Winterküsse in Schweden
Mittsommerliebe
Das muss auch Marten feststellen, als sein Restaurant in Stockholm von jetzt auf gleich schließen muss. Der erfolgreiche Koch beschließt, eine Auszeit in seinem Heimatdorf im Norden Schwedens zu nehmen. Dort trifft er auf Finja – seine ehemals beste Freundin und heimliche Jugendliebe. Doch sie scheint irgendetwas zu verheimlichen und geht ihm aus dem Weg. Um Finja dennoch nahe zu sein, macht Marten kurzerhand einen Deal mit dem Besitzer des lokalen Restaurants: Eine Woche lang verwöhnt er als Chefkoch die Gäste mit Haute Cuisine. Eine Woche, in der Finja als Lieferantin des Restaurants eng mit ihm zusammenarbeiten muss. Schon bald lodern alte Gefühle wieder auf und Marten und Finja müssen sich klar darüber werden, was sie wirklich wollen …
In Schweden hat Lina Hansson ihre zweite Heimat gefunden. Sie liebt das Land, die Lebensweise und sogar die Temperaturen. Zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern genießt sie insbesondere die endlos langen Sommertage auf dem Land. Sie verbringt gerne Zeit in der Natur und schreibt am liebsten in vollkommener Stille mit Blick auf eine Blumenwiese oder einen See. Lina Hanssons Romane handeln von der Liebe und machen Lust darauf, den nächsten Urlaub in Stockholm oder einem roten Schwedenhaus zu verbringen.
LINA HANSSON
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anne Pias
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer
Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG unter Verwendung von Motiven von © TTphoto/Shutterstock; double_p/iStock;: Coldimages/iStock; tiler84/iStock
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-1614-7
be-heartbeat.de
lesejury.de
»Für mich ist Kochen eine stark von Handwerk geprägte Tätigkeit. Darüber hinaus bietet es viel Raum für kreativen Ausdruck, der mir sehr wichtig ist.«
Magnus Nilsson, ehemaliger Küchenchef des Restaurants Fäviken, das mit seiner ungewöhnlichen Küche zehn Jahre lang Gourmets aus aller Welt in den Norden Schwedens lockte
Der Artikel stand heute in der Zeitung:
Verlischt der Stern des Bernadotte?
Für das zu Jahresbeginn mit einem Stern ausgezeichnete Team des Stockholmer Gourmet-Restaurants Bernadotte rund um Küchenchef Marten Jansson endete der gestrige Arbeitstag frühzeitig mit einer Razzia der Finanzpolizei. Gegenstand der Ermittlungen gegen Inhaber Olaf Lindquist und seinen Geschäftsführer sollen laut ersten Informationen der Verdacht der Schwarzarbeit sowie Steuerhinterziehung sein. Eine offizielle Stellungnahme gibt es bisher weder vonseiten der Behörden noch von den Beschuldigten. Dass es nicht gut für das Bernadotte aussieht, legt allerdings der Zettel nahe, der seit gestern Abend an der Tür des Restaurants hängt: »Vorübergehend geschlossen«.
Zehn Jahre harte Arbeit, das ganze Leben ausgerichtet auf den einen Traum. Und dann, als er scheinbar am Ziel ist, verpufft alles in einem Augenblick, weil er auf die falschen Partner gesetzt hat?
Ich möchte jetzt nicht ins Martens Haut stecken …
Mit einem verächtlichen Schnauben klappte Marten die Dagens Nyheter wieder zu. Die auflagenstärkste Morgenzeitung des Landes wusste also schon darüber Bescheid, dass seine beruflichen Pläne am Vorabend wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen waren. Nur wenige Monate nachdem er das erste Etappenziel erreicht hatte, drohte Marten wieder ganz an den Anfang katapultiert zu werden. Endlich hatte er den ersten Michelin-Stern erkocht, und der White Guide, der wichtigste schwedische Gastroführer, rechnete das Bernadotte mit fünfundsiebzig Punkten, von denen sechsunddreißig auf Martens Küche entfielen, der Kategorie »Meisterklasse« zu. Der Höhenflug hatte nicht lange angedauert.
In die Finanzen des Bernadotte hatte Marten wenig Einblick, die lagen in der Hand des Restaurantmanagers. Bis gestern Abend hatte er Jakob Sandberg für einen fähigen Mann gehalten. Im täglichen Geschäft hatte nichts darauf hingedeutet, dass im Hintergrund nicht alles mit rechten Dingen zuging. Nun sah es ganz danach aus, als wäre der Name Programm gewesen: Das Restaurant war auf einem Berg aus Sand errichtet worden.
Unruhig ließ Marten den Rest des Kaffees in der Tasse kreisen. Er war kalt – so lange saß Marten schon an seinem Frühstücksplatz und brütete über den unangenehmen Neuigkeiten. Während er sich streckte, um die Kanne der Filterkaffeemaschine zu erreichen und Kaffee nachzuschenken, fiel sein Blick auf die Küchenuhr. Zehn nach neun. Vermutlich würde es jetzt nicht mehr allzu lange dauern, bis ihn seine Eltern besorgt anriefen.
Er hatte keine Ahnung, was er ihnen erzählen sollte. Dass sein Arbeitgeber dem Anschein nach einige Mitarbeiter mit gefälschten Verträgen ausgestattet und ihre Gehälter bar ausgezahlt hatte?
Allein der Gedanke, dass er monatelang – wenn nicht sogar seit Beginn seiner Tätigkeit im Bernadotte – mit illegalen Angestellten gearbeitet hatte, verursachte bei Marten Unbehagen. Machte er sich mitschuldig, weil er die Spüler ausgewählt hatte?
Natürlich waren nur die untersten Ränge der Küchenhierarchie betroffen, diejenigen, die die einfachen Tätigkeiten verrichteten und schlecht schwedisch sprachen. Das machte Marten erst recht wütend.
Als er seinem Ärger Luft machte, indem er mit der flachen Hand auf die Tischplatte schlug, schwappte der Kaffee über und ergoss sich auf die Morgenzeitung. Zuerst wollte er sie retten, doch dann ließ er zu, dass die Seiten die Flüssigkeit aufgesaugten. Diese Ausgabe würde er wohl kaum aufheben und eingerahmt neben die Ausschnitte aus den Fachzeitschriften an die Wand hängen.
Er wischte die Tasse notdürftig mit einer Serviette ab, nahm sie in beide Hände und trank einen großen Schluck, um den Kloß in seinem Hals wegzuspülen. Dabei richtete er seinen Blick auf das Fenster, durch das die Sommersonne in seine winzige Küche fiel. Obwohl Marten mittlerweile in den Kocholymp aufgenommen worden war, lebte er in einer bescheidenen Dachgeschosswohnung im Stockholmer Stadtteil Vasastaden.
Die Enge störte ihn nicht, denn er arbeitete für gewöhnlich so viel, dass er nur zum Schlafen und Frühstücken hierherkam. Aber gerade die Morgen genoss er sehr, wenn er die Zeit dazu hatte. Dann ließ er seinen Blick gern über die umliegenden Dächer schweifen und nahm dabei die Ruhe, die hier oben herrschte, in sich auf.
Marten war einige hundert Kilometer weiter im Norden aufgewachsen, in einer Gegend, die deutlich dünner besiedelt war als der Süden des Landes und die Hälfte des Jahres kaum die Sonne zu sehen bekam. Hier in der Stadt erschienen ihm die Winternächte nie so dunkel wie in seiner Heimat. Allerdings musste er fairerweise zugeben, dass er auch die endlos langen Sommerabende nicht auf die gleiche Art genießen konnte wie zu Hause.
Nicht, dass er in den letzten Jahren im Sommer da gewesen wäre. Seit er nach Abschluss seiner Ausbildung nach Frankreich gegangen war, um dort alles zu lernen, was ein Koch können musste, der es an die Spitze schaffen wollte, verbrachte er höchstens die Weihnachtsfeiertage bei seiner Familie.
Ansonsten hielt er den Kontakt via Telefon und E-Mail, in der letzten Zeit hatten seine Eltern das Videotelefonieren für sich entdeckt. Für seine Mama hatte es den Vorteil, dass sie sich überzeugen konnte, dass ihr kleiner Junge – der vor Kurzem seinen neunundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte – die Wahrheit sagte, wenn er behauptete, es ginge ihm gut. Er war sich allerdings nicht sicher, ob er sie heute davon würde überzeugen können.
Wie aufs Stichwort leuchtete das Display seines Smartphones auf und zeigte einen eingehenden Videoanruf von Alva Jansson an. Er atmete einmal tief durch, dann nahm er ihn an.
»Hej, Mama!«, sagte er und versuchte, das Telefon so gegen die Wand zu lehnen, dass er im Bild war und es nicht wegrutschte.
Seine Mutter fiel gleich mit der Tür ins Haus: »Wir haben es gerade gelesen!«
Marten konnte ein gequältes Schmunzeln darüber, wie berechenbar seine Familie war, nicht unterdrücken.
»Das ist ja schrecklich! Aber bestimmt ist das alles nur ein großes Missverständnis.«
Auch das amüsierte ihn an diesem schwarzen Morgen ein wenig. Alva Jansson glaubte stets nur an das Beste in den Menschen. Natürlich konnte aus ihrer Sicht nur ein Irrtum vorliegen, der sich rasch aufklären würde.
»Sieht leider nicht danach aus«, erwiderte Marten, und als er ihre Reaktion sah, tat es ihm leid, dass er ihre Hoffnungen sofort zerstört hatte. »Anscheinend lief im Restaurant von Anfang an nicht alles legal. Und ironischerweise war es wohl gerade die mediale Aufmerksamkeit, die wir in letzter Zeit durch unsere Erfolge bekommen haben, die die Finanzbeamten auf die Spur gebracht hat. Davor hat niemand darauf geachtet, wie viel Personal wirklich im Bernadotte beschäftigt ist. Aber nun ist irgendeinem Beamten aufgegangen, dass so ein Restaurant wohl kaum ohne Reinigungspersonal auskommen kann.«
»Oh«, machte Alva zuerst nur, doch dann versuchte sie es noch einmal: »Vielleicht stellt sich am Ende heraus, dass es halb so wild ist. Sie zahlen alles nach, und ihr könnt wieder öffnen.«
Wenn da nicht auch noch gefälschte Verträge im Spiel gewesen wären, hätte Marten sich wohl ähnliche Hoffnungen gemacht. Aber hier handelte es sich eindeutig um Betrug, nicht nur um Schwarzarbeit, die vielleicht mit einer Geldstrafe abgegolten werden könnte. Als er sich beim zuständigen Ermittler nach der voraussichtlichen Dauer der behördlichen Schließung erkundigt hatte, hatte der ihm geraten, sich lieber schon mal nach einem neuen Job umzusehen.
Das verschwieg Marten seiner Mutter, die ihn nun über das Telefon besorgt musterte. »Wie geht es dir, mein Junge?«
Er zuckte mit den Schultern. So genau wusste er das selbst nicht. Er stand wohl noch etwas unter Schock.
»Vielleicht solltest du die Gelegenheit nutzen und dir einen Urlaub gönnen.«
Im Umgang mit Frauen stellte Marten sich meistens eher ungeschickt an. Er neigte dazu, bei Verabredungen dem Essen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als der Frau, die ihm gegenübersaß. Und den berühmten Wink mit dem Zaunpfahl übersah er gern. Doch in den Gesprächen mit seiner Mutter konnte er gut zwischen den Zeilen lesen. Sie meinte nicht einfach nur Urlaub, sondern einen Besuch zu Hause, bei ihr und seinem Vater, vielleicht mit einem Abstecher zu einem seiner älteren Brüder, die ebenfalls noch im Norden lebten.
Er fand den Gedanken in dem Moment sogar verlockend. Als er vor zehn Jahren mit Sack und Pack nach Frankreich gezogen war, war er wild entschlossen gewesen, die Welt der Kulinarik zu erobern. Damit hatte er allerdings nicht gemeint, nie wieder einen Fuß auf heimatliche Erde zu setzen, er hatte für sich nur keine berufliche Perspektive gesehen. Dass es nur eine Hand brauchte, um abzuzählen, wie oft er seither in Jämtland gewesen war, das war einfach so passiert.
Anfangs hatte er nicht genug Geld verdient, um sich die Flüge leisten zu können. Als sich seine finanzielle Situation verbessert hatte, war es ihm ein Bedürfnis gewesen, seinen Eltern zu zeigen, wo er lebte. Anstatt also selbst in einen Flieger zu steigen, hatte er sie nach Paris eingeladen.
Zweimal hatte er in den vergangenen Jahren die Weihnachtsfeiertage zu Hause verbracht, dabei sein Elternhaus aber kaum verlassen, weil die Sonne um die Zeit ohnehin keine fünf Stunden schien. Und zur Hochzeit seines mittleren Bruders war er selbstverständlich auch angereist, doch die hatte hundert Kilometer entfernt im Heimatort der Braut stattgefunden.
So war Jahr um Jahr verstrichen, ohne dass Marten bewusst wahrgenommen hätte, wie die Zeit dahingerast war. Jetzt wunderte er sich zum ersten Mal darüber, wie radikal man seine Vergangenheit zurücklassen konnte, selbst wenn man nicht vor ihr weglaufen wollte.
Als Kind hatte er es geliebt, so wild und frei aufzuwachsen. Doch später hatte er sich von den begrenzten Möglichkeiten eingeengt gefühlt und den Drang verspürt, auszubrechen, um in der großen, weiten Welt das zu erreichen, wozu er sich schon als Fünfzehnjähriger bestimmt gefühlt hatte.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus, weil ihm wieder eingefallen war, dass er im Begriff war, alle mühsam erarbeiteten Bewertungen in den Restaurantführern zu verlieren.
Seine Mutter deutete seine Reaktion falsch. Sie setzte eine enttäuschte Miene auf und bemerkte: »Nach Hause zieht es dich gar nicht mehr, oder?«
»Doch, doch«, versicherte Marten schnell. »Entschuldige. Ich habe nur darüber nachgedacht, wie weit es mich zurückwirft, falls das Bernadotte schließen muss.« Mit einem entschuldigenden Lächeln fügte er hinzu: »Die Sache nimmt mich doch ganz schön mit, schätze ich.«
»Gerade dann wäre eine Auszeit vielleicht eine gute Idee«, meinte seine Mutter, die sich offenbar nicht darauf verlassen wollte, dass er ihre Andeutungen verstand. »Für ein paar Tage wenigstens. Komm nach Hause, lass dich verwöhnen! Zur Abwechslung kann Mormor dich bekochen.«
Der Gedanke an seine Großmutter – die Mutter seiner Mutter – und ihre Küche entlockte Marten noch ein Seufzen. Was Mormor servierte, das war so ganz anders als die Dinge, die er kreierte. Es war bodenständig, einfach, schmackhaft.
Plötzlich überkam ihn eine wahnsinnige Sehnsucht nach dem Duft von hausgemachten Köttbullar. Seit Ikea die Fleischbällchen in der ganzen Welt bekannt gemacht hatte, waren sie gewissermaßen ein Synonym für die schwedische Küche. Man bekam sie praktisch überall, und doch lösten sie niemals das Gefühl aus wie die Erinnerung an den Geruch, wenn Mormor in der Küche stand und in einer kleinen Eisenpfanne nacheinander Dutzende Bällchen briet, um damit die ganze Familie satt zu bekommen.
»Weißt du, was«, hörte Marten sich plötzlich sagen. »Vielleicht mache ich das. Vielleicht komme ich wirklich für ein paar Tage nach Hause. Ich muss aber zuerst zur Polizei, das Protokoll meiner gestrigen Aussage unterschreiben. Je nachdem, was ich dort erfahre, entscheide ich, was ich mache. In Ordnung?«
Das Gesicht seiner Mutter hellte sich augenblicklich um mehrere Nuancen auf.
»Ist das dein Ernst?«, fragte sie.
»Ich kann nichts versprechen«, schränkte er ein. »Wenn mir der Beamte sagt, dass wir morgen wieder öffnen dürfen, dann muss ich natürlich arbeiten.«
»Ja, ja, das verstehe ich.«
»Aber wenn es wirklich so schlecht um das Bernadotte steht, wie ich befürchte, dann gönne ich mir zuerst eine Pause, bevor ich anfange, Bewerbungen zu schreiben. Ich glaube, die habe ich mir wirklich verdient.«
»Das hast du ganz bestimmt, mein Schatz. Du arbeitest so hart, da wundert sich ja sogar dein Vater manchmal, wie du das schaffst.«
Die Bemerkung entlockte Marten ein Schmunzeln. Er hatte von klein auf gelernt, dass harte Arbeit etwas Gutes war. Seinem Vater gehörte die örtliche Zimmerei, und wann immer es das Wetter und die Lichtverhältnisse zuließen, war er auf einer Baustelle anzutreffen. Wenn die Bedingungen die Arbeit im Freien unmöglich machten, beschäftigte er sich mit Planungen oder Projekten, die sich weitgehend in der Werkstatt umsetzen ließen.
Aber obwohl er zu hundert Prozent die Einstellung vertrat, dass die Wochentage zum Arbeiten da waren, verstand er sich bestens darauf, den Feierabend und die Wochenenden zu genießen. Beides kannte Marten aus seinem Beruf so gut wie gar nicht.
»Er war es doch, der mir immer gesagt hat, ich soll das tun, was ich liebe, weil mir dann die Arbeit leichter von der Hand geht«, wandte Marten ein.
Seine Mutter lachte. »Das stimmt. Aber selbst der größten Liebe kann eine Auszeit richtig guttun, damit man sie wieder neu entdecken kann.«
Vermutlich hatte sie auch damit recht.