1 ff.: Mutter der Äneaden, Venus: Die Göttin fungiert in diesem Eröffnungshymnus als äußerst komplexe Figur: Sie ist (1) die Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit; (2) ging aus ihrer Verbindung mit Anchises Aeneas hervor, der legendäre Gründer Roms; (3) ist sie die Geliebte des Mars, des Kriegsgottes und des Vaters von Romulus und Remus. (4) Möglicherweise denkt Lukrez auch daran, dass sie – als Venus physica – die Schutzpatronin des Memmierclans war. Ganz sicher aber hat er (5) die Kosmogonie des Empedokles im Sinn, seines Vorbilds als Dichter-Philosoph (siehe 1.717 ff.). Empedokles ging von zwei Kräften aus, von Liebe und Streit, unter deren Einfluss sich die vier Elemente vereinigen und trennen; sie bewirken Veränderung, Wandel. Venus personifiziert also (6) die schöpferischen Kräfte in der Welt; Mars die destruktiven. Steht (7) auch für die Lust, die zu erlangen nach Epikur Ziel des menschlichen Lebens ist, das summum bonum oder höchste Gut. In diesem Sinn ist Venus aber nicht nur das physisch kreative Prinzip, sondern (8) auch Inspiratorin poetischer Kreativität und Schönheit. – Lukrez lehnt die traditionellen mythischen Göttervorstellungen ab (z. B. nur ein paar Verse weiter, 1.48 f.), insofern ist seine Anrufung der Venus insgesamt allegorisch zu verstehen. Venus steht für das Leben der Natur, für die Zeugungskraft der Materie. Ihrer Darstellung dient das ganze Poem, die Lukrezsche Poesie.
21 Lauf der Dinge: rerum naturam – res meint bei Lukrez generell zusammengesetzte Dinge, entweder aus Atom und Leere, oder aber als Verbund aus mehreren Atomen und Leere verstanden, als concilia oder coniuncta, die ab einer bestimmten Größe sichtbar werden: als Dinge oder Objekte unserer sinnlichen Wahrnehmung. Für die weitere Lektüre sollten wir im Sinn behalten, dass für Lukrez zwischen der »atomaren Ebene«, dem, wenn man so will, Grund der erscheinenden Dinge, und den Dingen, die wir sehen, kein prinzipieller (ontologischer oder metaphysischer) Unterschied besteht. – natura (physis) meint dreierlei: (1) das Ganze des Seienden, summa rerum (unerschaffen, immerwährend in seiner Summe, im Einzelnen aber veränderlich); (2) den Aufbau des Ganzen und dessen Gesetzmäßigkeit, rerum natura (die Gesetze der Veränderung, von Werden und Vergehen); (3) natura creatrix, ein aktives, schaffendes Prinzip: Für dieses steht, wie oben skizziert, Venus als Kraft der Liebe. Diese aber tritt nicht zu (1) und (2) hinzu, sondern zeigt in beidem ihre Wirksamkeit und Kraft, eben die »Natur der Dinge«.
26 Memmiersohn: allgemein mit Gaius Memmius identifiziert – dem Spross einer alten römischen Aristokratenfamilie. Er wurde vermutlich 98 v. u. Z. geboren, heiratete 72 Fausta Cornelia, die Tochter des Diktators Sulla, von der er sich 55 scheiden ließ. 58 kandidierte er für das hohe Amt eines Praetors, wurde dabei von Cicero unterstützt, der ihn für einen begabten, aber faulen Redner hielt. Über Memmius’ Liebesaffären mit verheirateten Frauen schrieb Cicero im Januar 60 in einem seiner Atticus-Briefe. Memmius selbst machte seine Liebesabenteuer zum Gegenstand erotischer Gedichte. 54 bewarb er sich als Parteigänger Caesars um das Amt eines Konsuls; die Wahl scheiterte, und er musste, wegen Bestechung angeklagt und verurteilt, ins Exil nach Griechenland. – Die Kommentatoren haben sich gefragt, warum Lukrez sein Gedicht ausgerechnet diesem Mann widmet, der für übergroßen Ehrgeiz und Triebhaftigkeit (einen ganz unepikureischen Lebenswandel also), auch für seine Ablehnung der Philosophie Epikurs bekannt war. Doch Lukrez verstand sich als Aufklärer. Und er wird sich mit Bedacht einen Adressaten gewählt haben, der Belehrung, vielleicht auch eine Veränderung seiner Lebensführung hätte brauchen können. Offenbar sollte er in die Lage versetzt werden, ein, im epikureischen Sinn, »gutes Leben« zu führen. Mit De rerum natura verfolgte Lukrez ja keine »philosophiehistorischen« Absichten, er hielt die richtige Auffassung der Natur für die Grundlage eines richtigen, guten Lebens. Alles, was er im Folgenden »über die Dinge der Natur« entfaltet, dient diesem praktischen Zweck. (Zu Memmius vgl. Smith xiii-xviii und Bailey 2, S. 598. Zu Lukrez’ Verhältnis zur griechischen Philosophie vgl. James Warren, in: Companion, S. 19–32.)
32 Mavors: Mars, der Kriegsgott, im römischen Pantheon neben Jupiter der höchste Gott. Möglicherweise benutzt Lukrez die alte Namensform wegen der Alliteration zu mors, Tod.
41–42 für das Vaterland stürmischen Zeit: Lukrez erlebte die Unruhen mit, die zum Ende der römischen Republik führten, starb etwa 10 Jahre vor Caesars Ermordung; Stichworte dazu in der Chronik, die diesem Buch beigegeben ist. – sich den Pflichten fürs Wohl des Staates entziehen: Memmius, der 58 v. u. Z. das Amt eines Praetors innehatte (vgl. zu 1.26), wäre zu (Bürger-)Kriegszeiten kaum bereit gewesen, auch noch Lukrez’ grundstürzenden Thesen zu folgen.
41–42 für das Vaterland stürmischen Zeit: Lukrez erlebte die Unruhen mit, die zum Ende der römischen Republik führten, starb etwa 10 Jahre vor Caesars Ermordung; Stichworte dazu in der Chronik, die diesem Buch beigegeben ist. – sich den Pflichten fürs Wohl des Staates entziehen: Memmius, der 58 v. u. Z. das Amt eines Praetors innehatte (vgl. zu 1.26), wäre zu (Bürger-)Kriegszeiten kaum bereit gewesen, auch noch Lukrez’ grundstürzenden Thesen zu folgen.
44–49 Wesen der Götter: der erste Hinweis auf die Göttervorstellung von Epikur und Lukrez, die beide keine strikten Atheisten waren, die Götter aber in die Intermundien (5.148 ff.) verbannten, ihnen damit jeden Einfluss auf die Natur der Dinge, darum auch auf die Angelegenheiten der Menschen absprachen; vgl. oben zu Venus, siehe auch 2.646 ff. und, zur Entstehung des Götterglaubens, 5.1161–1240. – Über die hier etwas unvermittelt erscheinenden Verse wurde viel gestritten (Bailey 2, S. 601–04); das gedankliche Bindeglied ist pax, der ruhige Frieden, möglicherweise die Hoffnung, dass die Göttin Venus empathisch auf Lukrez’ Bitte reagiert. Sicher freilich kann er sich dessen nicht sein.
44–49 Wesen der Götter: der erste Hinweis auf die Göttervorstellung von Epikur und Lukrez, die beide keine strikten Atheisten waren, die Götter aber in die Intermundien (5.148 ff.) verbannten, ihnen damit jeden Einfluss auf die Natur der Dinge, darum auch auf die Angelegenheiten der Menschen absprachen; vgl. oben zu Venus, siehe auch 2.646 ff. und, zur Entstehung des Götterglaubens, 5.1161–1240. – Über die hier etwas unvermittelt erscheinenden Verse wurde viel gestritten (Bailey 2, S. 601–04); das gedankliche Bindeglied ist pax, der ruhige Frieden, möglicherweise die Hoffnung, dass die Göttin Venus empathisch auf Lukrez’ Bitte reagiert. Sicher freilich kann er sich dessen nicht sein.
50 du aber, Memmius: nach Lachmann anstelle des im Original überleitenden, unpersönlichen quod superest (etwa: »des Weiteren«). Die folgenden Aufforderungen aber, auch die Zueignung, verlangen die direkte Anrede.
51 der wahren Philosophie: veram ad rationem – Lukrez’ Standardformel für die Lehre Epikurs.
55–62 Urelemente: res primordia – die Atome (gr. atomos, lat., bei Cicero, atomus), ein Begriff, den Lukrez nicht benutzt. Er verwendet stattdessen res primordia (Uranfänge der Dinge), materies (Materie, als Stoff im Sinn von Baustein und auch als mater, Urstoff, verstanden), genitalia (die schaffenden Dinge), semina rerum (Keime der Dinge), corpora prima (erste Körper); außerdem corpuscula (Partikel) und elementa (Elemente). – Diese Vielfalt erklärt sich aus dem Gewicht, das Lukrez auf die diversen Rollen legt, die die Atome (als einzelne Körper sowie in Verbindung miteinander und mit dem Leeren) für das Geschehen in der Natur spielen. Ich habe beim Übertragen auf den (für uns zu festgelegten) Begriff »Atom« verzichtet (den Diels etwa verwendet), habe, um das Lesen und Verstehen zu erleichtern, zumeist »Urelemente« gesetzt, weil mir in diesem Wort die meisten der Bedeutungen und Funktionen bildhaft enthalten scheinen und weil das häufig auftauchende semina, Keime, in manchen Kontexten irreführende Assoziationen weckt. In den Kommentaren, der Kürze halber, verwende ich »Atom«. – Mit der Erläuterung seines Atomismus beginnt Lukrez ab 1.483.
64 unter der Last des Aberglaubens: opressa … sub religione – gemeint ist nicht unser Begriff »Religion«. Im Lateinischen leitet sich religio her von »etwas (einen Ort, ein Bild, ein Ding) mit dem Gefühl der Ehr-Furcht betrachten«, wird im Lauf der Zeit ausgedehnt auf alle Opfer, Orakel, Riten, Erzählungen etc., die auf der Vorstellung beruhen, die Götter griffen in Natur und Menschenwelt ein und man könne diese Interventionen beeinflussen. Lukrez assoziiert mit religio sowohl die Furcht vor den Göttern wie auch das Ganze der Rituale, die auf jener Furcht beruhen; das also, was ihm als »Aberglaube« gilt. Insofern bedeutet religio nicht den Glauben an die Existenz der Götter (s. o. und 6.68–79). – Gleichwohl liegt in der Zurückweisung von religio, in ihrer Kritik und Verspottung, der Grund für die Verfemung, die Denker und Dichter, wenn sie Epikur und Lukrez folgten, nicht nur in der Spätantike erfuhren, sondern auch im Mittelalter und danach. Zur Erschütterung, die das Wiederauffinden des verschollenen Textes durch Poggio Bracciolino im Jahr 1417 auslöste, vgl. Stephen Greenblatt, Die Wende.
66 ein Grieche: Epikur. Das Lob Epikurs, hier ein zweites Proömium, wiederholt sich zu Beginn der Bücher 3, 5 und 6.
68 Blitze nicht: wie Donnerwetter galten sie der religio als Zeichen des Zorns der Götter; siehe widerlegend: 6.379–422; spottend: 5.1101–04.
73 flammenden Zinnen unserer Welt: nicht nur ein Bild, das es erlaubt, Epikur als Feldherrn zu feiern – nach der Kosmologie der Epikureer steigen die leichtesten Partikel aus unserer Welt empor und bilden an deren äußerem Rand (an der Grenze des »Äthers« zum Universum) einen Wirbel, der Feuer fängt, die Welt umschließt und abgrenzt gegen die diversen Welten im Universum; genau beschrieben in 4.452; siehe auch: 2.1144 und 5.454.
76 Grenzstein: Lukrez’ Metapher für das unverbrüchliche Gesetz, das, Epikur zufolge, alle Dinge regiert, ihren Werdegang und die Grenzen ihres Bestehens markiert (siehe 1.595 f.; 2.1087, 5. 89 f.; 6.65 f.).
84 ff. Iphianassia: Iphigenie. Es folgt eine, für Lukrez typische, sprachlich ebenso schöne wie (gerade darin) hochpolemische Darstellung der mythischen Erzählung. Die Göttin Diana galt nicht nur als Beschützerin der Kreuzwege, sie wurde auch als Beschützerin der Frauen verehrt. Dies wie die im nächsten Vers angedeutete Wandlung des Brautschmucks zum Opferband zeigt Lukrez’ bittere Ironie.
87 f. ihr um die jungfräulichen Locken gelegte Band: doppeldeutig. Wäre Iphigenie, wie ihr versprochen war, zum Heiraten nach Aulis gekommen, hätte sie ein Brautband (vitta) um den Kopf getragen, das Volk hätte der Braut gehuldigt; Lukrez aber lässt sie spüren, wie beiderseits vom Kopf Enden des Bandes herabfallen: Da weiß sie wie das zuschauende Volk (und die römischen Leser), dass es sich um die infula handelt, ein Band mit losen Enden, mit dem Tieropfer geschmückt wurden. Auch die weiteren Vorgänge formuliert Lukrez so, dass sie an römische Hochzeitsriten erinnern. (Näheres Bailey 2, S. 614 f.)
99 des besorgten Vaters: besorgt um die glückliche Ausfahrt nach Troja.
101 zu Bösem … raten: tantum religio potuit suadere malorum – ein Vers, der, so jedenfalls sah dies Voltaire, »solange Gültigkeit behält, wie die Welt besteht«.
102, 109 Weissager: vatum – herabsetzend für alle, die Aberglauben und Mythen verbreiten, die Seher und Priester (in Augusteischer Zeit auch die Dichter).
115 Orkusschlund: Eingang zur Unterwelt.
116 f. in andere Kreaturen schlüpft: Anspielung auf Seelenwanderung; Vorstellungen, denen Pythagoräer, Empedokles und der Dichter Ennius anhingen. – Helikon: der heilige Berg der Musen in Boötien. – Acheron: einer der fünf Flüsse der Unterwelt.
118 f. einst Ennius … sein Ruhm …: Quintus Ennius war Römer und als Dichter Vorbild für Lukrez, zum einen, weil er den Hexameter für die lateinische Dichtung erprobte, was seinen Ruhm »bei den italischen Völkern« begründete; zum anderen, weil er die Götter allegorisch deutete, als Naturkräfte, die, quasi als Generäle, das Geschick der Welt lenken. Nur Ennius’ Seelenlehre hat vor Lukrez keinen Bestand.
127–30 nicht nur von den Dingen des Himmels: wie im ersten Teil dieses Syllabus (54–57), wo es gegen den Götterglauben ging; hier nun richtet sich das Argument gegen die Todesfurcht. Damit sind die beiden Ziele des Gesamtunternehmens verbunden und in die rechte Reihenfolge gebracht: Die Erkenntnis der Natur ist Voraussetzung für die Heilung des irrenden Geistes und der verstörten Seele.
131 Seele … Geist: seine Seelenlehre entfaltet Lukrez ausführlich im Dritten Buch (94–416), darum an dieser Stelle nur ein kurzer Hinweis auf das interagierende Doppel aus anima und animus. Sitz von animus ist die Brust, pectoris, ein Wort, das oft für animus steht; gemeint sind die geistigen Fähigkeiten – Fühlen, Vorstellen, Denken, Wollen; animus hat darum die Bedeutung »Geist« oder »Bewusstsein« (»mind«). anima dagegen, der Lebensgeist, ist das, was alle Empfindungen verbindet, die »Seele«; sie ist, als Lebenskraft, im ganzen Körper verteilt.
132–35 was … uns befällt: zur Wahrnehmungstheorie, zu den Bildchen (simulacra), die von den Dingen ausgesendet und von uns empfangen werden, siehe 4.26–215.
136–39 dunkle Erkenntnisse … erhellend erklären: diesem Gegensatz, dunkel–hell, Schatten–Licht etc. begegnen wir im Lauf des Gedichts immer wieder. – weil unsere Sprache arm … Worte prägen: was zum Beispiel die vielen Termini für »atomos« zeigen; siehe auch 1.832 und 3.260. – Schwer wird Lukrez sein Unternehmen auch darum gefallen sein, weil es riskant war, weil er eine Art Sakrileg beging, indem er »dichtete«, denn die Epikureer verdammten die Poesie wegen ihrer Nähe zum Mythos. Er musste die sprachliche Form finden, die dem hohen aufklärerischen und therapeutischen Anspruch der Epikureer gerecht wird.
140 Freundschaft: nicht nur in unserem umgangssprachlichen Sinn als Streben zu verstehen, einen Höhergestellten zum Freund und Förderer zu gewinnen, sondern, im epikureischen Sinn von amicitia, einem hohen Wert: Lukrez sucht einen gleichgesinnten Gesprächspartner; drängt Memmius oft auch in seine Richtung.
146–59 auf die Erscheinungen der Natur und ihr inneres Gesetz: resümierend nochmals das Ziel des ganzen Vorhabens – nur durch unbeirrtes Denken gelingt die Erlösung von Götterfurcht und Todesangst, die Heilung von Geist und Seele, wenn nämlich klar ist, dass alles Entstehen, Werden und Vergehen ganz ohne Mitwirkung der Götter zu erklären ist; siehe auch 2.59 ff.; 3.91 ff.; 6.39 ff.
160 keines brauchte einen Keim: der erste Hinweis auf die später entfaltete Atomlehre, ohne dass dieses Wort hier gebraucht wird. Noch geht es um »Keime«, semina. Sie sind Voraussetzung, dass überhaupt etwas entstehen (und wachsen) kann, doch schon hier wird klar, dass dies bestimmte, verschiedene Keime sein müssen, denn anders könnten keine verschiedenen Dinge entstehen.
169, 172 gleiche Mutter, Materie: mater – Lukrez spielt mit dem Doppelsinn Mutter–Materie. Wobei »Materie«, wie das Vorangehende zeigt, nicht als eigenschaftsloser Stoff, nicht abstrakt zu verstehen ist, eher als »Mutter Erde« (siehe z. B. 2.598), als das, was die richtigen Keime enthält, sodass die Menschen auf dem Erdboden, Fische im Wasser, Vögel in Nestern, alle nach ihrer Art irgendwo auf der Erde entstehen können.
171 Materie: materies – auch hier konkret zu verstehen, als dasjenige, aus dem die Dinge, genauer: die jeweiligen Keime (siehe 1.59), geformt sind: darum corpora prima, »dem jeweils eigenen Urkörper«.
173 jeweils eigene Kraft: secreta facultas – die Fähigkeit, dieses und kein anderes Ding entstehen zu lassen.
185 Zeiten, in denen Keime sich zueinander fügen: das Zusammentreten von Keimen ist nicht nur zur Entstehung der Dinge notwendig, neue Keime müssen auch dazukommen, damit überhaupt etwas wachsen kann (nämlich, wie wir später erfahren werden, Atome oder Atomverbindungen).
196 ff. Elemente … Buchstaben: elementa bedeutet beides; aus diesem Doppelsinn baut Lukrez sein Argument. Bailey verweist zum Verständnis auch hier auf den Kontext: Wenn z. B. bestimmte Pflanzen vielen verschiedenen Tieren als Nahrung dienen, dann müssen sie »Elemente« enthalten, die sich die Tiere ihrer jeweiligen Art gemäß einverleiben können, so wie sich aus den gleichen Buchstaben unterschiedliche Worte bilden lassen. Die Buchstabenanalogie taucht an vielen Stellen auf: vgl. 1.823 ff., 1.907 ff., 2.688 ff., 2.1013 ff. – Entwickelt hat sich das griechische Buchstabenalphabet ab dem 9., der Atomismus ab dem 5. Jahrhundert v. u. Z.
200 so riesig … durchs tiefe Meer zu waten … mächtige Berge zerreißen: Lukrez denkt an Riesenwesen wie den Kyklopen Polyphem (der bei Homer und Ovid auftaucht), die er hier schon, ganz nebenbei und vorsorglich, ins Fabelreich verbannt. Solche Wesen können eben nicht »wirklich entstehen«.
210 Urelemente: primordia rerum – ein Vorgriff, nicht Atome sind gemeint, sondern in einem weiteren Sinn Atomverbindungen: die Keime der Dinge.
211 f. wäre dies anders … viel besser wüchse: leicht verändert wiederholt in 5.210–11.
220 ihrer Verbindung Gefüge: noch ein Vorgriff – die sichtbaren Dinge bestehen aus einem Gefüge von Atomen und Atomverbindungen.
221–25 Partikel zersprengt … durch leere Stellen ins Innere … von innen her auflöst: damit geht Lukrez über das hinaus, was er bisher über die Urelemente (oder Keime) gesagt hat und nähert sich dem Kernsatz des epikureischen Atomismus: »Das All umfasst Körper und Leere«, sowohl den Raum zwischen den Körpern im All als auch den zwischen den Atomen in den Dingen, die »Poren«; ausführlich dargestellt ab 1.483 (vgl. Epikur, Brief an Herodotos §39). Die von Epikur beschriebene Auflösung (a. a. O. §41) ist keine ins Nichts, sondern eine ins (für uns) Unsichtbare, nämlich in die Urelemente im engeren Sinn: die Atome. Auch wenn nichts mehr zu sehen ist, bleibt etwas übrig. Partikel sind hier wie anderswo nicht Atome, sondern Atomverbindungen; nur sie können »zersprengt werden«; die Urelemente sind unteilbar (a-tomos).
240 dann nämlich: wenn etwas aus Nichts entstehen oder in Nichts sich auflösen könnte.
250 f. Vater Himmel – Mutter Erde: Lukrez greift hier, wie im Proömium, zur Verdeutlichung seiner Weltsicht auf eine uralte mythische Vorstellung zurück – die Vereinigung von Himmel und Erde. Sie findet sich bei Anaxagoras und Euripides; dichterisch in Vergils Georgica. Siehe ausführlicher: 2.991 ff.
264 wenn dafür nicht ein anderes vergeht: Werden – Vergehen – Werden, das ist die Konsequenz des Atomismus, aber nicht, wie wir 1.551 ff. sehen werden, in Gestalt einer auf ewig determinierten Kette (wie bei Demokrit).
265 ff. Zweifel … zu den Dingen zählen musst: der hier vorweggenommene Einwand gegen die Existenz unsichtbarer Atome ist keine bloß rhetorische Figur, sondern verweist auf ein Grundproblem des epikureischen Atomismus. Für Epikur (vgl. Brief an Herodotos §39) ist sinnliche Evidenz das erste und oberste Kriterium von Wahrheit, andererseits aber bleibt der Grundbaustein seiner Theorie, das Atom, unsichtbar, was natürlich auch Lukrez bewusst ist (siehe 1.420 ff. und 1.699). So bleibt ihm nur der Weg von sichtbaren Phänomenen zu unsichtbaren Ursachen, ein Analogieschluss also, den er im Folgenden in vier Beispielen poetisch hinreißend und gedanklich zwingend ausführt – wenn wir akzeptieren, dass es keine prinzipielle Grenze zwischen atomarer und erscheinender Welt gibt, uns darum seinem bildhaften Denken überlassen, das eines bestimmt nicht will: eine in Erscheinung und Wesen (in Materielles und Geistiges, in Reich der Sinne und Reich des Verstandes) zweigeteilte Welt. Man könnte das, neuzeitlich forsch, einfach beiseitewischen – und verlöre aus dem Blick, was dieser »Fortschritt« den wissenschaftlichen Erfahrungsbegriff an Reichtum gekostet hat. Jedenfalls ist Philosophie heute weithin nicht viel mehr als eine Technik richtigen Denkens. Wem das zu weit gegriffen scheint, der könnte sich immerhin anregen lassen durch Lukrez’ genaue, reiche Beobachtungen des Geschehens um ihn herum und hätte so die Chance, das staunende Fragen wiederlernen – es ist, wie die Alten wussten, der Beginn allen Philosophierens.
302 ff. müssen körperlicher Natur sein … seinerseits berühren: der Kern des Arguments – die unsichtbaren Körper wirken auf unsere Sinne und können dies nur, weil sie Körper sind – und zugleich ein Zentralstück des Atomismus. Dass wir nur durch Berühren und Berührt-Werden empfinden, denken, wollen, wird breit ausgeführt in 4.216–822.
309 f. nur in kleinsten Partikeln: dass er nicht nur Feuchtigkeit, auch Kälte und Hitze körperlich versteht, erläutert Lukrez in 2.457–61.
331 nicht alles allseits zusammengepresst … in den Dingen Leere: das All, heißt es bei Epikur, »besteht aus Körper und Leere« (Brief an Herodotos §39). »Ding« bedeutet bei Lukrez, wie hier deutlicher ausgeführt wird, immer das aus Partikeln und Leere zusammengesetzte, zuletzt das uns sichtbare Ding.
334 f. [ohne] immateriellen Raum … könnte sich kein Ding irgend bewegen: die philosophische Gegenposition hat Parmenides (um 520/15–460/55 v. u. Z.) vertreten. Ihm galt die Welt als unveränderlich und fertig, alles Werden und Vergehen dagegen als bloße »Meinung«, als Schein. Entsprechend ist ihm das Materielle auch das einzig wahrhaft Existierende, dem Nichtmateriellen, der Leere dagegen komme keine Existenz zu. Dem widerspricht Leukipp, der Begründer des Atomismus: Materie bewege sich (Dinge werden und vergehen), das aber wäre unmöglich ohne leeren Raum, also komme auch diesem Existenz zu, wenn auch in anderer Weise als der Materie. Epikur und Lukrez nehmen das auf. (Und so entwickelt Lukrez im Folgenden auch sein Argument.) – Raum, so wie Lukrez den Begriff verwendet, hat zwei Bedeutungen: (1) im engeren Sinn das Leere, unbesetzter Raum, das Gegenstück zur Materie. Raum, d. h. Leere, und Körper schließen einander aus. Aber sie verbinden sich auch: zum Ding, dessen Körperpartikel Leere umschließen, und zum »Ganzen des Alls« (1.958), dem Universum oder der Summe aller Körper und Leere. (2) im weiteren Sinn, ist Raum dasjenige, in dem Körper sich bewegen; anders: er ist das Leere, das Bewegung überhaupt möglich macht. So betrachtet, ist Raum unendlich und kontinuierlich. Zugleich ist er mal »leer«, mal »besetzt« (von Körpern oder Atomen). Da die Atome (siehe 2.62–88) in permanenter Bewegung sind, gehen leerer und gefüllter Raum permanent ineinander über. In diesem Sinn ist »Raum« synonym mit dem Universum oder All. Beide Raumbegriffe (wenn man so will: das Leere und der Bewegungsraum oder Weltraum) sind nicht scharf gegeneinander abgegrenzt. Zu (1) gehören Lukrez’ Begriffe inane, vacuum, vacans; zu (2) locus, spatium (vgl. Bailey 2, S. 653 und 763).
336 f. den Körpern eigen … entgegenhalten … entgegenstehen: officium … officere … obstare – Lukrez’ Wortspiele, die fast immer einen Gedanken unterstreichen, lassen sich meist nicht ohne Verlust, manchmal gar nicht ins Deutsche übertragen.
358–69 mehr Körper … weniger Leere: Dass das Gewicht der Dinge abhängt davon, wie viel Leere in ihm enthalten ist, ist ein Lehrsatz der Atomisten, z. B. Demokrits; Materie hat Schwere, die Leere keine, die Gesamtschwere der Dinge hängt ab von ihrer jeweiligen Zusammensetzung, also der »Addition« von Körper und Leere. – Die Formulierung nach unten drücken zeigt, dass man zu Lukrez’ Zeiten von Schwerkraft nichts wusste. Dass Körper von sich aus »nach unten« fallen, wird als deren Eigenschaft gesehen (daher wohl auch die etwas umständliche Formulierung); diese Eigenschaft jedenfalls ist zentral für die atomistische Weltentstehungstheorie. (Siehe 2.184–293.)
370 ff. einige fälschlich behaupten: gegen wen genau sich Lukrez wendet, ist unklar; die folgende Erklärung, warum und wie Fische schwimmen können, war verbreitet: bei Empedokles, Anaxagoras, Platon (Timaeus 80c), Aristoteles (Physik 213b-216b), dem Peripatetiker Strato, einem Zeitgenossen Epikurs, auch bei Cicero (Academica 2.125); deren Erklärung diente als Beweis gegen die Existenz des Leeren.
384 ff. das zuletzt noch: was Lukrez hier zu widerlegen sucht, findet sich bei Aristoteles: Physik, 4. Buch, 7.214a.
386 bis der ganze Bereich wieder besetzt: worauf Lukrez abhebt, aber nicht ausformuliert, ist die Leere, die vor diesem raschen, aber doch schrittweisen Prozess des Abprallens/Wiederauffüllens entsteht. Seine Gegner beschreiben allein den Ortswechsel von Luft und Ding, dies aber, so Lukrez’ impliziter Vorwurf, erklärt die Sache nicht.
410 ff. säumst du jedoch: Anregung zum launig vorgetragenen, didaktischen Hinweis könnte Lukrez bei Epikur gefunden haben, vgl. dazu Diogenes von Oinoanda, den Verfasser der umfangreichen epikureischen Inschrift, der sich humorvoll über die vielen Buchstaben äußert (ursprünglich wohl über 30?000 Wörter), die er in den Stein hat schlagen lassen, zum Nutzen der Leser, auf dass sie Epikurs »heitere Gelassenheit« finden mögen.
410 Brust: pectus – der Sitz von animus, von Denken, Erinnern und Wahrnehmen, siehe 3.140.
415 das Leben hütende Bollwerke lockern: beim Zerfall des Leibes können die Seelenatome aus dem Körper entweichen, und der Tod tritt ein; siehe 3.323.
418–39 aus Körpern und Leere: Lukrez folgt hier Epikur ganz eng, fast im Sinn einer Übersetzung (vgl. Brief an Herodotos §38–40). Zwei neue Gedanken kommen ins Spiel. (1) der Vorrang sinnlicher Wahrnehmung (Aisthesis): Auch über das, was wir nicht sehen, über Körper und Leere, können wir nur durch unsere Wahrnehmung Aussagen treffen, durch Wahrnehmungen an den aus Körpern zusammengesetzten Dingen. Dass es sie gibt, sehen wir, also muss es auch Körper und Leere geben. (2) »Körper« (res) hat zwei Bedeutungen (siehe auch 1.483): einerseits »Partikel« (Atomverbindungen) oder »Keime« (Urelemente oder Atome), andererseits die »Dinge«, die aus jenen Körpern (Atomen) und Leere zusammengesetzt sind. Weil sie zusammengesetzt sind, begründen sie keine eigene Wirklichkeit; die sichtbaren Dinge sind so wirklich wie die unsichtbaren, es gibt in Lukrez Denken nichts »in dritter Weise Wirkliches«: siehe auch 1.699 f., 4.477 ff. – Anders: Lukrez’ hütet sich, wenn er auf dem Weg des Denkens bei »Atom« und »Leere« angelangt ist, diese zum eigentlich Wirklichen zu erklären, das sinnlich Wahrnehmbare also herabzusetzen zu bloßen »Erscheinungen«. Konsequent folgt er Epikur und macht sich damit die gesamte nachsokratische Philosophie zum Gegner, die generell die Tendenz hat, das, was Produkt des Denkens ist (Grund, Begriff, Abstraktion etc.), für wirklicher zu halten als den Gegenstand, von dem das Gedachte abzogen wurde. – Mit dem Doppelsinn von Raum oder »Leere« (siehe zu 1.334) wie auch mit dem von »Körper« können wir uns das Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer Welt wie das von Makro- und Mikrokosmos vorstellen: Sie sind unterschieden, ihrer Natur nach jedoch gleich, in beiden gelten die gleichen Gesetze (»Isonomie«). »Von der Natur der Dinge« kann Lukrez schreiben, nicht weil er sich »über die Natur« Gedanken macht, sondern weil er sich denkend in der Natur, nämlich unter und mit den Dingen bewegt. Im Fortgang vom Ersten zum Zweiten zum Dritten und Vierten Buch können wir einem Kontinuum folgen, das vom Materiellen zu Geist und Seele führt. Denken, so zeigt sich, ist die »Bewegung der Sache selbst«.
424 Blick: das Sehen ist für Lukrez der erste unserer Sinne, steht hier aber für sinnliche Wahrnehmung überhaupt.
429 habe ich dir zuvor erläutert: siehe 1.334 ff., 1.370 ff.
433 muss … aus sich selbst bestehen: debebit id ipsum – Atome oder Urelemente, im Unterschied zu den zusammengesetzten Atomverbindungen (concilia) oder Dingen, die von etwas anderem abhängig sind (eventa). – Der Beweis, den Lukrez hier führt, geht davon aus, dass dies fragliche Dritte, wenn es denn existiert, ein »etwas«, ein Ding sein muss, insofern mit den Sinnen (durch Berührung) fassbar und darum zusammengesetzt. Dann aber wäre es kein »Drittes«, sondern ein Ding wie alle anderen auch. Ist es nicht fassbar, setzt es der Berührung oder Bewegung eines Körpers nichts entgegen, dann kann es nur das Leere sein: und wiederum kein »Drittes«.
435 durch … leiseste Berührung: hier zieht Lukrez neben dem Sehsinn auch den Tastsinn heran – es geht um unsichtbare Körper und deren Berührung, im Zweiten Buch als Zusammenprall und anschließende Verbindung von Atomen erläutert (siehe 2.80–141).
436 Summe des Ganzen: des zusammengesetzten Dings.
444 das körperlos Leere: vgl. Epikur, Brief an Herodotos §67.
448 ff. für alle Dinge …: zum Folgenden siehe Epikur, Brief an Herodotos §40, §68–73. Von dorther lässt sich Lukrez’ gedrängte Darstellung leichter verstehen.
450 Eigenschaft: coniuncta – das untrennbar mit einem Körper Verbundene, also dessen primäre, unveränderliche Eigenschaften – im Gegensatz zu den sekundären Eigenschaften (wie Farbe, Geruch, Geschmack etc.), die einem Körper oder Ding zukommen können oder auch nicht und die sich auch ändern können: die Akzidentien oder eventa (1.459); ausführlich behandelt im Zweiten Buch (730–1022).
459: Ereignis oder Ergebnis: eventum – das, was hinzutritt oder sich ergibt; das, was nicht aus sich ist, sondern von anderem abhängig, insofern sekundär und zufällig ist. Epikur, im Brief an Herodotos (§70/71), spricht von symptomata, ein Begriff, den Lukrez nicht übernimmt. Ausführlicher als dieser erklärt Epikur, dass diese »Symptome« zwar nicht das Wesen des ganzen Dinges ausmachen, dass ihnen Existenz gleichwohl nicht abzusprechen ist. Sie sind nicht ohne die Körper, an denen sie beobachtet werden. Das haben Symptome und Eigenschaften gemeinsam: Weder »das Schwere« oder andere primäre Eigenschaften noch irgendeine sekundäre Eigenschaft wie »das Rote« etc. existieren für Epikur und Lukrez als solche. – Wenn Lukrez seine Beispiele für eventa aus dem politisch-moralischen Leben nimmt, ist dies ein erster Hinweis darauf, dass er die Unruhe seiner Epoche nicht für durchweg naturgegeben hält, sondern für veränderbar, wie zu Beginn des Ersten Buchs bereits angeklungen. – Doch sein Argument hat noch ein anderes Ziel: Er will zeigen, dass wir auch »Zeit« nicht als solche wahrnehmen können, sondern nur durch Ereignisse, Überlieferung und Bewegung. Insofern ist Zeit ein Sonderfall der eventa. Ihr kommt sowenig eigene Existenz zu wie den Ereignissen in der Geschichte (463 ff.). Auch das entnimmt er Epikur, vgl. Brief an Herodotos §72.
463 unabhängig von … Bewegung und … Ruhe Zeit … wahrnehmen kann: Lukrez denkt anders, als wir dies gewohnt sind. Kann man Bewegung erfassen, ohne bereits einen Begriff von Zeit, eines kontinuierlichen Nacheinander zu haben? Wir würden sagen: Nein. Auch Lukrez verneint seine rhetorische Frage. Zwar haben wir einen Vorbegriff (prolepsis) von Zeit, doch auch dieser ist abhängig von einem Geschehen, das wir wahrgenommen haben oder von dem wir anderswie wissen, durch Chroniken etwa. Das heißt: Lukrez sieht Zeit nicht, wie der neuzeitliche Newton, als »Behälter der Bewegung«, nicht als etwas, das unabhängig von dieser immer schon da ist, nämlich als Bedingung dafür, dass überhaupt etwas als bewegt wahrgenommen werden kann: Diese Funktion übernehmen bei Lukrez ausschließlich der Raum und das Leere, und sie tun dies nicht als Formen unserer Wahrnehmung, sondern sie sind immer schon da: Natur. Auch darum kann es für Lukrez Zeit »als solche« nicht geben. – Insofern ist »Zeit« ein Beispiel dafür, wie sich im Hauptstrom der abendländischen Philosophie eine von Dingen und Ereignissen abgezogene Eigenschaft zu einem Begriff verselbständigt hat, dem als solchem »Sein« zugesprochen wird und/oder der unsere Erfahrung von Welt vor aller Erfahrung strukturiert, also bestimmt, wie die Dinge »für uns« sind. Kant hat daraus eine kategorische Konsequenz gezogen: Wie die Dinge »an sich« selbst sind, können wir nicht erfahren.
464–82 sie sagen, (historische Ereignisse) existieren: cum dicunt esse – gegen »sie«, die Stoiker, richtet sich die ganze Passage, genauer: gegen ihre Behauptung, dass Ereignisse wie auch Zeit für sich existieren, nicht anders als Körper oder Leere, nämlich von nichts anderem abhängig. Ob irgendein Stoiker vergangenen Ereignissen aktuelle Existenz zugeschrieben und dies tatsächlich damit begründet hat, dass zwar die damals handelnden Menschen aktuell nicht mehr lebten, wir aber gleichwohl von den Ereignissen wissen, mag dahingestellt bleiben. Lukrez spitzt hier, wie oft, polemisch zu und nutzt dabei den Doppelsinn von esse, das an dieser Stelle nicht Hilfsverb ist, sondern »wirklich sein, existieren« bedeutet. Das erlaubt ihm, das stoische Argument in seinen Konsequenzen ad absurdum zu führen. Wenn nämlich die Handelnden tot sind, könnte man ein überliefertes Ereignis allem Möglichen anderen zuschreiben, einem Land etwa. – Das aber zeigt uns, dass alle Ereignisse einer materiellen Grundlage bedürfen: der Dinge und der handelnden Menschen, eines Ortes und damit des Raums (der Leere). Ereignisse haben keine Existenz »aus sich«. Der Raum der Geschichte ist (nur bei Lukrez?) kein anderer als der Raum der Natur. Was wir von jener wissen können, ist nichts anderes als das, was wir von dieser wissen können. Denn überhaupt können wir nur als Sinnenwesen etwas wissen, als Wesen in der Natur. – Wir »Moderne« können uns nun fragen: Warum trennen wir die »Geisteswissenschaften« (Geschichte, aber auch Philosophie, Moral) so selbstverständlich von den Naturwissenschaften? Geben nicht beide Auskunft darüber, wie wir mit Natur umgehen?
464 Tyndareus’ Tochter: Helena, deren Raub den Trojanischen Krieg, die Unterwerfung der Stämme Trojas, auslöste.
464 Tyndareus’ Tochter: Helena, deren Raub den Trojanischen Krieg, die Unterwerfung der Stämme Trojas, auslöste.
474, 476 phrygischer Alexander: Paris, dessen zunächst kühles (frigus) Herz entbrannte und so den Krieg entfachte. – der trächtige Leib des Trojanischen Pferdes: zu finden bei Aeschylos, Euripides, Ennius, zuletzt auch bei Vergil, Aeneas, 2.20, 237 f., 6.516. – Pergama: Trojas Zitadelle.
474, 476 phrygischer Alexander: Paris, dessen zunächst kühles (frigus) Herz entbrannte und so den Krieg entfachte. – der trächtige Leib des Trojanischen Pferdes: zu finden bei Aeschylos, Euripides, Ennius, zuletzt auch bei Vergil, Aeneas, 2.20, 237 f., 6.516. – Pergama: Trojas Zitadelle.
480 diese Dinge als Ergebnisse sehen: eventa – eine interessante Vorstellung, »Geschichte«, das Überlieferte, als materieller Prozess, nicht, hypermodern gesprochen, als »Text« oder »Raum«, denen etwas »eingeschrieben« wird.
483 der nächste Schritt: im 2. Hauptteil, dem Kernstück der Atomtheorie und damit des Ersten Buchs, folgt Lukrez Epikur wieder sehr eng, erweitert dessen Text allerdings durch anschauliche Analogien: vgl. Brief an Herodotos, §§ 40 ff. Siehe dazu auch 1.159–214: den Beweis für die Existenz der Keime, die, wie wir nun erfahren, entweder Atome sind oder aus solchen zusammengesetzt: concilia, Atomverbindungen.
495 f. wie es Brauch … sprudelnd gefüllt: bei einem feierlichen Festmahl gossen Sklaven gewärmten oder mit Schnee gekühlten Wein in das mit beiden Händen emporgehaltene Trinkgefäß.
498 genaues Verstehen und die Natur der Dinge: von Lukrez als Hendiadyoin gemeint, als »eins durch zwei sagen«. Die rhetorische Zwillingsformel zeigt, wie eng er ratio und natura rerum zusammenzieht; Denken (ratio) ist nicht, im neuzeitlich modernen Sinn, als Analyse, als Trennen zu verstehen, eher als ein Verbinden durch die Sinne (aisthesis). Zu den Bedeutungsschichten von ratio bei Lukrez vgl. Bailey 2, S. 605 f.
511 zusammengesetzte Dinge: die geschaffen sind, im Unterschied zu den Atomen, die immerwährend sind. dichtem Stoff: materiem … solidam – gemeint sind hier Atome oder Urelement; materies ist eines von Lukrez’ Synonymen dafür.
519 alles andere: die zusammengesetzten Dinge, nicht aber das Leere. Weil es nicht-körperlich ist, kann es auch nicht zerstört werden.
531 bereits erläutert: der Gedanke findet sich in 1.215–64 und 485–502.
543 bereits gezeigt: der erste Leitsatz, 1.149–264.
547 sich … neu formieren: gemeint ist nicht nur das neu Erschaffen, auch das »Reparieren«, das Ausgleichen von Verlust, Schäden und Verfall; siehe 1.560.
554 nichts hätte gezeugt werden können: durch das Zusammentreffen von genügend Atomen. Nicht nur zum Werden, auch zum Wachsen und Reifen bedürfen Dinge (Lebewesen) immer neuer Atome; Lukrez sieht dies als kontinuierlichen Prozess, der entsprechend Zeit braucht.
562 bestimmte feste Grenze: für die Zerstörung oder Teilbarkeit der Atomverbindungen, aus denen ein Ding zusammengesetzt ist. Irgendwann ist der Zerfallsprozess soweit fortgeschritten, dass nur einzelne Urelemente oder Atome übrig bleiben: Damit ist der Zerfallsprozess an sein Ende gelangt. Simplicitas der Urelemente meint deren Unteilbarkeit. Siehe auch Epikur, Brief an Herodotos §56. Sein wie auch Lukrez’ Argument ist gegen Anaxagoras (vgl. zu 830) gerichtet, der von einer unendlichen Teilbarkeit der Materie ausging; die Auseinandersetzung mit den Vorläufern des Atomismus (1.746–52 und 1.844) wird hier vorbereitet.
567 Luft, Wasser, Erde, Feuer: gemeint sind die vier Elemente bei Empedokles, dessen Theorie Lukrez 1.716–829 kritisiert: Sein Gegenargument ist, dass diese Elemente, insofern sie sichtbaren Dingen gleichen, auch vergänglich sein müssen. (Das Argument nimmt Lukrez noch einmal auf, wenn er die Vergänglichkeit der Welt behandelt: ab 5.235.) Hier allerdings könnte er auch an Anaxagoras (siehe 1.847 ff.), Heraklit (siehe 1.635 ff.) und andere Theoretiker gedacht haben, die die vier Substanzen ebenfalls als Urelemente begreifen.
577–83 keine Grenze gesetzt: vor allem gegen Anaxagoras gerichtet, der die Materie für unbegrenzt teilbar hält, vgl. zu 830. – Partikel: hier unspezifisch, die Produkte immer weiterer Teilungen, die nach Anaxagoras jedoch als »Keime« der diversen Dinge fungieren müssten – ein für Lukrez unsinniger Gedanke. Ausführlicher findet sich der Einwand 1.843–58.
585 und weiter: Lukrez wendet sich nun den belebten Dingen, den Lebewesen zu.
587 sich nichts ändert: nämlich keine Art; die Dinge hier sind Lebewesen.
595 ff. der ihm tief eingepflanzte Grenzstein: siehe parallel dazu 1.76; 5.89 f.; 6.65 f.
597 ihren Eltern … gleichen: erster Hinweis auf Lukrez’ Vorstellungen zur Vererbung; ausführlich 3.741 ff. Mit 587 auch der Hinweis, dass Lukrez noch keine Vorstellung von der Evolution der Arten hatte.
599 ff. zum Nächsten: zur inneren Struktur der Atome oder Urelemente. Wenn das Atom »Körper« ist, also Ausdehnung besitzt, dann ist schwer einsehbar, warum es nicht teilbar ist (und umgekehrt) – mit diesem Problem des alten Atomismus (nach Demokrit und Leukipp) setzt sich Lukrez nun auseinander, folgt dabei Epikur (Brief an Herodotos §56–59.); kommt 1.746 ff. und 2.478 ff. darauf zurück. Das Argument – ein, wenn man so will, »atomistisches Gedankenexperiment« – ist Folgendes: Wenn man die unendliche Teilbarkeit der Materie nicht akzeptieren kann und das Atom zugleich als ausgedehnten Körper begreifen muss, dann kann man im Atom kleinste Teile (cacumen oder minima) annehmen, die aber weder selbstständig existieren noch weiter teilbar sein dürfen, denn sie sind bereits die Extreme. Unter dieser Voraussetzung kann man das Atom als zugleich ausgedehnt (aus Teilen zusammengesetzt) und unteilbar denken. Damit gewinnen die Atome den Charakter von »Körpern« von verschiedener Größe und Gestalt, abhängig von den minima, die in einem Atom zusammengesetzt sind. Das wiederum muss so sein, denn wir sehen ja, dass aus den Atomen die unterschiedlichsten Dinge und Lebewesen werden können. Die Kette der Analogieschlüsse vom Sichtbaren zum Unsichtbaren und Allerkleinsten wird Lukrez noch weiter ausführen. (Siehe auch 1.749–53: die Analogie von sichtbarer und unsichtbarer Welt mit Bezug auf den »kleinsten Punkt«.) Weil diese minima weder entstanden sind noch durch Zusammenstoß zu Atomen vereint wurden, bleibt das Atom die letzte ungewordene Einheit, unzerstörbar und körperlich und von bestimmter Gestalt: rund, eckig, mit Haken versehen etc. – die Bausteine der atomistischen Kosmogonie.
604 Teil von etwas anderem: des Atoms nämlich.
614 erhält sie als Keime der Dinge: damit schließt sich der Bogen zu 1.559 ff.: Die Atome sind jene Keime aller Dinge, auch des Lebenden, und können es sein, weil sie aus voneinander untrennbaren minimae partes bestehen. – Ein für Lukrez’ Lehre wesentlicher Gedanke, der in 630 wiederholt wird und der zurück verweist auf den Beginn des 1. Buchs, auf die Anrufung der Venus physica.
615 ff. dies Teilen fände kein Ende: Lukrez vollzieht in seinem Gedankenexperiment eine Reductio ad absurdum, den Nachweis, dass die gegenteilige (zu widerlegende) Behauptung zu widersinnigen Konsequenzen führt.
619 kein Unterschied: damit wendet sich Lukrez vermutlich gegen Anaxagoras und gegen die Stoa. (Dass die Behauptung, alle Unendlichkeiten seien gleich, ein Trugschluss ist, hat erst Newton aufgedeckt.)
634 was schaffende Materie besitzen muss: damit ist das Argument 577–83 nochmals und verständlicher begründet – Anaxagoras’ »Partikel« besitzen eben diese Eigenschaften nicht.
635 durch sie aber entstehen alle Dinge: Näheres dazu 2.333–729.
635–920 Kritik rivalisierender Lehren: Die Epikureer, Lukrez eingeschlossen, verfahren mit ihren Gegnern durchaus polemisch, machen sich kaum die Mühe, deren Positionen aus sich heraus zu verstehen und darzustellen (vgl. Smith, Anm. 43 zu 1.638; und Bailey 2, S. 709 f.). Die Attacke, stellvertretend gegen Heraklit geführt und die erste in dieser Reihe, richtet sich gegen alle Monisten (die von einem einzigen Urstoff ausgehen) und, unausgesprochen, auch gegen Epikurs Hauptgegner, die Stoiker, die Heraklits Naturlehre zur Basis ihres Denkens gemacht haben. Der Angriff auf Empedokles (ab 715), fällt weniger heftig und bitter aus, weil Lukrez ihn als Dichter-Philosophen anerkennt. Lukrez’ Angriff richtet sich implizit auch gegen alle Denkschulen, die von mehreren Elementen ausgehen, gegen die sogenannten Pluralisten. Anaxagoras (ab 830, vgl. Anm. dort) steht für sich selbst; in ihrem konsequenten Pluralismus widerspricht seine Theorie dem Atomismus, andererseits hat er diesem die Bahn bereitet.
638–44 den Streit eröffnet … dunkle Sprüche … wohltönende Phrasen etc.: der beißende Spott gilt dem orakelhaft dunklen Sprachstil Heraklits, wohl auch seiner berühmten Behauptung, der Streit, der Krieg, sei »Vater aller Dinge«. – Griechen … Leichtsinn: ein Topos; »Hellenist« zu sein, war unter Roms Aristokraten keineswegs schick. Griechen galten als leichtsinnig, geschwätzig und verweichlicht, jedenfalls nicht als Männer, die »den steilen Pfad« (1.659) wählen würden (vgl. Greenblatt, Die Wende, S. 69). – Toren: stolidi (wie auch 1.1068) – Lukrez spricht an keiner Stelle direkt von Stoa und Stoikern. Gleichwohl darf man (mit Bailey) wohl davon ausgehen, dass er das Wort stolidi wortspielerisch, die Assonanz an stoici nutzend, gewählt hat – solche Spitzen finden sich häufig. Im Übrigen: auch die Stoiker haben alle, die nicht (in ihrem Sinn) »weise« sind, Narren oder Toren genannt.
638–44 den Streit eröffnet … dunkle Sprüche … wohltönende Phrasen etc.: der beißende Spott gilt dem orakelhaft dunklen Sprachstil Heraklits, wohl auch seiner berühmten Behauptung, der Streit, der Krieg, sei »Vater aller Dinge«. – Griechen … Leichtsinn: ein Topos; »Hellenist« zu sein, war unter Roms Aristokraten keineswegs schick. Griechen galten als leichtsinnig, geschwätzig und verweichlicht, jedenfalls nicht als Männer, die »den steilen Pfad« (1.659) wählen würden (vgl. Greenblatt, Die Wende, S. 69). – Toren: stolidi (wie auch 1.1068) – Lukrez spricht an keiner Stelle direkt von Stoa und Stoikern. Gleichwohl darf man (mit Bailey) wohl davon ausgehen, dass er das Wort stolidi wortspielerisch, die Assonanz an stoici nutzend, gewählt hat – solche Spitzen finden sich häufig. Im Übrigen: auch die Stoiker haben alle, die nicht (in ihrem Sinn) »weise« sind, Narren oder Toren genannt.
638–44 den Streit eröffnet … dunkle Sprüche … wohltönende Phrasen etc.: der beißende Spott gilt dem orakelhaft dunklen Sprachstil Heraklits, wohl auch seiner berühmten Behauptung, der Streit, der Krieg, sei »Vater aller Dinge«. – Griechen … Leichtsinn: ein Topos; »Hellenist« zu sein, war unter Roms Aristokraten keineswegs schick. Griechen galten als leichtsinnig, geschwätzig und verweichlicht, jedenfalls nicht als Männer, die »den steilen Pfad« (1.659) wählen würden (vgl. Greenblatt, Die Wende, S. 69). – Toren: stolidi (wie auch 1.1068) – Lukrez spricht an keiner Stelle direkt von Stoa und Stoikern. Gleichwohl darf man (mit Bailey) wohl davon ausgehen, dass er das Wort stolidi wortspielerisch, die Assonanz an stoici nutzend, gewählt hat – solche Spitzen finden sich häufig. Im Übrigen: auch die Stoiker haben alle, die nicht (in ihrem Sinn) »weise« sind, Narren oder Toren genannt.
649 dass Feuer dichter würde oder dünner: nach Diogenes Laertius hat Heraklit Folgendes gelehrt: »Durch Verdichtung nimmt Feuer Feuchtigkeit an, durch deren Zusammenschluss es Wasser wird. Verdichtet sich aber das Wasser, wird es zu Erde etc.« (IX.9)
665 auf andere Weise erlöschen: als durch Verdichten oder Verdünnen, um sich dann in etwas anderes zu verwandeln.
669–77 aus Nichts geworden … sich verändern und wandeln: mit diesem Absatz fährt Lukrez die Ernte der bislang entwickelten Atomlehre ein. Würde Feuer erlöschen, erst zu Wasser, dann zu Erde werden, dann wäre dies das Ende der Feueratome, die Feuer zu Feuer machen. Damit wären Atome wandelbar, und es könnte tatsächlich alles aus allem entstehen – was nach Lukrez gar nicht geht. Denn: Jede Veränderung bedeutet den Tod dessen, was zuvor war: ein zentraler Gedanke (siehe auch 1.792 f.; 2.753 f.; 3.519 f.). Damit haben die Atomisten die Elementenlehre ihrer Vorgänger überwunden. Nicht Veränderung oder Umwandlung eines oder mehrerer »Elemente« erklärt die Vielfalt der sichtbaren Dinge, diese bewirken vielmehr unveränderliche Atome, so der Grundgedanke der Atomisten.
669–77 aus Nichts geworden … sich verändern und wandeln:Jede Veränderung bedeutet den Tod dessen, was zuvor war: