Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2018
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63449-9 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-40632-2
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ISBN 978-3-644-40632-2
«Der HSV ist ein Phänomen, weil die Luschen immer hier hängenbleiben.»
Klaus-Michael Kühne
Es läuft die 63. Minute des letzten Spieltages der Saison zwischen dem Hamburger SV und Borussia Mönchengladbach. Der junge Tatsuya Itō bekommt den Ball, dribbelt in den Strafraum der Gegner und sieht den mitgelaufenen Lewis Holtby. Itō legt ab, Holtby fackelt nicht lange und schießt die Kugel flach ins lange Eck. 2:1 – die Hoffnung auf den Klassenerhalt lebt!
Die Anspannung ist so nervenaufreibend, dass viele Zuschauer ihren Emotionen freien Lauf lassen und Tränen vergießen. Es sind Tränen der Zuversicht auf die Rettung vor dem Abstieg. Es gibt nicht mehr viel, worauf die treuen und zahlreichen Fans stolz sein können – die ununterbrochene Zugehörigkeit zur Bundesliga seit ihrer Gründung 1963 ist das Einzige, was geblieben ist. Bis jetzt zumindest. Denn das Schicksal des HSV wird an diesem 12. Mai 2018 nicht im Volksparkstadion entschieden, sondern 170 Kilometer südlich beim Spiel VfL Wolfsburg gegen den 1.FC Köln. Der HSV kann sich nur noch in die Relegation retten, wenn er sein eigenes Spiel gewinnt und Wolfsburg verliert. Doch die Mannschaft von Trainer Bruno Labbadia, 2015 in Hamburg noch als Retter und Persönlichkeit des Jahres gefeiert, führt selbst mit 2:1. Können sich die bereits abgestiegenen Kölner noch mal aufraffen, um ein weiteres Wunder für den HSV zu ermöglichen? So oft hat der HSV in den vergangenen Jahren Wunder in letzter Minute erlebt. Warum nicht auch heute? 71. Minute, Freistoß für Wolfsburg aus dem rechten Halbfeld, ungefähr 25 Meter vom Tor entfernt. Josip Brekalo flankt den Ball an den zweiten Pfosten. Robin Knoche entscheidet das Kopfballduell gegen Kölns Jorge Meré für sich – und trifft zum 3:1 für den VfL.
Es dauert ein paar Augenblicke, bis sich die Nachricht vom Wolfsburger Tor unter den Fans des HSV verbreitet. Es herrscht ein Moment kurzer Stille, als sie begreifen, dass dieser Rückstand nicht mehr aufzuholen ist. Und ihre Zeit in der Bundesliga nun endgültig abläuft. Der Dino ist tot, er muss absteigen. Die folgenden Minuten zeigen, wie außergewöhnlich dieser HSV wirklich ist. Denn die Fans fangen nicht wie befürchtet damit an, den Platz zu stürmen; zumindest vorerst ist es friedlich. Nein, sie fangen an zu singen. Erst der harte Kern auf der Nordtribüne, dann nahezu das gesamte Stadion. Es ist ein Moment, der unvergessen bleibt; der zeigt, wie viel Leidenschaft, Begeisterung und Treue in diesem Verein steckt. «Mein Hamburg lieb ich sehr, sind die Zeiten auch oft schwer, weiß ich doch, hier gehör ich her», johlt es von den Tribünen. Für einen Augenblick ist der Schmerz vergessen und lässt die Anhänger in eine Zeit zurückkehren, als alles noch schön war. An eine Zeit, als der HSV noch unabsteigbar schien. Eine Zeit, als der Hamburger SV zu den besten Fußballvereinen Deutschlands gehörte.
Der Abstieg des HSV ist eine beispiellose Episode im deutschen Profifußball. In den nuller Jahren qualifizierte sich der Verein regelmäßig für europäische Wettbewerbe, lieferte sich legendäre Schlachten auf internationaler Bühne – unvergessene Spiele wie das 4:4 gegen Juventus Turin oder die vier Derbys gegen Werder Bremen im Frühjahr 2009. Die einzigen legendären Schlachten, die sich der HSV in diesem Jahrzehnt geliefert hat, waren Relegationsspiele, in denen es um die nackte Existenz des Vereins ging. Noch 2013 befand sich der Hamburger SV auf der Liste der 20 umsatzstärksten Fußballvereine der Welt, welche die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte jedes Jahr veröffentlicht. Mittlerweile steht der Verein für viele Fans sinnbildlich für Missmanagement und wirtschaftliche Unfähigkeit. Wie konnte ein angesehener Traditionsverein innerhalb eines Jahrzehnts zur Witzfigur von ganz Fußballdeutschland verkommen? Wie konnte dieser Klub, der von seinen Anhängern so verehrt und gelebt wird, derart tief sinken? Wie konnte es so weit kommen, dass ein Klub, der 55 Jahre ununterbrochen Teil der Bundesliga war, 2018 erstmals in die Zweite Liga absteigt?
Dieses Buch zeigt, wie das passieren konnte. Der Abstieg des Dinos kam nicht über Nacht. Er ist nicht Resultat einer Saison voller Pleiten, Pech und Pannen, kein Betriebsunfall im kaum planbaren Geschäft Fußball. Es war keine Entwicklung, die unvermeidbar gewesen wäre. Jahrelang hat der Verein auf diesen Abstieg hingearbeitet. Unzählige Funktionäre, Trainer und Spieler haben mit ihren Fehlern und Fehlentscheidungen den Verein an den Rand des Abgrundes geführt.
Chronologisch erzählen wir die Geschichte der vergangenen zehn Jahre nach. Abwechselnd beleuchten wir die Fehlentwicklungen, die auf, aber auch neben dem Rasen passiert sind. Dabei verbinden wir unser beider Expertise: Daniel Jovanov beschäftigt sich als freier Journalist seit Jahren beruflich mit dem HSV. Für die Zeit, Spiegel Online und die taz schreibt er über all die dubiosen Deals und Machenschaften, die in den Hinterzimmern des Volksparkstadions stattfinden. Er ist bestens vernetzt im Hamburger Sport-Verein. Für dieses Buch hat er zahlreiche Gespräche geführt mit früheren und heutigen Entscheidungsträgern. Sie haben ihm anvertraut, welche Abgründe sich auftun beim Hamburger SV. Daniel beleuchtet in diesem Buch, wie der HSV hinter den Kulissen tickt.
Co-Autor Tobias Escher nähert sich dem Hamburger SV auf eine andere Weise. Er ist Autor des Internet-Blogs Spielverlagerung.de und Experte in Sachen Fußballtaktik. Fußballspiele sezieren und die taktischen Pläne der Trainer analysieren – das ist sein täglich Brot als freier Autor für Publikationen wie 11Freunde oder die Welt oder als Autor von Sachbüchern. Als Hamburger hat er in den vergangenen Jahren so manches Spiel und auch so manches Training mit eigenen Augen verfolgt. Er beschreibt die sportliche Dimension des Hamburger Abstiegs.
Aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunkte der beiden Autoren folgt das Buch weitestgehend einem klaren Muster: Kapitel über die Ereignisse auf dem Platz wechseln sich mit Kapiteln über Entwicklungen außerhalb des Platzes ab. Eine glasklare Trennung verfolgen wir dabei aber nicht. Immer wieder vermischen sich die beiden Ebenen: Entscheidungen der Funktionäre beeinflussen die sportlichen Leistungen, die sportlichen Ergebnisse wiederum beeinflussen die Machtverhältnisse außerhalb des Platzes. Durch die Kombination von sportlicher Analyse mit schonungsloser Recherche über die Verfehlungen der Funktionäre ergibt sich ein schlüssiges Bild, wie der HSV Jahr für Jahr tiefer in die Krise stürzen konnte. Wie es zu diesem beispiellosen Abstieg kam.
Es gäbe viele Punkte, an denen man diese Geschichte beginnen könnte. Wir haben uns dafür entschieden, unsere Zeitreise im Frühjahr 2009 zu beginnen, als der Hamburger SV binnen weniger Tage viermal gegen den Erzrivalen Werder Bremen antreten musste. Diese vier Derbys bedeuteten das Ende eines Erfolgstrios, das den Verein an die Spitze geführt hatte. Alles begann mit einer Papierkugel.
Eigentlich hatte Michael Gravgaard den gegnerischen Angriff bereits gestoppt. Ein harmloser Einwurf. Schulbuchmäßig hatte der Hamburger Innenverteidiger seinen Gegenspieler weggeblockt, der Ball rollt Richtung Toraus. Die gegnerischen Stürmer traben schon wieder zurück in die eigene Hälfte. Gravgaard hat alle Zeit der Welt. Er möchte den Ball im Spiel halten und setzt zum Pass an. Es soll ein simpler Rückpass zum Torhüter werden. Doch plötzlich macht der Ball einen Satz nach oben, der Ball springt an Gravgaards Schienbein und kullert von dort ins Seitenaus. Eckball. Ungläubig schaut Gravgaard nach unten. Warum sprang der Ball so komisch? Der Rasen ist in einem einwandfreien Zustand. Was war da los? Neben sich sieht Gravgaard eine handgroße, zerknüllte Papierkugel. Diese Papierkugel sollte in die Geschichte des deutschen Fußballs eingehen. Als Beginn des Abstiegs des Hamburger SV.
Vier Wochen zuvor war die Stimmung in Hamburg noch euphorisch gewesen. Der HSV war auf dem Weg, seine beste Saison seit 1983 zu spielen. 1983, ein heiliges Jahr für die Hamburger Anhänger: Damals, als der Außenseiter aus Hamburg den übermächtigen italienischen Meister Juventus Turin im Finale des Landesmeister-Pokals bezwang. Noch über 25 Jahre später zehrt der Klub von diesem Ereignis. Es ist Teil seines Selbstverständnisses: Eigentlich ist der Hamburger SV kein gewöhnlicher Bundesliga-Verein, kein lokales Phänomen. Eigentlich gehört er an die Spitze des deutschen, ja gar des europäischen Fußballs – wie damals, 1983.
In der Saison 2008/09 kehrt das Gefühl, zu den Großen zu gehören, endlich nach Hamburg zurück. In drei Wettbewerben hat der HSV noch die Chance, einen Titel zu gewinnen. In der Liga stehen sie wenige Spieltage vor Saisonschluss auf Rang drei der Tabelle, nur drei Punkte hinter Tabellenführer VfL Wolfsburg und punktgleich mit dem FC Bayern. Die Bayern fremdeln merklich mit ihrem Trainer Jürgen Klinsmann. Der Architekt des Sommermärchens 2006 hatte zuvor noch nie eine Vereinsmannschaft trainiert, sein Erfolg in München ist überschaubar. Wenn nicht in diesem Jahr jemand anders als die Bayern Meister werden sollte – wann dann? Auch im DFB-Pokal hat der HSV noch Titelchancen. Zum ersten Mal seit über zehn Jahren haben sie das Halbfinale erreicht. Noch beeindruckender ist ihre Bilanz im UEFA-Pokal: Auch hier sind sie ins Halbfinale eingezogen, gewannen dabei sieben ihrer zehn Spiele. Sie bezwangen u.a. die englischen Klubs Aston Villa und Manchester City sowie den türkischen Spitzenklub Galatasaray. Mitte April tanzt der HSV auf drei Hochzeiten, gleich drei Titel sind in Greifweite. Das hatte es so in der Geschichte des HSV noch nie gegeben. Ein Hauch 1983 weht durch das Volksparkstadion.
Der HSV war an diesem Punkt angelangt nach einem Jahrzehnt des langsamen, aber stetigen Aufschwungs. Nachdem der Klub in den neunziger Jahren in der fußballerischen Bedeutungslosigkeit verschwunden war, kämpfte er sich in den nuller Jahren zurück an die Spitze. 2000 qualifizierte er sich erstmals für die Champions League, 2006 kehrte man in die Königsklasse zurück. In den Jahren dazwischen qualifizierte sich der Verein regelmäßig für den UEFA-Pokal.
Den Erfolg ermöglicht ein dynamisches Trio: An der Spitze des Klubs steht Bernd Hoffmann, Vorstandsvorsitzender des Hamburger SV. Der gelernte Diplom-Kaufmann leitet die geschäftliche Ebene des Vereins. Kein Transfer, kein Sponsoring-Vertrag, keine Ausgabe, die nicht über seinen Tisch geht. Hoffmann stilisiert sich gerne als Macher: selbstbewusster Auftritt, stets leger, aber äußerst modisch gekleidet.
Unterstützung erhält Hoffmann von Katja Kraus, ihres Zeichens Marketingvorstand. Sie kümmert sich um die Vermarktung des Vereins sowie um die Gewinnung neuer Fans. Hoffmann und Kraus bilden ein unzertrennliches Duo auf der geschäftlichen Seite der Hamburger Erfolgsgeschichte. In ihrer Amtszeit vervielfacht sich der Umsatz des HSV. Das zwischenzeitlich auf über 20 Millionen Euro angewachsene negative Eigenkapital bauten sie auf nahezu null ab. In der Goldgräberzeit des deutschen Fußballs um die WM 2006 verkaufen sie eifrig Werbeflächen und VIP-Logen – manch kommerzkritische Fußball-Anhänger meinen sogar: zu eifrig.
Den Gegenpol zum Duo Hoffmann/Kraus bildet Dietmar Beiersdorfer. Der Ex-Profi kümmert sich als Sportvorstand um die sportliche Ebene. Neue Spieler aussuchen, den Kader planen, sich um den Nachwuchs kümmern: Das sind seine Aufgaben. Im Gegensatz zu Hoffmann hat Beiersdorfer nichts Hemdsärmeliges an sich, wirkt nie gehetzt. Beiersdorfer überlegt sich jede öffentliche Aussage dreimal, bevor er sie tätigt. Er ist bei den Fans beliebt, und das nicht erst, seit er 2002 zum Sportvorstand aufstieg. Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger absolvierte der Manndecker 174 Pflichtspiele für den HSV. Seine Glücksgriffe auf dem Transfermarkt befeuerten seine Popularität. Unter seiner Ägide kaufte der HSV Spieler wie Rafael van der Vaart, Nigel de Jong und Daniel van Buyten und verkaufte sie später mit großem Gewinn. Der Boulevard taufte ihn aufgrund dieser positiven Bilanz «Dukaten-Didi».
Das Führungstrio funktioniert auch deshalb so gut, weil die drei völlig unterschiedliche Typen sind. Der ruhige Beiersdorfer sucht die Nähe zu den Fans und wirkt mit seiner Art zugänglich. Hoffmann hingegen kann die Anhänger elektrisieren, taugt mit seiner betriebswirtschaftlichen Denkweise aber auch als Blitzableiter für viele Fans, die mit der Entwicklung des modernen Fußballs nicht einverstanden sind. Wem der eine nicht gefällt, der mag auf jeden Fall den anderen. Das ist ein Teil ihres Erfolgsrezeptes. Unter Hoffmann, Kraus und Beiersdorfer hat sich der HSV unter den besten fünf Teams der Bundesliga etabliert. «Wir befinden uns auf einer Insel der Glückseligkeit», so Hoffmann.
Die Mannschaft, die Hoffmann und Beiersdorfer gebastelt haben, betreut Martin Jol. Er ist wie ein Abziehbild des zähneknirschenden holländischen Grantel-Trainers: die Mundwinkel stets nach unten gezogen, die Stirn in Falten gelegt, in seinen Ansprachen klar und bissig. Er erinnert in Sprache und Gestik an seine Landsmänner Huub Stevens oder Louis van Gaal. Doch wie bei vielen autoritären holländischen Trainern schlummert hinter der grummeligen Fassade ein Freund des schönen Spiels. Er ist gewiss kein Anhänger des totalen Offensivfußballs, kein zweiter Johan Cruyff. Doch er sucht eine Symbiose zwischen niederländischer Spielfreude in der Offensive und Disziplin in der Defensive.
Im Angriff setzt er mit Mladen Petrić, Ivica Olić und Paolo Guerrero häufig auf drei echte Stürmer. Das Feuerwerk im Sturm sichern zweikampfstarke, athletische Mittelfeldspieler ab: HSV-Urgestein David Jarolím oder Alex Silva, ein körperlich robuster Brasilianer, wie er weniger brasilianisch kaum Fußball spielen könnte. Für Flair sorgen die Außenstürmer Piotr Trochowski, ein kleiner Spieler mit einer Gabe für punktgenaue Flanken, sowie Jonathan Pitroipa, ein schneller Dribbler. Die Mannschaft verbindet eine bissige, kompakte Defensive mit pfeilschnellem Tempofußball, meist vorgetragen über die Flügel. Hauptverantwortlich dafür ist Jol, der für die Zeit äußerst flexibel taktiert: Immer wieder ändert er taktische Details, um sich an den Gegner anzupassen – heutzutage im Fußball weit verbreitet, zu jener Zeit keine Selbstverständlichkeit. Jols Arbeit wird in der Bundesliga derart geschätzt, dass bereits Gerüchte die Runde machen, die Bayern wollen ihn als Nachfolger für Jürgen Klinsmann verpflichten.
Auf dem Weg zum ersehnten Titel wartet jedoch eine ganz besondere Hürde: Die Losfeen der UEFA und der DFB haben jeweils eine Kugel mit der Aufschrift «Werder Bremen» aus ihren Lostöpfen gezogen. Die beiden Nordklubs sind sich seit Jahrzehnten in gegenseitiger Abneigung verbunden. Nun stehen sie sich im Halbfinale des DFB-Pokals wie auch des UEFA-Pokals gegenüber. Zu allem Überfluss treffen beide Teams wenige Tage später auch noch in der Bundesliga aufeinander. Vier Nordderbys in achtzehn Tagen – so etwas hatte es in der langen und stolzen Geschichte der beiden Klubs noch nicht gegeben.
In Hamburg sieht man diesen Duellen mit Vorfreude entgegen. Eigentlich standen die Bremer in den nuller Jahren in der Tabelle stets vor den Hamburgern. Unter Trainer Thomas Schaaf waren sie zur Spitzenmannschaft gewachsen. Zwischen 2004 und 2008 qualifizierte sich Werder jedes Jahr für die Champions League. Dieses Selbstverständnis strahlte auch der Bremer Kader aus: Die Abwehr bilden der junge Per Mertesacker und der brasilianische Haudegen Naldo, im defensiven Mittelfeld spielen mit Torsten Frings und Frank Baumann zwei Nationalspieler. Hinter den Spitzen toben sich die kreativen Wirbelwinde Diego und Mesut Özil aus, im Angriff versetzt Claudio Pizarro die Gegner in Angst und Schrecken. Ein Kader, der auch mit zehn Jahren Abstand nach großartigem Fußball klingt.
Ihr unbestrittenes Talent zeigen die Bremer in dieser Saison jedoch nur selten auf dem Platz. Werder spielt die schlechteste Saison, seit Thomas Schaaf 1999 den Trainerposten übernommen hat. In der Liga stehen sie auf Rang zehn, also im Nirgendwo der Tabelle. In der Champions League hatte man sich mit zwei Unentschieden gegen den zypriotischen Vertreter Anorthosis Famagusta blamiert. Als Drittplatzierter der Gruppenphase qualifizierte sich Bremen mit Ach und Krach für den UEFA-Pokal, wo man immerhin das Halbfinale erreicht hat. Während die vier Derbys für den HSV die Chance bieten, eine gute Saison zu veredeln, lautet das Ziel des Gegners anders: Sie müssen die aus Sicht ihrer Fans verkorkste Saison retten – irgendwie. So betonen die Bremer Spieler und Verantwortlichen vor dem ersten Derby auffallend oft, was für eine tolle Saison der HSV spiele. Sie wollen dem ungeliebten Rivalen die Favoritenrolle zuschieben. Nur Tim Wiese (damals noch Nationaltorhüter und nicht wie heute Wrestler) nimmt den Mund voll. «Wenn wir denen im ersten Spiel gleich auf den Sack geben, wackeln die», kündigt er an. Wieses Aussagen geben den Ton vor für vier heiße Derbys.
Der erste Akt: das Halbfinale des DFB-Pokals im Hamburger Volksparkstadion. Werder setzt von Beginn an Wieses Marschroute um. Lange Zeit dominieren die Bremer die Partie. Trainer Schaaf stellt seine Mannschaft in einem 4-1-3-2 auf, einer sogenannten Rautenformation. Schaaf wird dieser Variante in allen vier Spielen gegen den Hamburger SV treu bleiben. Martin Jol setzt im ersten Aufeinandertreffen ebenfalls auf eine Raute, um seine geballte Stürmer-Power auf dem Platz zu vereinen. Guerrero agiert hinter Petrić und Olić in der ungewohnten Rolle als Spielmacher hinter den Spitzen. Die Flügelspieler Pitroipa und Trochowski müssen auf der Bank Platz nehmen, damit Hamburg mit drei Sechsern das Zentrum verdichten kann.
Jols Idee fruchtet nicht. Der HSV erhält keinen Zugriff auf Werders starkes Mittelfeld. Guerrero fremdelt merklich mit seiner Rolle als Zehner. Der Bremer Spielgestalter Frings ordnet das Spiel aus der Zentrale, findet immer wieder die freien Spielgestalter Diego und Özil. Werder geht früh in Führung (11.), hat auch danach zahlreiche Chancen. Der HSV findet erst zu sich, als Pitroipa und Trochowski nach der Pause ins Spiel kommen. Olić erzielt den Ausgleich (67.). Nach dem Tor tasten sich beide Teams ab, wollen keinen Fehler begehen. In der Nachspielzeit senst Jarolím seinen Gegenspieler mit voller Breitseite um, direkt vor der Bremer Ersatzbank. Die Bremer Ersatzspieler springen wutentbrannt auf, belagern den Schiedsrichter. Jarolím sieht die Rote Karte, die Hamburger sind fortan in Unterzahl. In der halbstündigen Verlängerung müht sich der HSV, eine nach der anderen Bremer Angriffswelle abzuwehren. Mit viel Kampfkraft und etwas Glück halten sie das 1:1.
Das Elfmeterschießen muss entscheiden. Den ersten Hamburger Elfmeter verwandelt Verteidiger Joris Mathijsen souverän. Den zweiten Elfmeter will Jérôme Boateng in die linke Ecke schießen. Doch Wiese streckt sich, macht sich lang – und hält den Ball. Den dritten Hamburger Elfmeter schießt Olić rechts halbhoch in die Ecke. Wiese pariert. Der vierte HSV-Schütze, Marcell Jansen, muss beim Stand von 1:3 treffen, sonst ist das Spiel verloren. Er zirkelt den Ball flach ins linke Eck – und schon wieder ist Wiese da. Drei von vier Elfmetern pariert; das gab es in der Bremer Pokalgeschichte noch nie. Wiese machte seine Ankündigung tatsächlich wahr: Er gab dem HSV höchstpersönlich «so richtig auf den Sack». Nach dem Spiel kippt er weiter Öl in das bereits lodernde Feuer, als er vor der Bremer Fankurve singt: «Scheiß HSV, wir singen scheiß HSV, scheeeiß HSV!» Der erste Hamburger Titeltraum endet mit Bremer Schmähgesängen.
Zweiter Akt: Hinspiel des UEFA-Pokal-Halbfinales im Bremer Weserstadion. Wieses Prophezeiung, der HSV werde nach einer Niederlage im ersten Spiel «wackeln», erfüllt sich nicht. Im Gegenteil. Pitroipa und Trochowski dürfen von Beginn an spielen, Jol stellte damit auf ein 4-4-2-System um. Die Folge: Der HSV hat das Mittelfeld wesentlich besser im Griff. Offensiv machen sie Druck über die Flügel, gerade Pitroipa belebt das Spiel mit seinen Dribblings. Defensiv verschieben Hamburgs Abwehr- und Mittelfeldkette kompakt im Raum. Bremens Spielmacher Diego findet keine Freiräume für sich. Immer wieder lässt er sich weit fallen, um überhaupt Bälle zu erhalten. Bremen schiebt den Ball hin und her, findet kein Durchkommen. Anders der HSV: Mit schnellen Kontern setzen sie Nadelstiche. Ausgerechnet der 1,69 Meter große Trochowski köpft in der 28. Minute das Siegtor. Der 1:0-Auswärtssieg verschafft Hamburg eine gute Ausgangsposition, um das erste europäische Finale seit 1983 zu erreichen.
Dritter Akt: das Rückspiel des UEFA-Pokal-Halbfinales im Hamburger Volksparkstadion. Donnerstagabend, Flutlicht, ausverkauft. Die Stimmung ist elektrisierend. Die Fans haben eine Choreographie vorbereitet. Jeder im Publikum hält einen DIN-A4-Zettel in die Höhe, zusammen ergeben die Zettel ein riesengroßes HSV-Logo. Die Atmosphäre, die Wichtigkeit des Spiels, die Ausgangslage: All das beeindruckt die Spieler. Beide Teams agieren angespannt, spielen deutlich mehr Fehlpässe als in den ersten beiden Aufeinandertreffen. Der HSV startet erneut im 4-4-2-System, versucht, die Räume zwischen Mittelfeld und Abwehr eng zu halten. Werders Raute findet wie schon im Hinspiel kein Durchkommen. Bereits nach 13 Minuten gehen die Hamburger durch Olić in Führung. Zusammen mit dem Hinspiel führt der HSV nun 2:0. Doch auch Bremen erzielt aus der ersten guten Chance ein Tor (29.). Diego und Pizarro spielen im Zentrum einen Doppelpass. Es ist die einzige Situation, in der Hamburgs Mittelfeldspieler desorientiert wirken und somit Raum für Diego frei wird. Aufgrund der Auswärtstor-Regelung reicht den Bremern nun ein weiterer Treffer, um das Finale zu erreichen.
Die zweite Halbzeit gleicht einem Abnutzungskampf. Bremen drängt auf das Tor, der HSV will den Rückstand mit aller Macht verhindern. Mit jeder Minute, die vergeht, zieht sich der HSV ein paar Zentimeter weiter an den eigenen Strafraum zurück. Nach jedem Schuss, den Bremen abgibt, wagen sich ihre Spieler einen Meter weiter in die Hamburger Hälfte. Olić agiert mittlerweile praktisch als Mittelfeldspieler, Hamburg verteidigt im passiven 4-1-4-1. Die Partie spielt sich nur noch um den Hamburger Strafraum ab. Es kommt, wie es kommen muss: Pizarro macht das Bremer 2:1. Ein abgefälschter Schuss, unhaltbar für HSV-Torhüter Frank Rost. Beim aktuellen Spielstand ist Hamburg ausgeschieden.
Die Fans geben ihre Mannschaft nicht auf, das Stadion bebt. Die Stimmung überträgt sich auf die Spieler. Von einer Sekunde auf die andere ändert sich die Arithmetik der Partie. Bremen weicht plötzlich zurück, verbarrikadiert sich am eigenen Strafraum. Der HSV wirft alles nach vorne. Die groß gewachsenen Hamburger Verteidiger bieten sich im Bremer Strafraum als zusätzliche Stürmer an. Flanke um Flanke segelt in den Sechzehner, Bremen kann die Hereingaben nur mit Müh und Not klären. In der 78. Minute köpft Verteidiger Gravgaard eine Ecke ins gegnerische Tor. Das Stadion explodiert. Doch dann: ein Pfiff. Schiedsrichter Frank de Bleeckere entscheidet auf Foul von Gravgaard. Eine Fehlentscheidung.
Fünf Minuten später erobert Gravgaard den Ball nahe der Eckfahne. Schon die ganze Partie über flogen große Papierflieger und kleine Papierkügelchen auf den Hamburger Rasen, die Fans entledigen sich der wunderschönen Choreographie. Gravgaard gewinnt zwar den Zweikampf mit Özil, verliert jedoch den Zweikampf mit der Papierkugel. Der Däne schüttelt noch immer den Kopf, als Diego bereits zum Eckball ausholt. Ein Bremer verlängert am ersten Pfosten den Ball, am zweiten steht Baumann völlig frei. 1:3. Kurz darauf erzielt der HSV das 2:3, doch es ändert nichts am Ausgang. Werder Bremen steht im UEFA-Pokal-Finale. Ausgelassen feiern die Bremer im Stadion des Rivalen. Von einem Reporter auf die Papierkugel angesprochen, schaut Siegtorschütze Baumann nur verdutzt drein: «Was für eine Papierkugel?» Er dachte, Gravgaard sei Opfer eines Platzfehlers geworden. Der zweite Titel für den Hamburger SV ist futsch.
Akt 4: Spieltag 32 der Bundesliga, wieder im Hamburger Volksparkstadion. Zwischen den Derbys verloren die Hamburger wichtige Spiele in der Liga, der Rückstand auf Tabellenführer Wolfsburg beträgt bereits vor dem Spieltag fünf Punkte. Auf dem Rasen wirken die Hamburger Spieler nach dem Doppel-Aus im Pokal gebrochen. Jol versucht, dem auseinanderfallenden Team Stabilität zu verleihen, indem er einen Stürmer opfert und einen zusätzlichen Mittelfeldspieler aufstellt. Vergeblich. Die Partie läuft auf ein Tor, Bremens 2:0-Sieg fällt am Ende mehrere Tore zu niedrig aus. Es war die einzige der vier Partien, in der Hamburg den Bremern tatsächlich unterlegen war. Eine schlechtere Leistung von Wiese im DFB-Pokal, eine bessere Chancenverwertung im Hinspiel des UEFA-Pokals, ja, eine Papierkugel weniger im Rückspiel, und die Saison des HSV wäre anders geendet. Vielleicht sogar mit einem Titel. Dann, so viel ist sicher, wäre die Geschichte des Hamburger SV anders verlaufen. Vielleicht wäre dieses Buch nie geschrieben worden.
Doch die Realität ist: Der HSV bleibt ohne Titel, in der Liga werden sie nur Fünfter. Am Ende des Jahres überwiegt die Enttäuschung. Diese Enttäuschung wird im Sommer alles zerstören, was der HSV in den vergangenen Jahren aufgebaut hat.
Mai 2009. Die tragischen «Werder-Wochen» und der Verlauf der Saison sind noch gar nicht wirklich verarbeitet, als sich die Vorstände Bernd Hoffmann, Dietmar Beiersdorfer und Katja Kraus im ehemaligen InterConti Hotel an der Hamburger Außenalster zu einer Art Abschluss-Analyse treffen. Die Stimmung ist niedergeschlagen, die Enttäuschung über die verpassten Finalspiele im UEFA- und DFB-Pokal sitzt tief. Dass der HSV ausgerechnet am Rivalen Werder Bremen gescheitert ist, macht alles noch ein wenig schlimmer. Die Diskussionen gipfeln in gegenseitigen Anschuldigungen und Vorwürfen. Es geht vor allem um die Frage, was in dieser Saison schiefgelaufen ist – und wer dafür die Verantwortung trägt.
In der Nachbetrachtung sagt es sich leicht, dass es keinen Grund für größere Streitereien gegeben hätte; immerhin hatte der HSV soeben die erfolgreichste Saison seit 1983 beendet. Hoffmann, Beiersdorfer, Kraus – ja die gesamte Öffentlichkeit empfindet es in diesen Momenten aber anders. Vor allem Hoffmann ist viel zu ehrgeizig, um zwei Halbfinal-Teilnahmen als Erfolg zu verkaufen. Ein Titel wäre für Hoffmann so etwas wie die Vollendung eines Lebenswerks. Nur seine Selbstbeherrschung hindert ihn nach den verlorenen Spielen gegen Werder daran, Tränen zu vergießen. Der sonst zielorientiert, mitunter etwas forsch auftretende Vorstandschef des HSV zeigt mehr Emotionen, als man ihm zugetraut hätte. Vielleicht sind es ein paar Emotionen zu viel. In Interviews schwingt jede Menge Pathos mit: Werder habe dem HSV alles genommen, sagt er.
Intern fällt Hoffmanns Analyse schonungslos aus. Innerlich ist er überzeugt: Die Entscheidungen eines Kollegen werden mit der Zeit immer schlechter und stehen diesem Ziel in seinen Augen im Weg. Es ist der von den Fans geliebte Beiersdorfer, den Hoffmann in der Schuld sieht. Die Gräben zwischen Hoffmann und Beiersdorfer sind schon zu diesem Zeitpunkt größer als angenommen. Der Verlauf dieser Saison führt zum Bruch innerhalb des Vorstandes. Und später zum Bruch des gesamten Vereins.
Viele Begebenheiten aus der Vergangenheit kommen nun im InterConti Hotel zur Sprache. Ein großer Auslöser der Spannungen im Führungsteam ist die Suche nach geeigneten Trainern. Der HSV wechselt sie fast jährlich, also gibt es zwangsläufig Gründe für Reibereien. Der aktuelle Trainer Martin Jol beispielsweise war ein Kompromiss des Vorstandes am Ende einer 177 Tage währenden Suche nach einem Nachfolger für den im Sommer 2008 ausgeschiedenen Chefcoach Huub Stevens. Beiersdorfer präferierte damals Fred Rutten, Hoffmann und Kraus wollten Jürgen Klopp. Das Trainer-Casting endete in einem Desaster. Beiersdorfer ließ auf Anraten seines Beraters Dieter Gudel (heute Leiter des Nachwuchsleistungszentrums beim HSV) Dossiers über die möglichen Trainerkandidaten anfertigen. Klopp erhielt in diesen Dossiers wegen fransiger Jeans, Dreitagebart und einer mitunter flapsigen Rhetorik Minuspunkte. Außerdem gab es Vorbehalte wegen seines Spitznamens. Kann ein Mann namens «Kloppo» wirklich Autorität ausstrahlen? Ausgerechnet Beiersdorfer, beim HSV nur als «Didi» bekannt, störte sich daran. Als Klopp von den Dossiers Wind bekam, soll er den Verantwortlichen am Telefon gesagt haben: «Ich bin Fußballtrainer, und wenn euch solche Sachen wichtig sind, seid ihr die Falschen. Dann können wir nicht zusammenarbeiten. Ruft nie wieder an.» Beim HSV sind solche Sachen offenbar ein Kriterium. Manchmal ist die Verpackung wichtiger als ihr Inhalt.
Während der Aussprache geht es auch um die Transferpolitik. Ein paar Monate zuvor, es ist Mitte Januar, musste der HSV mit dem niederländischen Mittelfeldspieler Nigel de Jong sein «Herzstück» für 18 Millionen Euro an Manchester City verkaufen. Er hätte den Verein andernfalls im Sommer dank einer Klausel für nur zwei Millionen Euro verlassen können. Es ist der teuerste Deal der Vereinsgeschichte, gleichzeitig aber auch eine Gefahr. Sportchef Beiersdorfer soll Ersatz besorgen, um den Verlust aufzufangen und die Saisonziele nicht zu gefährden. Mit Mickaël Tavares, Tomás Rincón, Michael Gravgaard, Albert Streit und Khalid Sinouh präsentiert er am Ende der Wintertransferperiode fünf Spieler für mehrere Positionen, die allesamt floppen und die Erwartungen nicht erfüllen. Hoffmann sieht in Beiersdorfer keinesfalls den «Dukaten-Didi».
So mutiert die Saisonanalyse der Vorstände im InterConti Hotel schnell zur Grundsatzdebatte. Es geht plötzlich auch um Scouting und Nachwuchsarbeit. Der HSV investiert jährlich fünf bis sechs Millionen Euro in die Jugendabteilung. Das Fazit über den Ertrag dieses Aufwandes fällt vernichtend aus. In der Saison 2008/09 beträgt die Spielzeit von selbstausgebildeten Talenten in der Bundesliga ganze elf Minuten. Für Hoffmann, der in Köln und Pennsylvania Betriebswirtschaftslehre studiert hat, sind diese Zahlen ein Beleg des Versagens. Er spricht in diesem Zusammenhang öffentlich sogar von Geldverbrennung. Es ist ein Bereich, den Beiersdorfer verantwortet und der alles andere als effizient funktioniert. Wie so vieles, was der ehemalige Profi selbst macht, denkt Hoffmann. Bei Spielertransfers ist er es, der die Verhandlungen zu Ende bringt. Nicht immer gelingt ihm ein Erfolg, immerhin aber ein Ergebnis. Zeit ist in diesem Geschäft ein hohes Gut. Beiersdorfer nimmt sich viel davon. Für Hoffmann muss es schneller gehen.
Beiersdorfer fühlt sich von diesen Vorwürfen angegriffen. Er beklagt wiederkehrende Kompetenzüberschreitungen von Hoffmann, vermutet dahinter sogar Methode. Er habe sich zu stark in Beiersdorfers Verantwortungsbereich eingemischt. «Dieser Verein verschiebt sich immer mehr in Richtung einer Person. Dem HSV geht die Seele verloren», sagt er später in Interviews. Die Saisonanalyse tut ihr Übriges, um ihn in seiner Wahrnehmung zu bestärken.
Zu allem Überfluss flüchtet Trainer Jol nach nur einem Jahr zu Ajax Amsterdam. Eine weitere, unerwartete Baustelle beim HSV. Jol hatte mehr Mitspracherecht bei Transfers gefordert, was Beiersdorfers Position zusätzlich geschwächt hätte. Und er wollte angeblich 40 Millionen Euro für neue Spieler. Die konnte Hoffmann ihm nicht besorgen, das Budget gab nur 16 Millionen her. Ein zweites Modell «Felix Magath» – also eine Doppelfunktion Jols als Trainer und Manager – lehnte Hoffmann entschieden ab. Doch selbst dieses Zeichen der Loyalität, den Trainer gehen zu lassen und Beiersdorfer in seiner Position den Rücken zu stärken, kann ihn am Ende nicht umstimmen. Mitte Juni setzt er den Aufsichtsratsvorsitzenden Horst Becker über sein Vorhaben in Kenntnis: Es gehe nicht mehr, er wolle aufhören. Die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Hoffmann sei zerstört.
Der Aufsichtsrat ist alarmiert. Ist es das Ende des erfolgreichen Führungstrios? Es darf nicht das Ende sein. Nicht nur die Kontrolleure sind gewillt, Beiersdorfer zu bekehren. Auch Hoffmann und Kraus lassen nichts unversucht. Die Differenzen werde man schon irgendwie beiseiteräumen, glauben sie. Vielleicht hat er den Rücktrittsgedanken auch nur aus einer Laune heraus geäußert, die verpasste Chance auf einen Titel habe schließlich viel Kraft gekostet. Aufsichtsratschef Becker unternimmt den ersten Versuch und lädt Beiersdorfer zum Gespräch ein. Ein paar Stunden später ist ihm klar: Er meint es ernst. Weil Becker in den darauffolgenden Tagen auf einer Kreuzfahrt ist, beauftragt er seine Stellvertreter Ernst-Otto Rieckhoff, einen ehemaligen Handballer, und Alexander Otto, Sohn des Versandhausgründers Werner Otto, die Gespräche fortzuführen.
Am 22. Juni kommt es im Anwesen Ottos im Hamburger Stadtteil Poppenbüttel zum großen Krisengipfel. Es ist der letzte Versuch, das zerrüttete Verhältnis von Hoffmann und Beiersdorfer zu kitten. Die Vermittlungsbemühungen des Aufsichtsrates dauern bis in die späten Abendstunden. Doch sie scheitern. Um kurz nach 23 Uhr verlassen Hoffmann und Beiersdorfer das Anwesen. Dabei werden sie von einem Paparazzo fotografiert. Es ist das letzte gemeinsame Foto des ehemaligen Erfolgsduos.
Am Tag darauf muss der Aufsichtsrat eine Entscheidung fällen. Genau genommen ist sie längst gefallen. Eine Entlassung von Hoffmann und Kraus ist kein Thema. Da Beiersdorfer eine weitere Zusammenarbeit ausschließt, gibt es kein Zurück mehr. Als der Name Becker auf seinem Handy-Display aufleuchtet, ist Beiersdorfer bewusst, dass es jetzt endgültig vorbei ist. Er bedauere den Schritt sehr, sagt Becker am Telefon, aber der Aufsichtsrat habe einvernehmlich beschlossen, seinem Wunsch auf Auflösung des bis Ende 2010 laufenden Vertrages zuzustimmen. Eine Trennung, die nicht ohne Kuriosität über die Bühne geht: Obwohl Beiersdorfer um Auflösung bittet, gibt es vom Aufsichtsrat eine Million Euro Abfindung obendrauf. Die Gazetten der Stadt titeln: «Hoffmann gewinnt Machtkampf gegen Beiersdorfer.» Als Gewinner fühlt sich an diesem Abend aber keiner der Beteiligten.
Im Gegenteil. Nach der offiziellen Verkündung von Beiersdorfers Ausscheiden gehen die Fans auf die Barrikaden. «Didi» ist ihr Liebling, sie akzeptieren den früheren HSV-Spieler als ihresgleichen. Er trage «die Raute am rechten Fleck», wie es unter HSV-Fans so schön heißt. Der Aufsichtsrat gerät wegen seiner Entscheidung massiv unter Beschuss. Ralf Bednarek, Chef des Supporters Club, fordert öffentlich «eine Aufklärung gegenüber der Mitgliedschaft» über die Hintergründe der Trennung und der Verantwortlichkeit der Kontrolleure. Es gelingt den Fans, eine für den 13. Juli terminierte Informationsveranstaltung zu einer außerordentlichen Mitgliederversammlung umzufunktionieren. Etwa 2000 Menschen kommen, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Unter lautem Gebrüll und Pfiffen versucht Aufsichtsratschef Becker, den aufgebrachten Mitgliedern den Ablauf der Ereignisse zu skizzieren. Mehrfach betont er, dass es sich nicht um eine Entlassung gehandelt habe. «Am 13. Juni hat mir Dietmar Beiersdorfer in einem zweieinhalbstündigen Gespräch über die Differenzen zwischen ihm und Bernd Hoffmann erzählt. Er hätte kein Vertrauen mehr in die Vereinsführung und fühle sich vom Vorstandsvorsitzenden Hoffmann übergangen», erzählt Becker, was die Stimmung erst recht zum Kochen bringt. Die Mitglieder fühlen sich in ihrem Urteil bestätigt: Hoffmann ist der Bösewicht und verantwortlich für das Ausscheiden ihrer Identifikationsfigur. Bereits ein Jahr zuvor, vermuten sie, hatte er mit seiner Art für den Rücktritt des Vorstandes für Mitgliederbelange Christian Reichert gesorgt. Beim HSV gibt es die eigentümliche Konstellation, dass einer der vier Vorstände direkt von den Mitgliedern gewählt werden kann. Nun hat Hoffmann also auch noch Beiersdorfer auf dem Gewissen. Die «Hoffmann-raus»-Rufe sind noch die harmlosesten Dinge, die er an diesem Sommerabend zu hören bekommt.
Immerhin steht der Nachfolger für den abgewanderten Jol frühzeitig fest: Bruno Labbadia wird den HSV in der kommenden Spielzeit übernehmen. Ein aufstrebender Trainer, der kurz zuvor mit Bayer Leverkusen nur knapp den Gewinn des DFB-Pokals verpasst hatte. Einen neuen Sportvorstand verpflichtet der HSV zunächst nicht. Hoffmann und Labbadia glauben, die Aufgabenbereiche eines Sportvorstands gemeinsam abdecken zu können. Einen Sommer wird der HSV wohl ohne starken Sportvorstand überstehen können, oder? Das Fundament der Mannschaft stehe ohnehin, der Kader müsse nur an manchen Stellen ergänzt werden. Für die Suche nach einem geeigneten Kandidaten will sich der dafür zuständige Aufsichtsrat Zeit lassen und die Entscheidung eng mit Hoffmann abstimmen. Der HSV strebt nach einem Sportvorstand aus dem höchsten Regal, der das bisher gut funktionierende Vorstandsteam um die sportliche Expertise ergänzt. Und mit Labbadia habe man nun ja eine längerfristige Lösung für den Trainerposten gefunden. Die Saison 2009/10 kann kommen, aller Querelen im Sommer zum Trotz.
Niemand erwartet vom Hamburger SV am 32. Spieltag der Bundesliga-Saison 2009/10 Wunderdinge. Fans wie Verantwortlichen ist bewusst: Das wirklich wichtige Spiel steigt am kommenden Donnerstag. UEFA-Pokal, Halbfinal-Rückspiel gegen Aston Villa. Der Traum vom Finale zu Hause. Bernd Hoffmann hatte lange bei der UEFA um dieses Finale gekämpft. Er wollte das Hamburger Volksparkstadion der Welt präsentieren – und sein HSV sollte in diesem Finale spielen. Einen europäischen Titel im eigenen Stadion zu gewinnen, das wäre die Krönung für sein Lebenswerk. Der Verein steht kurz davor, dieses Finale zu erreichen. Das Hinspiel des Halbfinales endete 0:0, es war ein ereignisarmes Spiel ohne viele Torchancen. Ein knapper Sieg im Rückspiel genügt, damit der Traum weiterlebt.
Die Reise nach Hoffenheim am 32. Spieltag ist nur eine lästige Ablenkung zwischen den beiden Halbfinalen. Trotz dieser mildernden Umstände ist das, was die Hamburger im Spiel gegen Hoffenheim zeigen, bemerkenswert schlecht. Kaum zwei Minuten sind gespielt, da passt Verteidiger Joris Mathijsen dem Gegner in die Füße – ohne Druck, ohne Not. Es ist der Auftakt zu einer Partie voller Pleiten, Pech und Pannen. Hoffenheim, vor diesem Spieltag sieben Spiele ohne Sieg, führt zur Pause 3:0, am Ende steht es 5:1. Philipp Selldorf von der Süddeutschen Zeitung, der boulevardesken Zuspitzung eher unverdächtig, schreibt: «Solche grotesken Szenen einer Sabotage, wie sie die Hamburger Profis beim 1:5 in Hoffenheim geboten haben, gab es in bald 47 Jahren Bundesligageschichte noch nicht.»
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