Julie Peters

Am Fuß des träumenden Berges

Ein Kenia-Roman

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Julie Peters

Julia Peters, Jahrgang 1979, war Buchhändlerin und studierte Geschichte, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Heute arbeitet sie als Schriftstellerin und Übersetzerin. Bei Wunderlich erschienen «Das Lied der Sonnenfänger» und «Im Land des Feuerfalken», die erfolgreiche zweibändige Neuseelandsaga um die Familie O’Brien.

Über dieses Buch

Nach einem schrecklichen Schicksalsschlag flieht die junge Engländerin Audrey Anfang des 20. Jahrhunderts ins britische Protektorat Ostafrika. Sie rechnet mit vielem in dem wilden, heißen, unbekannten Land – nur nicht damit, sich heftig zu verlieben. Mit Matthew, Besitzer einer Teeplantage am Fuß des Mount Kenya, gründet sie eine Familie.

Doch das Glück hält nicht lange. 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus, und Matthew verlässt die Plantage, um sein Vaterland gegen die Deutschen zu verteidigen. Audrey muss allein die Felder bewirtschaften und ihre Kinder großziehen. Dann bricht im benachbarten Dorf der Kikuyu das Gelbfieber aus. In ihrer Not und Verzweiflung steht ihr nur noch der Kikuyu Kinyua zur Seite. Bald ist er ihr nicht nur auf der Plantage Trost und Stütze.

Aber der Krieg erschüttert nicht nur die Kolonien in den Grundfesten, sondern bringt auch Audreys Vergangenheit zurück …

 

«Packender Schmöker!»

Für Sie (über «Im Land des Feuerfalken»)

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Foto/Illustrationsnachweis: Robert Churchill, Geoff Dann, Philip Lee Harvey/Getty Images

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-8052-5050-4 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-21231-2

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-21231-2

Immer wieder und immer mehr
Für Gordon

With rue my heart is laden

For golden friends I had,

For many a rose-lipt maiden

And many a lightfoot lad.

 

By brooks too broad for leaping

The lightfoot boys are laid;

The rose-lipt girls are sleeping

In fields where roses fade.

       A. E. Housman

Prolog

London, Juli 1910

 

Das Schiff legte an einem klaren, hellen Julimorgen in London ab. Es war ein hübsches Schiff, nicht so klobig wie manche andere Schiffe am Pier, aber auch nicht so klein, dass Audrey hätte befürchtetn müssen, der kleinste Windstoß könne es von den Wellen heben.

Es war, wie Reggie es so trefflich ausdrückte, ein gutes Schiff, mit dem man gerne um die halbe Welt reiste.

Doch bevor sie an Bord gehen durfte und dieses große Abenteuer begann, musste Audrey sich von ihren Eltern verabschieden.

Ihre Geschwister waren nicht mitgekommen. Sie waren am letzten Wochenende zu Hause in Southwold zu Besuch gewesen, um die Schwester ein letztes Mal vor der Abreise zu sehen. Für Audrey hatte es sich sehr endgültig angefühlt, als sie den zwölfjährigen Tom und die sechzehnjährige Catherine beim Abschied umarmt hatte. Ihr ältester Bruder John hatte sich in Oxford zwei Tage freinehmen können und ihr diese zwei Tage geschenkt. Sie wussten, wie weit Afrika weg war. Wie unwahrscheinlich es war, dass sie sich in Bälde wiedersehen würden.

Vielleicht, dachte Audrey wehmütig, würde sie keinen von ihnen je wiedersehen.

Das war der Moment, in dem sie begriff, was sie da tat. In die Fremde zu gehen, war das eine. Seine Familie zurückzulassen, etwas völlig anderes. Und mochten die Unterströmungen noch so reißend sein, die unausgesprochenen Dinge noch so schwer auf ihnen lasten … Was blieb, war dieser Abschied, dieses Gefühl der eigenen Endlichkeit angesichts der unendlich scheinenden Trennung.

Als sie sich gestern Abend im Haus ihrer Eltern von Alfred verabschiedet hatte, hatte sein Verstand nicht begriffen, dass es für immer war. Er hatte Audrey fröhlich zugewinkt und fröhlich gerufen: «Ald, Dridri!»

Bis bald, Audrey.

Der Abschied von ihm fiel ihr besonders schwer. Sie vermisste ihn schon jetzt, und sie fürchtete, wenn sie nicht mehr jeden Tag bei ihm saß, würde irgendwann nicht mehr so gut für ihn gesorgt. Seine Pflegerin Emma würde sicher irgendwann nachlässig, die Eltern waren gleichgültig. Für sie schien Alfred nicht mehr zu existieren. Sie hatten den jüngsten Sohn ebenso aus ihrem Herzen verbannt wie ihre Tochter.

Als Alfred ihr so ausgelassen winkte, war das der Moment, als sie zum ersten und letzten Mal weinen musste.

Jetzt aber, am Pier von London, an der Seite ihrer Eltern, blieben ihre Augen trocken.

Ihre Mutter stand steif neben ihr. Eleonore Collins blickte kalt, so kalt, dass nicht einmal der Wind wagte, ihren Hut in Schwingungen zu versetzen

«Du wirst es dort gut haben», stellte sie rigoros fest, als fürchte sie, Audrey könne in letzter Minute zusammenbrechen und ihre Eltern anflehen, bei ihnen bleiben zu dürfen.

Eine letzte Umarmung, kühl und pflichtbewusst. Diese steifen Arme sagten nichts. Audrey verschluckte sich an dem Kloß in ihren Hals. Ganz kurz spürte sie den gewölbten Leib der Mutter, der sich gegen ihren eigenen, flachen Bauch drückte. Nach über zehn Jahren Pause bekam sie ein sechstes Kind.

Audrey verstand genau, warum.

Ich weine nicht euretwegen.

Sie versuchte, sich das einzureden. Dass der Abschied von den Eltern sie nicht ins Bodenlose stürzen ließ.

Ich weine, weil ihr eurer Tochter nicht mal in der Abschiedsstunde ins Gesicht sehen könnt. Weil ihr in Gedanken schon bei einem neuen Leben seid, in dem ich keine Rolle spiele, und Alfred vielleicht auch nicht.

«Audrey.»

Ihre Mutter trat zurück und machte ihrem Vater Platz. Er musterte sie ernst, als prägte er sich ihr Gesicht noch einmal ein. Sie wussten beide, das war nicht nötig. Er würde das Gesicht der Tochter, die das Leben der ganzen Familie zerstört hatte, niemals vergessen. Das hatte er sie in den letzten zwölf Monaten immer wieder spüren lassen.

«Vater», murmelte sie. Wie gerne hätte sie den Schneid gehabt, ihm jetzt noch einmal trotzig die Stirn zu bieten! Hatte er sie dafür nicht immer geschätzt? Hatte er damals nicht immer gesagt, wie stolz er doch auf seine Tochter sei, die sich nie für den einfachsten Weg entschied, sondern immer für den, auf dem sie kämpfen musste?

Ich bin gestürzt. Keiner hat mich aufgefangen.

Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte glauben, dass Besorgnis in den alten Augen ihres Vaters aufblitzte. Augen, die so alt waren seit letztem Sommer. Seit alles so anders war.

«Mach uns keine Schande, hörst du?» Er nickte zu den beiden Leuten herüber, Reggie und Rose Winston, beide im Alter ihrer Eltern, die sie auf der Reise begleiten würden. Und obwohl sie Fremde waren, fühlte Audrey sich ihnen mehr verbunden als den Menschen, die sie einundzwanzig Jahre lang aufgezogen hatten. Die sie zu dem Menschen geformt hatten, der sie jetzt war und der jetzt fortgeschickt wurde.

Weil ich unerträglich bin.

«Nein», antwortete sie schließlich. Kein Widerspruch, nicht mehr. Wie hatte sie getobt und widersprochen, früher. Wie hatte sie sich gewehrt gegen die Eiseskälte der Eltern, hatte sich aufgelehnt mit ihren beschränkten Mitteln. Nichts hatte geholfen, und schließlich hatte sie sich gefügt.

Aber auch das hatte die elterliche Gleichgültigkeit nicht zu durchdringen vermocht.

Wenn sie wenigstens wütend wären. Wenn sie mir Vorwürfe machen würden.

Nichts. Für Eleonore und Horatio Collins gab es diese Tochter nicht mehr, und deshalb lohnte es auch gar nicht, sich ihretwegen zu grämen oder sich um ihre Zukunft Sorgen zu machen. Sie bestieg dieses Schiff nach Afrika und heiratete dort einen anständigen Mann. Damit war das Thema erledigt. Sicher würden sie nie mehr ein Wort über sie verlieren.

«Ich werde schreiben», versprach sie. Und weil sie nicht wusste, ob sie den Vater umarmen durfte zum Abschied, blieb sie abwartend vor ihm stehen, bis er die Hand ausstreckte, seltsam unbeholfen. Mit dem anderen Arm zog er sie für einen kurzen Moment an sich, doch beide wussten, wie sehr ihm diese Geste zuwider war. Audrey schluckte. Sie roch seinen schlechten Atem und etwas anderes, leicht Ranziges, das sie nicht benennen konnte. Vielleicht das Alter.

«Es wird Zeit, meine Liebe», zwitscherte Rose. Sie umfasste Audreys Arm und zog sie sanft zu sich, weg von den Eltern. Eine Geste, so viel freundlicher als alles, was von ihren Eltern kam.

«Ja», sagte Audrey und blieb stehen.

Sagt doch irgendwas. Sagt mir, dass ihr mich vermissen werdet. Sagt mir, dass ihr mich liebt.

Aber es kam nichts dergleichen.

Ihre Eltern waren keine Lügner.

Sie haben mir nicht verziehen, dachte Audrey, während sie hinter Rose die Gangway hinaufging.

Keine Tränen. Es war alles gesagt, und für Tränen war kein Platz mehr.

Wenn Kinyua staunen wollte, besuchte er die Weißen. Der Weg dorthin war nicht weit. Seine Füße trugen ihn zu der Farm, vorbei an den langen Reihen Teepflanzen, zwischen denen sich die Frauen seines Stammes ebenso rasch fortbewegten wie die jungen Männer, die sich etwas dazuverdienten.

Geld, damit fing es schon an. Silberrupien nannten sie ihr Geld. Silbern war an diesen Papierfetzen nichts, es stand nur darauf – behaupteten die Weißen –, und für diese Papierfetzen konnte man sich tatsächlich etwas kaufen. Kinyua hatte nicht schlecht gestaunt, als er Mr. Noori zum ersten Mal einen Papierstreifen gegeben und einen Sack Mais und einen Korb Maniok bekommen hatte.

Und er hatte silbrige Münzen obendrauf bekommen, die erstaunlicherweise nicht so viel wert waren wie diese Papierstreifen.

Er ließ seine Füße wandern, den Blick nach oben gerichtet, zum Himmel. Zum Gipfel des Kere-Nyaga, des strahlenden Bergs, Hort des Ngai. An diesem Morgen lag der Berg in Hochnebel gehüllt, verträumt und entrückt bot er sich den Menschen dar.

Nicht nur die Neugier trieb Kinyua zu den Weißen. Ja, er belächelte sie gerne, weil sie rafften, was sie kriegen konnten. Weil sie riesige Häuser aus Stein bauten wie Bwana Winston, der ein Dutzend Räume ganz allein für sich hatte. Keine Ziegen oder Kühe lebten in diesem aus Stein gemauerten Haus. Nicht einmal die Boys oder der Koch schliefen darin; sie liefen abends zu den Hütten, in denen die Arbeiter mit ihren Frauen wohnten.

Kinyua verstand diese Männer nicht. Warum lebten sie nicht im Dorfverband wie früher? Wieso waren sie mit den Frauen auf das Land des Weißen gezogen – das ihm im Übrigen gar nicht gehörte, weil er es ihnen einfach weggenommen hatte –, statt auf ihrem eigenen Grund und Boden zu bleiben?

War es wirklich so viel leichter, sich mit Papier abspeisen zu lassen für das, was man brauchte?

Gerne hätte Kinyua gefragt, was diese Männer tun würden, wenn sich Mr. Noori eines Tages weigerte, die Papierstreifen und Silbermünzen gegen Nahrung einzutauschen. Dazu zwang ihn doch niemand.

Als er sich dem Haus näherte, trat gerade Bwana Winston auf die Terrasse. Er hob die Hand, und auch Kinyua hob die Hand, ganz leicht nur.

Bwana Winston blickte ihm schweigend entgegen. Er verstand inzwischen, dass Kinyua stets zuerst sprach.

«Die Ziegen», sagte er.

«Ihr habt schöne Ziegen», sagte Bwana Winston. «Viele Ziegen.» Er nickte bekräftigend. «Sie geben gute Milch.»

«Diese Ziegen sind krank», entgegnete Kinyua und blieb stehen. «Sie fressen nicht, und ihnen tun die Füße weh.»

Bwana Winston überlegte. «Dann soll wohl unser Verwalter sich die Tiere ansehen?» Bwana Randolph kannte sich mit Ziegen aus. Er kannte sich mit allen Tieren aus.

«Er darf nicht in unser Dorf», versetzte Kinyua.

Bwana Winston seufzte. «Kinyua. Wie lange kennen wir uns nun?»

«Du bist vor acht großen Regenzeiten hergekommen.»

«Acht Jahre, genau. Und jedes Mal, wenn eines eurer Tiere krank wird, schicke ich euch Mr. Randolph.»

«Und jedes Mal kam danach eine Krankheit über ein Kind, oder eine Frau war mit einem Wechselbalg schwanger, das so bleich aus ihrem Schoß gekrochen kam, dass es von dem Weißen besessen sein musste.»

Der Bwana lächelte. «Du hast schon sehr christliche Ansichten, dafür, dass du unseren Missionar verjagt hast, Kinyua.»

Davon wollte Kinyua nichts hören. Der Missionar, den Bwana Winston ins Dorf geschickt hatte, war ein Verrückter und hatte keine Ahnung. Er hatte von Ngai erzählt, dem Einen Gott, aber dann hatte er behauptet, er sei gar nicht verheiratet gewesen mit Mumbi, und neun Töchter habe er auch nicht gehabt, sondern nur einen Sohn, der Wasser in Wein verwandeln konnte. Ein Gottessohn, der ein saures, berauschendes Getränk herstellte, obwohl sie hier vor allem genug Wasser benötigten, um die Felder zu bestellen? Das war doch verrückt!

«Er kommt nicht in unser Dorf. Ich bringe eine Ziege her, und er sagt, was wir tun müssen.»

Bwana Winston widersprach nicht. Er wusste um Kinyuas Macht. Auf Kinyua hörten sogar die Ältesten, sie lauschten andächtig seinen Worten, weil er der muramati war.

Als muramati oblag ihm die Verantwortung, für die Menschen seines Dorfs im Diesseits zu sorgen. Er teilte das Land zu, und zu ihm kamen die Leute, wenn sie einen Zwist hatten. Meist versuchte Kinyua zu vermitteln. Wenn das nicht gelang, schickte er sie zum mondo mogo, der für Gerichtsverfahren und Geisterbeschwörungen ebenso zuständig war wie für die Heilung von Krankheiten. War ein Streitfall zu schwierig, wurde er vor den Ältestenrat gebracht und dort verhandelt.

Kinyua war nicht freiwillig hier. Die Ältesten hatten ihn gegen seinen Willen hergeschickt. Wenn Kinyua das Sagen gehabt hätte im mbari, hätte er den anderen gesagt, dass die Krankheit der Ziegen eine Strafe Ngais war, weil sie für die Weißen arbeiteten. Denn seit die Wazungu, die weißen Männer, in dieses Gebiet vorgedrungen waren, wurden Kühe und Ziegen, Frauen und Kinder krank und starben.

Aber vielleicht war es ja Ngais Wille und der seiner Vorfahren, dass er mit dem Bwana über Ziegen redete und darüber, dass dessen Verwalter die Finger nicht von den Frauen seines Stammes lassen konnte.

Kinyua blieb stehen und beobachtete den Bwana. Der lehnte lässig gegen einen Pfeiler, der das tiefe Dach der Veranda trug, und zündete sich eine Zigarette an.

«Du bist einsam, Bwana Winston.»

Er musterte Kinyua erstaunt. «Was weißt du über Einsamkeit?»

«Ich habe drei Frauen. Mit drei Frauen ist man sehr einsam. Meist sind sie sich einig.»

Und außerdem hatten sie immer zur selben Zeit ihren Mondfluss, aber davon verstanden die Weißen nichts. Bei ihnen war alles so rein und sauber. Wahrscheinlich gab es etwas so Unreines bei ihnen gar nicht.

«Mit einer Frau wäre ich also weniger einsam?»

«Nachts hättest du es schön warm. Und es ist gut für dich. Für deinen Körper.»

Bisher hatte er nur eine weiße Frau gesehen. Und die hatte ein Kleid getragen, das so hell war, dass es aussah wie der Schnee auf dem Kere-Nyaga. Mythisch und geheimnisvoll wie der Schnee, den kaum jemand aus seinem Volk je aus der Nähe betrachtet, geschweige denn berührt hatte.

Er fragte sich, ob die Kleider der Weißen wohl auch so kalt waren wie der Schnee. Ob sie darin froren?

Der Bwana lachte. «Tja, ich hab keine Frau. Aber einsam, nein, ich würde mich nicht als einsam bezeichnen.» Er schüttelte den Kopf.

Kinyua musterte ihn überrascht. «Aber was ist mit der Memsahib, die alle paar Wochen zu Besuch kommt?», fragte er. «Ich dachte, sie wärmt dich.»

Bwana Winston pflückte sich einen Tabakkrümel von der Zunge. Lächelte er? Ja, er lächelte. «Die Memsahib wärmt mir nicht das Lager. Sie ist eine gute Freundin.»

Kinyua verstand zwar nicht, warum eine Freundin ihm nicht das Bett wärmen konnte. Aber was wusste er schon. In den Augen dieses Mannes war er nur ein Wilder.

«Vielleicht suche ich mir eine Frau», fuhr der Bwana fort. «Es wäre schön, eine zu haben. Aber hier draußen will ja keine vernünftige Frau leben. Zu viel Wildnis.»

«Such dir eine, die nicht anders kann. Eine Hübsche, die froh ist, in die Wildnis zu dürfen», schlug Kinyua vor. So war er an seine dritte Frau gekommen. Ihre Familie war ausgelöscht, nur ein entfernter Onkel war noch da, der sie nicht als unnützen Esser in seiner Hütte haben wollte. Also hatte er sie Kinyua angeboten. Ihm gefielen ihr feuchter Mondkalbblick und ihre schweren Brüste. Sie war brav und dankbar, ihn nachts in ihrer Hütte begrüßen zu dürfen, und inzwischen hatte sie ihm schon zwei Söhne geschenkt.

Eine gute Frau.

Aber irgendwie ahnte er, dass die weißen Männer, die Wawingereza oder Engländer, wie sie sich selbst nannten – das Wort verknotete ihm Herz und Hirn –, ihre Entscheidung darüber, welche Frau die richtige für sie war, nicht nach diesen Kriterien trafen. Diese Männer waren so merkwürdig, dass Kinyua sogar vermutete, dass sie sich erst den schwächenden Gefühlen hingaben, bevor sie sich durch regelmäßigen Beischlaf stärkten.

Bwana Winston lachte. «So leicht ist das nicht, Kinyua», meinte er.

Natürlich nicht. Diese Weißen waren schon ein komischer Menschenschlag.

«Ich bringe eine Ziege», sagte Kinyna. «Heute oder morgen.»

Der Bwana sagte nicht, dass er die Ziege lieber heute oder morgen hier hätte. Er wusste, Kinyua hielt nichts von dem, was die Weißen so gerne trieben: ihre Lebenszeit in kleine Häppchen zu teilen, bis es nicht mehr ging, nur um dann zu klagen, dass diese winzigen Häppchen allzu schnell verflogen.

Kinyua rechnete in Regenzeiten. Das reichte vollkommen aus.

Er drehte sich um und ging. Den kurzen Rasen überquerte er, gerade weil er wusste, wie sehr Bwana Winston es hasste, wenn er darüberging.

Er trat in den Wald. Der Bwana hatte sein Land klug gewählt. Es lag am Rand der Savanne, dort, wo die Landschaft in die gebirgigen Ausläufer des Kere-Nyaga überging. Fruchtbare Böden und viel Regen, wenn denn Regen kam. Gutes Land. Roter, lehmiger Boden, der die Teepflanzen hoch wachsen ließ. Die silbrigen Blätter, die sich langsam im Morgentau entrollten, waren zart und versprachen viel.

Einst hatte das Land seinen Vorfahren gehört. Doch dann war der weiße Mann gekommen und hatte sich das Land genommen, als habe es ihm schon immer gehört. Aber das konnte nicht sein, denn niemand erzählte Geschichten von den Weißen, nicht einmal die ganz Alten.

1. Kapitel

Am schlimmsten waren die Nächte, in denen sie keinen Schlaf fand. Wenn sie sich stundenlang von einer Seite auf die andere wälzte, wenn sie in die Dunkelheit lauschte und glaubte, die Rufe zu hören.

Wenn sie fürchtete, verrückt zu werden.

Anfangs hatte sie geglaubt, das würde vergehen wie ein hartnäckiger Schnupfen oder der Sommer. Sie hatte wirklich gedacht, es würde irgendwann nicht mehr so schlimm sein. Dass die Zeit sie trösten würde, dass sie voranschreiten durfte auf dem Weg, den sie für sich gewählt hatte.

Aber dann kam der Brief aus Deutschland, unpersönlich und knapp. Der Inhalt hätte sie nicht überraschen dürfen, aber die Worte empfand sie als Ungerechtigkeit, der sie sich nur widerwillig beugte. Sie hatte bis zu dem Moment noch glauben wollen, dass es nicht so schlimm sei. Dass sich alles wieder einrenken würde.

Kurz darauf kam niemand mehr ins Haus ihrer Eltern, fast als wüssten die Leute von Southwold, was in dem Brief stand. Sie war geächtet, und mit ihr die ganze Familie. Niemand lud sie mehr zu den Teepartys ein, und wenn Audrey allein über die Straße ging, wandten sich die Leute ab und taten, als kannten sie sie nicht.

Ihre Eltern wurden ebenso gestraft wie ihre jüngeren Geschwister, und ihr älterer Bruder John schrieb aus Oxford, ihm erginge es nicht anders, seit die Geschichte bekannt geworden war. Die Leute redeten, und für sie trug allein Audrey die Schuld am Unglück ihrer Familie.

Sie war an allem schuld, und das ließ sie nachts nicht mehr schlafen.

Das und die Erinnerung an ihr Verbrechen.

In dieser Nacht im September stand sie schließlich auf. Der Himmel verlor im Osten bereits alle Farbe und wurde zu lichtem Grau, überzogen von einem rosigen Hauch. Schon bald ging die Sonne auf und vertrieb mit ihren Strahlen die sanften Farben.

Audrey stand lange am Fenster. Sie blickte nicht hinaus, sie war blind für die Schönheit der Natur und taub für das Zwitschern der Vögel, für das sanfte Rauschen des Meers hinter den Dünen. Sie sah nicht diesen stillen Morgen, sondern hörte nur das grelle Lärmen eines heißen Sommertags.

Zwei Monate war das nun her. Seitdem hatte nichts ihren Schmerz lindern können.

Schließlich kleidete sie sich sorgfältig an und verließ ihr Zimmer unterm Dach des großen Pfarrhauses. Sie schlich an den Schlafzimmern ihrer Eltern und der Geschwister im Obergeschoss vorbei, und auf der alten Holztreppe ließ sie die eine Stufe aus, von der sie wusste, dass sie knarrte.

In der Küche war es noch ruhig. Sie heizte den Herd an, schob Scheite nach und wartete, bis das Feuer munter brannte. Dann füllte sie den Teekessel, stellte ihn auf die Herdplatte und löffelte Teeblätter in die Kanne mit der angeschlagenen Tülle. Sie legte die Hand auf die Wand des Teekessels und spürte die Wärme. Wärme, die zu Hitze wurde.

Audrey wandte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Vorbei an dem Bord mit Zucker und Teedose, mit Kaffeemühle und angeschlagenen Bechern. Vorbei an der Tüllgardine und den Kräutern auf dem Brett. Sie sah nichts davon, sie spürte nur die Hitze, die sich langsam in ihre Handfläche fraß und den Arm hinaufstieg. Sie fröstelte dennoch.

Aber sie ließ nicht los. Es war eine Prüfung. Wie viel Schmerz hielt sie aus?

Erst als hinter ihr ein leiser Schrei erklang, fuhr sie herum. Millie war sofort neben ihr, packte ihre Hand und riss sie weg.

«Kind, pass doch auf!»

Audrey sah erstaunt die Brandblasen, die auf ihrer Handfläche erblüht waren.

«Warum tust du so was?», schimpfte das Dienstmädchen. Kopfschüttelnd zog sie Audrey am Handgelenk zum Wassereimer und zwang ihre Hand in das kalte Wasser.

Audrey sog scharf die Luft ein. Für den Moment war dieser Schmerz sogar noch köstlicher, noch tiefer als der am Wasserkessel.

Millie blickte sie streng an. «Lass die Hand im Wasser», ermahnte sie Audrey. Sie trat an den Herd, packte den pfeifenden Kessel mit einem Handtuch am Griff und goss das sprudelnd kochende Wasser über die Teeblätter. Dann schob sie den Kessel zurück auf den Herd. Sie schaute in die Teekanne und schüttelte den Kopf. «Versteh nicht, wieso du so was machst», meinte sie.

«Was mach ich denn?», fragte Audrey leise. Ihre Knie zitterten, und ihr war eiskalt.

«Würde ich dich nicht besser kennen, würde ich meinen, du wärst verrückt geworden. Bleib da, hörst du? Kühl die Hand, dass es keine Narben gibt. Ich hole das Lavendelöl aus dem Nähkästchen deiner Mutter.»

Vielleicht bin ich das ja, dachte Audrey. Verrückt vor Schmerz, verrückt vor Angst. Denn das war das Schlimmste. Sie fürchtete die Zukunft, die nichts mehr bereitzuhalten schien für sie, jetzt, da sie alles verloren hatte.

Mit einem Ruck stieß Millie sich vom Herd ab. «Naja, ist nicht meine Sache. Dein Vater wird nicht erfreut sein, wenn er das sieht.»

Wenn er überhaupt noch was sieht, dachte Audrey.

Für ihn war sie so gut wie unsichtbar, nicht nur für die Leute auf der Straße, die sie schnitten.

 

Natürlich erfuhr ihr Vater davon. Millie konnte es ihrer Mutter nicht verheimlichen, und die trug es gleich weiter. Am frühen Nachmittag ließ er nach ihr schicken.

Audrey hielt die rechte mit der linken Hand umklammert, als sie vor seinem Arbeitszimmer stand. Millie hatte die Brandblasen mit Lavendelöl bestrichen und anschließend einen Verband angelegt, unter dem die Haut puckerte und pochte.

Die Tür zum Arbeitszimmer war geschlossen, wie immer, wenn er nicht gestört werden wollte. Er schrieb vermutlich an der Sonntagspredigt oder war damit beschäftigt, seine naturkundliche Sammlung zu sortieren. Er war ein viel beschäftigter Mann, der die häuslichen Belange gewöhnlich seiner Frau überließ. Wenn er eines seiner Kinder zu sich zitierte, dann nur, weil es etwas angestellt hatte.

Sie atmete tief durch und klopfte an. Mit der rechten Hand, der schmerzenden.

«Herein!»

Sie trat ein, schloss die Tür und blieb stehen.

Ihr Vater saß hinter dem wuchtigen Schreibtisch, die Brille auf die Nasenspitze geschoben und einen Kasten mit Gesteinsproben vor sich auf dem Tisch. Die Sonne schien durch die hohen Fenstertüren hinter seinem Rücken und ließ die Haare wie ein silbriger Heiligenschein glänzen. Er schaute nicht auf, sondern sagte nur: «Setz dich, Audrey.»

Er klang müde. Als koste es ihn viel Kraft, mit seiner ältesten Tochter so streng ins Gericht gehen zu müssen. Oder als sei es ja doch unwichtig, denn gleichgültig, wie oft er sie zurechtwies, sie blieb doch das Kind, das ihm den meisten Kummer bereitete. Vergebene Liebesmüh, sich für sie noch einzusetzen.

Audrey hätte sich gern hingesetzt, aber sie blieb aus Trotz stehen. Ihre Hand pochte, und sie sah winzige Punkte vor ihren Augen tanzen. Sie hatte heute noch nichts gegessen, nur die Tasse Tee hatte sie am Morgen gehabt.

«Millie hat deiner Mutter erzählt, was passiert ist. Sie meint, du hättest es mit Absicht getan.» Endlich ließ er von den Steinen ab und hob den Kopf. «Nun? Was hast du dazu zu sagen?»

Sie schwieg.

«Ich habe dich etwas gefragt, Audrey.»

Er hatte sie immer unterstützt. Immer war er stolz auf sie gewesen. Auf ihre Klugheit, ihren schnellen Verstand und ihr Interesse an allem, was über Hausfrauenaufgaben hinausging. Er hatte sie ermutigt, sich Themen zu widmen, die einem jungen Mädchen nicht angemessen waren. Hatte sie auch ermutigt, ihrem Herzen zu folgen, als sie sich das erste Mal verliebte. Immer war er für sie da gewesen – streng, aber gerecht.

Sie hoffte so sehr, dass er endlich aufhörte, sie wie einen seiner Trilobiten zu behandeln, die er im Glaskasten aufbewahrte und nur mit äußerster Vorsicht hervorholte und nie aus der Hand gab, weil die dünnen Steinplatten zu leicht kaputtgehen konnten.

Er schwieg mit ihr und wandte ihre einzige Waffe gegen sie. Das Schweigen war ihr zur zweiten Natur geworden, aber er hatte Zeit. Nur die Standuhr in der Zimmerecke tickte. Schließlich beugte sich ihr Vater erneut über die Trilobitensammlung, und er flüsterte zufrieden und strich mit dem Finger über ein perfektes Exemplar ohne Absplitterungen und Brüche.

«Ich habe mir die Hand verbrüht», sagte sie plötzlich. «Es war ein Versehen.»

«Ein Versehen, hm. Millie hat deiner Mutter erzählt, du hättest die Hand an den Wasserkessel gelegt. Du wolltest dich also verbrennen.» Er schloss den Kasten und stand auf, um ihn zurück in die Vitrine zu den anderen zu stellen. Mit dem Rücken zu ihr fragte er: «War das genauso ein Versehen wie vor drei Tagen, als du dich in den Daumenballen geschnitten hast?»

«Da habe ich Pflaumen entkernt.» Aber ihr Widerspruch war schwach. Sie wusste schon, was er als Nächstes sagen würde.

«Und das blutige Handgelenk letzte Woche?»

Unwillkürlich rieb sie sich das Handgelenk. Es war immer noch verschorft und gerötet. «Das hat so gejuckt.» Wie besessen hatte sie sich gekratzt. Wie eine Wahnsinnige. Bis der Schmerz ihr Gehirn erreichte und sie endlich, endlich darin Vergessen finden konnte …

Sie musste besser aufpassen. Inzwischen wussten alle im Haus davon, und man ließ sie selten unbeaufsichtigt. Wenn sie sich wieder Schmerzen zufügte, um endlich diesen anderen Schmerz tief in ihrer Seele zurückzudrängen, dann schauten die anderen sie mitleidig an. Aber hinter diesem Mitleid lauerte etwas anderes – die Angst, sie könnte vielleicht wirklich verrückt werden. Die Befürchtung, dass sie an den Ereignissen des vergangenen Sommers zerbrach.

«Nun, du hättest bei einem Ausschlag auch Dr. Wilken aufsuchen können, statt dir die Haut bis auf die Knochen aufzukratzen. Er hätte dir eine Salbe verschrieben.»

Sie wollte widersprechen.

Doch ihr Vater hob die Hand. Er wollte nichts hören.

«Es muss sich etwas ändern, Audrey. So geht es nicht weiter.»

Er setzte sich wieder hinter den Tisch. Legte den Füllfederhalter auf den Papierbogen, auf dem er seine Predigt schrieb. Sie mochte die Ordnung der Dinge in seinem Arbeitszimmer. Ordnung war so tröstlich. Sie selbst war so unfähig, Ordnung zu halten. Vielleicht deswegen.

«Deine Mutter und ich sind uns einig, dass du nicht ewig in deinem Zimmer hocken kannst. Oder bei uns im Haus bleiben.» Er blinzelte. Sie spürte, dass er nach den richtigen Worten suchte. Nicht zu streng, aber auch nicht zu nachgiebig sollten sie sein.

Manchmal hatte sie das Gefühl, sich selbst wie aus weiter Ferne zu beobachten. Sie sah, was sie tat, sehr deutlich und doch waren es die Handlungen einer Fremden, eines Geists, und nicht ihre eigenen. Nichts, wofür sie die Verantwortung übernehmen musste.

«Ihr schickt mich fort.»

Er blickte überrascht auf.

«Damit habe ich gerechnet», setzte sie hinzu. Irgendwas geschah gerade mit ihr. Die Worte klangen hohl, ihre Stimme seltsam fremd. Tapfer sprach sie weiter. «Wo ihr mich auch hinschickt, ich werde gehen, ohne mich zu beklagen.»

«Wir wollen dich doch nicht wegschicken, Audrey.» Er seufzte. Sein Zögern, sein Suchen nach den richtigen Worten in einem Irrgarten, in dem es nur die falschen zu geben schien, ängstigte sie mehr als alles andere. Ihrem Vater fehlten die Worte nicht, sie fielen ihm zu. Er war darin geübt, etwas auszudrücken. Jeden Sonntag hielt er seine Predigt von der Kanzel der Kirche, und jeden Sonntag bewunderte sie ihn für seine rhetorischen Meisterleistungen, mit denen er eine ganze Gemeinde in Bann hielt.

Und jetzt rang dieser Mann, sonst nie um ein Wort verlegen, um die richtigen Formulierungen?

«Wir möchten einfach, dass du glücklich wirst.»

Sie schwieg.

Das war ich doch, dachte sie. Bis ich mir dieses Glück selbst zerstört habe.

Eine kleine Unachtsamkeit hatte alles kaputt gemacht.

«Ich weiß, das wird nicht einfach», fügte er hinzu. «Aber das Leben bietet dir sicher eine zweite Chance. Wenn du es nur versuchen möchtest.»

Sie wollte es aber nicht versuchen.

Weil sie weiter so verbissen schwieg, zog ihr Vater aus einem Stapel Korrespondenz ein dünnes Briefchen hervor. «Mein Studienkollege Reginald – du erinnerst dich vielleicht an ihn, er hat uns vor Jahren einmal besucht – hat mir geschrieben. Er hat einen Neffen, der vor acht Jahren nach Afrika gegangen ist.»

Er hielt ihr den Brief hin. Audrey trat vor und nahm ihn. Kein Absender, kein Empfänger. Stempel und Briefmarke fehlten ebenfalls. Der Brief war einem anderen beigefügt worden.

«Er meint, im Protektorat Ostafrika gebe es nur wenige Frauen, und sein Neffe denke jetzt wohl darüber nach, zu heiraten und eine Familie zu gründen.»

Weil Audrey immer noch schwieg, fügte ihr Vater hinzu: «Er heißt Matthew.»

Sie nickte mechanisch.

War es so einfach? Konnte ein dünner Brief über ihre Zukunft entscheiden?

«Du musst das nicht tun», fügte er hinzu. Sie lächelte schwach und drehte den Brief in den Fingern. «Wenn du ihn nicht magst, ist dir keiner drum böse. Wir möchten nur, dass du es versuchst.»

«Das werde ich.»

«Danke. Das war alles.»

Er nickte bekräftigend, und als sei ihm der Gedanke nachträglich gekommen, fügte er hinzu: «Und bitte hör auf, dich zu verletzen. Du tust deiner Mutter und mir damit weh.»

Audrey nickte. Sie verließ das Arbeitszimmer ihres Vaters. Der Brief des Fremden knisterte in ihrer Hand. Sie blieb im Gang vor dem Zimmer stehen und drückte ihn an die Brust. Vielleicht war das hier ein Anfang. Einen winzigen Moment lang erlaubte sie sich die Vorstellung, dieser Brief könnte tatsächlich ihre Rettung sein. Vielleicht war dieser Matthew ein guter Mann, vielleicht war er nicht gar so alt.

Sie atmete tief durch, faltete den Brief auseinander und überflog die Zeilen. Dann lächelte sie.

Seine Worte gefielen ihr. Er klang nett und gebildet, und die knappe Seite genügte, ihr Interesse an ihm zu wecken. Wer war er, dass er auf eine Frau hoffte, die bereit war, alles hinter sich zu lassen, um einen Fremden zu heiraten?

Er hatte es sicher auch nicht leicht.

Sie ging nach oben in die Dachkammer, rückte den schmalen Schreibtisch vor die Luke, wischte den Staub ab und holte ihr Schreibzeug hervor. Er suchte eine Frau? Vielleicht war sie ja wirklich die Richtige.

Mehr als die Hoffnung hatte sie ja nicht.

2. Kapitel

Der Sommer zog sich zurück und machte einem goldenen Herbst Platz, dem ein eisiger Winter folgte. Der Frühling aber brach mit Macht über den Osten Englands herein, und schon im März konnte Audrey wieder draußen auf der Bank sitzen. Sie hielt ihr wintermüdes, blasses Gesicht der Sonne entgegen. Schon erblühten die ersten, winzigen Sommersprossen auf der Nase und den hohen Wangenknochen. Ihre Mutter schimpfte und legte ihr einen großen Hut auf die Bank neben die Bücher. Aber Audrey wollte keinen Hut. Sie wollte die Sonne spüren. Die Sonne, die in ihr das Gefühl weckte, lebendig zu sein.

Den Winter hatte sie mit Büchern verbracht. Ihr Vater hatte ein großes Bücherpaket aus London kommen lassen, das sie zunächst nicht angerührt hatte. Doch als ihr das Warten zu lang wurde, begann sie, in den schmucken Bänden zu blättern, und schließlich las sie.

Aber nie verpasste sie den Postboten. Er kam morgens gegen halb elf die Straße entlang. Schon von weitem hörte sie das Liedchen, das er tagein, tagaus pfiff. Sie sprang auf, eilte ans Gartentor, und ihre Hände umklammerten in gespannter Erwartung die Latten des verwitterten Törchens. Sie wartete ungeduldig, bis Mr. Tremayne heran war. Er war nicht mehr der Jüngste, und der Kranz aus grauen Haaren um seinen Glatzkopf stand in alle Richtungen ab. Er strich über seinen silbrigen Heiligenschein und zog dann aus der weichen, dunkelbraunen Posttasche den Stapel Briefe, den er an diesem Morgen für Pastor Collins und seine Familie dabeihatte.

«Na. Miss Audrey.» Er grinste. Die Zähne waren ganz gelb gefleckt vom Kautabak, und sein Atem stank. «Sie warten wohl schon.»

«Guten Morgen, Mr. Tremayne.» Sie hätte ihm am liebsten die Briefe aus der Hand gerissen.

«Heute leider nichts für Sie, Miss Audrey.»

Die Hoffnung, die sie die letzten zwei Stunden auf der Bank gehalten hatte, fiel in sich zusammen. «Schade», sagte sie und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

«Vielleicht ja doch?» Er klappte umständlich die Tasche auf und kramte darin. Schüttelte den Kopf und zog schließlich doch einen Brief heraus, den er zu den anderen legte. «Da ist er ja!», rief er hocherfreut, als sei es sein Verdienst, dass dieser Brief wie von Zauberhand aufgetaucht war.

Audrey lächelte.

Alles war gut. Matthew hatte ihr geschrieben.

Er schrieb ihr jede Woche, wie er es in seinem ersten Brief versprochen hatte.

«Danke, Mr. Tremayne.»

«Miss Audrey …» Er tippte sich an die Schläfe. «Grüße an die Frau Mama und den Herrn Pastor», rief er im Gehen über die Schulter zurück.

«Werde ich ausrichten.» Sie drückte die Post an sich und eilte mit gesenktem Kopf zurück zum Haus. Innerlich aber tanzte sie. Dieses flattrige Gefühl, wenn ein Brief kam, war inzwischen für sie der schönste Moment der Woche.

Sie brachte die Post zuerst zu ihrer Mutter in den kleinen Salon, legte die Umschläge dort auf den Sekretär, lief dann zurück nach draußen und setzte sich auf die Bank. Mit zitternden Händen öffnete sie den Brief.

Drei eng beschriebene Seiten. Als sie den Brief auseinanderfaltete, fiel eine getrocknete Blume auf ihren Schoß.

Staunend betrachtete sie sie. So etwas hatte sie ja noch nie gesehen! Und als sie die leuchtend rosafarbene Blüte an die Nase hob, glaubte sie tatsächlich, noch den süßen Duft zu riechen, den sie verströmte.

Meine liebe Audrey,

siehst du, ich halte mein Versprechen. Einmal die Woche schreibe ich dir einen Brief, damit du nicht so lange warten musst.

Schon in seinem zweiten Brief hatte er sich zu seiner großen Ungeduld bekannt und seine Hoffnung ausgedrückt, dass sie sich schnell kennenlernen würden. Inzwischen schrieben sie sich seit acht Monaten. Audrey bewahrte die zahlreichen Briefe in einem Kästchen in ihrer Nachttischschublade auf, den einzigen Beweis, dass es ihn wirklich gab, diesen Mann am anderen Ende der Welt. Er schickte ihr getrocknete Blüten und schrieb von der wunderbaren, weiten Landschaft, in der, wie er es ausdrückte, «das Herz sich weitet und man wieder frei durchatmen kann». Luft und Freiheit, das war der Geist, in dem seine Briefe gehalten waren.

Er schrieb unterhaltsam über das Leben auf seiner ostafrikanischen Teeplantage, sodass sie bald das Gefühl hatte, Teil seiner Welt zu sein. In seinen Briefen begegnete sie alten Bekannten und neuen Persönlichkeiten, er stellte ihr die Menschen vor, die sein Leben teilten. Wie viel blasser und farbloser war ihr Leben verglichen mit seinem …

Matthew warb nicht offen um sie, er fragte nicht, ob sie sich ein Leben bei ihm vorstellen könnte. Er schien es nicht eilig zu haben; manchmal hatte sie sogar Angst, dass er das Interesse an ihr bereits verloren haben und nicht mehr interessiert daran sein könnte, sie zu sich zu holen und zu seiner Frau zu machen. Und wenn er noch andere Damen hatte, mit denen er korrespondierte?

Doch dieser Brief war anders. Den letzten Abschnitt las sie mit ungläubigem Staunen, und dann las sie ihn ein zweites Mal, weil sie es nicht fassen konnte.

Liebe Audrey, ich weiß, das kommt wohl etwas überraschend, aber was ich bisher über dich weiß, lässt mich hoffen, dass du die richtige Frau bist, um an meiner Seite dieses Leben zu leben. Aus deinen Briefen spricht so viel Begeisterung für Afrika, dass ich hoffe, es ist nicht nur eine geheuchelte Freude um meinetwillen, sondern dass du wirklich den Wunsch hegst, meine Frau zu werden …

Audrey las die Passage atemlos. Dann ließ sie den Brief sinken.

Er erfüllte ihre größte Hoffnung. Und er weckte damit Zweifel, die sie bisher erfolgreich verdrängt hatte.

Wollte sie das wirklich? Wollte sie Matthews Frau werden?

Genügten denn ein paar Briefe, um so eine Entscheidung zu treffen?

Ihr Vater war nicht da. Er war am frühen Morgen zu einer Familie gerufen worden, deren Vater bei den Arbeiten am Dach seines Hauses abgestürzt und kurz darauf an einer Kopfverletzung gestorben war. Also ging sie zu ihrer Mutter.

Eleonore Collins saß im Salon an ihrem Sekretär und schrieb einen Brief. Audrey wartete, bis ihre Mutter den Satz zu Ende geschrieben hatte und aufschaute. «Nun?», fragte sie.

Obwohl sie bereits Anfang vierzig war und fünf Kinder geboren hatte, war Eleonore noch immer schlank wie ein junges Mädchen. Nur winzige Fältchen um die Augen und die Mundwinkel verrieten ihr Alter. Sie hatte die dunkelbraunen, rötlich schimmernden Haare ebenso an Audrey vererbt wie ihre rehbraunen Augen und das leicht spitze Kinn. Sie war keine Schönheit im klassischen Sinne – aber sie war anmutig. Doch diese Anmut war das Einzige, was sie nicht an ihre Tochter vererbt hatte. Andrey wusste, sie war linkisch und ungeschickt.

«Ich habe einen Brief bekommen. Von Matthew.»

«Das ist schön. Er schreibt wirklich regelmäßig, ganz anders als dein Vater damals.» Alle Männer wurden von ihrer Mutter stets an dem gemessen, was ihr Vater tat oder unterließ. «Was schreibt er denn?»

Sie hatte den Füllfederhalter wieder ergriffen, fast als finde das Gespräch gar nicht statt.

Audrey räusperte sich. «Er möchte mich heiraten, Mam.»

Die Hand ihrer Mutter verharrte mitten im Wort. Sie schraubte den Füllfederhalter zu und legte ihn sehr sorgfältig oberhalb des Briefpapiers auf die Schreibtischplatte. Erst dann blickte sie auf.

«So. Will er das.»

Audrey nickte bang.

«Willst du das auch, Audrey?»

«Ich weiß es nicht.»

Wie sollte sie das wissen, wenn sie Matthew noch nie begegnet war? Seine Briefe hatte sie, doch genügten die, um sich ein ausreichendes Bild zu machen von seinem Charakter und darüber, ob eine Ehe zwischen ihnen segensreich sein würde?

Ihre Mutter seufzte. Audrey trat zögernd näher.

«Ich werde dich bei deiner Entscheidung unterstützen», sagte sie dann. «Aber dein Vater hat das letzte Wort. Das weißt du.»

«Ja, Mam.» Audrey nickte.

«Außerdem ist ja noch die Frage, ob er dich wollen wird, wenn er erfährt …» Sie hielt inne.

«Ich werde ihm davon erzählen», beeilte Audrey sich zu versichern. «Das hatte ich ohnehin vor.»

Er hat das Recht zu erfahren, was für eine Frau er sich ins Haus holt.

«Gut. Dann wird auch dein Vater nichts dagegen haben.»

«Er will, dass ich mit seinem Onkel und seiner Tante reise.»

Das erste Mal lächelte ihre Mutter sie an. «Reggie will dich begleiten? Das ist gut! Ich bin überzeugt, wenn er dich erst kennengelernt hat, wird sich dein Matthew keine Sorgen mehr machen.»

Audrey nickte hoffnungsvoll.

Wenn Matthew sich nur nicht angewidert von ihr abwandte, nachdem er erfahren hatte, wozu sie fähig war.

Ehe sie gehen konnte, rief die Mutter sie zurück. «Was hast du da?», fragte sie streng und zeigte auf Audreys Hand.

Audrey schaute verwirrt nach unten. Ein Splitter war unterhalb des Zeigefingers tief in die Handfläche eingedrungen. Die Haut hatte sich gerötet.

«Ich weiß nicht», sagte sie verwirrt. «Vielleicht ist das passiert, als ich am Gartentor gewartet habe.» Bestimmt war es so. Wenn sie es sich recht überlegte, meinte sie, sich an den stechenden Schmerz zu erinnern. Aber just in dem Moment war Mr. Tremayne aufgetaucht, und danach hatte sie nicht mehr daran gedacht.

«Ach, Audrey …» Ihre Mutter musterte sie besorgt. «Geht das schon wieder los? Müssen wir uns sorgen?»

Sie schüttelte heftig den Kopf. «Bestimmt nicht», versicherte sie. «Es war nur ein Versehen.»

«Dann geh. Und schick Millie zu mir, ich möchte mit ihr über das Abendessen reden.»

Sie gab in der Küche Bescheid und ging die Treppe hoch.

Oben angelangt, wollte sie sich nach rechts wenden, wo ihr Zimmer am Ende des Gangs lag. Doch direkt vor ihr stand die Tür zu Alfreds Zimmer halb offen, und drinnen hörte sie das Flüstern der Pflegerin.

«Schau, jetzt nehmen wir deinen Kuschelhasen und legen ihn direkt neben deinen Kopf. So kannst du ihn anschauen. Ja? Ist dir das recht?»

Sie wollte nicht lauschen. Und ins Kinderzimmer schauen wollte sie erst recht nicht. Trotzdem trat sie leise näher und schob die Tür auf.

Alfred war schon zehn, doch er musste betreut werden wie ein Kleinkind. Er machte in die Windeln, musste gefüttert werden und durfte nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen werden, damit er nicht aus dem Bett fiel oder sich selbst in Lebensgefahr brachte.

Die Pflegerin drehte sich um, als sie Audrey an der Tür hörte. Auch Alfred hob leicht den Kopf, und als er sie erkannte, krähte er vergnügt: «Dridri!» Er streckte ihr den Stoffhasen entgegen. «Dridri!»

Audrey schluckte hart. «Hallo, Alfred. Emma.» Die Pflegerin nickte und tat einen Schritt zurück, als erlaubte sie Audrey damit, zu Alfred zu gehen.

«Wie geht es ihm?», fragte sie und kam zögernd näher. Doch Alfred ging das alles nicht schnell genug. «Dridri!», schrie er, inzwischen schon fast erbost. «Dridri!!!»

«Still!», fuhr Emma dazwischen und hob die Hand. Es war nur eine angedeutete Bewegung, aber Audrey hatte es gesehen, und Alfred ebenfalls. Er duckte sich, hielt den Stoffhasen vor sein Gesicht und wimmerte. «Dridri», immer und immer wieder wimmerte er das, was ihm von ihrem Namen noch geblieben war.

«Ich bin ja hier, Alfred.» Sie setzte sich auf die Bettkante, warf der Pflegerin einen bösen Blick zu, nahm seine Hand und zog sie sanft von seinem Gesicht, bis sie zwischen den Hasenohren seine großen, grauen Augen sah. «Schau, ich bin bei dir.»

«Entschuldigung», stotterte Emma. Sie war ans Fußende des Betts zurückgewichen und hielt sich am Bettpfosten fest. «Ich wollte nicht …»

«Schon gut», sagte Audrey leise. «Sie schlagen ihn nicht.» Es war keine Feststellung, eher ein Befehl. Sie hatte schon lange vermutet, dass der Pflegerin hin und wieder die Hand ausrutschte, wenn Alfred für sie zu anstrengend wurde. Seine Pflege verlangte ihr rund um die Uhr alles ab.

«Niemals», beteuerte Emma.

Sie senkte nicht den Blick, sondern reckte trotzig das Kinn. Natürlich. Von Audrey würde sie sich nicht sagen lassen, wie sie mit Alfred umzugehen hatte.

Sie wandte sich wieder ihrem jüngeren Bruder zu. Er strahlte, als sie ihr Gesicht hinter dem Stoffhasen versteckte und dahinter hervorlugte. «Kuckuck!», rief sie, und er lachte ausgelassen.

«Eigentlich sollte Fred gerade seinen Mittagsschlaf machen», bemerkte Emma.

«Morgens um elf?»

«Er wird schnell müde», verteidigte sich die Pflegerin.

Auf Audrey machte Alfred einen recht munteren Eindruck.

«Gehen Sie ruhig. Gönnen Sie sich eine Pause. Ich bin sicher, Millie hat Tee und Kekse unten in der Küche.»

Sie versuchte, der jungen Frau nicht böse zu sein, weil sie versuchte, sich die Arbeit so leicht wie möglich zu machen. Alfred konnte schwierig sein, er tobte manchmal aus unerfindlichen Gründen oder weinte die ganze Nacht. Doch Emma wurde dafür bezahlt, dass sie sich um ihn kümmerte. Und sie wurde gut bezahlt.

Emma zögerte kurz und gab dann nach. «Bin gleich wieder da.»

«Lassen Sie sich Zeit. Wir verstehen uns schon. Nicht wahr, Alfred?»

Der Kleine lachte. Sein Lachen schnitt ihr ins Herz.

Die nächste halbe Stunde vertrieben sie sich die Zeit mit kleinen Fingerspielen. Alfred war flink, wenn er wollte, und wenn seine Muskeln sich nicht in unkontrollierten Zuckungen verhärteten, sodass man glauben musste, er bekäme keine Luft mehr, weil der kleine Körper sich so verzweifelt wand.

«Ich hab wen gefunden, und ich glaube, der mag mich», erzählte Audrey ihrem jüngsten Bruder. «Er heißt Matthew, und er hat mich gefragt, ob ich zu ihm nach Afrika komme.»

«Ika», wiederholte Alfred gehorsam.

«Genau, Afrika.» Plötzlich spürte sie, wie ihr die Kehle eng wurde.

Wenn sie zu Matthew ging, konnte sie nicht mehr stundenlang mit Alfred scherzen und ihn umsorgen. Dann wäre niemand mehr da, um mit ihm Kuckuck zu spielen oder ihm den Kummer von der Stirn zu streicheln, wenn die Schmerzen zu schlimm wurden. Wenn Matthew sie wollte, käme sie vielleicht nie wieder zurück nach England.

Das habe ich verdient, dachte sie betrübt. Ich habe es mir selbst zuzuschreiben, dass mich hier keiner will und ich in die Fremde muss, um einen Mann zu finden.

Nach einer halben Stunde kam Emma zurück, entspannt und freundlich. Eine gute Tasse Tee und ein paar Ingwerkekse wirkten Wunder, das wusste Audrey. Sie verabschiedete sich von Alfred, der in überschwänglicher Begeisterung die Arme um sie schlang und sie kaum loslassen wollte, so als ginge sie jetzt schon ans andere Ende der Welt.

In ihrem Schlafzimmer saß sie lange am Schreibtisch und lauschte auf die Geräusche im Haus. Es wurde zum Essen gerufen, aber sie ging nicht hinunter, obwohl sie Hunger hatte. Millie würde ihr sicher etwas aufheben. Sie legte sich einen Bogen Papier zurecht, schraubte den Füllfederhalter auf und begann zu schreiben.

Mein lieber Matthew,

heute erreichte mich dein Brief vom 17. Februar 1910 – ich danke dir für deine Zeilen. Drei andere Briefe haben ihn überholt.

Doch ehe ich auf deine Frage eine Antwort formuliere – von der ich glaube, dass wir beide sie schon kennen, weil Verstand und Gefühl es einfach gebieten –, muss ich dir etwas erzählen. Etwas, das dich erschrecken wird, und ja, ich fürchte, es wird dich auch an mir zweifeln lassen. Wenn es so ist, Matthew, ich bitte dich: zögere nicht, dies auszusprechen. Ich wäre die Letzte, die kein Verständnis dafür hätte. Ich wäre schon froh und glücklich, dass du mich willst, ohne davon zu wissen. Und wenn du diese Zeilen liest und danach noch immer daran festhältst, mich zu dir nach Afrika zu holen … dann wäre ich sprachlos, und ich wäre voller Dankbarkeit, weil du bereit bist, eine Frau mit einem solchen Makel zu nehmen. Ich will dir gern versprechen, dass du es nicht bereuen würdest.

Letztes Jahr war ich bereits mit einem anderen Mann verlobt. Im Juli hat er die Verlobung gelöst. Es gab gute Gründe für diese Entscheidung, wenngleich es nicht die Gründe waren, die ein Mann sonst anführt, um ein Verlöbnis zu lösen. (Darum musst du dir keine Sorgen machen.)

Es passierte während der gemeinsamen Sommerfrische an der Ostsee auf der Insel Rügen. Seine Eltern hatten unsere Familie dorthin eingeladen, und …

Audrey ließ den Füllfederhalter sinken. Los, feuerte sie sich an. Sag ihm die ganze Wahrheit!

Aber sie brachte es nicht über sich.

Dies hier konnte sie nicht aussprechen oder niederschreiben. Es ging einfach nicht.