Intro

Frauen in langen roten Gewändern gehen vorsichtig durch die Straßen, ihre Köpfe sind gesenkt, ihre Gesichter von weißen Hauben verborgen. Ihre Identitäten spielen keine Rolle – sie sind Eigentum. Ihre Körper stehen im Dienst des Fortbestands eines totalitären Staates, ihre eigentlichen Namen wurden ersetzt durch den Hinweis darauf, wem sie gehören: Desfred, Desgeorge, Desglen. Sie sind Sklavinnen ihrer männlichen Besitzer, sie sind deren Gefäße, die gebären sollen. Wer nicht gebären kann, ist entbehrlich.

Die Welt, die die kanadische Autorin Margaret Atwood 1985 in ihrem Roman Der Report der Magd zeichnet, der seit 2017 als Serie Erfolge feiert, ist eine dystopische Fantasie. Doch Atwood fügt darin Umstände zusammen, unter denen Frauen irgendwo und irgendwann tatsächlich schon leben mussten.1 Denn dass Frauen über ihre Körper nicht selbst bestimmen, sondern ihr Entscheidungsspielraum von politischen oder religiösen Systemen abhängt, ist eine jahrtausendealte historische Erfahrung. Das Wesen dessen, was Atwood beschreibt, prägt global auch aktuell die Leben von Frauen und Queers: der nicht enden wollende Kampf gegen ihre Unterdrückung durch patriarchale Institutionen, für ihre Rechte und um körperliche Selbstbestimmung. Es ist kein Zufall, dass Feminist:innen* in Irland, den USA, Argentinien oder Italien seit einigen Jahren rote Umhänge und weiße Hauben als Zeichen ihres Protests für legale Schwangerschaftsabbrüche tragen.

Wir schreiben das 21. Jahrhundert – nie haben Sexualaufklärung, jahrzehntelange Kämpfe um Emanzipation sowie Medizin und Technik in reproduktiver Hinsicht so viele Möglichkeiten eröffnet wie heute. Hierzulande verspricht sichere Verhütung freie Sexualität, und Kinder zu bekommen oder nicht scheint längst keine Frage des Schicksals mehr. Reproduktionstechnologien sollen helfen, falls sich der Kinderwunsch nicht erfüllt, und auch die biologische Uhr scheint der Vergangenheit anzugehören: Eizellen etwa können eingefroren oder von einem Körper in einen anderen verpflanzt werden. Selbst Leihmutterschaft, obschon ethisch hochumstritten, ist medizintechnisch kein Wunderwerk mehr.

Politisch gehören wir Autorinnen dieses Buchs wohl zur ersten Generation, die mit der Idee von Geschlechtergerechtigkeit aufgewachsen ist – und mit der Vorstellung, dass die Gleichstellung der Geschlechter auch das Recht auf den eigenen Körper umfasst. Trotz aller Möglichkeiten: Bis heute existieren zahlreiche rechtliche, politische und gesellschaftliche Hürden und Einschränkungen, wenn es um Frauenkörper und um Entscheidungen geht, die damit zusammenhängen. Wie sehr weibliche und queere Körper noch immer fremdbestimmt und staatlicher oder patriarchaler Kontrolle ausgesetzt sind und wie wenig reproduktive Rechte ihnen zugestanden werden, zeigt sich in nahezu allen Aspekten, die mit der Möglichkeit zu tun haben, schwanger zu werden – oder dem Versuch, genau das zu unterbinden.

Reproduktive Rechte, oder genauer »sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte«,2 sind Rechte, die »alle Aspekte reproduktiver Gesundheit und das sexuelle Selbstbestimmungsrecht« betreffen:3 die freie Entscheidung für Elternschaft oder dagegen, das Recht, sowohl über die Anzahl als auch den Zeitpunkt der Geburt von Kindern zu entscheiden sowie das Recht, über die dafür nötigen Informationen, Kenntnisse und Mittel zu verfügen.4 Letztlich geht es also um alle Bereiche im Lauf eines Lebens, die die Fortpflanzung betreffen – von der Verhütung bis zur Geburt.

Diese Rechte über den eigenen Körper sind als Menschenrechte in verschiedenen völkerrechtlichen Dokumenten verbindlich verankert. Staaten sind dazu verpflichtet, sie zu achten und die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Trotzdem mangelt es, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, global an ihrer Ausgestaltung und Umsetzung. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn Menschen zwangssterilisiert werden – bis in die 1990er Jahre hinein zulässige Praxis im heutigen EU-Land Tschechien, um Romn:ja an der Fortpflanzung zu hindern. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn Polen ein nahezu totales Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen beschließt, laut dem sogar Föten ausgetragen werden müssen, die keine Überlebenschancen haben. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn Frauen keine Wahl haben, wie sie verhüten möchten, wenn etwa in Uganda Frauen langfristig wirkende Hormonimplantate eingesetzt werden, obwohl sie lieber eine temporär wirksame Spritze gehabt hätten. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn Frauen in der Ukraine als günstige Leihmütter arbeiten, damit sich wohlhabende Paare aus aller Welt den Traum von einer Familie erfüllen können. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn in Deutschland Krankenhäuser Schwangere in den Wehen abweisen oder wenn Frauen weltweit unter der Geburt sterben, weil die medizinischen Bedingungen miserabel sind.

Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist um seiner selbst willen unabdingbar: Eine Person, die nicht über ihren Körper und die eigene Fortpflanzung bestimmen kann, leidet unter konkreten Zwängen. Diese können unmittelbar bedeuten, kein Kind bekommen zu können oder ein Kind austragen zu müssen, das nicht gewollt ist. Sie können auch bedeuten, ein Kind unter Verhältnissen zur Welt bringen zu müssen, die erniedrigend oder nicht sicher sind. Fehlende Verhütungsmittel können zu unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen führen, die 47 000 Frauen jährlich das Leben kosten. Frauen sterben auch an den Folgen von Schwangerschaft und Geburt – 295 000 sind es derzeit jedes Jahr.

Darüber hinaus wirkt sich die Frage, ob Frauen und Queers selbst über ihre Körper bestimmen, auf viele weitere Aspekte ihrer Leben aus. Ob eine Person Zugang zu Verhütungsmitteln hat, entscheidet darüber, ob sie ungewollt schwanger wird und – falls sie das Kind austrägt – möglicherweise nicht mehr zur Schule gehen, studieren, arbeiten oder sich überhaupt frei entfalten kann. Wer sich wie lange um wie viele Kinder kümmert, prägt den beruflichen wie privaten Werdegang bis ins hohe Alter. Damit einher gehen materielle Lebensbedingungen wie gleicher oder vielmehr ungleicher Lohn und ungleiche Rente. Reproduktive Rechte weisen also weit über sich selbst hinaus und sind deshalb heftig umkämpft. Für Frauen und gebärfähige Personen sind sie die Grundlage für Selbstbestimmung – für viele andere ein Instrument der Macht.

Das zeigt sich etwa an historisch gewachsenen Geschlechterrollen, auf denen westliche Gesellschaften aufgebaut sind und die zum Teil auf religiösen Vorstellungen beruhen. Im Mittelalter verfolgt die katholische Kirche Frauen als Hexen, die Wissen über den weiblichen Körper besitzen. Martin Luther sieht in Mutterschaft den »eigentlichen ›Gottesdienst‹«:5 Während der Reformation wird die Frau auf Mutterrolle und Haus reduziert. Die Herausbildung der Kernfamilie im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts verstärkt diese Ideen. Der Mann, der sich um das Geld kümmert, die Frau als Mutter: Dieses mächtige Ideal prägt Kultur und Politik noch immer. Bis heute zementieren rechtliche Regelungen und ökonomische Bedingungen diese Ungleichheit: in Deutschland etwa das Ehegattensplitting, das massive Anreize für verheiratete Frauen schafft, nicht oder nur wenig erwerbstätig zu sein, Minijobs, die vor allem Frauen in die Rentenarmut treiben, und ein eklatanter Mangel an Kitaplätzen. Dass anstelle der Mütter die Väter zu Hause bleiben und deutlich weniger verdienen, kommt in verschwindend geringem Maß vor.

Über die Jahrhunderte hinweg werden zudem zentrale Gesetze geschaffen, die Frauen das Recht entziehen, über den eigenen Körper zu entscheiden, wie die Sanktionierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Bis heute sind Abbrüche auch hierzulande illegal und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei. Gesetze wie dieses dienen auch dazu, die Größe und Zusammensetzung von Bevölkerung zu beeinflussen. Nationalstaaten, ob religiös oder säkular geprägt, haben ein Interesse daran, ihre Bevölkerungen zu regulieren,6 damit diese wahlweise wächst oder schrumpft. Und die Größe von Bevölkerung kann am einfachsten über den Zugriff auf Frauenkörper beeinflusst werden. Dieser Zugriff basiert auf einem ungleichen Zugang zu Macht und Rechten, den er gleichzeitig prägt. Er zementiert Abhängigkeiten und einen grundlegenden Unterschied zwischen den Geschlechtern. Wer die Funktion von Frauen vor allem darin sieht, zu gebären und Mutter zu sein, misst Verhütung oder legalen und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen kaum Wert zu. Der Kampf um körperliche Selbstbestimmung ist ein feministischer.

Wer soll Kinder bekommen – und wer nicht?

Mit den Vorstellungen darüber, wie Bevölkerung wachsen oder schrumpfen soll, sind häufig Ideen verknüpft, wer Kinder bekommen soll und wer nicht. Staaten und Religionen schränken dafür körperliche Rechte verschiedener Gruppen ein. Manchen potenziell Schwangeren ist der Zugang zu reproduktiven Rechten noch drastischer versperrt als anderen, vor allem denjenigen, die von Rassismus, Klassismus, Behinderten- oder Queerfeindlichkeit betroffen sind.** Während weiße*** Frauen seit den 1970er Jahren um ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung kämpfen – und dabei vor allem auf das Recht auf Schwangerschaftsabbruch fokussieren –, kämpfen Schwarze Frauen und queere Menschen oft um ihr Recht, überhaupt schwanger werden zu dürfen und während der Schwangerschaft ausreichend medizinisch versorgt zu werden. Anders als weiße sind Schwarze Frauen und Queers nicht angehalten, Kinder zu bekommen.

Im Gegenteil: Global betrachtet wird ihre Fruchtbarkeit problematisiert und bekämpft. So sind etwa Romn:ja von Zwangssterilisation betroffen, und Menschen mit Behinderung kämpfen gegen eine strukturell behindertenfeindliche Gesellschaft, die sie als Eltern einschränkt. Wenngleich all diese Kämpfe auf den ersten Blick verschiedene Stoßrichtungen haben, sind sie untrennbar Teil des eingeforderten Rechts, selbst über den eigenen Körper zu entscheiden. Reproduktive Rechte sind ein Seismograf für den Zustand der jeweiligen Demokratie. Wo antidemokratische Regierungen an die Macht kommen, beschneiden sie reproduktive Rechte oft als eine der ersten Amtshandlungen.

Das ist nicht verwunderlich: Weibliche und queere Körper sind Ziel rechtsextremer und fundamentalistischer Ideologie und Praxis. Was Sexualität, Verhütung, Geburt und Mutterschaft angeht, soll die Einzelne keine Rechte haben – denn Frauen, die eine freie Sexualität leben, die selbst darüber entscheiden, ob und wann sie Kinder bekommen, lassen sich schlecht kontrollieren und beherrschen. Aber rechte und fundamentalistische Systeme brauchen gleichzeitig bestimmte Frauen, die zuverlässig Nachwuchs produzieren – sonst funktionieren sie nicht. Fundamentalistische AkteurInnen wollen Selbstbestimmung über den Körper verhindern, auch und gerade sexuelle und reproduktive. Das ist durchaus kein Nebeneffekt, sondern vielmehr zentraler Bestandteil ihrer Politik.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ließ die Änderung des Geschlechtseintrags per Gesetz verbieten. Die USA unter Präsident Donald Trump strichen sämtlichen ausländischen NGOs, die mit Schwangerschaftsabbrüchen zu tun haben, die finanzielle Unterstützung. Und die sächsische AfD erkundigte sich im Landtag danach, wie viel Geld das Land für die Sterilisation von geflüchteten Frauen zur Verfügung stellen könne.7 In rechten und rechtsextremen Ideologien vermengen sich antifeministische Bevölkerungspolitik, Antisemitismus und Rassismus. Wie die Terroranschläge im neuseeländischen Christchurch oder in Halle zeigen, kann das tödliche Folgen haben.

Körper, Kinder, Kämpfe

Wir konzentrieren uns in diesem Buch auf vier Bereiche, die besonders prägend für das Leben eines Menschen sind, der schwanger werden kann: Verhütung, Schwangerschaftsabbruch, Reproduktionstechnologien und Geburt. Dabei richten wir den Blick nicht nur nach Deutschland, sondern, um Zusammenhänge sowie globale Hierarchien zu verdeutlichen und Strukturen sichtbar zu machen, auch nach Irland, Nigeria, Indien, Argentinien, Polen oder in die USA.

Im ersten Kapitel fragen wir danach, wie Bevölkerungspolitik historisch gewachsen ist und welche teilweise gewaltvollen und menschenfeindlichen Ausprägungen sie hat. Wir zeigen, wie Kirche und Staat im Lauf der Jahrhunderte ihre Vorstellungen darüber durchsetzen, wer in einer Gesellschaft Kinder bekommen soll und wer nicht.

Kapitel zwei beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle Verhütung dabei spielt. Manchen Menschen wird der Zugang zu Verhütung erschwert, anderen wird sie aufgezwungen – je nachdem, wessen Kinder im jeweiligen Kontext gewollt sind. Wir schauen auf die dahinterliegenden Strukturen und Vorstellungen.

Kapitel drei behandelt ein zentrales feministisches Anliegen: den Kampf um freien und sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Und wir beschreiben die konservativen, christlich-fundamentalistischen, teils rechtsextremen internationalen Netzwerke, die sich dem Kampf gegen eben diesen Zugang und gegen reproduktive Rechte generell verschrieben haben.

Kapitel vier widmet sich den in den vergangenen Jahrzehnten entstandenen Reproduktionstechnologien wie der sogenannten künstlichen Befruchtung, der Eizellabgabe und der Leihmutterschaft. Wer hat Zugang zu diesen Technologien, wer greift auf sie zurück – und wessen reproduktive Fähigkeiten werden dafür genutzt?

Im fünften Kapitel zeigen wir, dass Kinder mancher Menschen gesellschaftlich zwar unbedingt erwünscht sind, der Staat sich jedoch kaum bemüht, die Umstände des Kinderkriegens würdevoll zu gestalten. Wir fragen, welche Auswirkungen Hebammenmangel, Gewalt unter der Geburt und Diskriminierung im Gesundheitssystem auf Schwangere haben.

Wir lassen in dieser Struktur zwangsläufig Themen aus oder streifen sie nur am Rande, obwohl sie mit Fruchtbarkeit zu tun haben: die Menstruation, deren Tabuisierung bis heute in vielen Ländern dazu führt, dass Mädchen nicht zur Schule gehen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben dürfen; die Stillzeit oder die Umstände der Mutter- beziehungsweise Elternschaft; den Kampf gegen (sexualisierte) Gewalt, auch gegen weibliche Genitalverstümmelung. Gerade im Zusammenhang mit Reproduktionstechnologien, aber auch mit Schwangerschaftsabbrüchen spielen Verfahren der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik eine Rolle – ebenso die Frage, welche Folgen diese in einer strukturell behindertenfeindlichen Gesellschaft haben. All diese Themen sind zentral in feministischen Kämpfen für eine inklusive und egalitäre Gesellschaft. Wir klammern sie in diesem Buch deshalb aus, weil wir uns auf die Körper derer fokussieren, die schwanger werden können. Uns geht es um Fortpflanzung, um Strukturen, die diese prägen, und um Bedingungen und Umstände, unter denen sie praktiziert wird oder werden muss.8

Nicht nur Frauen haben einen Uterus – und manche Frauen haben keinen oder keinen mehr –, und nicht nur Frauen werden schwanger, sondern zum Beispiel auch trans Männer oder nichtbinäre Personen. Wir schreiben deswegen nicht nur von Frauen, sondern auch von Menschen, die schwanger werden können, von Schwangeren oder von Menschen mit Uterus. Wir nutzen die Kategorie Frau, um globale, auch ökonomische Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts sichtbar zu machen. Wenn wir aber von Frauen schreiben, sind alle Menschen gemeint, die sich selbst so definieren: trans Frauen sind Frauen. Obwohl es mehr als zwei Geschlechter gibt, kommt es immer wieder vor, dass wir trotzdem nur von Frauen und Männern schreiben – auch deshalb, weil viele Studien auf binären Kategorien aufbauen.

Wir wollen mit diesem Buch zeigen, wie eng die einzelnen Bereiche verflochten sind, die mit reproduktiven Rechten zu tun haben, aber wie wenig sie zusammen gedacht werden. Fehlende Verhütung hat unmittelbar mit der Forderung nach sicheren Schwangerschaftsabbrüchen zu tun, die Forderung nach sicheren Abbrüchen ist untrennbar von der Forderung, allen Frauen Mutterschaft zuzugestehen. Fehlende Rechte fußen in dieser Hinsicht auf denselben religiösen, kulturgeschichtlichen und ideologischen Fundamenten. Phänomene, die nur scheinbar für sich stehen, müssen gedanklich verknüpft werden, um zu sehen, worum es geht: um eine sozial gerechte, diskriminierungsfreie, selbstbestimmte und feministische Körperpolitik.

Generationen von Feminist:innen vor uns haben viel erkämpft, wovon wir heute profitieren. In den vergangenen Jahrzehnten ging die Umsetzung reproduktiver Rechte teilweise voran. In vielen Ländern wurden etwa Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch liberalisiert, darunter jüngst in Neuseeland, Argentinien und Gibraltar. Im Juni 2021 stimmten die Abgeordneten des EU-Parlaments für den Mati´c-Report, der anerkennt, dass alle Bürger:innen Europas »Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit«9 haben sollten, inklusive des Zugangs zu legalen und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen. Ein Meilenstein. Gleichzeitig wäre es ein gefährlicher Trugschluss, anzunehmen, dass Fortschritt linear wäre – was sich schon daran zeigt, dass sich Feminist:innen in Ländern wie Deutschland oder den USA gegen einen erstarkenden Antifeminismus zur Wehr setzen müssen. Manche Kämpfe werden zurückgeworfen, viele treten auf der Stelle. Feministische Errungenschaften müssen immer wieder neu verteidigt werden.

Dieses Buch soll mehr sein als nur ein Überblick über den betrüblichen Stand der Dinge. Es soll zeigen, wie Feminist:innen zu verschiedener Zeit und in zahlreichen Staaten und Regionen gegen dieselben Strukturen kämpften und kämpfen, auch wenn diese in unterschiedlichem Gewand daherkommen. Damit soll das Buch letztlich Inspiration sein: Wie könnte die Welt aussehen, wie könnten Leben gelebt werden, wenn der Kampf um reproduktive Rechte tatsächlich voranginge?


* Sprache prägt Denken und Handeln, weshalb wir geschlechtersensible Sprache nutzen. Wir gendern mit dem Doppelpunkt, schreiben also etwa »Politiker:innen«, um deutlich zu machen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. An Stellen, an denen Ideologie und Denkmuster der beschriebenen Personen oder Gruppen auf ein binäres Geschlechterbild begrenzt sind, verwenden wir das Binnen-I und schreiben zum Beispiel »PolitikerInnen«. Das ist nicht immer trennscharf, verweist aber auf die dahinterliegenden Strukturen.

** Wir Autorinnen sind drei cis Frauen, alle sind weiß, eine ist jüdisch. Wir haben alle studiert und sind heterosexuell. Es gibt gleich mehrere Diskriminierungsebenen, von denen wir nicht selbst betroffen sind. Uns ist bewusst, dass unsere Perspektiven aus diesem Grund beschränkt sind.

*** Schwarz und weiß bezeichnen keine biologische Eigenschaft und keine reelle Hautfarbe, sondern sind politisch und sozial konstruierte Kategorien in einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaftsordnung, was Kursivierung und groß geschriebenes S sowie klein geschriebenes w markieren.

Kapitel 1

Bevölkerungspolitik

»Es sind die Geburtenraten. Es sind die Geburtenraten. Es sind die Geburtenraten« – mit diesen manischen Worten eröffnet der Attentäter sein 74 Seiten langes rechtsterroristisches »Manifest«.10 Seine Mission: Weiße Frauen müssten mehr Kinder bekommen, der »große Austausch« der weißen Bevölkerung durch Einwanderung müsse gestoppt werden. 51 Menschen kommen bei diesem Anschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch im März 2019 ums Leben, 50 weitere werden zum Teil schwer verletzt.

Sieben Monate später, im Oktober 2019, versucht ein Mann in Halle, in die Synagoge einzudringen, um ein Blutbad anzurichten. Als er daran scheitert, ermordet er vor dem Gebäude und in einem nahegelegenen türkischen Imbiss zwei Menschen. Er streamt seine Tat im Netz, das Video eröffnet er mit den Worten: »Feminismus ist schuld an der sinkenden Geburtenrate im Westen, die die Ursache für Massenimmigration ist. Und die Wurzel dieser Probleme ist der Jude.«11

Christchurch und Halle. Weitere Tatorte lassen sich hinzufügen, Utøya oder Hanau etwa. An all diesen Orten haben rechtsextreme Männer terroristische Attentate verübt, überzeugt von derselben Idee: Der »große Austausch« – »The Great Replacement«, so der Titel der Erklärung von Christchurch – müsse verhindert werden. Der »große Austausch« ist Kampfbegriff und rechtsextreme Verschwörungsideologie zugleich, es ist das derzeit am weitesten verbreitete Konzept der Neuen Rechten:* Durch hohe Geburtenraten unter nicht-weißen und niedrigen unter weißen Frauen stehe ein Genozid der »europäischen« Gesellschaften bevor. Schuld daran trage auch der Feminismus.

Viel wird über die rassistischen und antisemitischen Hintergründe der Anschläge berichtet und diskutiert. Die Verachtung von Frauen aber und die bevölkerungspolitische Komponente, die diesen Taten ebenfalls zugrunde liegen, werden oft außer Acht gelassen. Dabei sind rassistische, antisemitische, bevölkerungspolitische und antifeministische Dimensionen in rechtsextremen Ideologien untrennbar verwoben. Die Körper von Frauen nehmen in diesem Weltbild eine passive Rolle ein. Sie sind Hüllen für das Ziel, die »Volksgemeinschaft« zu erhalten. Eine weiße Frau, die keine Kinder bekommt, ist eine Gefahr für den sogenannten Volkserhalt. Die »Anderen« aber sollen sich weder fortpflanzen noch, wie bei den Attentaten ins terroristische Extrem getrieben, überleben. Zur angestrebten rechtsextremen und »männlichen Hegemonie über die Welt gehört […] die Idee, die Beschaffenheit der Bevölkerung zu bestimmen.«12 Und das funktioniert besonders gut über die Kontrolle weiblicher Reproduktionsfähigkeit.

Auch in die parlamentarische Sphäre der Bundesrepublik ist dieses Denken vorgedrungen. Ein Plakat der AfD aus dem Bundestagswahlkampf 2017 zeigt den Torso einer weißen Schwangeren. »Neue Deutsche? Machen wir selber« steht darunter. Seit ihrem Einzug in den Bundestag nutzt die AfD diesen als Bühne, um ihre Ideen zu propagieren – inklusive der Verschwörungsfantasie vom »großen Austausch«. So nennt ein Abgeordneter der Fraktion im November 2018 den von den Vereinten Nationen geplanten globalen Migrationspakt ein »trojanisches Pferd« und eine »verantwortungslose Einladung zur weltweiten Völkerwanderung nach Deutschland ohne Obergrenze«. Als Folgen prognostiziert er »Chaos, Gewalt und Verdrängung«.13 Was die Geburtenraten angehe, beschwert sich ein anderer Abgeordneter im November 2020, liege Deutschland weltweit auf den hinteren Plätzen. Nötig sei deshalb eine »aktive Bevölkerungspolitik«: »Für mehr Kinder!«14 beendet er seine Rede kämpferisch – deutsche, versteht sich.

Was die Propaganda der AfD so gefährlich macht, ist, dass sie nicht nur für Rechtsextreme anschlussfähig ist. Zwar wurden bevölkerungspolitische Argumente in der Bundesrepublik lange strikt gemieden: Zu stigmatisiert war diese Sphäre nach 1945 durch den Holocaust und die weiteren Verbrechen des NS-Regimes, das eugenische Selektion bis hin zum Genozid praktizierte, zu verknüpft mit rassistischem Gedankengut. Doch um die Jahrtausendwende schwindet die Scheu vor der Idee, mit politischen Mitteln in die Zusammensetzung von Bevölkerung einzugreifen. In den 1990er Jahren hat ein Diskurs an Fahrt aufgenommen, der die alternde Gesellschaft mit perspektivisch weniger Einwohner:innen problematisiert. Mit Begriffen wie »demographischer Wandel«15 wird die Debatte über Bevölkerungspolitik neu aufgezogen. Vor allem angesichts sich leerender Rentenkassen wird eine Erhöhung der Geburtenrate explizit eingefordert: Eine »nachhaltige« Familienpolitik müsse sich auch am »Ziel der Geburtenentwicklung messen«16 lassen, konstatiert etwa die damalige Familienministerin Renate Schmidt (SPD) im Jahr 2003. Adressiert werden dabei fast ausschließlich Frauen.

Rhetorisch geht es dabei in erster Linie um die Quantität der Bevölkerung, nicht um eine vermeintliche Qualität ihrer Zusammensetzung. Die Politik setzt pronatalistische Anreize, will also Menschen dazu animieren, sich zu vermehren. Doch dabei ist ihr keineswegs egal, wer Kinder bekommt. Um der überalternden Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, wird die Steigerung der Geburtenrate im eigenen Land propagiert. Menschen den Weg nach Deutschland durch Migration zu öffnen, lehnen viele hingegen strikt ab. Auch klassistische Kriterien sind salonfähig: »Eine anhaltend hohe Kinderlosigkeit unter Akademikerinnen kann […] zu Engpässen beim Fach- und Führungskräfte-Nachwuchs führen«, heißt es 2004 in einer gemeinsamen Broschüre des Bundesministeriums für Frauen und Familie, des Bundesverbands der Deutschen Industrie und des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.17 Als Mittel der Wahl im Kampf gegen den Führungskräftemangel wird hier verstanden, mehr Kinder von Akademiker:innen einzufordern – und nicht etwa, soziale Ungleichheit anzugehen und zum Beispiel Kindern aus Arbeiter:innenfamilien bessere Aufstiegschancen zu ermöglichen. Selbst sinnvolle Instrumente wie Eltern- und Kindergeld unterstützen keineswegs alle Menschen, die Kinder bekommen. Anspruch auf das Geld haben zwar auch Menschen, die Hartz IV beziehen – doch es wird zu 100 Prozent auf das Arbeitslosengeld angerechnet. Arme Familien bekommen also keinen Cent davon, obwohl sie das Geld besonders dringend bräuchten.

Dass vor allem Kinder von Deutschen mit einem gewissen Einkommen und Bildungsgrad erwünscht sind, daran dockt im Jahr 2010 Thilo Sarrazin mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab an – und läutet eine offensiv rassistische Kehrtwende im bundesdeutschen Bevölkerungsdiskurs ein. Sarrazin schreibt, »dass wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zur Welt bringen.«18 Wie die Anhänger:innen der Theorie vom »großen Austausch« verbindet auch er rassistische, speziell antimuslimische, antifeministische, biologistische und bevölkerungspolitische Ideologien. Muslim:innen hätten eine »überdurchschnittliche Fertilität«,19 behauptet Sarrazin und prognostiziert: »Wer sich stärker vermehrt, wird am Ende Europa besitzen.«20

Sarrazin spricht offen aus, was bis dahin allenfalls als Ressentiment durchschimmerte. Aber seine Ausführungen fallen auf fruchtbaren Boden. Sein Buch schlägt mit mehr als einer Million verkaufter Exemplare binnen weniger Wochen ein.21 Es verändert die Debatte über Migration, Integration und Identität in Deutschland nachhaltig und schafft Voraussetzungen zur Entstehung rassistischer Parteien wie der AfD. Manche seiner Thesen sind im gesellschaftlichen Bewusstsein heute so etabliert, dass das »Bestandsniveau« von 2,1 Kindern pro Frau, das die AfD als Zielgröße für die deutsche Fortpflanzung bemüht, vollkommen unkritisch auch in einer Studie des Bundesministeriums für Familie und Frauen auftaucht.22

Die Anfänge der Bevölkerungspolitik

Über die Bemächtigung von Frauenkörpern in die Zusammensetzung der Bevölkerung einzugreifen hat eine lange, weit in die Geschichte zurückreichende Tradition. Die Idee, dass eine Frau eigene Rechte hat und ihren Körper nicht nur Ehemann und Staat zur Verfügung stellen muss, ist dagegen ziemlich neu. Das Recht zu wählen, das Recht auf Arbeit, reproduktive Rechte – all das gilt für Frauen in den meisten westlichen Ländern noch nicht einmal seit 150 Jahren. Nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 dauert es nochmals rund dreißig Jahre, bis die sogenannte CEDAW-Konvention 1979 erstmals völkerrechtlich verbindlich die Diskriminierung von Frauen verbietet – auf dem Papier, immerhin. Das Patriarchat dagegen ist mehrere tausend Jahre alt. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass die gesamte Sphäre von Sexualität und Reproduktion lange kaum unter der Perspektive der Rechte oder der Gesundheit von Frauen, sondern vor allem entlang ökonomischer Fragen diskutiert wurde. Frauenkörper dienten schlicht dem Fortbestand der Nation,23 der Produktion von Soldaten und Arbeiter:innen.

Im 18. Jahrhundert wird erstmals nicht nur die Steigerung, sondern auch die Regulierung der Bevölkerungsgröße zum politischen Thema – zu einer Zeit, als die Menschheit wächst. Einen Bestseller, der in dieser Hinsicht wegweisend für die kommenden Jahrhunderte sein wird, verfasst 1798 der junge Brite Thomas Robert Malthus, ein Mathematiker, Ökonom und Pfarrer der anglikanischen Kirche. Im ersten Band seines Grundsatzwerks stellt er die These auf, dass die Bevölkerung schneller wachse als die verfügbaren Nahrungsmittel.24 Malthus schlussfolgert: Sofern das Bevölkerungswachstum unkontrolliert weiter zunehme, trete zwingend ein Zustand ein, in dem die Ressourcen der Erde nicht mehr ausreichten, um die Menschen zu ernähren. Die Möglichkeit, die Produktion von Nahrungsmitteln zu steigern oder die vorhandenen besser zu verteilen, verwirft er. Sein Fazit: Wer seine Familie nicht ernähren könne, solle eben keine haben. Wer mittel- und arbeitslos sei, der sei »wirklich zu viel auf der Erde«, und: »Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten.«25 Diese Stelle streicht Malthus später aus seinem Werk, der Grundgedanke aber bleibt bestehen. 1803 stellt er klar, wie das Problem anzugehen sei: durch »moralische Zurückhaltung« der Armen, also Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit.26

Malthus’ Arbeit setzt Maßstäbe: Dass arme Frauen Kinder bekommen, wird zum Problem erklärt, während Bevölkerungswachstum ansonsten weiterhin erwünscht bleibt. Vermehren sollen sich jene, die dem Staat nützen. Bestimmte Teile der Bevölkerung werden als moralisch und sexuell unverantwortlich und überflüssig konstruiert. Dieser Gedanke wirkt bis heute fort. »Überzählig«, fasst es die Anthropologin Shalini Randeria zusammen, »sind immer die anderen.«27 Die Politik entdeckt mit Malthus ein neues Thema für sich. Es ist – noch weit entfernt von Menschen- oder gar Frauenrechten – der Körper. Nun wird zum besonderen Interesse für den Staat, was zuvor nicht Gegenstand von Politik war: die körperliche Gesundheit der Bevölkerung, die Fruchtbarkeit, die Geburtenrate. Die Politik beginnt, sich in diesen Fragen zu engagieren – es schießen, wie der Soziologe Michel Foucault es hundert Jahre später analysieren wird, »[v]erschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerungen […] aus dem Boden und eröffnen die Ära einer ›Bio-Macht‹«.28

Seit Ende des 18. Jahrhunderts werden statistische Berechnungen über die Beschaffenheit der Bevölkerung immer stärker in politische Entscheidungen einbezogen. In Großbritannien etwa wendet sich Malthus gegen staatliche Unterstützungsleistungen für besonders arme und kinderreiche Familien. Von Beginn an sind seine Thesen und die daraus folgende Politik umstritten: Die jüngeren Zeitgenossen Karl Marx und Friedrich Engels etwa werfen ihm vor, eine vermeintliche Überbevölkerung, aber nicht den Kapitalismus als Grund für die prekäre Lage der Arbeiter:innenschaft verantwortlich zu machen. Die Idee, die soziale Frage durch Umverteilung und nicht durch die Auslöschung der armen Bevölkerung zu lösen, lehnt Malthus aber ab. Sein »Bevölkerungsgesetz« findet derart viele Anhänger:innen, dass daraus eine ganze Bewegung entsteht. Ab dem 19. Jahrhundert befürworten sogenannte Neomalthusianer:innen nicht mehr nur Enthaltsamkeit zur Geburtenkontrolle, sondern setzen sich darüber hinaus für die zunehmend wirkungsvolleren Verhütungsmittel ein (siehe Kapitel 2).

Nach und nach stößt der Neomalthusianismus auf Gleichgesinnte in der international erstarkenden eugenischen Bewegung, die die Fortpflanzung als krank oder arm definierter Menschen verhindern und die der als gesund und überlegen Definierten fördern will. 1883 prägt der britische Mediziner Francis Galton den Begriff Eugenik für das »gute Erbe«:29 Die Frage, wer sich fortpflanzen soll und wem dies verwehrt wird, wie die Qualität einer vermeintlichen »Rasse« medizinisch und sozialpolitisch verbessert werden kann, bekommt eine eigene Lehre. Es ist ein Siegeszug, den die Eugenik antritt: Im Jahr 1900 beschreibt der deutsche Psychiater Paul Näcke die »Kastration bei gewissen Klassen von Degenerierten als wirksame[n] socialen Schutz«. Und sein Schweizer Kollege Auguste Forel fordert wie im Tierreich eine »Zuchtwahl« durch Geburtenkontrolle. Er will »die defekten Untermenschen durch Sterilität der Träger […] beseitigen«.30

In vielen Ländern werden eugenische Gesellschaften gegründet. Anfang der 1930er Jahre gelten in mehr als der Hälfte der US-Bundesstaaten Sterilisationsgesetze, die die Fortpflanzung von als nicht reproduktionswert angesehenen Menschen verhindern sollen.31 Vorbild ist ein 1907 im Bundesstaat Indiana verabschiedetes Gesetz, das Sterilisationen für »Kriminelle, Idioten, Vergewaltiger und Schwachsinnige« vorschreibt.32 Bis 1937 erleiden in den USA 26 000 Menschen dieses Schicksal aufgrund einer eugenischen Indikation, vor allem Frauen.33 Europäische Staaten folgen der US-amerikanischen Praxis wenig später. Zehntausende Frauen werden auf Grundlage eugenischer Gesetze sterilisiert.

Auch der Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist essenzieller Teil der bevölkerungspolitischen Debatten und Gesetze. Schon früh kommt in den USA und Kanada der Diskurs über »race suicide « auf, was sich als »Selbstmord der Weißen« übersetzen ließe. Die »Rassenreinheit« müsse erhalten bleiben, betont der damalige US-Präsident Theodore Roosevelt 1905, vierzig Jahre nach Abschaffung der Versklavung.34 Die Weißen würden aussterben, weil sie zu wenige, die Schwarzen dagegen zu viele Kinder bekämen – eine Paranoia, die hundert Jahre später in Thilo Sarrazins Ideen in Deutschland oder der White-Supremacy-Bewegung in den USA weiterlebt.

Es dürfen nicht zu viele werden, es dürfen nicht die Falschen sein: Die bevölkerungspolitische Spirale ist in Gang gesetzt und infiltriert in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die globale Gesellschaft.

Von »Rassenhygiene« und der »Pflicht zur Gebärtätigkeit«

Auch in der Weimarer Republik sind bevölkerungspolitische Debatten en vogue. Die Szene differenziert sich aus: Die einen treibt im Sinne des Neomalthusianismus die aus ihrer Sicht drohende Überbevölkerung um. Ihr Ziel ist, über Sexualaufklärung sowie die Legalisierung von Verhütungsmitteln die Vermehrung der prekären Schichten zu begrenzen und so »Sozialhygiene« zu betreiben.35 Den anderen geht es um eine vermeintliche »Rassenhygiene«. Sie wollen die »arische« Bevölkerung nicht verringern, sondern betrachten im Gegenteil die »Vermehrung der Bevölkerung als Bedingung eines Erfolgs im ›Kampf der Völker ums Dasein‹«.36

Um 1920 verbreitet sich der Begriff des »Volkskörpers« in Gesellschaft und Politik: Die Gesundheit des einzelnen Menschen erscheint nicht als Wert an sich, »sondern als Teil der Leistungsfähigkeit einer übergeordneten Entität […] und seiner generationenübergreifenden Reproduktion«.37 Feminist:innen, die sich zu Zeiten der Weimarer Republik gegen den Muttermythos und die Reduktion von Frauen auf den eigenen Haushalt auflehnen, werden von Konservativen und NationalistInnen als »biologische Gefahr« bekämpft.38 Organisationen wie der Deutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation lehnen ihre Ideen strikt ab. Analog zur Wehrpflicht der Männer gilt vielen die »Pflicht zur Gebärtätigkeit der Frauen«39 als selbstverständlicher Beitrag zur Volkserhaltung.

Die Vorstellung, Frauenkörper hätten im Dienst des Staates zu stehen, setzen die NationalsozialistInnen mit bis dahin nicht dagewesener Systematik und Unmenschlichkeit durch. Die nationalsozialistische »Rassen«- und Vernichtungspolitik ist der grausame Gipfelpunkt des Versuchs, die Zusammensetzung der Bevölkerung staatlicherseits zu bestimmen.40 Neben Massenerschießungen und millionenfachem Morden in Vernichtungslagern setzen die Nazis darauf, sich der Körper von Frauen zu bemächtigen: Während als »arisch« markierte Frauen für das Volk gebären müssen, versucht das Regime, die Fortpflanzung als »anders« gekennzeichneter Menschen brutal zu unterdrücken.

Mindestens vier Kinder soll die deutsche Frau produzieren. Dafür bietet der Staat ihr steuerliche und andere finanzielle Anreize sowie das propagandistische Mutterkreuz als Ehrentitel für Kinderreichtum. Schließlich wird Verhütung für »arische« Frauen bei Strafe verboten, ebenso Sexualität und Ehen mit von den Nazis als minderwertig erachteten jüdischen Männern. 1943 wird die Regelung zum Schwangerschaftsabbruch verschärft: Die »Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft« sieht Gefängnis- oder Zuchthausstrafe für Frauen vor, die eine Schwangerschaft abbrechen – zumindest wenn sie »deutscher Volkszugehörigkeit« sind.41 Die Strafandrohung für durchführende Ärzt:innen ist eindeutig: »Hat der Täter die Lebenskraft des deutschen Volkes dadurch fortgesetzt beeinträchtigt, so ist auf Todesstrafe zu erkennen.«42

Extremer noch als die pro- sind die antinatalistischen Praktiken. Zum ersten Mal gibt es neben dem Gebärzwang das Komplementärstück: Ausnahmen vom Abtreibungsverbot für jene, die als »unwertes Leben«43 betrachtet werden, bis hin zu direktem und indirektem Zwang zur Abtreibung. Schwangerschaften von Frauen, die im Rasseverständnis der Nazis als »minderwertig« betrachtet werden, gelten als »Gefahr für den Volkskörper«.44 Stellt sich heraus, dass Frauen, die aus eugenischen Gründen zwangssterilisiert werden sollen, schwanger sind, werden diese mitunter zur Abtreibung gezwungen, teils noch im achten Monat.45

Die nationalsozialistische Vernichtungslogik soll kommende Generationen von aus ihrer Sicht unwürdigen Gruppen verhindern. Gleichzeitig wollen die Nazis die Arbeitskraft dieser Menschen bis zum letzten Tag ausbeuten.46 Sie erproben in den Konzentrationslagern effiziente Methoden der Unfruchtbarmachung auf brutale Weise, vor allem an Jüdinnen, Sintezze und Romnja, manche davon Kinder. Auch hier werden Schwangere einer Zwangsabtreibung unterzogen oder gleich nach der Geburt zusammen mit dem Säugling ermordet.

In Auschwitz experimentiert der Arzt Horst Schumann an Männern und Frauen mit Sterilisation durch Röntgenstrahlung. Im selben Block spritzt der Gynäkologe Carl Clauberg Frauen chemische Mittel in Vagina und Eierstöcke, die Entzündungen und Verwachsungen hervorrufen und so zu Unfruchtbarkeit führen. Die Prozedur ist extrem schmerzhaft, viele Betroffene überleben sie nicht. 1943 schreibt Clauberg an Heinrich Himmler, seine Methode sei »so gut wie fertig ausgearbeitet«. Mit zehn Personen als Hilfspersonal ließen sich »höchstwahrscheinlich mehrere hundert – wenn nicht gar 1000 – an einem Tage« sterilisieren.47 In den 1950er Jahren erklärt der SS-Arzt, er habe den Frauen bloß geholfen.48

Die Nazis treiben Zwangssterilisationen auch bei Menschen voran, die psychisch krank oder genetisch beeinträchtigt sind, ebenso bei Gehörlosen oder Menschen mit Krankheiten wie Epilepsie. Vielen wird »Schwachsinn« oder »Schizophrenie« attestiert. Auf Grundlage des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« werden rund 400 000 Menschen zwangssterilisiert, davon etwa die Hälfte Frauen. Viele sterben an den Folgen.49 Auch Schwarze Menschen werden in einem Geheimprogramm zwangssterilisiert. Bei ihnen handelt es sich um die rassistisch als »Rheinlandbastarde« bezeichneten Kinder weißer deutscher Mütter und französischer Soldaten aus den Kolonien, die nach dem Ersten Weltkrieg das Rheinland besetzt hatten.50 Ab Frühjahr 1943 werden auch Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa zu Abtreibungen gezwungen.51

»Das Charakteristische der nationalsozialistischen Frauenpolitik war […] der staatlich organisierte Zugriff auf die weibliche Gebärfähigkeit von zwei Seiten: Abtreibungsverbot und direkter oder indirekter Zwang zur Abtreibung existierten nebeneinander«, schreibt die Politikwissenschaftlerin Gabriele Czarnowski.52 Was der Historiker Götz Aly als »Ineinandergreifen von Selektion und Völkermord«53 bezeichnet, bedeutet mit Blick auf Reproduktion: Es geht nicht mehr um die Frage, wessen Fortpflanzung erwünscht ist – sondern wer vom Staat dazu gezwungen wird und wem sie unter allen Umständen verwehrt wird.

Die Tradition der Gewalt

Der Nationalsozialismus ist eine Zäsur im Diskurs und in der Praxis der Bevölkerungspolitik. In BRD und DDR bleiben bevölkerungspolitische Praktiken jahrzehntelang offiziell tabu. Doch Zwangssterilisationen werden von den Alliierten nach 1945 nicht als NS-spezifisches Unrecht eingeordnet. Zu verbreitet sind sie in dieser Zeit – und international ist das massive Eingreifen in die körperliche Integrität von Menschen mit Ende des Krieges noch lange nicht vorbei. In Dänemark werden noch bis 1967 Tausende aus eugenischen Gründen sterilisiert.54 Ein entsprechendes Schweizer Gesetz gilt bis 1985.55 Auch Japan erlässt 1940 Sterilisationsgesetze, bis 1995 werden hier mehr als 16 000 Frauen mit Behinderung unfruchtbar gemacht, oft gegen ihren Willen.56

In Großbritannien werden Zwangssterilisationen bis Ende der 1950er Jahre als Maßnahme im Strafrecht gegen Tausende Homosexuelle angewendet. Das bekannteste Beispiel ist 1952 der Computerspezialist Alan Turing, der die Nazi-Codierung der Verschlüsselungsmaschine Enigma knackte und zum Sieg über die NS-Diktatur beitrug.57 In der Tschechoslowakei und später in Tschechien gibt es ab den 1970er Jahren Programme und finanzielle Anreize, um durch Sterilisation »die höchst ungesunde Roma-Population durch Familienplanung und Verhütung zu kontrollieren«, so die Begründung der Regierung.58 Die Zustimmung der betroffenen Romnja wird oft erschlichen, erpresst oder übergangen. Frauen unterschreiben Dokumente, die sie nicht verstehen, oder der Eingriff wird ohne ihr Wissen während eines Kaiserschnitts vorgenommen. Erst 1993 werden diese Gesetze abgeschafft.59 NGOs zufolge gibt es aber noch 2007 einen Fall von Zwangssterilisation.60

Bis heute werden Menschen gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht. So ist etwa China entschlossen, die Geburtenrate der muslimischen Minderheit der Uigur:innen mit allen Mitteln zu senken, auch durch Zwangssterilisationen. Die Geburtenrate in von Uigur:innen bewohnten Regionen ist zwischen 2015 und 2018 um mehr als 60 Prozent eingebrochen, die Zahl der Abtreibungen hat sich versiebenfacht – während sie im Rest des Landes gesunken ist.61 Es handle sich um einen »demografischen Genozid«, urteilt der Anthropologe Adrian Zenz.62

63