KLOPPWORT

Ich liebe dieses Spiel, seit ich denken kann. Einfach, weil ich es mit meinen Freunden zusammen spielen konnte.

Das Spiel hat mich gelehrt, dass ich nicht perfekt sein muss, um Erfolg zu haben. Meine Mitspieler machen mich besser und ich helfe ihnen. Das habe ich aufs Leben übertragen.

Und bis heute gibt mir diese Erkenntnis die Ruhe und das Selbstvertrauen, mich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Ich helfe und ich lasse mir helfen – auf und neben dem Platz.

Arnd Zeigler bringt diese Liebe zum Fußball in diesem Buch auf den Punkt.

JÜRGEN KLOPP

VORWORT

Der Mensch sucht sich in der Regel ein Hobby, um seine Freizeit sinnvoll und kurzweilig zu gestalten. Es soll entspannen, ablenken, fesseln, beruhigen. Es soll dauerhaft und immer wieder neu motivieren, denn ein Hobby will gepflegt und fortgeführt werden. Und wenn wir uns auf dieser oberflächlichen und theoretischen Ebene weiterbewegen wollen, dann kommen wir im Umkehrschluss auch schnell darauf, dass ein schönes Hobby uns möglichst nicht frustrieren soll, nicht wütend machen, die Laune verderben oder entmutigen soll. Und jetzt, wo ich das schreibe: Genau diese Dinge beherrscht der Fußball meisterhaft.

Je nach Herzensverein sind wir mindestens gelegentlich, in vielen Fällen häufig oder im unglücklichsten Fall dauerhaft deprimiert. Der unglücklichste Fall ist meistens der HSV. Der Autor dieser Zeilen ist Bremer und nimmt sich in dieser Sekunde vor, dass derartige Sätze in diesem Buch nicht allzu häufig vorkommen sollten. Selbst dann nicht, wenn sie der Wahrheit entsprechen.

Der Fußball frustriert uns nicht nur, er erzürnt uns. Und das nicht nur einmal pro Woche, sondern im schlimmsten Fall vielfach während eines einzigen Fußballspiels. Es gibt ja diese abenteuerliche Behauptung, jeder Mann denke alle sieben Sekunden an Sex. Ich halte das für groben Unfug, weil man dafür ja alle sieben Sekunden denken müsste. Analog dazu denkt ein Fußballfan aber während eines 90-minütigen Fußballspiels etwa 350-mal »Scheiße!«. Anlässe dafür liefert jedes Spiel ausreichend: Platzwahl verloren, Pass in den Rücken des Mitspielers, ins Abseits gelaufen, Bier alle, unnatürliche Handbewegung im falschesten Moment, Pfostenschuss, Gegentor zu einem psychologisch ungünstigen Zeitpunkt, Gegentor zu einem psychologisch günstigen Zeitpunkt, Trainer wechselt dusselig aus, Trainer wechselt zu spät aus, Trainer wechselt gar nicht aus, der beste Spieler verletzt sich und kann nicht mehr ausgewechselt werden, der beste Spieler des Gegners verletzt sich nicht, der Tribünennachbar hat eine schwache Blase, es regnet, der Ball verspringt, das Spiel ist zu lang, das Spiel ist zu Ende, die Nachspielzeit war viel zu kurz. Allein diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Wir lernen daraus: Jedes Fußballspiel beschert uns Unmengen von Enttäuschungen, unerfüllte Erwartungen, Momente voller Fremdscham und Bitterkeit. Trotzdem freuen wir uns vor jedem Spiel wie ein kleines Kind, denn beim nächsten Mal könnte es ja viel besser laufen. Tut es natürlich nie, aber es könnte. Und deshalb ist der Fußball auch nicht besonders gut geeignet, um beim Fan für permanente gute Laune zu sorgen. Im Gegenteil.

Jeder von uns kennt diese Montage, an denen man dem Kollegen X und der Kollegin Y lieber nicht begegnen möchte. Wegen Samstag. Die Kollegen sind zwar selbst keine Fußballfans, stänkern aber gerne. Auch so ein Ding: Fußball macht zuweilen den Menschen am meisten Spaß, die sich nur ganz wenig dafür interessieren. Und zwar nicht trotzdem, sondern gerade drum. Wer selbst keinerlei Emotionen für Fußball hegt, der kann durch das eigene Unbeteiligtsein den aschfahlen, vom Wochenendergebnis niedergedrückten und gramgebeugten Mitmenschen besonders effektiv und ohne allzu viel Aufwand kränken. Wer Fußball nur ein bisschen mag (»Ja gut, bei Weltmeisterschaften schaue ich schon mal zu, aber sonst nicht so«), aber keinem Verein nahesteht, der ist im Gegensatz zum beinharten, lebenslangen Fanatiker seelisch nahezu unverwundbar. Eine der ganz großen Ungerechtigkeiten des Fanlebens.

Es gibt weitere. Unser Selbstwertgefühl wird durch die Liebe zu einem Verein auf eine harte Probe gestellt, und das permanent. Je nach Verein gibt es Wochenende für Wochenende Anlass zu Fremdscham, Mutlosigkeit und Weinerlichkeit. In englischen Wochen auch öfter. Weil man gerade das Heimspiel gegen den Tabellenletzten verloren hat, dessen gesamte Mannschaft so viel gekostet hat wie Dein Ersatztorwart. Weil Dein Mannschaftskapitän Interviews gibt, in denen er die geistige Reife eines Vierjährigen an den Tag legt. Weil Du für eine Erinnerung an das letzte wirklich gute Spiel Deiner Mannschaft erst einmal die letzten acht Kicker-Sonderhefte durchblättern müsstest. Weil Dein Verein gerade das Trikot für die neue Saison vorgestellt hat und es diesmal hellblau sein wird, mit kleinen rosa Elefanten. Wahrhaftig, es gibt sehr viele mögliche Gründe für ein ständiges Unwohlsein hinsichtlich des Lieblingsvereins.

Und dennoch: Hey, es ist immer noch Fußball! Eine Leidenschaft, die uns irgendwann gefangen nimmt. Sie tut dies nicht wie ein Liebender, der jemanden umgarnen, verzaubern und für sich gewinnen will, sondern mit dem Holzhammer. Der Fußball ergreift Besitz von uns. Und wenn es geschehen ist, sind wir verloren. Wir sind – und wir haben – verloren. Zum Beispiel die Fähigkeit, Wochenenden in gelöster Stimmung zu verbringen. Für Nicht-Fußballfans ist das eine Selbstverständlichkeit.

Auch soziale Kontakte gestalten sich mühseliger, wenn jeder geliebte Mensch Deine Zuneigung von vornherein mit der bedingungslosen Liebe teilen muss, die Du für elf fremde Menschen in kurzen Hosen empfindest. Oder wenn sich im weiteren Verlauf eurer Beziehung die Atmosphäre jährlich aufs Neue vergiftet, weil Du immer erst dann mit der Familie in den Jahresurlaub fahren kannst, wenn Du das Testspiel gegen den portugiesischen Zweitligisten im Trainingslager verfolgt hast, als einer von 16 mitgereisten Fans. Den Fans des portugiesischen Zweitligisten ergeht es übrigens genauso.

Da wir jedoch all das auf uns nehmen, manchmal sogar freiwillig, muss es irgendetwas geben, das uns diese Leidenschaft zurückgibt. Etwas, das uns fesselt, fasziniert und immer weitermachen lässt. Etwas, das uns immer wieder an dieselbe unisolierte Stromleitung fassen lässt. Rational kann es das eigentlich nicht geben. Also ist es mutmaßlich etwas Irrationales, schwer Greifbares. Nur was? Was bringt uns dazu, all das auf uns zu nehmen, in vielen Fällen ohne Aussicht auf Belohnung, und in manchen Fällen mit der Perspektive, sein komplettes Leben lang in einem Maß fortgesetzt enttäuscht zu werden, wie man es einem Freund oder Bekannten niemals durchgehen lassen würde? Das Rätsel ist ebenso einfach zu beantworten, wie es schwierig zu lösen ist: Es ist die Hoffnung. Denn es könnte ja alles besser werden, oder sogar gut. Darauf beharren wir, wie der Angetrunkene an der Losbude, der sein gesamtes Geld für Nieten investiert und es im Grunde vor dem Aufreißen der Lose schon genau weiß.

Und hier wird es faszinierend: Um vielleicht irgendwann mal belohnt zu werden, würde man als Fußballfan auch dann weitermachen, wenn einem die Vernunft längst sagt, dass es niemals besser wird. Die Neuzugänge für die kommenden Saison werden wieder dieselben Krampen wie die des letzten Sommers. Das ist egal, denn danach folgen weitere Sommer. Und darauf warten wir. Unser Leben lang. Auf den unfassbar guten Spieler, den alle anderen Vereine übersehen haben. Auf das Jahr, in dem alles gelingt. Auf den Trainer, der den Plan hat. Auf die Tabelle, die einen träumen lässt statt zu ängstigen.

Wir sind süchtig, wir sind ohne Hoffnung, wir sind verloren. Aber wir sind viele. Und wir sind in dem Schmerz und der Trauer nie allein. Im Erfolg übrigens auch nicht. Wenn jemals alles super läuft, sind wir plötzlich die viel besungenen wildfremden Menschen, die sich in den Armen liegen. Dann sind wir ein Teil des großen Ganzen. Wir sind zugegebenermaßen ein kleiner Teil, wie ein Tropfen im Ozean. Aber gemeinsam sind wir der Ozean. Und plötzlich ist Fußball wunderbar. Darauf warten wir. Auf diesen Moment, der kommen könnte, irgendwann. Das Wort »irgendwann« ist eines der Wichtigsten im Leben eines Fußballfans. Und wenn dieses Irgendwann endlich da ist, möchte man es wieder und wieder erleben. Man möchte manchmal wie Bayern München sein, denn dort ist es immer »irgendwann«. Was die Frage aufwirft, was man als Fan von Bayern München möchte, denn deren Fanleben funktioniert zwangsläufig anders. Als Bayern-Fan möchte man im Grunde, dass alles immer so bleiben möge. Ein Gedanke, den wiederum ein Fan von Preußen Münster nur ganz selten haben wird, beziehungsweise, eigentlich nie. Hochinteressant, und auch wieder fußballspezifisch: Dennoch möchte der Preußen-Fan selten mit dem Bayern-Fan tauschen, und umgekehrt wäre ja es ja auch höchst töricht.

Aus all diesen Mosaiksteinen ergibt sich folgendes Gesamtbild: Als Fußballfan funktioniert man nicht rational oder besonnen, sondern emotional und impulsiv. Wir suchen uns dieses Dasein nicht aus, sondern schlittern hinein. Wir wissen, dass vieles Quatsch ist, was wir tun. Und wir wissen, dass uns vieles nicht guttut, aber wir wollen das auch nicht anders. Wir würden gerne etwas weniger leiden, wären gerne seltener wütend und enttäuscht, aber tun andersherum alles, um genau diese Gefühle immer wieder neu durchmachen zu müssen.

Ohne mich mit Gehirnen allzu gut auszukennen, gehe ich davon aus, dass das Leben als Fußballfan unsere Synapsen, Nervenbahnen und Blutgefäße vor allerhöchste Anforderungen stellt. Wenn in der 90. Minute ein entscheidendes Tor fällt, brizzelt es im Kleinhirn spürbar. Egal, ob das Tor für Deine Mannschaft fällt oder für den Gegner, und auch dann, wenn es nur beinahe fällt. Im Fußball kann der gesamte Kosmos durch eine Zehntelsekunde auf links gezogen werden, und unser Gemüt ist dafür nicht geschaffen.

Viele von uns Betroffenen waren schon einmal in der Situation, Nicht-Fans erklären zu wollen, was an Fußball so toll ist. Vergesst es. Es ist unmöglich. »Was soll denn so toll daran sein, wenn 22 Menschen einen Ball in so ein Tor schießen wollen?« »Weshalb magst Du die Spieler eigentlich so, die kommen doch alle von sonst woher und spielen nur für Geld, und nicht, weil sie Deinen Verein so sehr mögen?« »Weshalb gibst Du so viel Geld dafür aus, diesen Millionären hinterherzureisen, denen Du völlig egal bist?« »Warum suchst Du Dir nicht ein anderes Hobby, wo Du Dich weniger ärgern musst?« Das wollen wir nicht hören. Und noch weniger wollen wir es beantworten. Die Frage, weshalb wir das alles mitmachen, stellt sich nicht. Sie stellt sich nicht ab der Sekunde, in der wir einst damit begonnen haben.

Eine Wahl haben wir also nicht. Wer Fan eines Vereins ist, bleibt es. Es gibt Phasen der Entfremdung und Phasen, in denen andere Dinge wichtiger zu sein scheinen. Am Ende aber kommt man immer wieder zum Fußball zurück. Das liegt an der Historie, die jeder von uns mit dieser Leidenschaft verbindet. Wir erleben Dinge, die in unseren Erinnerungen und Emotionen nie wieder weggehen werden. Jeglicher Versuch, sich von alledem nicht mehr so sehr berühren zu lassen, ist zum Scheitern verurteilt, denn wir wollen ja ausdrücklich berührt werden.

Wir haben also nur eine Chance: Wir müssen den Fußball und diese Leidenschaft so leben, dass möglichst wenig Schmerz entsteht. Den Schmerz, der unausweichlich kommen wird, müssen wir irgendwie aushalten. Wir müssen uns manche Dinge immer wieder neu bewusst machen, und manches müssen wir uns dauerhaft schönlügen. Das ist aber egal, denn der Fußball belohnt uns mit Gefühlen, die uns nichts und niemand anderes geben kann. Dass er uns gleichzeitig auch immer wieder bestraft, nehmen wir hin, denn das bucht man mit. Wenn wir uns auf den Fußball eingelassen haben, sind wir selbst schuld, bekommen aber grundsätzlich mildernde Umstände. In diesem Buch wollen wir gemeinsam überlegen, was für uns das Tolle am Fußball ist. Jeder wird da andere Dinge nennen können. Und wenn wir das für uns begriffen haben, können wir auch dafür sorgen, dass das Tolle noch ein bisschen toller wird und der Ärger noch etwas kleiner.

Auch, wenn wir es nicht in jedem Augenblick spüren können, oder selten, oder fast nie: Fußball macht uns reicher. Fußball bringt uns Dinge bei, die wir in jeder Lebenslage gebrauchen können. Fußball ist nicht nur ein Spiel, und auch keine Religion. Aber wer den Fußball liebt, der erlebt durch ihn alle Gefühle, die das Leben uns zu bieten hat: Glück, Triumph, Wut, Trauer, Stolz, Hoffnung, Niedergeschlagenheit, Liebe, Abneigung, Trotz, Sehnsucht – die Liste ließe sich endlos fortsetzen, oder zumindest bis zum nächsten Transferfenster.

Wenn wir uns alles genau anschauen, was mit Fußball und den Gefühlen zusammenhängt, kommen wir unausweichlich zu dem Resultat, dass eine empathisch gelebte Fußballleidenschaft erheblich mehr Spaß macht. Durch Fußball verdorbene Nachmittage ergeben letztlich nur dann einen tieferen Sinn, wenn wir durch ihn auch Sternstunden erleben. Und dafür sind nicht ausschließlich Tabellen und Resultate verantwortlich, sondern wir selbst. Wenn wir alles vergessen oder geringschätzen, was im Fußball mit Menschlichkeit, Fehlbarkeit, Schwächen und Schwankungen zu tun hat, ist unser Fußball ärmer. Und wir sind dann im Grunde nicht ein Freund der Menschen auf dem Rasen, sondern ein Freund der Zahlen auf der Anzeigetafel. Wer Fußball als Spiel begreift, in dem in erster Linie Menschen miteinander zu tun haben, die durchaus Fehler machen, und zu dem Niederlagen und Täler dazugehören, wird für sein Hobby nicht öfter belohnt als die anderen. Aber reicher. Und nachhaltiger. Wenn wir in uns hineinhorchen, ist es eine erstrebenswerte und reizvolle Vision, Fußball unter allen Umständen mit Empathie zu verbinden. Das ist nicht immer einfach, aber es geht.

Nehmen wir das alles mit. Lernen wir, leiden wir, hoffen wir, lieben wir. Jeder so, wie er es für sich am besten kann. Aber vielleicht am Ende dieses Buches etwas bewusster. Wobei ich auch bewusstlos schon sehr schöne Fußballmomente erlebt habe. Aber das ist wieder ein anderes Thema.

DER ANFANG VON ALLEDEM

oder: Die goldene Mannschaft über dem Bett meines Bruders

Wenn ich mir heute alte Fotoalben anschaue, kann ich ziemlich genau zurückverfolgen, wann »es« passiert sein muss. Ich sehe Bilder von mir als Vierjährigen, in einem Alter, in denen Autos mein einziges Hobby waren. Ich lungerte bei der alten Tankstelle in unserem Dorf herum und schaute dem Inhaber Herrn Jäckel beim Reparieren der Autos zu. In allen Kinderbüchern interessierten mich vor allem die Seiten, auf denen Autos zu sehen waren. Ich konnte Fabrikate am Motorengeräusch unterscheiden, habe mir Bilder meiner Lieblingsautos aufgehängt (Favoriten waren der sogenannte Ford Badewanne und der ebenfalls sogenannte Buckelvolvo) und hatte eine riesige Sammlung an Matchbox-Autos.

Mein zehn Jahre älterer Bruder Ingo spielte kurzzeitig Fußball beim TSV Lahausen, und mein fünf Jahre älterer Bruder Götz schrieb mit blauem Wachsstift die Buchstaben FCB an die Innenseite seiner Kleiderschranktür. Bei mir unterdessen: Autos. Sonst nichts. Später vielleicht noch Urmel aus dem Eis, aber Fußball spielte keine Rolle. Okay, man kam damals (ca. 1969) an Gerd Müller nicht vorbei, und das nicht nur wegen seiner unglaublich stämmigen Oberschenkel. Den Namen hatte ich schon gehört, und als Ingo seine Sammeltafel »Shell Traum-Elf 1969« mit bronzefarbenen Münzen der damaligen Nationalspieler komplett hatte, habe ich immer mal verzückt über Müllers Gesicht gestrichen. Ohne Hintergedanken. Ich habe einfach kritiklos akzeptiert, dass der scheinbar sehr wichtig war. Nicht ganz so wichtig wie der Ford Badewanne, aber schon auch wichtig. Dass meine Mutter meine Brüder zum besseren Essen animierte, indem sie die beiden darauf hinwies, dass Franz Beckenbauer auch immer Suppen von Knorr äße, hatte bei mir keinerlei Effekt.

Als ich im Begriff war, fünf zu werden, war alles schon etwas anders. Die WM in Mexiko nahte, und es häuften sich abendliche Qualifikations- und später Testländerspiele. Meine Brüder durften sie sehen, ich nicht. Ich war zu klein. Und ich war immer noch kein Fußballfan. Aber doof war ich auch nicht. Ich begriff, dass eine vorgetäuschte, erwachende Leidenschaft für abendliche Länderspiele in Tateinheit mit meinen braunen Dackelaugen und etwas Maulerei immer häufiger dazu führte, dass ich abends mit meinen Brüdern abhängen und chillen durfte, um Länderspiele von Gerd Müller und seinen Kumpanen zu schauen. Es hat mich nicht sehr interessiert, aber ich durfte länger aufbleiben, und meine großen Brüder fand ich toll. Und dann passierte es. Kaum merklich, erst zaghaft, aber dann mit immer mehr Wucht: Ich wurde Fußballfan.

Anstelle der Serie »Shell Traum-Elf 69« gab es 1970 zur WM in Mexiko die Münzserie »Unser weltmeisterliches Team«, auch von Shell. Die Münzen musste man in einen aufklappbaren WM-Spielplan stecken. Unterdessen hatte mein Bruder sich die Kicker-Sondernummer zur WM gekauft, in deren Heftmitte ein doppelseitiges Poster der Nationalelf nachdrücklich darauf pochte, aufgehängt zu werden. Mein Bruder erbarmte sich und pinnte dieses Poster über sein Klappbett. Ich werde das Bild nie vergessen, weil ich es als knapp Fünfjähriger angestarrt habe, bis ich mir jedes noch so kleine Detail eingeprägt hatte. Es war ein Flutlichtspiel gegen Rumänien in Stuttgart, und das Licht, in dem unsere Nationalspieler sich zur Hymne aufgestellt hatten, sah golden aus. DFB-Kapitän war Wolfgang Overath, was mich mit fünf Jahren aber noch nicht sonderlich verwirrte. Hinter den Spielern sah man die ebenfalls golden glänzenden Blasinstrumente der Militärkapelle. Und Berti Vogts stand ganz außen und war nicht viel größer als ich. Ich verfiel diesem Hobby also durch das reliefartige Gesicht von Gerd Müller auf einer mittlerweile rostigen Shell-Münze, durch den feierlich-goldenen Lichtschein auf dem Kicker-Poster der Nationalelf aus dem April 1970, durch die Gelegenheit, an Länderspielabenden länger aufzubleiben und durch den Schlüsselanhänger meines Bruders in Gestalt von Juanito, dem WM-Maskottchen von 1970. Mehr brauchte ich für den Anfang nicht, um zu glauben, ich sei neuerdings ein Fußballfan. Aber dann kamen in rascher Folge immer mehr Argumente hinzu, die die Sinnlichkeit und Attraktion des Fußballs für mich rasend schnell erhöhten. Die cremig-gelben Trikots der brasilianischen Weltmeisterelf. Die omnipräsenten Anzeigen, mit denen Gerd Müller für Mars-Schokoriegel warb, die schon damals verbrauchte Energie sofort zurückbrachten, was mir mit fünf Jahren schon sehr beeindruckend vorkam. Ich war mir damals auch sicher, dass Gerd Müller nur durch Schokoriegel diese dicken Oberschenkel hatte, was genau genommen ja auch sehr gut sein kann.

Es begann die Phase, für die Fanforscher und Irrenärzte bestimmt einen Fachbegriff haben. Die Zeit, in der ich infiziert, aber noch nicht völlig wahnsinnig war. Mir reichten gelegentliche Fußballspiele im Fernsehen, ich kickte selbst gerne auf dem Schulhof meiner Grundschule in Kirchweyhe, aber ich war dabei nicht verbissen. Ich fand es toll, dass ich ein Bild von Karl-Heinz Krott (Alemannia Aachen) in einer Heinerle-Wundertüte fand, aber mir reichte dieses eine Bild vollkommen. Ich musste nicht alle 200 Bilder aus dieser Serie haben. Hey … ich hatte Karl-Heinz Krott (Alemannia Aachen)! Den habe ich bei mir ans Bettgestell geklebt. Neben irgendeinen Auto-Sticker.

Zum Ausbruch kam alles im Jahr 1974. Plötzlich, gewaltig, unaufhaltsam. Fußball war jetzt überall. Es gab Poster der Fußballstars in der BRAVO, Karikaturen der deutschen WM-Stars von Volker Erns-ting in der HörZu, »Fußball ist unser Leben« im Radio, WM-Sammelbilder in Sprengel-Schokolade, die Maskottchen Tip und Tap als Sticker in Nutella-Deckeln. Und ich wollte das ALLES. Ich wachte in jenen Wochen auch schon mal morgens euphorisiert auf, weil ich geträumt hatte, Franz Beckenbauer sei bei uns vor dem Haus und hielte gerade ein Schwätzchen mit meinem Vater. In der Garageneinfahrt. Im Nationaltrikot tauschte er sich mit meinem Vater aus, der gerade den Rasen sprengte. War aber wirklich nur ein Traum. Deutschland gewann den WM-Titel 1974 an meinem neunten Geburtstag. Es gab kein Zurück mehr. Und ich wollte jetzt auch alles nachholen, was ich versäumt hatte. Ingos bester Freund klingelte eines Tages und hatte den ganzen Arm voller alter Sammelalben: »Ich glaube, Du bist jetzt der Spezialist!« In einem der Alben fand ich eine wunderschöne, alte Autogrammkarte von Hans Tilkowski, mit einer der elegantesten Unterschriften, die ich je sah. Die Sammelalben führten mich zu alten Buchschinken wie Die großen Spiele 1969. Das konnte ich auswendig. In der Gemeindebücherei Kirchweyhe lieh ich mir das WM-Buch von Hennes Weisweiler zur WM 1970 aus. Elfmal insgesamt. Danach konnte ich auch das auswendig.

Es folgten die Jahre, in denen die Neugier und der Hunger immer größer wurden. Dies ist gleichbedeutend mit jenem Zeitraum, den viele Fußballprofis mit dem Satz »Als Kind war ich Fan von Bayern München, aber da hatte ich auch noch keine Ahnung!« zusammenfassen. Obwohl Franz Beckenbauer nie in unserer Garageneinfahrt stand, fand ich die Bayern damals kurz spannend. Ich schrieb an Beckenbauer, Gerd Müller und Co. und bat um Autogramme. Beckenbauers Autogramm war wunderschön. Das von Gerd Müller bestand aus mehreren Kringeln. Meine Passion für Autogramme erhielt erst Jahre später, vor der WM 1978, einen bitterbösen Dämpfer, als ich das Autogramm von Karl-Heinz Rummenigge in der Post hatte. Ich hatte ihm einen langen Brief geschrieben, höflich, persönlich, schwärmerisch. Aber anders als seine Kollegen Berti Vogts, Franz Beckenbauer, Kevin Keegan oder Wolfgang Overath verschickte er lediglich eine Werbepostkarte mit einem eindeutig gedruckten Autogramm. Ich war am Boden. Manchmal wünsche ich mir, er würde heute ahnen, wie unglücklich er damals Kinder wie mich gemacht hat. Ich fühlte mich betrogen.

Rummenigges gedruckte Unterschrift war meine erste echte Enttäuschung als Fußballfan.