freiheit und Geborgenheit wird auch heute noch verstanden. Auch überzeugt sie bis in unsere Tage durch Tatkraft, Unverzagtheit und Humor, durch eine souveräne, andere fast beschämende Höflichkeit, die bisweilen Menschen eigen ist, die früh erfahren, daß sie nicht von selbst «dazugehören», sondern um die Mitwelt werben müssen.
Sie besaß Urteils- und Entscheidungskraft, konnte Risiken abwägen, verstand auch Chancen zu ergreifen und traf weitreichende eigene Entscheidungen. Und gleichzeitig hat sie sich Friedrich Schlegel in einem Maße unterworfen, wie es eigentlich nur unselbständige Menschen tun.
Wie erklärt es sich, daß ein so kraft- und so charaktervoller Mensch mit einem so schwachen Selbstbewußtsein ausgestattet war? Ihr ganzes Leben quälten diese eindrucksvolle Frau ein Gefühl des Ungenügens, des Versagens und absurde Schuldgefühle gegenüber ihrem Mann. Ebensowenig scheinen Selbständigkeit und Hingabe in diesem Leben zusammenzupassen. Schließt die eine Eigenschaft die andere nicht aus? Kein Zweifel, in Dorothea vereinigten sich Originalität und Eigenständigkeit mit dem Hang zur Selbstaufgabe.
Erklärt sich das aus den Moralgrundsätzen ihrer Zeit, aus den den Frauen zugewiesenen Verhaltensweisen? Hat es zu tun mit Dorotheas Herkunft aus dem Judentum, mit jüdischer Religion und Tradition? War der Gegensatz auch in ihrem nach eigenem Bekunden disharmonischen Wesen angelegt? Leben und Verhalten Dorothea Schlegels gemahnen an Fragen, auf die wir bis heute keine befriedigende Antwort wissen: Woher kommt und wie erklärt sich die Selbstaufopferung von Frauen?
Heldinnen und Helden kommen in diesem Buch nicht vor. Fast jede der beschriebenen Personen weckt Sympathie, bisweilen auch Bewunderung. Und über fast jede schütteln wir irgendwann den Kopf. Wie selbstsüchtig kann dieser Friedrich Schlegel sein. Wie hämisch Ludwig Tieck! Wie liederlich die Enkelin der Karschin.
Nicht um Verklärung geht es, sondern um Gerechtigkeit und die Zerstörung von Klischees. In der bisherigen Literatur wird meistens danach geurteilt, was für Friedrich Schlegel gut gewesen wäre, und Dorothea als «Dämon», als «Verhängnis» für den Mann beschrieben. Hier wird danach gefragt, was für sie gut gewesen wäre, nach ihrer Zufriedenheit und ihren Sorgen. Dorotheas, nicht Friedrichs Lebensgeschichte wird erzählt.
Von Liebe, Leidenschaft und Tod soll jetzt berichtet werden und von Handarbeitsmustern, Pomeranzenblütenwasser und Rahel Varnhagens blauem Hut.
Die Tochter des Moses Mendelssohn
Bestimmung des Menschen:
Wahrheit erkennen, Schönheit lieben,
Gutes wollen, das Beste tun.
Stammbuchblatt von
Moses Mendelssohn
Auf den Schlachtfeldern von Kunersdorf und Kolin, Roßbach und Leuthen wächst wieder das Getreide, und in den Wiesenmulden, die die Kugeln der Kanonen gruben, stehen Büschel der Sumpfdotterblume. Sieben Jahre dauerte der letzte Krieg, nun ist endlich Friede.
Feine Damen in Roben aus tugendweißem Musselin schmücken ihre gen Himmel ragenden Perücken mit bizarren Federbüschen, pistaziengrün, auch zeisiggelb gefärbt, und lustwandeln, aufmerksam des Kopfschmucks achtend, auf Promenaden und in Parks. Nur im Frieden macht Sichputzen richtig Spaß.
Die Hausfrauen atmen auf. Vorbei die Furcht, daß ihre Männer oder Söhne totgeschossen oder als Krüppel heimkehren werden. Vorbei die Angst vor Einquartierung, Brandschatzen und Plündern. Und gewiß läßt nun die Teuerung nach. Wichtig wird wieder Kerzenziehen und Seifekochen, die Apfelhürden im Keller aufzufüllen und feingeschnittenes Obst zum Dörren auszubreiten. Abends, wenn die Kinder schlafen, holen die Mütter ihre Filetkästen hervor und handarbeiten Geldbeutel aus feinem Netzwerk für die neuen preußischen Münzen: den goldenen Friedrichsdor, den silbernen Reichstaler, die Groschenstücke und Achtzehner. Nur im Frieden lohnt das Sparen. Und nur im Frieden können Frauen gewinnen.
Im Herbst des Jahres 1764 erwartet Fromet Mendelssohn ihr zweites Kind. Das erste, eine Tochter, ist gestorben. Wird dieses überleben? Das allein sei wichtig, sagen wohl die Eltern. Doch insgeheim hofft Fromet Mendelssohn sicherlich auf einen Sohn; alle Schwangeren hoffen, Söhne zu gebären. Denn Söhne gelten mehr als Töchter. Allein auf Söhne werden Zukunftshoffnungen projiziert; nur durch Söhne lebt der Name, lebt das Werk des Vaters fort. Doch zum zweitenmal schenkt Fromet einem Töchterchen das Leben: Am 24. Oktober 1764 wird Brendel Mendelssohn geboren.
Drei Kriege haben seine Eltern miterlebt, und vor dem Kind liegen fünfundzwanzig Friedensjahre, in denen die Amerikaner ihre Unabhängigkeit erklären und die Menschenrechte proklamieren, und nicht viel später stürmen die Franzosen die Bastille. Brendel wird den Aufstieg und Fall Napoleons miterleben, und selten nur sehen Menschen so wie sie in ihrer Zeit gleich mehrere Epochen aufeinanderfolgen. Als das Mädchen auf die Welt kommt, steht Voltaire auf der Höhe seines Ruhmes, und als die fast Fünfundsiebzigjährige stirbt, leben schon Karl Marx und Friedrich Engels.
Brendels Mutter stammt aus Hamburg; der Vater ist aus Dessau zugezogen. Die Tochter kommt in Preußen auf die Welt. Das bedeutet etwas, auf Preußen bilden Preußen sich was ein! Ihr Staat ist durch seine Kriege zu einer der ersten europäischen Mächte aufgestiegen. Ihre Armee gilt als die beste ganz Europas, ihre Verwaltung als das Vorbild aller absoluten Monarchien. Und ihr König, obgleich erst Anfang Fünfzig, liebevoll der Alte Fritz genannt, ist der Abgott vieler Landeskinder. Gewiß, alle Pfründe sind dem Adel vorbehalten. Er zahlt keine Steuern, nur ihm stehen Offiziers- und höhere Beamtenstellen zu, und ihm allein gebührt das Recht, Rittergüter zu besitzen. Doch vielen Preußen ist die Adelsmacht so selbstverständlich wie die Männermacht. «Der Kern der Nazion besteht … aus Männern», schreibt Friederike Unger in ihren «Briefen einer reisenden Dame» aus Berlin. «Ein Mann sitzt auf dem Thron. Männer sind seine Räthe, und Männer die, welche seine Befehle ausrichten.» Das, so glauben die Preußen, sei Naturgesetz.
Brendels Geburtsort ist Berlin. Eine Weltstadt kann man dieses Berlin, die Hauptstadt Preußens, noch nicht nennen, doch eine aufstrebende und zukunftsträchtige Großstadt ist sie gewiß. Von überall her kommen Fremde: Diplomaten, Kaufleute und Künstler, Bildungsreisende; Casanova beispielsweise. Mit Erfolg bemüht er sich, dem König vorgestellt zu werden, und der will sogleich wissen, wieviel Soldaten und Schlachtschiffe die Heimatstadt des Kavaliers besitzt.
Kam der Venezianer vom Westen her, durch das Potsdamer oder Brandenburger Tor 1764 in die Stadt? Dann sah er sie von ihrer schönsten Seite, sah großzügig angelegte Plätze, breite Straßen, von stattlichen Wohnhäusern begrenzt, das Schloß, Paläste, Oper und Königliche Bibliothek. Wer Berlin hingegen durch das Kottbusser oder Schlesische Tor von Osten her betritt, dem stellt es sich eher als ein Provinznest dar, als ein Landstädtchen im Brandenburgischen, bestimmt durch seine Bauernhöfe mit Misthaufen vor den Türen, durchzogen von engen Gassen mit kleinen Läden und Handwerksbetrieben, bewohnt von Ackerbauern, kleinen Händlern und vielen armen Leuten. Sieht der Venezianer die Kontraste? Hat er unter den hohen Bäumen auf dem Dönhoffplatz eine der großen Militärparaden, friderizianisches Tschingderassabum, erlebt? Und hat er vielleicht tags darauf im Tiergarten das Exerzieren der Garnison verfolgt? Wer nicht gleich pariert, wird durchgeprügelt, und wer desertieren wollte, muß Spießruten laufen. Zuschauer erwünscht.
Im Tiergarten war Casanova ganz gewiß. Nicht weit von den Geschundenen entfernt verlustieren sich Berliner aller Stände bei Gauklern, Komödianten, Taschenspielern, in Rosengärten und schattigen Alleen. Wer es sich leisten kann, kehrt im Richardschen Café-Garten ein. Dort erzählt man sich, was es so Neues gibt, und saugt begierig Stadtklatsch ein.
Hat sich schon herumgesprochen, daß General Seydlitz sich scheiden läßt? Ja, es mußte sein, sagen seine Freunde. Hat ihn doch seine neunzehnjährige Frau «mit einem ganz gewöhnlichen Lakaien so schändlich hintergangen», daß ihm gar nichts anderes übrigblieb. Vierzigtausend Taler muß sie ihm als Schmerzensgeld zahlen und fortan in Pommern als Verbannte leben. So können Generäle, die keine Zeit für ihre Frauen haben, weil sie Krieg führen müssen, auch zu Vermögen kommen.
In den Stadtpalästen Unter den Linden, ausgestattet mit ausgesuchtem Rokoko-Mobiliar, gibt die höfische Gesellschaft ihre Bälle. In Wirtshäusern mit Tanzdielen und Billardtischen vergnügen sich Reitknechte und Kammerjungfern, Köchinnen und Lakaien. Ganz unten, in den Elendsvierteln, ist für Vergnügungen kein Platz. Hier hausen Familien mit mehreren Kindern in einer Stube, die sie im Winter nicht zu lüften wagen, weil Brennholz viel zu teuer ist. Handwerkerwitwen müssen ihre Kinder, damit sie nicht verhungern, zu Wollwebern und Spinnern schicken, und der Verdienst, den sie nach Hause bringen, reicht nur zu Wassersuppe und Kartoffeln oder einem Heringsbrot. Am 25. August 1769 schreibt Lessing an Friedrich Nicolai: «… lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es itzt sogar in Frankreich und in Dänemark geschieht: und sie werden bald in Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist.»
Von den über hunderttausend Berlinern sind ungefähr dreitausend Juden; die meisten arme Schlucker, einige wenige sehr reich. Einer der ganz Reichen, Veitel Ephraim – er vor allem finanzierte Friedrichs Kriege –, hat sich am Molkenmarkt ein prächtiges Palais gebaut. Jüdische Familien wie die Itzigs, Gumpertz, Meyers haben durch Armeelieferungen im Krieg beträchtliche Vermögen gesammelt und genießen als «Generalprivilegierte» ungefähr die gleichen Rechte wie die übrigen Bürger. Doch den anderen Juden hat das General-Juden-Reglement von 1750 unzählige Beschränkungen und besondere Abgaben auferlegt.
Ein Jude darf nicht beliebig eine Stadt betreten, sondern nur durch ein bestimmtes Tor. Dort hat er, gleich dem Viehzoll für die Rinder, den Leibzoll für die Juden zu entrichten.
Ein Jude darf nicht wohnen, wo er will. Kann er in einer Stadt keine ordentliche Arbeit, und zwar bei einem sogenannten Schutzjuden, finden, soll er wieder abgeschoben werden, und zwar von den Juden selbst.
Ein Jude darf nicht einen Hof bewirtschaften, ein Zunfthandwerk ausüben oder mit zunftgebundenen Waren handeln, Militärdienst leisten und schon gar nicht ein öffentliches Amt bekleiden.
Juden sind in den Augen der Christen – in Preußen wie auch anderswo – minderwertige und betrügerische Menschen, Spitzbuben, Schacherer und Mauscheljuden, die man nicht zu gleichgestellten Bürgern, womöglich gar zu Konkurrenten, wohl aber kühl berechnend seinen Zwecken dienstbar machen kann.
Ein Jude darf Manufakturen gründen, um die preußische Armee mit Uniformtuch zu beliefern und dem Staat Devisen einzusparen. Auch darf er verfälschte Münzen prägen, um Kriege finanzieren zu helfen. Juden dürfen, nein sie müssen Schulden, Strafen, Steuern aller nicht zahlungsfähigen Juden begleichen. Sie dürfen Jüdinnen heiraten, manches erwerben, manches vererben, wenn sie dafür kräftig zahlen. Wer nichts besitzt und nichts bezahlen kann, soll möglichst schnell verschwinden.
Die Christen verachteten die Juden, weil sie keine Christen waren, und darauf führten sie es zurück, daß die Juden aus ihrem Land vertrieben und in alle Welt zerstreut worden waren. Manche sahen darin die göttliche Vergeltung für den Christusmord.
Die Juden verachteten die Christen, weil sie keine Juden waren, und sahen sich als Angehörige des auserwählten Volkes Israel. Sie fühlten sich überall nur als vorübergehende Gäste, die nach der Ankunft des Messias ins Gelobte Land zurückkehren würden, und redeten und beteten nur in ihrer eigenen Sprache und lebten außerhalb der ständischen Gesellschaft abgeschlossen unter sich. Ihre Fremdartigkeit, auch in der Haartracht und der Kleidung, vertiefte die Vorurteile gegen sie.
Die Mendelssohns waren Juden. Wer will da länger noch von Vorteilen der Geburt, von Glück für Brendel reden? Jüdisch sein und weiblich – welch ein Unglück für das Kind!
Von Brendels Mutter weiß man wenig; ein paar Briefe sind erhalten, nur ein einziger, den sie auf deutsch geschrieben hat. Man kennt die Brautbriefe des verliebten Moses, nicht die Antworten der Braut. Man liest die Lobpreisungen des Gatten über die «weder schöne noch gelehrte», doch lerneifrige, freundliche und sehr geliebte Frau, die Schablonen und Anekdoten seiner Biographen über sie.
Die bekannteste und anrührendste Geschichte stammt von Berthold Auerbach und steht in seinem «Volkskalender». Wie erschreckt sei die Hamburger Kaufmannstochter Gugenheim beim ersten Anblick ihres Zukünftigen gewesen: Oje, so ein kleiner Mann und so ein großer Buckel! Doch dann erzählte ihr der kleine Mann, wie er, noch gar nicht auf die Welt gekommen, im Himmel schon erfahren habe, daß die ihm bestimmte Frau einen Buckel haben solle, und sogleich den lieben Gott gebeten habe: Gib mir den Buckel und laß das Mädchen schlank gewachsen und wohlgefällig sein! «Kaum hatte Moses Mendelssohn das gesagt, als ihm das Mädchen um den Hals fiel – und sie ward seine Frau, und sie wurden glücklich miteinander.»
«Seine Frau ist sehr stille, aber man lieset in ihrem Gesichte schon eine feine und edle Seele», schreibt Heinrich Christian Boie 1770 nach einem Besuch im Hause Mendelssohn. Als gute Hausmutter schildern sie die Zeitgenossen; keiner sagt, wie schwer ihr Leben war.
In zwei Jahrzehnten, zwischen 1763 und 1782, bringt sie zehn Kinder auf die Welt, das letzte, als sie Mitte Vierzig ist. Nur drei Mädchen, Brendel, Recha, Henriette, und drei Jungen überleben, Joseph, Abraham und Nathan. Die Mutter lebt zwischen Kindersegen und Kindertod und der Sorge um den Mann. Im Winter 1771 erkrankt Moses Mendelssohn an einem schweren Nervenfieber und braucht jahrelange Pflege. Zeitweise kann er nicht mehr sprechen, kaum die Augen öffnen und liegt bewegungslos im Bett. Fromet hastet vom Bett des Kranken zum Wickeltisch des Jüngsten, dirigiert den Haushalt, flickt bis in die Nacht, kocht Essen für den Sabbat vor – mein Gott, was ist mit Recha? Recha hat die Blattern, mein Gott, steckt sie den Joseph an? Fromet übergibt sich: eine neue Schwangerschaft; das kommt, weil es dem Vater besser geht. Etwas heftig, etwas ungeduldig bleibt sie Brendel in Erinnerung. Gewiß, sanft, geduldig bleibt man nicht bei solchem Leben.
Hauptsächlich als Tochter ihres Vaters will Fromets Älteste gesehen werden. Vom Vater erbt sie ihre großen dunklen Augen, die schmale Nase, auch die starken Backenknochen, die zusammen mit der Nase das Gesicht so kraftvoll machen. Dem Vater ähnelt sie in ihrer Geistigkeit und Energie, von ihm hat sie auch ihre Höflichkeit gelernt. Auf ihren Vater ist sie stolz; die Berühmtheit Moses Mendelssohns wird zu einer der prägendsten Kindheits- und Jugenderfahrungen seiner Tochter.
Der Philosoph und Schriftsteller der deutschen Aufklärung ist mit allen bedeutenden Männern seiner Zeit, mit Herder, Winckelmann, Lavater, dem Philosophen Kant, dem Dichter Gleim bekannt, Lessing nennt ihn Herr Moses und auch «liebster Freund». Gelehrte kommen nach Berlin, um Moses Mendelssohn zu sehen. Und von überall her, aus ganz Europa, wird er mit Anfragen und Bitten überhäuft, seitdem sein philosophisches Werk «Phaedon oder Über die Unsterblichkeit der Seele» erschienen ist, einer der großen Bestseller seiner Zeit, in viele Sprachen übersetzt.
Und dennoch kann Moses Mendelssohn seine wachsende Familie nie allein vom Schreiben ernähren. Im Hauptberuf bleibt er Direktor einer Berliner Seidenweberei. Sein Mentor Bernhard hatte den jungen mittellosen Mann einst zum Buchhalter bestellt, und als Bernhard 1768 starb, übernahm Mendelssohn die Leitung.
Gewiß, das florierende Unternehmen mit seinen Geschäftsbeziehungen bis nach Königsberg, Prag und Amsterdam hatte ihm ermöglicht, um Fromet Gugenheim zu werben und eine Familie zu gründen. Aber oft, so klagte er schon früh bei Lessing, drückten ihn die lästigen Geschäfte wie einen Lastesel zu Boden und verzehrten die Kräfte seiner besten Jahre. Dann träumte er davon, sich «aller Geschäfte zu entschlagen» und irgendwo, in einem kleinen Ort, «ganz mir selbst zu leben».
Doch der Rückzug ins Gelehrtendasein bleibt für Brendels Vater immer nur ein Traum. Die Mutter erwartet fast jedes Jahr ein Kind, und Sicherheit bedeutet für einen Familienvater viel.
In all ihrer Liebe zu den Büchern, der Musik und Malerei wird Brendel später mit den Füßen immer auf der Erde bleiben. Vielleicht ist das ein Erbe des Geschäftsmannes Mendelssohn, der die Tochter durch sein Vorbild lehrte, in ihrem schwärmerischen Sinn für Literatur und Kunst zugleich nüchtern die Wirklichkeit zu sehen.
In Brendels Kinderjahre fällt Mendelssohns Lebenswerk: Er trug entscheidend dazu bei, daß in Deutschland lebende Juden deutsche Juden wurden.
Rechtlosigkeit und Unterdrückung von Juden ließen sich mit den Idealen der Aufklärung, mit der Überzeugung von den gleichen Rechten aller Menschen, nicht vereinbaren. Die «bürgerliche Verbesserung der Juden», wie man es damals nannte, war eine logische Konsequenz des neuen Denkens. Um Bürger unter Bürgern zu werden, forderte Mendelssohn von seinen Glaubensbrüdern, ihr Getto zu verlassen, die teils selbstgewählte, teils auferlegte Isolation endgültig zu durchbrechen. Sie sollten Juden bleiben und zugleich Preußen werden, jüdisch glauben und wie Deutsche denken, den Stolz auf ihre uralte Kultur bewahren und sich der bislang fremden öffnen. Vor gar nicht langer Zeit war noch ein junger Jude von Rabbinern aus Berlin vertrieben worden, weil er ein deutsches Lehrbuch unterm Arm trug. Und nun trat ein Jude auf, sprach deutsch, schrieb deutsch, verfaßte Bücher, auch auf deutsch, und forderte nachdrücklich von den Juden, Deutsch zu lernen. Um ihnen dabei zu helfen, übersetzte Mendelssohn Teile der hebräischen Bibel und ließ den deutschen Text dann in hebräischen Lettern drucken, denn nur diese konnten Juden lesen.
Widerstand kam sowohl von Juden wie von Christen. Orthodoxe Rabbiner fürchteten um die Reinheit der Religion, um jüdische Identität. Christen wandten ein, es sei für Juden unmöglich, sich wie Bürger unter Bürgern zu verhalten, da ihr Glaube das verbiete. Am Sabbat dürften sie nicht schießen und könnten deshalb nicht Soldaten werden. Speisegesetze, Bestattungsriten – so vieles sondere sie ab; wie sollte ein Zusammenleben möglich sein? Auch unter Moses’ Freunden wurden Zweifel laut, ob es möglich sei, ein die jüdischen Gesetze streng befolgender Jude und zugleich ein aufgeklärter Staatsbürger zu sein. Er beharrte, daß das möglich und notwendig sei: «Schicket Euch in die Sitten und die Verfassung des Landes, in welches Ihr versetzt seid; aber haltet Euch standhaft bei der Religion Eurer Väter. Tragt beider Lasten, so gut Ihr könnet!»
Ihm selbst gelang die schwierige Synthese, er war beides: ein weltoffener moderner Denker und ein gesetzestreuer Jude. Doch seine Brendel wie auch die beiden jüngeren Töchter setzte er damit Widersprüchen und Konflikten aus, die sie schwer belasten sollten.
Doch zunächst erlebte Brendel in ihrem Elternhaus, wie. vielfältig und reich das Leben sich entfalten kann, wenn Menschen unabhängig davon, ob sie überhaupt an einen Gott und wenn ja, an welchen glauben, sich gegenseitig tolerieren, belehren, inspirieren und sich freundschaftlich verbinden.
Fast täglich, und zwar am späten Nachmittag, fanden sich in der Spandauer Straße 68 Freunde und Bekannte des Philosophen ein, um Tagesneuigkeiten zu erörtern, auch wichtige Bücher, Lehrmeinungen oder Neuaufführungen der Theater. Oft entstanden daraus anregende Dispute über Philosophie, das Leben und die Kunst, die der Hausherr zusammenfaßte und auf den Punkt zu bringen verstand. Dieser verwachsene, stotternde Jude, der einen jüdischen Bart und einen preußischen Zopf im Nacken trug, muß ein idealer Gastgeber gewesen sein, der die Kunst beherrschte, sich in andere Menschen zu versetzen, ihr Bestes aufzuspüren, ihre Gedanken zu ergänzen und Lücken auszufüllen, ihnen ein Gefühl für ihren Wert zu geben. Er vertraute Menschen und der sanften Gewalt der Vernunft; er war wohlwollend gegen jedermann.
An der Geselligkeit bei Mendelssohns beteiligten sich Schriftsteller, Ärzte, Philosophen und Beamte, Juden, Freigeister und Christen, weniger Besitz- als vielmehr Bildungsbürger, und diese waren es hauptsächlich, aus denen das deutsche Bürgertum entstand. Frauen waren nur am Rande, eher als Zuschauerinnen dabei. Das Gespräch war Männersache, und Frau Fromets Sache, Tee, ein wenig Naschwerk für die Herren bereitzuhalten. In der Küche stellte sie Präsentierteller mit sparsam abgezählten Mandeln und Rosinen zusammen, die man den Gästen ins Gesellschaftszimmer reichte. Schon gar nicht sie und gewiß auch nicht die Töchter werden es gewagt haben, unbefangen mitzureden. Dazu wußten sie auch nicht genug und hatten viel zuviel Respekt vor den Besuchern.
Und doch ist Brendel durch den Freundes- und Bekanntenkreis des Vaters nachhaltig beeinflußt worden. Nirgendwo anders gingen Juden und Nichtjuden so selbstverständlich miteinander um; außerhalb der aufgeklärten jüdischen Häuser kamen sie fast nur zusammen, um Geschäfte abzuwickeln. Doch bei Mendelssohns verkehrten sie so ungezwungen, als seien die Schranken, die sie trennten, längst niedergelegt worden. Auch war nicht wichtig, ob einer arm oder reich geboren und welchen Stands der Vater war. Eine solche geistige Geselligkeit unvoreingenommener, einander ebenbürtiger Bürger gab es weder in christlichen Häusern, geschweige denn bei Hof. Oft blieben Freunde und nähere Bekannte zum Abendessen da, scherzten mit den Kindern und setzten begonnene Gespräche im Familienkreis fort. Ähnlich wie im 20. Jahrhundert die Töchter Thomas Manns oder Samuel Fischers, des bedeutenden Verlegers, lernte Brendel Mendelssohn in ihrem Elternhaus von klein auf viele bedeutende Persönlichkeiten kennen und leitete daraus Maßstäbe, Ansprüche und wohl auch ihr Urteil ab.
Wer von den Hausbesuchern mag ihr besonders gefallen haben?
Lessing? Der lebte nicht mehr in Berlin, als sie geboren wurde, doch besuchte er Freund Mendelssohn gelegentlich. Dem kleinen Mädchen blieb er in Erinnerung, stürmischen Schritts den Raum durchmessend und mit dem ruhig am Tisch sitzenden Vater in ein philosophisches Gespräch vertieft.
Nicolai? Der Verleger wird ihr wohl zu nüchtern und zu eitel vorgekommen sein.
Wessely, mehr Dichter als Gelehrter, der dem Vater bei der Bibelübersetzung half, und David Friedländer, ein reicher Kaufmann und späterer Begründer der Jüdischen Schule in Berlin, haben Brendel sicherlich beeindruckt, weil beide ihrem Vater ähnlich waren; großherzig und hoch gebildet, Juden, Aufklärer, Reformer, die, was der Vater wollte, nach seinem Tod fortsetzten. Aber ob sie Brendels Herz berührten?
Das konnte eher Maimon, ein geliebter Schützling Mendelssohns. Der Vater sagte, Maimon sei ein heller Kopf, ein sehr begabter Philosoph, der sich, ähnlich wie er selbst, all sein Wissen ganz allein und unter schwierigsten Bedingungen angeeignet habe. Darum sorgte er dafür, daß Mitglieder der jüdischen Gemeinde Salomon Maimon beköstigten und unterstützten. Wenn dieser von seiner Kindheit im Litauischen erzählte, dann meinte man, selbst als ein armer Talmudschüler hungernd, wißbegierig und herumgestoßen wie einst Maimon über Land zu ziehen.
In Berlin fand Maimon einen Freund, der Mendelssohn genauso liebte und so oft besuchte wie auch er. Das war kein Jude, doch ein Mensch, der auch so hinreißend erzählen konnte. Manchmal, wenn dieser Karl Philipp Moritz zu ihm wohlgesinnten Menschen kam, fing er gleich zu schwärmen an: Was? Eine neue Uhr? Das ist ja ein ganz herrliches, ein wunderbares Stück! Ja, wer so etwas auch haben könnte! Dabei war er überhaupt nicht neidisch, sondern freute sich an schönen Gegenständen und konnte dabei so übermäßig lachen, daß mancher einen Schreck bekam. Ein andermal, bei anderen auf Besuch, setzte er sich irgendwo in eine Ecke und träumte so melancholisch, so in sich versunken vor sich hin, daß niemand ihn zu stören wagte. Manche hielten ihn für so exzentrisch, so verschroben, daß sie ihren Spott mit Moritz trieben. Dann war er verletzt und weinte.
Ansehnlich war Moritz nicht. Er hatte eine schlaksige Gestalt und ein plump wirkendes Gesicht. Doch gutmütig war er sehr. Kinder mochten sich darüber streiten, zu wem er eigentlich gehöre, zu Kindern oder zu Erwachsenen. Schließlich schreibe er doch Bücher, unterrichte Kinder und sei sehr weit herumgekommen – darum müsse er erwachsen sein, so die einen. Und doch spielte er noch wie ein Kind, baute Häuser, Türme, ganze Städte aus Papier, goß heißen Siegellack darüber und rief laut: Hilf! Hilf! Der Blitz hat eingeschlagen! Und, riefen nun die anderen Kinder, ist euch ein erwachsener Mensch bekannt, der sich darin übt, steif auf einem Bein zu stehen? Ja, auch das tat Moritz, und nun machten alle Kinder Moritz nach, stellten sich auf einem Bein steif wie Moritz hin und lachten.
War es so? Es könnte so gewesen sein.
Karl Philipp Moritz, zuletzt Professor für Altertumskunde, starb an der Schwindsucht schon mit siebenunddreißig Jahren. Noch heute lesen Menschen seinen autobiographisch bestimmten «Anton Reiser», einen berühmten psychologischen Roman. Stellen wir uns vor, Brendel Mendelssohn habe unter all den Menschen, die in ihrem Elternhaus verkehrten, diesen wunderlichen Mann besonders gern gemocht.
Und doch, bei allem Stolz, eine Mendelssohn zu sein, die mit Juden und mit Christen Umgang haben – es bleibt ein Gefühl des Andersseins und Nicht-dazu-Gehörens. Wenn Juden in Berlin auch nicht wie anderswo im Getto leben, so haben sie sich doch möglichst nahe beieinander in bestimmten Gegenden angesiedelt, zum Beispiel in dem Viertel, in dem die Mendelssohns ein Haus gemietet haben. Es gehört einer Tochter Veitel Ephraims (später werden sie es kaufen), und natürlich wohnen hier nur Juden: zusammen mit den Mendelssohns Fromets Stiefmutter, die Witwe Vogel Gugenheim, und Abraham Rechenmeister, wie ihn die Familie nennt, Herr Wolf, ein armer Sonderling, der die schwierigsten Rechenaufgaben im Kopf ausrechnet. Die Hauslehrer der Kinder, die zwei Bediensteten – auch sie sind Juden.
So ist es nur natürlich, daß Brendels Freundinnen ebenfalls aus ihrer jüdischen Umgebung kommen. Zum Beispiel Jeanette Ephraim, genannt Janny, eine Enkeltochter Veitel Ephraims, und vor allem Henriette Lemos, mit der Brendel bis zu ihrem Tod befreundet bleiben wird und die ihre Eltern mit fünfzehn dem Doktor Marcus Herz antrauen.
Die Gäste kommen und gehen, der engste Freundeskreis der Mendelssohns besteht aus Juden, jedenfalls solange der Vater lebt. Es sind auch Demütigungen, die verbinden.
Als Brendel ein siebenjähriges Mädchen ist, 1771, beschließt die Königliche Akademie der Wissenschaften, Moses Mendelssohn als Mitglied aufzunehmen. Doch nach vollzogener Wahl versagt Friedrich II. die Bestätigung, obwohl Mendelssohn zu den Preisträgern der Akademie gehört. Der für seine Toleranz so oft gepriesene König wendet diese schöne Eigenschaft nicht auf Juden an, jedenfalls nicht auf solche, die ihm nicht direkt von Nutzen sind. Erst nach längerem Drängen eines Franzosen hatte er schließlich einen Schutzbrief für Moses Mendelssohn gewährt und ihm damit das Wohnrecht garantiert; doch für Frau und Kinder galt der Schutzbrief nicht. Sie erhielten ihn erst nach Friedrichs Tod.
«Allhier in diesem sogenannten duldsamen Lande lebe ich gleichwohl so eingeengt, durch wahre Intoleranz so von allen Seiten beschränkt, daß ich meinen Kindern zu Liebe mich den ganzen Tag in einer Seidenfabrik einsperren muß», schreibt Mendelssohn in einem Brief. «Ich ergehe mich zuweilen des Abends mit meiner Frau und meinen Kindern. Papa! fragt die Unschuld, was ruft uns jener Bursche dort nach? Warum werfen sie mit Steinen hinter uns her? Was haben wir ihnen getan? – Ja, lieber Papa! spricht ein Anderes, sie verfolgen uns immer in den Straßen und schimpfen: Juden! Juden! Ist denn dieses so ein Schimpf bei den Leuten, ein Jude zu sein? Und was hindert dieses andere Leute? Ach! Ich schlage die Augen unter und seufze mit mir selber: Menschen! Menschen! Wohin habt ihr es endlich kommen lassen? …»
Die Speisegesetze unterscheiden sich. Während die Jüdinnen nur koscheres Fleisch, frei von Blut, gewässert und gesalzen, zubereiten und mit ihrem koscheren Haushalt viel mehr Arbeit als die Christinnen haben, braten diese unbekümmert Schweinefleisch und halten auch die Töpfe für Fleisch- und Milchspeisen nicht getrennt, wie das bei den Juden selbstverständlich ist. Doch in einem gleichen sich christliche und jüdische Küchen: Sie sind Lehrstätten der Mütter für die Töchter. Hier lernen diese, was ihre künftigen Ehemänner von ihnen erwarten werden: schmackhaft zu kochen, sparsam zu wirtschaften und mit Fleiß ein ordentliches, reinliches Haus zu führen, in dem sich die Familie wohl fühlen kann.
Von ihrer Mutter hat Brendel von klein auf hauswirtschaftliche Fähigkeiten und Tugenden gelernt: die jüngeren Geschwister hüten, flicken, nähen, handarbeiten, den Vater bedienen, auch die jüngeren Brüder, und, wo immer dieses nötig ist, zurückzustecken, selbstlos für die anderen dazusein.
Die Menschenbildung ist Sache des Familienoberhaupts, des Vaters, des «wahren Lehrers», wie Rousseau ihn nennt. Moses Mendelssohn besaß eine natürliche pädagogische Begabung und hatte Freude daran, bei jüngeren Menschen Verstandeskraft und Phantasie zu wecken, belehrend auf sie einzuwirken. «Melden Sie mir doch, liebste Fromet!», bat der Bräutigam die Braut, «Womit Sie sich gegenwärtig beschäftigen, was Sie im Deutschen lesen? Haben Sie sich Rousseau seine Briefe … holen lassen? … Ich werde Ihnen nächstens andere nützliche Schriften zu lesen schicken …» In seiner Jugend hatte er die Kinder des Seidenfabrikanten Bernhard unterrichtet. Selber nun Familienvater, beriet er Freunde und Bekannte in Erziehungsfragen, korrespondierte mit den angesehensten Pädagogen seiner Zeit und unterrichtete neben seinen Kindern auch andere Schüler. Manchmal erzählte er von seiner eigenen Kindheit. Wie er als Sohn eines armen Thoraschreibers vierzehnjährig allein von Dessau nach Berlin gekommen war, in einer winzigen Mansarde für das Nötigste zum Leben hebräische Texte kopieren mußte und wann immer möglich über Büchern saß: hungernd, übermüdet, von Ausweisung bedroht, doch zugleich verzückt vom Lernen, belebt durch fremde Sprachen, berauscht von Wissenschaft. Sieben Jahre hatte Moses Mendelssohn das durchgehalten. Die Kinder sollten es mal leichter haben.
«Ihr Vater liebte meine Freundin vorzugsweise und bildete sie selbst», berichtet Henriette Herz. Zunächst war auch nur Brendel da, die er bilden konnte, und man kann sich vorstellen, welche Freude es dem Vater machte, ein eigenes, aufgewecktes Kind zu unterrichten – soweit ihm das bei seiner angegriffenen Gesundheit möglich war.
Brendels religiöse Erziehung wird sich beschränkt haben auf die für Kinder faßlichen Geschichten aus der Bibel, das Erlernen hebräischer Gebete und frommer Lieder, das Einprägen der Gebote und Ritualvorschriften; denn jüdische Frauen und Mädchen sind, um ihren Haushaltspflichten zu genügen, vom Studium des Talmud befreit. Auch war dem Vater sicherlich daran gelegen, die jüdische Tradition auf eine Weise zu vermitteln, die dem aufklärerischen Geist der Zeit nicht widersprach, Wohltätigkeit zu üben, Gutes zu tun, mit humanistischen Idealen zu verbinden. Als junge Ehefrau hat Brendel ihrer damals dreizehnjährigen Schwester Henriette einen Brief geschrieben, aus dem recht deutlich wird, welche religiös-moralischen Prinzipien der Vater ihr, der Ältesten, vermittelt hat:
«… beschäftige Dich nützlich, lerne so viel Du kannst, sei Nothleidenden behülflich so viel Du vermagst, mit Rath, Trost, oder Geld, höre nie auf Dich selbst zu vervolkomen, bessere beständig, und werde nicht müde Fehler die Du an Dir bemerkst aus zu rotten, glaub mir, der einzige Weg zur Glükseeligkeit ist immer besser werden …»
Doch wissen wir über die Erziehung Brendels ungleich weniger als über die des erstgeborenen Sohnes. Joseph erhielt beim Vater Bibelstunden, dessen Freunde lehrten ihn Latein, hebräische Grammatik, deutschen Stil; Hauslehrer wurden engagiert. Gelehrsamkeit sollte den Sohn auszeichnen, nicht die Tochter.
«Gelehrt werden? Dafür behüte Sie Gott! Eine mäßige Lectür kleidet dem Frauenzimmer, aber keine Gelehrsamkeit. Ein Mädchen, das sich die Augen rot gelesen, verdient ausgelacht zu werden», schrieb Mendelssohn an seine Braut. Solche und ähnliche Warnungen wurden damals allenthalben ausgesprochen. Man liest sie in Väterbriefen an die Töchter, in Ermahnungen von Ehemännern, Almanachen und Traktaten. Überall der gleiche Tenor: Zuviel Belesenheit schade den Frauenzimmern, bringe sie bei Männern in Verruf. Frauenzimmer sollten nach Mendelssohns Meinung so wie eine ihm bekannte Madame Gutsche sein: klug im Sinn von common sense, artig und bescheiden, nicht zuviel reden und wenn, dann, bitte sehr, Vernünftiges.
Es ist deshalb unwahrscheinlich, daß Brendel, wie Biographen der Familie schreiben, regelmäßig an jenen philosophisch-religiösen Vorlesungen des Vaters teilgenommen hat, die dieser in seinen letzten Lebensjahren jeweils in den frühen Morgenstunden für Joseph, Simon Veit, seinen Schwiegersohn, und ein, zwei Schüler hielt. Vielleicht haben Brendel und ihre Schwester Recha ab und an mal zugehört, doch muß dem Vater ferngelegen haben, sie gründlich philosophisch auszubilden.
Überall, wohin er blickt, ringsum in jener aufgeklärten Welt, die ihn umgibt, findet Moses Mendelssohn Bestätigung für seine eigenen Überlegungen, wie Kinder zu erziehen seien. Er sowie alle mit ihm befreundeten Pädagogen fühlen sich als Schüler Jean-Jacques Rousseaus, der das pädagogische Hauptwerk jener Zeit, «Emil oder Über die Erziehung», geschrieben hat.
Alle diese Herren sind sich darin einig, daß der Vorrang der Erziehung Knaben gelten müsse; einmal, weil sie von Natur aus Mädchen überlegen und mit höheren körperlichen und geistigen Gaben ausgestattet seien: stärkerer Muskelkraft und strafferen Nerven, Mut, Kühnheit, Unternehmensgeist und einem ungleich schärferen Verstand. Zum zweiten, weil ihnen aufgrund ihrer naturgegebenen Überlegenheit auch die erste Rolle überall zufalle. Selbstverständlich sei der Mann das Oberhaupt in der Familie, die Frau hingegen seine folgsame Gefährtin. Dem entspreche eine naturgegebene, gottgewollte Arbeitsteilung der Geschlechter; der Mann: zuständig für das öffentliche Leben, Beruf, Gesellschaft, Politik; die Frau für das Private, Mutterschaft und Hauswirtschaft. «Die ganze Erziehung der Frauen muß … auf die Männer Bezug nehmen», heißt es im «Emil». «Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müßen sie von ihrer Kindheit an lernen.»
Die Frau: das Dummerchen, dem höhere Schulen verschlossen bleiben, nicht viel mehr als eine Magd? Nein, die Pädagogen der Aufklärung waren überzeugt, daß Ehefrauen ihre Ehemänner nur dann umhegend beglücken könnten, wenn sie auch ihren Gedanken folgen und an ihren Sorgen Anteil nehmen könnten; daß nur jene Frauen gute Mütter seien, die die Fähigkeit besäßen, ihre Kinder gründlich und zu tugendhaften Menschen zu erziehen. Schöngeister, gelehrte Frauen wollten deutsche Bildungsbürger weder in den Betten noch für ihren Seelenhaushalt haben, wohl aber Gattinnen, mit denen man zu Hause plaudern und sich in Gesellschaft sehen lassen konnte. «Für einen Mann von Bildung», befahl Rousseau, «schickt es sich nicht, eine Frau ohne Bildung zu heiraten …» Und so, auf dem Weg über das neue Frauenideal der Bürger, fanden Bürgertöchter des 18. Jahrhunderts, besonders einige jüdische, zu jenem aufgeklärten Denken, das ihnen half, sich aus der Welt, die andere ihnen zugewiesen hatten, zu befreien und das zu tun, was sie für richtig hielten. Zu ihnen gehörte Brendel Mendelssohn.
Die Eltern erziehen ihre Älteste zu jenem Höheren-Töchter-Dasein, das bis ins 20. Jahrhundert als Lebensform von Bürgermädchen galt. Sie sorgen für Klavier-, Zeichen- und Französischunterricht, und die musikalisch begabte Brendel spielt bald der Familie Menuette vor, paukt Vokabeln, übersetzt – sie wird mal davon leben müssen, doch das ahnt sie zu der Zeit noch nicht. Besonderen Wert legt der Vater auf korrekte gesellschaftliche Umgangsformen und lehrt seine Tochter, Fremde stets mit der genauen Nennung ihres Titels anzusprechen. Das wahrt den Abstand und fordert den anderen seinerseits zur Höflichkeit heraus. Nur wer die Umgangsformen beherrscht, wird sich in der erstrebten christlich-jüdischen Gesellschaft frei und souverän bewegen können. Brendel bringt es zu großer Perfektion darin.
Doch vor jeder anderen Fertigkeit soll sie die seltene Kunst erlernen, reines und gepflegtes Deutsch zu sprechen. Wer kann das schon in Preußen? Der König nicht und auch nicht Louis Ferdinand, sein Neffe; bei Hofe hält man französische Erzieher. Im Berliner Kadettenkorps gibt es pommersche Junker, die weder lesen noch schreiben können. Lessings Eltern fanden, es genüge, wenn die Söhne richtiges Deutsch beherrschten; die Schwester spricht es miserabel. Von den Juden schreiben noch viele in hebräischen Lettern und sprechen Judendeutsch. Auch Fromet ist es vertrauter als das Hochdeutsche, und sicherlich fällt sie im Umgang mit den Kindern oft ins Jiddische zurück. Dies vertrackte Hochdeutsch! Wohin gehört der Akkusativ? Wann soll der Dativ herrschen? Es dauert Jahrzehnte, bis Brendel das begreift. Noch als junge Ehefrau schreibt sie einem Bekannten: «Empfelen Sie mich dem Profeßor Oeser, seiner ehrwürdigen Gattin, die beiden Töchter, das Enkel, erinnern Sie alle diese Menschen an den beiden Weibern aus Berlin.»
Brendels Kinderleben teilt sich in zwei Hälften. Die kattunene Schürze um den Leib geschlungen, hilft sie der Mutter beim Gemüseputzen, Fleischbrühe abschäumen, gefilte Fisch zu kochen, hütet ihre jüngeren Geschwister. Befreit von allen Pflichten, flüchtet sie zu Sennebuben auf die Alm oder auf Robinson Crusoes Südseeinsel, verliert sich in Geschichten, Lehrgedichten, Liedern, die moderne Pädagogen eigens für «die zarte Jugend» ausgewählt und herausgegeben haben. Kinder- und Jugendbücher – so etwas war ganz neu. Und nie zuvor hatten jüdische Kinder Nichtjüdisches, Deutschgeschriebenes lesen können. Dem Kind der Aufklärung erschloß sich eine neue Welt. Es dauerte nicht lange, und mit Feuereifer stürzt sich Brendel auf die Literatur. Dem Vater kann nur recht sein, daß die Tochter so viel liest. Das ist doch, was er will: die Gettomauern durchbrechen, den Juden deutsche und europäische Kultur erschließen. Die Dichter, meint er, seien berufen, den Sinn für Schönheit und das Mitleid wachzurufen, und in der Dichtkunst will Mendelssohn die erste Schule der Tugend und der Weisheit sehen.
Einmal in der Woche treffen sich Freunde der Familie – das junge Ehepaar Herz, Karl Philipp Moritz und auch die beiden Brüder Humboldt sind dabei – bei den Mendelssohns zu einem Leseabend, an dem gewiß auch Brendel und später die Geschwister teilgenommen haben. Mit besonderem Vergnügen liest man Theaterstücke mit verteilten Rollen. Lessings dem Herrn Moses nachempfundener «Nathan» steht jährlich neu auf dem Programm, und jedem, der es miterlebt, bleibt unvergeßlich, wie vortrefflich Moritz den Tempelherrn liest.
Brendels Lektüre läßt sich nur ahnen. Claudius mag sie gern, das ist bekannt. Klopstock gehört zum Bildungsgut. Goldsmiths «Der Landpfarrer von Wakefield», Fieldings «Tom Jones» sowie Rousseaus berühmter Briefroman «Julie oder Die neue Heloise» gehen von Hand zu Hand. Ein Lieblingsautor vieler Damen ist Lawrence Sterne. Hat sich Brendel in dem heillosen Durcheinander seines neunbändigen «Tristram Shandy» überhaupt zurechtgefunden, oder war ihr lieber, Sterne auf seiner empfindsamen Reise durch Frankreich und Italien zu begleiten, deren Beschreibung den Autor so berühmt in Deutschland machte?
«Keine von uns, die nicht damals für irgendeinen Helden oder eine Heldin aus den Romanen der Zeit schwärmte», berichtet Henriette Herz, «und obenan stand darin die geistreiche, mit feuriger Einbildungskraft begabte Tochter Mendelssohns …»
Im Herbst 1774 erscheint, gebunden in zwei schmale Bändchen, Goethes «Werther». Wie so viele andere junge Menschen geraten auch Brendel und ihre Freundinnen, sobald sie den Roman gelesen haben, ins Schwärmen. Bei der Erinnerung an einen Kuß Tränen der Glückseligkeit vergießen, in Ohnmacht fallen bei einem Wiedersehen, aus Liebeskummer aus der Welt zu scheiden – ach, dieser Dichter weiß, wovon die Eltern keine Ahnung haben – Leben, Liebe, Leidenschaft: Brendel fühlt so wie der junge Werther.
Eine ihrer Freundinnen, Sarah Meyer, berichtet später Goethe, wie sie den «Werther» von einem hübschen Kaufmannssohn aus Hamburg als Geschenk erhielt und ihn nach der Lektüre «mit 1000 unterstrichenen Stellen und einem sehr glühenden Billett zurück» an diesen senden wollte. Doch der Vater fing die Sendung ab, sperrte seine Tochter ein und rief Herrn Mendelssohn zu Hilfe, der Sarah die Leviten las und den «Werther» aus dem Fenster warf. Ungefähr zur gleichen Zeit, da Goethe seinen Roman entwarf, beschrieb Mendelssohn, in welchem Ausmaß der Selbstmord das göttliche Gebot verletze. Der Sterbliche, heißt es im «Phaedon», habe weder Fug noch Recht, den Erhaltungskräften der Natur zu trotzen. Und nun erdreistete sich einer dieser sentimentalen Dichter, Selbstmord als Heldentat zu feiern! Moralisch gesehen war das Sittenlosigkeit; literarisch betrachtet schlug Herrn Mendelssohn da ein Gefühlsüberschwang entgegen, der den Verkünder der Vernunft befremdete. Und so etwas gefiel den Mädchen?