[1]
vgl. Jonathan Brown, Salafis and Sufis in Egypt, Carnegie Paper, Dezember 2011
[2]
vgl. Omar Ashour, Institute of Arab and Islamic Studies, University of Exeter, visiting fellow, Brookings Doha Center; The Daily Star, The unexpected rise of Salafists has complicated Egyptian politics, 6. Januar 2012; Egypt Elections, Brookings Opinions, 3. Januar 2012
[3]
vgl. Jonathan Brown, a.a.O.
[4]
vgl. M.E., Owen Bennett Jones, Salafist groups find footing in Egypt after revolution, BBC News, 6. April 2011
[5]
vgl. F. De Jong, »Die mystischen Bruderschaften und der Volksislam«, in: Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, München 1989, S. 487
[6]
vgl. ebenda, S. 488
[7]
vgl. Omar Ashour, a.a.O.
[8]
ebenda
[9]
vgl. Jonathan Brown, a.a.O., S. 9
[10]
ebenda, S. 14
[11]
ebenda, S. 13
[12]
vgl. Alexander Flores, Der Islam – Korsett oder weiter Mantel?, Neue Züricher Zeitung, 10. Dezember 2011
[13]
vgl. Konrad Dilger, Strafrecht, in: Ende/Steinbach, a.a.O., S. 188
[14]
Alexander Flores, a.a.O.
[15]
vgl. Marcel Pott, Allahs falsche Propheten, Bergisch Gladbach 1999, S. 342
[16]
Solava Ibrahim, Why are Egyptians and the west surprised by the Islamists’ victory in post-revolutionary Egypt?, openDemocracy, 13. Januar 2012, www.opendemocracy.net/print/63657
[17]
vgl. Jodie Sanger-Weaver, Elections in Egypt: The Muslimbrotherhood, Theocracy And Democracy, Prospect – Journal Of International Affairs At UCSD, November 2011
[18]
Interview Shadi Hamid, Revolution in Cairo, FRONTLINE-PBS, 9. und 12. Februar 2011 – www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/revolution-in-cairo/interviews
[19]
vgl. ebenda
[20]
vgl. Carrie Rosefsky Wickam, The Muslimbrotherhood after Mubarak, 3. Februar 2011, www.foreignaffairs.com/articles
[21]
vgl. Samuel Tadros, Egypt’s Muslimbrotherhood after the Revolution, Current Trends in Islamist Ideology, Volume 12, Hudson Institute, 18. Oktober 2011, S. 11 ff. – www.currenttrends.org/
[22]
vgl. ebenda
[23]
vgl. Khalil al-Anani, Egypt’s »blessed« Salafi votes, The Middle East Channel, 2. Mai 2012
[24]
vgl. Ashraf el-Sherif, Egypt’s New Islamists: Emboldening Reform from Within, Sada – Analysis on Arab Reform, 12. Januar 2012
[25]
vgl. ebenda
[26]
vgl. Khaled Elgindy, Egypt’s Troubled Transition: Elections without Democracy, Center for Strategic and International Studies, Washington, Spring 2012, S. 99 f. – https://csis.org/print/36081
[27]
Marwa Awad, In Egypt’s military, a march for change, The Daily Star, Beirut, 10. April 2012
[28]
vgl. Zeinab Abul-Magd, assistant professor at the American University in Cairo and Oberlin College, The Egyptian Republic of Retired Generals, Foreign Policy, The Middle East Channel, 8. Mai 2012
[29]
vgl. ebenda
[30]
Marwa Awad, a.a.O.
[31]
ebenda
[32]
ebenda
[33]
ebenda
[34]
ebenda
[35]
ebenda
[36]
International Crisis Group, Lost in Transition: The World according to Egypt’s SCAF, M.E. Report N° 121, 24 April 2012, S. 11
[37]
ebenda, S. 12
[38]
vgl. Rania Al Malky, How Egypt’s Islamists Lost the First Round, The Cairo Review of Global Affairs, 29. Mai 2012
[39]
vgl. Marina Ottaway, Good News Before More Battles in Egypt – Egypt’s Transition, Carnegie Middle East Program, 25. Juni 2012
[40]
Mukul Devichand, BBC Radio 4, 12. Februar 2012
[41]
ebenda
[42]
ebenda
[43]
Alan Little, Renaissance Party offers clean break to Tunisian voters, BBC News, Tunis, 25. Oktober 2011
[44]
Aidan Lewis, Profile: Tunisia’s Ennahda Party, BBC News, 25. Oktober 2011
[45]
Mukul Devichand, a.a.O.
[46]
ebenda
[47]
Monia Ghanmi, for Magharebia in Tunis – 09/03/12 – www.magharebia.com
[48]
ebenda
[49]
Lin Noueihed and Tarek Amara, iol news, 26. März 2012, www.iol.co.za/news/world/
[50]
Erik Churchill, Aaron Zelin, A Balancing Act: Ennahda’s Struggle with Salafis, 19. April 2012, Sada – Carnegie Endowment for International Peace
[51]
Maghrebia, 22/5/2012, www.maghrebia.com
[52]
Gilles Kepel, The Arab Revolutions, Political Islam and Democratic Transitions, 29. Februar 2012, event summary, Brookings Doha Center
[53]
vgl. Eugene Rogan, Regional Overview, S. 6, Conservative Middle East Council – The Arab Spring
[54]
vgl. Abdel Bari Adwan, Libya’s best hope for unity is democratic elections, guardian.co.uk, Montag, 11. Juni 2012
[55]
vgl. Omar Ashour, Libya’s Muslim Brotherhood faces the future, 9. März 2012, The Middle East Channel
[56]
Frank Gardner, How vital is Syria’s Tartus port to Russia? – 27. Juni 2012, BBC News Middle East
[57]
vgl. Patrick Seale, The Syrian Crisis Turns Uglier, 23. Mai 2012, middle east online
[58]
Dmitri Trenin, Syria: A Russian Perspective, 28. Juni 2012 – Sada, Analysis on Arab Reform, Carnegie Endowment for International Peace
[59]
vgl. Mustafa Akyol, Turkey as a Case Study, Room for Debate, The New York Times, 25. Juni 2012
Für Simmi, Laura und Elena Sophia
Dieses Buch enthält eine Erklärung wichtiger Begriffe am Ende.
Im Text werden die Begriffe durch gepunktete Unterstreichung dargestellt.
~ zum Glossar ~
Ägypten beeinflusst mit seiner politischen und soziokulturellen Entwicklung maßgeblich den Gang der Dinge in der arabischen Welt. Seit der Antike spürt die Region den ägyptischen Einfluss. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg (1939–1945), als die Araber versuchten, die Fesseln der europäischen Kolonialherrn ein für alle Mal abzuwerfen, war es Gamal Abdel Nasser, der mit seinem panarabischen Nationalismus die arabische Psyche gefangen nahm.
Sechzig Jahre später ist es der »arabische Frühling« mit seinen unberechenbaren Folgen, der die arabische Seele zuerst entzückte und sie nun bedrückt.
Im Jahr 2011, als der Aufstand der jungen Avantgarde zunächst in Tunesien und dann in Kairo den revolutionären Stein ins Rollen brachte, blickten die Araber und die Welt vor allem nach Ägypten. Das Geschehen im bevölkerungsreichsten Land der Araber fesselte die Beobachter in besonderem Maße, weil es seine Wirkung auf die anderen arabischen Gesellschaften nicht verfehlen konnte. Gewiss sind alle revolutionären Schauplätze in der Region relevant. Schließlich mussten außer in Tunesien und in Ägypten auch in Libyen und Jemen die Tyrannen weichen. Aber Ägypten besitzt eine paradigmatische Bedeutung und steht deshalb im Mittelpunkt unserer Betrachtung.
Darüber hinaus geht es in diesem Buch auch um das Libyen nach Gaddafi, die Reformbemühungen in Tunesien und das gespannte Verhältnis zwischen den Muslimbrüdern und einigen konservativen Golfmonarchien, vor allem Saudi-Arabien. Der syrische Krieg mit seinen regionalen und internationalen Verwicklungen findet ebenso Beachtung. Die Feindschaft zwischen Saudi-Arabien und Iran schlägt sich in diesem Konflikt nieder und auch das gespannte Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten, den beiden großen »Konfessionen« der Muslime. Nicht zu vergessen die Rivalität zwischen Russland und den USA, die dazu beiträgt, den Krieg in Syrien zu verlängern.
Als sich bei Wahlen zeigte, dass die Islamisten die Nutznießer des Machtwechsels waren und die revolutionäre Jugendbewegung praktisch leer ausging, verflog die westliche Begeisterung über den »arabischen Frühling« so schnell, wie sie gekommen war. Ratlosigkeit machte sich breit. Denn es zeigt sich, dass in der Welt der Araber der Islam bei der breiten Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt. Diese Einsicht erhöht den Erklärungsbedarf im Westen noch.
Nicht nur in Tunis, in Kairo und Alexandria jubelten die Islamisten – auch in Marokko, Libyen, Syrien und im Jemen sind die islamistischen Kräfte bestimmend oder mitbestimmend. Und die Liste der Länder, in denen der politische Islam über eine strukturelle Mehrheit verfügt, ließe sich ohne Weiteres fortsetzen.
Also stellt sich die drängende Frage: Warum haben die arabischen Massen und große Teile des Mittelstandes in aller Freiheit islamisch gewählt? Aus Treue zum Glauben oder aus Dankbarkeit für soziale Wohltaten der Muslimbrüder? Oder vielleicht wegen des Programms der islamistischen Parteien?
Schnell drängen sich weitere Fragen auf: Welche Konsequenzen hat der Erfolg der Islamisten für Politik und Gesellschaft? Folgt auf die Despotie der von Militär und Geheimdiensten getragenen Herrscher eine »Gesinnungsdiktatur« der frommen Ideologen? Was wird aus den weltlich orientierten Reformern, die auch gute Muslime sind, aber Religion und Politik, Glauben und Staat voneinander trennen wollen? Und schließlich: Was ist eigentlich unter politischem Islam zu verstehen?
Wie reagiert das ägyptische Militär, das sich als Hüter des säkularen Staates versteht? Werden die Generäle eine taktische Allianz mit den Muslimbrüdern eingehen, um ihre wirtschaftlichen Interessen und ihre politischen Privilegien zu schützen? Bleiben damit die säkularen Reformer endgültig auf der Strecke?
All diese Fragen behandeln wir im Buch, um verständlich zu machen, was in den arabischen Ländern des Umbruchs vor sich geht.
Am Beispiel der Muslimbrüder in Ägypten etwa wird deutlich, dass mit dem Sturz des Tyrannen ein dynamischer Prozess begonnen hat, in dem verlässlich erscheinende Annahmen schnell wieder ins Wanken geraten können. Das trifft zum Beispiel auf die Popularität der frommen Brüder zu, die innerhalb weniger Monate stark abnahm, weil gebrochene Zusagen ihnen Glaubwürdigkeit nahm. Im Laufe der bisherigen Übergangsphase ist klar geworden, dass viele Menschen in den arabischen Gesellschaften nach Orientierung suchen. Vertraute Gewissheiten und Zuordnungen werden fragwürdig, weil die alte Ordnung brüchig geworden ist und der Weg in die Zukunft unsicher und beschwerlich erscheint. Alles ist im Fluss. Nach monatelangem Chaos und wirtschaftlichem Niedergang sehnen sich die Menschen nach Ruhe und Normalität.
Wer schafft diese Ruhe?
Die Armee?
Die Konfrontation zwischen den säkularen und den religiösen Kräften spitzt sich zu. Die immer noch einflussreichen Kader des alten Regimes versuchen unterdessen, verlorenes Terrain gutzumachen. Die Generäle kleben an ihrer Macht. Das Ringen der unterschiedlichen Strömungen schafft ein Spannungsfeld, das für die ägyptische Gesellschaft zur Zerreißprobe wird. In ihrem Innersten ist die Gesellschaft zutiefst gespalten. Die arabische Seele scheint in diesem Kampf gefangen. Es ist ein Kampf, den unter den gegebenen Umständen weder die Islamisten noch ihre säkularen Rivalen oder die Armee ganz für sich entscheiden können, ohne die Gesellschaft in den Abgrund zu reißen.
Als sich der Aufzug in Bewegung setzt, ertönt plötzlich über mir ein arabischer Sprechgesang: »Subhana allasi sachara lana hasa wa ma kunna lahu mukrinin – Preis sei dem, der uns dies dienstbar gemacht hat. Wir selbst wären hierzu niemals imstande gewesen« (Koran-Sure 43, Az-Zuhruf, Vers 13).
Warum erklingt im Aufzug eines Bürogebäudes mitten in der Megametropole Kairo eine Koranrezitation mit der Lobpreisung des Allmächtigen?
»Es geht um den Dank an den Herrn, der es dem Menschen ermöglicht, sich mithilfe moderner Technik bequemer fortzubewegen, als er es aus eigener Kraft vermag. Dahinter steckt die Einsicht des Gläubigen: Alles Gute geht auf seine wahre und ursprüngliche Quelle zurück – Allah. Und das gilt eben auch für die Errungenschaften moderner Technik.« So erklärt es mir Osama, der mich auf meinen Wegen durch die ägyptische Hauptstadt begleitet. Von ihm höre ich zudem, dass im Koran an dieser Stelle auch die Rede davon ist, dass Allah »für euch die Schiffe und das Vieh erschaffte, sie zu besteigen, auf dass ihr auf ihren Rücken sitzet«, heutzutage aber jede Art menschlicher Fortbewegung, ob im Lift, im Auto oder im Flugzeug, der Danksagung des Gläubigen an den Herrn bedarf. »Denn ohne IHN vermögen wir nichts«, betont Osama und unterstreicht damit die Haltung der gläubigen Muslime in Ägypten.
Wir sind mit Rafaat verabredet. Auch Rafaat, der von Beginn an bei den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz im Winter 2011 dabei war, ist ein praktizierender Muslim. Er schätzt, dass mindestens achtzig Prozent seiner Landsleute, genau wie er, ihre islamischen Glaubenspflichten erfüllen. »Ägypten ist ein frommes Land. Und das gilt nicht nur für die Muslime, sondern auch für die Christen. Die ganze Welt hat das sehen können, als wir uns wechselseitig bei unseren Gebeten auf dem Tahrir-Platz unterstützt haben«, sagt er nicht ohne Stolz. Der Mittvierziger Rafaat sieht sich als Aktivist der »Jugendbewegung des 6. April«. Diese schon 2008 auf Facebook ursprünglich zur Unterstützung streikender Arbeiter gegründete Gruppe versammelt ideologisch nicht gebundene Reformkräfte, die einen zivilen Rechtsstaat anstreben.
»Es ist ein Sammelbecken mit vielen säkular gesinnten Mitgliedern, aber es gehören auch gemäßigte Gläubige wie ich dazu«, sagt Rafaat. »Wir alle wollen Freiheit und soziale Gerechtigkeit.« Und dann betont er die wichtige Rolle, die der »6. April« bei der Organisation der Demonstrationen am 25. Januar 2011 gespielt hat, die schließlich den ägyptischen Volksaufstand auslösten und den Sturz von Präsident Mubarak herbeiführten.
Rafaat wohnt in Nasr City, einer Satellitenstadt im Osten Kairos, in der überwiegend Angehörige des ägyptischen Mittelstandes leben. Er verdient sein Geld als Reiseleiter und hat uns zum Fastenbrechen zu sich nach Hause eingeladen. Auf dem Weg dorthin lenkt er sein Auto geschickt durch den chaotischen Verkehr. Ohne den Blick von der Straße zu wenden, erzählt er enthusiastisch von den 18 Tagen der Revolution: »Meine ganze Familie hat während dieser Zeit auf dem Tahrir-Platz kampiert. Meine Frau, unsere drei Söhne und ich. Wir hatten das Glück, dass meine Schwiegermutter gleich in der Nähe wohnt. Bei ihr konnten wir uns waschen und umziehen. Außerdem hat sie für uns gekocht. So fehlte es uns an nichts. Und wir waren in der Lage, uns ganz auf die Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften des Regimes zu konzentrieren.« Rafaat lässt die Ereignisse bis zum Sturz von Präsident Mubarak Revue passieren. Besonders die blutigen Zusammenstöße mit der äußerst brutal vorgehenden Polizei beschreibt er in drastischen Worten. Die Angst, die sie alle ergriff angesichts der Toten und Verletzten, verschweigt er nicht. Ein bisschen überrascht über die eigene Standhaftigkeit von damals scheint der Familienvater heute noch zu sein.
Im Aufzug, der uns in den dritten Stock von Rafaats Haus befördert, ist wiederum der fromme Sprechgesang aus dem Koran zu hören. An der Wohnungstür erwartet uns Mona, Rafaats Ehefrau. Sie trägt ein Kopftuch, eine weit geschnittene, hochgeschlossene Bluse und einen langen Rock. Sie bietet uns Wasser und Säfte an. Im Flur vor dem Wohnzimmer liegt ein kleiner Gebetsteppich. Während Mona in der Küche verschwindet, ziehen sich Osama und Rafaat die Schuhe aus und machen sich bereit zum Gebet, das dem abendlichen Fastenbrechen vorausgeht.
Beim Essen dreht sich das Gespräch um die politische Zukunft Ägyptens. Wie groß sind die Chancen für eine demokratische Entwicklung? Wird die herrschende Militärjunta nach den Wahlen jemals die Macht an eine zivile Regierung abgeben? Und welche Rolle werden die Muslimbrüder und die anderen islamistischen Gruppen in Ägypten künftig spielen? Von der Begeisterung, mit der Rafaat die Revolution geschildert hat, ist jetzt kaum mehr etwas zu spüren. Eher eine gewisse Entschlossenheit, an den Zielen der Revolution festzuhalten, trotz aller Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit, die inzwischen im Lande unübersehbar sind.
Mona macht klar, dass sie nicht für die Muslimbrüder eintritt. Aber die Lehrerin argumentiert pragmatisch: »Wenn sie im Parlament die stärkste Fraktion stellen, ist das für mich keine Katastrophe. Sie müssen sich beweisen. Wenn sie es nicht schaffen, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen, haben sie versagt. Mit frommen Reden allein können sie die Ägypter nicht abspeisen. Das Volk erwartet den Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Einführung eines Mindestlohns. Bleiben solche Reformen aus, werden die Muslimbrüder bei späteren Wahlen wieder verlieren.«
Zwei Tage später schieben wir uns am späten Abend durch den dichten Verkehr von Heliopolis. Eine halbe Stunde vor Mitternacht erreichen wir endlich das Concorde El Salam Hotel. Während des Fastenmonats Ramadan ist es nicht ungewöhnlich, sich zu einer solchen Zeit zu verabreden. Die Luxusherberge liegt in einer vornehmen und ruhigen Gegend dieses Vorortes von Kairo. Dort befindet sich auch der Präsidentenpalast, in dem Hosni Mubarak residierte, bis er die Macht verlor. Ebenfalls in Heliopolis befindet sich das Hauptquartier der ägyptischen Streitkräfte und das der Luftwaffe, die der gestürzte Herrscher früher selbst einmal befehligt hatte. Der Luftwaffenstützpunkt Almaza ist ebenfalls nicht weit entfernt.
Jene Kräfte, auf die Mubarak über dreißig Jahre seine Macht stützte, umgaben ihn wie ein Schutzschild mit gezielt symbolischer Ausstrahlung auf das Volk der Ägypter. Als Feldmarschall Mohammed Tantawi und die anderen von Mubarak eingesetzten Generäle am 11. Februar 2011 ihren Herrn vom Thron stoßen, hat sich der Oberste Militärrat auf die Seite des Volkes geschlagen. Auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen aber erscheint der »revolutionär erzwungene Sturz des Pharaos« nicht als Regimewechsel, sondern als Militärputsch. Die von den Demonstranten skandierte Parole »Das Volk und die Armee sind eine Hand« erweist sich als hohle Phrase. Das Versprechen der Militärs, sich für die Ziele der jungen Reformer einzusetzen, wirkt als Beruhigungspille, um den revolutionären Elan der Aktivisten verebben zu lassen. Der Coup dient der Militärkaste zur Wahrung ihrer Pfründe.
Der Feldmarschall und die Generäle ließen ihren Mentor fallen, als erkennbar wurde, dass Mubarak nur noch auf Kosten der Armee und ihres Ansehens als Garant der nationalen Einheit zu halten sein würde. Sie hatten für diese Entscheidung noch ein weiteres Motiv: den Plan Mubaraks zu vereiteln, seinen Sohn Gamal als Nachfolger zu installieren. Sie hielten den jungen Mubarak für nicht geeignet, das Präsidentenamt zu übernehmen: Er verfügt nicht über einen militärischen Hintergrund, er ist relativ unerfahren und verdankte seine Position allein seinem Vater. Eine Familiendynastie des Mubarak-Clans aber wollten die Generäle keinesfalls legitimieren. Das widerspricht dem Selbstverständnis der Militärkaste. Schließlich verdankt die Generalität ihre Stellung in Staat und Gesellschaft der Beseitigung einer Erbmonarchie. Darüber hinaus macht Gamal als Generalsekretär der Staatspartei NDP eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die zwar eine Schicht reicher Privatunternehmer bevorteilt, die ökonomischen Interessen des Militärs jedoch bedroht. Damit schadete der junge Mubarak nicht nur den Durchschnittsbürgern, sondern auch der Elite des öffentlichen Sektors, zu der viele hohe Armeeoffiziere zählen. Das neoliberale Konzept untergräbt die Pfeiler des von Nasser etablierten soziopolitischen Systems, das auf militärischer Kontrolle über die Kernbereiche der Wirtschaft und der staatlichen Bürokratie beruht.
Viele Jahrzehnte ist die Armee in diesem Lande schon an der Macht. Seit Gamal Abdel Nasser mit seinen freien Offizieren König Faruk 1952 ins römische Exil schickte, sind ihre Nachfolger nicht mehr in die Kasernen zurückgekehrt. Sie lenken die Geschicke des Landes zu ihrem eigenen Wohl und scheuen dabei das Licht der Öffentlichkeit. Entrückt vom Alltag der Menschen, pflegen sie eine Kultur des Schweigens, um ihre enormen Vorrechte auszuüben.
Das Militär kontrolliert etwa dreißig Prozent der ägyptischen Wirtschaft. Die Generäle managen ein ganzes Imperium gewinnorientierter Firmen. Die Betriebe besitzen öffentlichen Grund und Boden, den sie sehr preiswert erworben haben. Steuern zahlen die Unternehmen der Armee nicht. Und keine zivile Instanz kann der Armee bisher in den Arm fallen. Eine Kontrolle ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten gibt es faktisch nicht. Im Übrigen erhalten viele der vom Militär kontrollierten Firmen staatliche Zuschüsse. So sind sie in der Lage, ihre Erzeugnisse günstiger herzustellen als ihre Konkurrenten in der privaten Wirtschaft. Mit einem doppelten Effekt: Die Generäle verzerren den Wettbewerb und fördern tatkräftig die Vetternwirtschaft.
Dr. Khaled hat uns in das Fünfsternehotel Concorde eingeladen. Er und Osama sind Studienfreunde. »Wir treffen uns am Pool«, sagt Osama, während wir die weitläufige Hotelterrasse überqueren und über ein paar Stufen den gepflegten Palmengarten erreichen. Khaled erhebt sich, um uns zu begrüßen. Er ist Banker. Auch sein Vater war schon erfolgreich im Bankgeschäft tätig. Khaled hat in Deutschland Betriebswirtschaft studiert und promoviert, genauso wie sein Vater, der dort seine Frau, Khaleds Mutter, kennengelernt hat.
Khaled und seine Frau Heba, die ebenfalls gut Deutsch spricht, sitzen am Rande des erleuchteten Swimmingpools. Ohne Umschweife kommen wir zum Thema. »Der Sturz von Präsident Mubarak wird die Verhältnisse in Ägypten auf den Kopf stellen. Und davor haben wir Angst«, sagt Khaled.
»Unter Mubarak gab es viele Probleme, und Reformen waren überfällig, aber die neuen Herrn des Landes werden jetzt die Muslimbrüder sein«, setzt Heba hinzu. Sie fährt sich durch ihr schulterlanges, braunes Haar. »Nichts und niemand kann mich dazu bringen, ein Kopftuch zu tragen und dazu noch einen knöchellangen Rock. Wenn die Bärtigen die sogenannte islamische Moral in Ägypten für allgemein verbindlich erklären, dann gehen wir zurück nach Europa«, bekräftigt Heba und schaut dabei ihren Mann an.
Khaled nickt, weist aber auch darauf hin, dass er durchaus mit den Forderungen der jungen Aktivisten nach Freiheit und Demokratie übereinstimme. »Doch ich will nicht in einem religiös bestimmten Staat leben, in dem liberales Denken und Handeln als unislamisch oder als gottlos gebrandmarkt werden. Womöglich gibt es unter der Herrschaft der frommen Brüder sogar eine islamische Sittenpolizei, so ähnlich wie in Saudi-Arabien.« Mit diesen Worten erhebt er sich und begrüßt einen großen, breit gebauten Mann, der an unseren Tisch tritt. Er ist glatt rasiert und trägt einen elegant geschnittenen Anzug von feinstem Tuch. Seine Frau ist nahezu gleich groß und konservativ gekleidet. Sie trägt einen Hijab, ein eng anliegendes Kopftuch, das ihr Haupthaar bedeckt, und einen langen, weit geschnittenen Rock. Khaled stellt den neuen Gast als seinen Freund Nader vor, der Interessantes zu unserem Gespräch beisteuern könne.
Nader selbst macht keine Anstalten, sich über seine Identität und seine berufliche Tätigkeit deutlicher zu erklären. Nur beiläufig erwähnt er, dass er fünf Jahre an der ägyptischen Botschaft in Tel Aviv zugebracht hat. Auf meine wiederholte Frage, ob er im diplomatischen Dienst sei, bleibt er die Antwort geschickt schuldig, ohne ganz unhöflich zu erscheinen. So mächtig sein Körperbau wirkt, so geschmeidig ist Naders Rede. Vieles, was er sagt, bleibt vage, dennoch wird deutlich, dass er den Militärrat (SCAF) für die einzige Kraft hält, die Ägypten in den Zeiten des Übergangs und darüber hinaus vor Chaos und Untergang bewahren könne: »Es wird mindestens zehn Jahre dauern, ehe Ägypten wieder ein stabiles Land ist. Es stimmt, dass die Generäle bis zu einem gewissen Punkt mit den Muslimbrüdern kooperieren. Aber nicht etwa, weil sie mit ihrer Ideologie sympathisierten. Vielmehr sehen sie in den Muslimbrüdern die einzige organisierte Kraft, die praktisch im ganzen Land in der Bevölkerung verwurzelt ist. Stabilität kann der Militärrat nur mit den Muslimbrüdern, nicht gegen sie herbeiführen. Der Rat spricht aber auch mit den jungen Leuten der Demokratiebewegung, um zu ergründen, welche konkreten Vorstellungen sie für Ägypten haben. Das ist keine ganz einfache Sache, weil die jungen Revolutionäre sich nicht einig sind und kein politisches Programm vorweisen können.«
Was Nader an dieser Stelle nicht erwähnt, ist die Forderung der jungen Aktivisten nach sofortiger Aufgabe der Staatsmacht durch die Junta und nach künftiger Kontrolle der Armee durch das Parlament.
Als wir gegen drei Uhr in der Frühe auseinandergehen, bin ich mir sicher, dass Nader schon seit Jahren einen hohen Posten beim Geheimdienst bekleidet. Viel Neues habe ich von ihm nicht erfahren. Dafür war er zu diskret. Immerhin hat er wiederholt betont, dass der Militärrat einen islamischen Gottesstaat in Ägypten verhindern wolle. Außerdem hat er bekräftigt, dass die Armee entschlossen sei, ihre Sonderstellung mit allen politischen und wirtschaftlichen Privilegien für die Zukunft zu sichern.
Bemerkenswert an dem nächtlichen Treffen im Hotel Concorde ist ein kleines Detail am Rande. Ägyptische Frauen, die sich »islamisch« kleiden, so wie die Ehefrau von Nader, und auch ihr Haar bedecken, sollte man nicht automatisch einem ideologischen Muster zuordnen. Gewiss handelt es sich in der Regel um gläubige Menschen, die Wert auf eine traditionelle Erscheinung legen. Das ist, gesellschaftlich betrachtet, konservativ; doch eine Botschaft im Sinne des politischen Islam ist damit nicht zwangsläufig verbunden.