Henry James

Erzählungen

Aus dem Englischen von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser

Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG

Kurzübersicht

Inhaltsverzeichnis

Über Henry James

Henry James (1843–1916) ging als junger Mann von New York, wo er geboren wurde, als Kritiker und Korrespondent nach Europa. Dort lebte er ab 1877 als freier Schriftsteller. Henry James gilt als ein Meister des psychologischen Realismus.

Über dieses Buch

Diese Auswahl gibt dem Leser ein ziemlich genaues Bild der literarischen Entwicklung von Henry James in den Jahren 1875 bis 1908. Sie erlaubt ihm, sich mit dem gesamten Zeitraum seines künstlerischen Schaffens vertraut zu machen und jene Problematik zu erkennen, die sein Werk auszeichnet: James’ Verhältnis zur Gesellschaft, zu den beiden Kontinenten Amerika und Europa, zu Kunst und Künstlerschaft, zu Mensch und Welt. So ist dieser Band Erzählungen besonders geeignet, in das komplexe Werk von Henry James einzuführen und den Zugang zu seinen großen Romanen zu erleichtern.

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Erschienen bei KiWi Bibliothek

© 2017 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

 

Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln

 

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Impressum der Reprint Vorlage

ISBN (eBook) 978-3-462-41148-5

Die Madonna der Zukunft
[1875]

I

Wir hatten über jene Meister gesprochen, denen nur ein einziges Meisterwerk gelungen war – über jene Künstler und Dichter, die nur einmal im Leben die göttliche Eingebung erfahren und die Höhe der Vollkommenheit erreicht hatten. Unser Gastgeber hatte uns das bezaubernde kleine Kabinettstück eines Malers gezeigt, dessen Namen wir nie zuvor gehört hatten und der nach diesem einen leidenschaftlichen Werben um den Ruhm wieder in Vergessenheit, ins Mittelmaß zurückgefallen zu sein schien. Wir diskutierten über die Häufigkeit dieses Phänomens, und dabei fiel mir auf, daß H. während dieses Gespräches schweigend dasaß, nachdenklich seine Zigarre rauchte und das Bild betrachtete, das um den Tisch gereicht wurde. »Ich weiß nicht, wie oft so etwas vorkommt«, sagte er schließlich, »aber ich habe es auch schon einmal erlebt. Ich habe einen armen Schlucker gekannt, der ein einziges Meisterwerk gemalt und«, fügte er lächelnd hinzu, »es doch nicht gemalt hat. Er warb um den Ruhm und versagte.« Wir alle schätzten H. als einen gescheiten Mann, der die verschiedensten Menschen und Lebensformen kennengelernt hatte und einen reichen Erfahrungsschatz besaß. Einer von uns hätte gern mehr gewußt, und während ich von meinem Nachbarn abgelenkt wurde, der sich enthusiastisch über das herumgereichte Kleinod ausließ, bestürmte man H., seine Geschichte zu erzählen. Wenn ich im Zweifel wäre, ob ihre Wiedergabe zu rechtfertigen sei, brauchte ich mich bloß daran zu erinnern, wie unsere charmante Gastgeberin, die bereits den Tisch verlassen hatte, in ihrem rosafarbenen, raschelnden Kleid zurückkam und es wenig höflich von uns fand, daß wir sitzenblieben, aber da sie sah, wie gebannt wir waren, trotz dem Zigarrenrauch in einen Sessel sank und der Geschichte mit so viel innerer Anteilnahme lauschte, daß sie, als die Katastrophe den Höhepunkt erreicht hatte, mit Tränen in den schönen Augen zu mir herüberblickte.

Die Geschichte, begann H., spielt in meiner Jugend, in Italien: beides Kostbarkeiten. Ich war spät abends in Florenz angekommen, und während ich zum Essen meine Flasche Wein trank, sagte ich mir, wenn ich auch ein müder Reisender sei, so müßte ich dieser Stadt doch einen edleren Tribut zollen, als einfach zu Bett zu gehen. Von dem kleinen Platz vor meinem Hotel bog eine dunkle Gasse ab, die aussah, als führte sie ins Herz von Florenz. Ich folgte ihr, und nach zehn Minuten kam ich auf eine große, vom weichen herbstlichen Mondlicht überflutete Piazza. Mir gegenüber erhob sich der Palazzo Vecchio gleich einer riesigen Festung, und sein großer Glockenturm ragte über die Zinnen empor wie eine Bergfichte über den Rand einer Klippe. An seinem Fuße, im breitflächigen, schützenden Schatten, schimmerten matt einige Skulpturen, denen ich mich bewundernd näherte. Eine davon, links vom Eingang des Palastes, war ein herrlicher Koloß, der sich im Dämmer erhob wie eine vom Alarm aufgestörte Schildwache und in dem ich sofort Michelangelos berühmten David erkannte. Fast erleichtert wandte ich mich von seiner heroischen, unheimlichen Kraft an und einer schlanken Bronzegestalt unter der hohen, hellen Loggia zu, die sich mit ihren anmutig geschwungenen Bögen vor dem toten Mauerwerk des Palastes abhob: eine geradezu vollkommene, grazile Gestalt, die beinahe zart wirkt, obwohl sie mit leichtem, sehnigem Arm das Schlangenhaupt der getöteten Gorgo von sich streckt. Der Name dieser Gestalt – die im Gegensatz zu dem berühmtem David auch jetzt noch dort steht – ist Perseus; lesen Sie seine Geschichte nicht in der griechischen Mythologie nach, sondern in den Memoiren von Benvenuto Cellini. Während ich also von einer dieser schönen Skulpturen zur anderen blickte, hatte ich einen offenbar bewundernden Ausruf nicht unterdrücken können; jedenfalls erhob sich, wie durch meine Stimme aufgefordert, ein Mann von den Stufen der Loggia, wo er im Schatten gesessen hatte, und sprach mich in tadellosem Englisch an: ein kleiner, schlanker Mensch, der, soweit ich erkennen konnte, in eine Art schwarzen Samtrock gekleidet war und dessen wilder rötlichbrauner Schopf unter dem kleinen beretto des Cinquecento im Mondlicht leuchtete. Im Ton schmeichelhafter Ehrerbietung fragte er mich nach meinen »Eindrücken«. Er wirkte schwärmerisch, phantastisch und unwirklich. Hier, an dieser geheiligten Stätte, hätte er der Genius der ästhetischen Gastfreundschaft sein können – wenn der Genius der ästhetischen Gastfreundschaft nicht meistens ein kläglicher kleiner Kustode wäre, der ein farbiges Kattuntaschentuch schwenkt und offensichtlich etwas gegen einen geteilten Franc hat. Dieser Vergleich lag allein schon darum so nahe, weil der Mann sogleich das Gespräch an sich riß, während ich mich in ein zurückhaltendes Schweigen flüchtete.

»Ich kenne Florenz schon seit langem, Sir, aber so schön wie heute nacht habe ich es noch nie gesehen. Es ist, als wandelte der Geist seiner Vergangenheit durch die menschenleeren Straßen. Die Gegenwart schläft; die Vergangenheit jedoch umgibt uns wie ein sichtbar gewordener Traum. Sehen Sie nicht, wie die alten Florentiner in Paaren daherschreiten, um das Urteil über das letzte Werk von Michelangelo oder Benvenuto zu fällen? Wir kämen um eine kostbare Lektion, würden wir ihre Worte überhören. Selbst der einfachste Bürger in Mütze und Gewand verstand damals etwas von solchen Dingen. Das war die Blütezeit der Kunst, Sir. Hoch stand die Sonne am Himmel, und ihr starkes, gleichmäßiges Licht erhellte die dunkelsten Plätze und die trübsten Augen. Jetzt aber leben wir im Abend der Zeiten. Wir tasten uns im grauen Dämmer dahin und tragen jeder unseren armseligen Kerzenstummel selbstsüchtigen und mühsam erworbenen Wissens, halten ihn hoch vor den erlauchten Vorbildern und den im Dunkel liegenden Ideen und sehen doch nichts als überwältigende Größe und Unergründlichkeit. Die Tage der Erleuchtung sind dahin. Aber finden Sie es nicht auch ungeheuer ermutigend« – er wurde in seiner visionären Glut geradezu vertraulich –, »daß uns das Licht jener Zeit in dieser Stunde wiedergeschenkt worden ist? Noch nie habe ich den David so majestätisch, den Perseus so schön gesehen! Selbst die weniger bedeutenden Werke, wie die des Giovanni da Bologna und Baccio Bandinelli, scheinen den Traum des Künstlers zu verwirklichen. Mir ist, als wäre der Mondschein schwanger von den Geheimnissen der alten Meister und als dürften wir, die wir hier in frommer Hingabe stehen, Zeugen einer – ja, einer Offenbarung werden!« Als er in diesem Augenblick in meinem verwirrten Gesicht eine gewisse Zurückhaltung wahrnahm, hielt dieser bemerkenswerte Rhapsode errötend inne. Dann meinte er mit melancholischem Lächeln: »Ich weiß, Sie halten mich für einen vom Monde trunkenen Scharlatan. Es ist sonst nicht meine Gewohnheit, auf der Piazza herumzusitzen und mich auf arglose Touristen zu stürzen. Heute nacht jedoch, das gestehe ich gern, bin ich verzaubert. Außerdem scheinen Sie mir gleichfalls ein Künstler zu sein.«

»Leider bin ich, im eigentlichen Sinn dieses Wortes, kein Künstler. Aber warum entschuldigen Sie sich? Auch ich bin verzaubert«, erklärte ich, »und Ihre trefflichen Bemerkungen haben dazu nur noch beigetragen.«

»Wenn Sie kein Künstler sind, dann sind Sie jedenfalls würdig, einer zu sein!« gab er mit schmeichelndem Freimut zurück. »Ein junger Mann, der spät abends in Florenz eintrifft und – anstatt prosaisch ins Bett zu gehen oder in seinem Hotel das Gästebuch durchzuschnüffeln –, ohne Zeit zu verschwenden, hierherkommt und diesen gesegneten Kunstwerken seine Huldigung darbringt – der ist nach meinem Herzen!«

Nun war das Geheimnis gelöst. Mein Gefährte war ein typischer Vertreter meiner Landsleute. Er mußte ja einer von »uns« sein – immerhin waren wir jetzt zu zweit –, mußte unserer ausgehungerten Rasse angehören, wenn er sich die Situation so zu Herzen nehmen konnte. »Und dies hoffentlich nicht weniger«, erwiderte ich, »wenn der junge Mann ein ganz gewöhnlicher New Yorker ist.«

»Die New Yorker waren oft die großzügigsten Mäzene der Künste!« antwortete er gewandt.

Ich erschrak. War seine unbändige Leidenschaft weiter nichts als die Spekulation eines Yankees? War er weiter nichts als ein verzweifelter Farbenkleckser, der sich hier postiert hatte, um einem umherstreifenden Touristen einen Auftrag abzuluchsen? Aber ich brauchte mich nicht zu verteidigen. Da ertönte von der hohen Spitze des Glockenturms ein hallender, eherner Schlag und verkündete die Mitternacht. Mein Begleiter stand auf, entschuldigte sich, mich aufgehalten zu haben, und wollte sich verabschieden. Da ich mir mit Sicherheit eine weitere Unterhaltung von ihm erwarten durfte, wollte ich mich nicht von ihm trennen und schlug ihm deshalb vor, miteinander heimzugehen. Er stimmte herzlich zu, und so kehrten wir der Piazza den Rücken, schritten unter den Arkaden der Uffizien hindurch und gelangten zum Arno. Welchen Weg wir weiter nahmen, vermag ich mich kaum noch zu erinnern, jedenfalls schweiften wir über eine Stunde umher, wobei mein Gefährte mir im Mondschein eine wahre Vorlesung in Ästhetik hielt. Ich lauschte verwirrt und fasziniert zugleich und fragte mich, wer um alle Welt er wohl sein möge. Er bekannte mit melancholischem, wenn auch respektvollem Kopfschütteln, genau der gleichen Abstammung zu sein wie ich. »Wir sind die Enterbten der Kunst! Wir sind zur Oberflächlichkeit verurteilt. Wir sind aus dem magischen Kreis ausgeschlossen. Der Boden der amerikanischen Ideen ist armselig, karg und künstlich. Wir sind mit der Unvollkommenheit vermählt. Ein Amerikaner muß, will er etwas erreichen, zehnmal soviel lernen wie ein Europäer. Uns fehlt jedes tiefere Verständnis. Wir haben weder Geschmack noch Takt noch Kraft. Woher sollten wir sie auch haben? Unser rauhes und hartes Klima, unsere tote Vergangenheit, unsere betäubende Gegenwart, der stete Druck einer unerfreulichen Umwelt, all dies ist völlig leer von allem, was einen Künstler fördern und beeinflussen und inspirieren könnte – ebenso leer, wie mein trauriges Herz von Bitterkeit leer ist, wenn ich dies sage. Wir armen Aspiranten der Kunst leben in einem immerwährenden Exil.«

»Sie scheinen sich im Exil aber ganz wohlzufühlen«, meinte ich, »und Florenz ist ja auch ein recht angenehmes Sibirien. Aber wissen Sie, ich finde, es ist einfach müßig, über unseren Mangel an inspirierender Luft und nährender Erde, an Gelegenheit und Eingebung und all den Dingen zu reden. Das einzige, was uns davon befreit, ist, etwas Schönes zu vollbringen. Dagegen gibt es in unserer glorreichen Verfassung kein Gesetz. Ersinnen, erschaffen, leisten. Es ist doch gleich, wenn Sie fünfzigmal soviel lernen müssen wie die Leute hier. Wozu sonst sind Sie Künstler? Seien Sie unser Moses«, fügte ich hinzu und legte ihm die Hand auf die Schulter, »und führen Sie uns heraus aus der Knechtschaft!«

»Goldene Worte, goldene Worte, junger Mann!« Mein Freund wurde immer lebhafter. »Ersinnen, erschaffen, leisten. Ja, das ist unsere Aufgabe, ich weiß es wohl. Halten Sie mich um Himmels willen nicht für eines dieser Klageweiber, einen dieser Nörgler, die weder Talent noch Glauben haben! Ich arbeite!« – und er sah sich um und senkte die Stimme, als wäre dies ein Geheimnis. »Ich arbeite Tag und Nacht. Ich habe mein Werk begonnen, glauben Sie es mir. Aber ich bin kein Moses; ich bin nur ein armer, sich abquälender Künstler; es wäre jedoch herrlich, wenn ich einen Strom der Schönheit in unser durstendes Land fließen lassen könnte. Halten Sie mich nicht für ein Ungeheuer an Eitelkeit«, fuhr er fort, als er mich über die Gier, mit der er meine Gedanken aufnahm, lächeln sah. »Zugegeben, ich bin in einer jener Stimmungen, wo einem alles möglich erscheint. Ich habe heute eine meiner inspirierten Nächte – so darf man es wohl nennen. Ich träume im Wachen! Wenn um Mitternacht der Südwind über Florenz streicht, scheint er allem Schönen zu huldigen, das Kirchen und Galerien hier bergen; er dringt mit dem Mondlicht in mein kleines Atelier; er läßt mein Herz klopfen, so daß ich nicht schlafen kann. Sie sehen, meine Phantasien finden kein Ende. Ich weiß, heute nacht könnte ich nicht schlafen, wenn ich nicht mit dem Genius von Buonarrotti gesprochen hätte.«

Offensichtlich kannte er Florenz wie seine Westentasche, und er brauchte mir nicht erst zu versichern, daß er es liebte. Ich merkte bald, daß er ein alter Verehrer dieser Stadt war und sie von Anbeginn an ins Herz geschlossen hatte. »Ich verdanke Florenz einfach alles«, erklärte er, »erst seit ich hier bin, lebe ich wirklich, sowohl im rein geistigen als auch im ästhetischen Sinn. Meine irdischen Wünsche sind einer nach dem andern von mir abgefallen und haben nichts übriggelassen als meinen Bleistift und mein kleines Skizzenbuch« – wobei er beziehungsvoll an seine Brusttasche klopfte – »und die Verehrung der wahren Meister; jener Meister, die groß waren, weil sie naiv waren, und jener, die groß waren, weil sie klug waren!«

»Und sie sind also die ganze Zeit recht produktiv gewesen?« Ich war zu sehr daran interessiert, als daß ich diese Frage hätte unterlassen können.

Er schwieg eine Weile, bevor er antwortete. »Nicht im landläufigen Sinn. Ich habe mich noch nie mit Unvollkommenem zufriedengegeben. Ich habe stets das Gute an einem Werk in die Schöpferkraft zu neuen Werken fließen lassen; das Schlechte dagegen – und davon gibt es immer genug – habe ich gewissenhaft vernichtet. Ich darf zu meiner Ehre sagen, daß ich zu all dem Schund auf der Welt nicht ein Körnchen hinzugefügt habe. Und um Ihnen meine Gewissenhaftigkeit zu beweisen« – er blieb stehen und blickte mich mit rührender Redlichkeit an, so, als müßte mich dieser Beweis einfach überwältigen –: »Ich habe niemals ein Bild verkauft! ›Wenigstens in meinem Herzen keine kaufmännischen Transaktionen!‹ Erinnern Sie sich an diese unsterbliche Zeile Brownings? Mein kleines Atelier ist noch nie durch oberflächlichen, hektischen Broterwerb entweiht worden. Es ist ein Tempel der Arbeit, aber auch der Muße. Die Kunst hat Zeit. Wenn wir für uns arbeiten, müssen wir uns natürlich beeilen. Doch wenn wir für die Kunst arbeiten, müssen wir viele Pausen einlegen. Die Kunst kann warten!«

Damit waren wir an der Tür meines Hotels angekommen – zu meiner Erleichterung, muß ich gestehen, denn ich fühlte mich der Gesellschaft eines derart heroischen Genies nicht recht gewachsen. Ich gab jedoch zum Abschied der Hoffnung Ausdruck, daß wir uns wiedersehen würden. Meine Neugier war auch am nächsten Morgen noch nicht verebbt; gar zu gern hätte ich ihn einmal bei Tageslicht gesehen. Ich rechnete damit, ihn an einer der vielen Kunststätten der daran so reichen Stadt zu finden, und ich hatte mich nicht verrechnet. Ich fand ihn gleich am ersten Morgen in den Uffizien – dieser Schatzkammer der berühmtesten Kunstwerke der Welt. Er hatte den Rücken der Venus von Medici zugewandt und war – die Arme auf eine die Bilder umgebende Barriere gestützt und den Kopf in die Hände gelegt – in die Betrachtung des benachbarten Triptychons von Andrea Mantegna versunken: ein Werk, das weder die äußere Pracht noch die zwingende Kraft der es umgebenden Bilder besitzt, das jedoch, in der Feinheit liebevoller, geduldiger Arbeit leuchtend, einem dauerhaften Bedürfnis der Seele vielleicht weit eher genügt. Geraume Zeit betrachtete ich über seine Schulter hinweg dieses Bild; als er sich dann mit einem tiefen Seufzer abwandte, begegneten sich unsere Blicke. Er erkannte mich und errötete ob der Erinnerung; vielleicht fand er, daß er sich in der vergangenen Nacht zum Narren gemacht habe. Ich bot ihm jedoch so herzlich die Hand, daß er mich nicht für einen Spötter halten konnte. Er war mir sofort durch seinen roten Haarschopf aufgefallen; sonst aber schien er mir sehr verändert. Seine Mitternachtsstimmung war verweht, und er sah so ausgemergelt aus wie ein Schauspieler bei Tageslicht. Er war viel älter, als ich geglaubt hatte, und wirkte in Aufmachung und Haltung längst nicht mehr so großartig. Wahrhaftig: er war offenbar ganz der arme, sich abquälende Künstler, als den er sich bezeichnet hatte, und die Tatsache, daß er nie ein Bild verkauft hatte, war eher begreiflich als löblich. Sein Samtrock war abgewetzt, und sein niedriger Schlapphut in der Mode vergangener Zeiten war so verschossen, daß man ihn als »echt« erkannte – nicht als eine jener malerischen Imitationen, wie sie die Vertreter seines Metiers zuweilen lieben. Sein Blick war sanft und müde, sein Ausdruck ungemein still und ergeben, was noch durch die Blässe und Magerkeit seines Gesichts betont wurde – eine Magerkeit, von der ich nicht wußte, ob sie dem verzehrenden Feuer des Genies oder der kargen Kost zuzuschreiben war. Ein paar Worte jedoch glätteten seine Stirn und öffneten seinem Redefluß die Schleusen.

»Das ist also Ihr erster Besuch in diesen geheiligten Hallen?« rief er pathetisch. »Glücklicher, dreimal glücklicher junger Mann!« Und damit ergriff er mich am Arm und führte mich von einem der großen Kunstwerke zum anderen und zeigte mir auch das Beste der ganzen Sammlung. Ehe wir jedoch den Mantegna verließen, drückte er meinen Arm und betrachtete das Bild liebevoll. »Er kannte keine Eile«, murmelte er. »Er wußte nichts von der ›Hast, der Halbschwester des Aufschubs‹!« Ob er wirklich ein guter Kritiker war, fragte ich mich damals nicht – ich fand ihn lediglich amüsant; er floß über von Ansichten und Theorien, Sympathien und Abneigungen, von Tiraden und Geschichten und Anekdoten. Er neigte, mehr als ich billigen konnte, zu Gefühlsurteilen, bevorzugte allzusehr überfeinerte Schattierungen und entlarvte gern ausgeklügelte Intentionen und liebte Quintessenzen. Bisweilen stürzte er sich ins Meer der Metaphysik und tummelte sich in Wogen, in denen ich nicht zu schwimmen vermochte. Doch sein umfassendes Wissen und seine oft so treffenden Formulierungen sprachen beredt von langen, aufmerksam verbrachten Stunden in solch verehrungswürdiger Gesellschaft; in seinen systematischen und erschöpfenden Angriffen lag ein Vorwurf gegen mein Zeit verschwendendes Bummeln. »Es gibt zwei Haltungen«, sagte er, »in denen man durch eine Galerie gehen kann: eine kritische und eine idealistische. Sie packen uns, wie es ihnen paßt, und wir können nie sagen, welche gerade an der Reihe ist. Die kritische ist merkwürdigerweise die umgängliche, wohlwollende, herablassende. Sie genießt die hübschen Trivialitäten der Kunst, ihre vulgäre Oberflächlichkeit, ihre effekthaschenden Schnörkel. Sie begrüßt freudig alles, was so aussieht, als hätte der Maler seinen Spaß daran gehabt: die kleinen holländischen Kohlköpfe und Kessel, die dünnen Finger und wehenden Gewänder der Madonnen, die zierlichen klassischen Landschaften mit dem blauen Bogen und den brüchigen Brücken. Und dann wieder Tage wilder, wählerischer Sehnsucht – hohe Feste des Geschmacks oder des Glaubens –, da uns jede armselige Bemühung und jeder kleine Erfolg anwidert und wir alles außer dem Besten, dem Allerbesten verabscheuen. In solchen Stunden sind wir im Geist unnachgiebige Aristokraten. Wir nehmen nicht einmal Michelangelo ohne weiteres hin und wollen auch Raffael nicht ganz schlucken!«

Die Uffizien sind nicht nur reich an Schätzen, sondern haben auch das Glück des architektonischen Zufalls oder Vorzugs, durch den sie – über die ganze Breite des Flusses und der Stadt hinweg – mit dem majestätischen Palazzo Pitti verbunden sind. Der Louvre und der Vatikan vermögen niemals ein solches Gefühl der Umfriedung zu geben wie diese riesigen Galerien, die sich über Straße und Strom erstrecken und eine schirmende Verbindung zwischen den beiden Palästen der Kunst herstellen. Wir gingen durch den hellen tunnelartigen Gang, in dem die kostbaren Zeichnungen berühmter Hände schlicht und grau über dem Quirlen und Murmeln des gelben Arno hängen, und erreichten die fürstlichen Salons des Palastes. Diese Räume sind für Ausstellungen wenig geeignet, denn durch die tiefliegenden Fenster in den dicken Mauernischen dringt nur spärliches Licht herein auf die mit Bildern behangenen Wände. Doch hier hängen die Meisterwerke so dicht nebeneinander, daß man sie sozusagen in ihrem geheimnisvollen, diffusen Eigenlicht bewundern kann. Außerdem bieten die großen Säle mit den herrlichen dunklen Decken, den in angenehmen Schatten liegenden Außenwänden und dem schwermütigem Glühen der farbigen Gemälde und des flimmernden Goldes ein fast ebenso schönes Bild wie die Tizians und Raffaels, die sie so unvollkommen präsentieren. Wir blieben kurz vor diesem oder jenem Raffael und Tizian stehen. Doch ich merkte, daß mein Freund ungeduldig wurde, und so ließ ich mich geradenwegs zum Ziel unserer Wanderung führen: zu der zartesten, schönsten Jungfrau Raffaels: der Madonna del Sedia. Von allen schönen Bildern auf der Welt schien es mir sofort jenes zu sein, das über jede Kritik erhaben ist. Keines verrät größere Leichtigkeit, weniger effektvolle Routine und weniger Diskrepanz zwischen Entwurf und Ergebnis, diese sonst unvermeidliche Diskrepanz, von der selbst die edelsten Werke immer wieder zeugen. Es ist grazil und äußerst menschlich und hat unsere ganze Sympathie – und trotzdem verrät es keinerlei Manier, Methode oder Stil. Es erblüht in solcher Sanftheit und Harmonie, als spräche aus ihm der Genius selbst. Diese Gestalt erfüllt den Beschauer mit einer Demut, von der er kaum weiß, ob sie der himmlischen Reinheit oder dem irdischen Reiz gilt. Er ist berauscht von dem Duft der zartesten Mutterblüte, die je aus der Menschheit erwachsen ist.

»Sehen Sie, das nenne ich ein schönes Bild«, sagte mein Gefährte, nachdem wir es lange wortlos betrachtet hatten. »Ich darf dies wohl sagen, denn ich habe es so oft und so sorgfältig kopiert, daß ich es jetzt mit geschlossenen Augen wiedergeben könnte. Es gibt noch andere Werke von Raffael. Dies aber ist Raffael selbst. Andere kann man loben, beurteilen, erklären: dies hier kann man nur lieben und bewundern. Ich weiß nicht, wie er aussah, als er noch auf Erden weilte und diese göttliche Eingebung in sich trug; jedenfalls konnte er nachher nichts anderes tun als sterben – diese Welt hatte ihn nichts mehr zu lehren. Denken Sie darüber nach, mein Freund, dann werden Sie zugeben, daß ich nicht schwärme. Denken Sie darüber nach, daß er dieses makellose Bild nicht nur einen Augenblick, einen Tag vor sich sah, nicht in einem beglückenden Traum oder einem beängstigenden Fieberanfall, nicht wie ein Dichter in einem Fünf-Minuten-Rausch, der ihm genügt, um seinen Satz festzuhalten, seine unsterbliche Stanze niederzuschreiben; nein, Tag für Tag, während die mühsame Arbeit des Pinsels weiterging, während der Mehltau des Lebens sich darauflegte und die Phantasie vor Spannung schmerzte: strahlend und deutlich fixiert, genauso, wie wir es jetzt hier sehen! Gewiß, welch ein Meister! Aber auch welch ein Seher!«

»Glauben Sie nicht«, fragte ich nüchtern, »daß er ein Modell hatte – irgendeine hübsche junge Frau –«

»Eine so hübsche junge Frau, wie Sie nur wollen! Aber das verringert das Wunder nicht. Natürlich hat er einen Anstoß empfangen, hat vielleicht eine lächelnde junge Frau vor seiner Leinwand gesessen. Doch die Phantasie des Malers trug bereits Flügel. Kein noch so liebliches Geschöpf konnte sie profanieren. Er sah die schöne Gestalt schon in der Vollkommenheit; mühelos, ohne die Flügel anzustrengen, schwang er sich auf zu seiner Vision; er sprach mit ihr von Angesicht zu Angesicht und verwandelte die sie vervollkommnende Reinheit – so wie der Duft die Rose vervollkommnet – in eine schönere und herrlichere Wahrheit. Das ist es, was man Idealismus nennt; das Wort ist längst abgenützt, was es aber meint, ist gut. Und es ist auch mein Credo. Liebliche Madonna, Modell und Muse zugleich, ich rufe dich zum Zeugen an, daß auch ich ein Idealist bin!«

»Ein Idealist« – ich wollte im Grunde nichts weiter als noch mehr darüber hören – »ist also ein Mann, der zur Natur in Gestalt eines schönen Mädchens sagt: ›Geh, du bist nicht das richtige. Deine Schönheit ist vulgär, dein Glanz trübe, deine Grazie plump. Sieh, so müßtest du sein!‹ Ist da das Glück nicht gegen ihn?«

Er wandte sich aufgebracht um – dann aber sah er, daß ich nur das Falsche gesät hatte, um das Wahre zu ernten. »Sehen Sie dieses Bild an«, sagte er, »und hören Sie mit Ihrer respektlosen Spötterei auf! Das ist Idealismus! Da gibt es nichts zu erklären – man muß die Flamme spüren. Er sagt der Natur oder einem schönen Mädchen nichts, was nicht beide verzeihen könnten. Er sagt einer schönen Frau: ›Laß mich, den Künstler, dein Freund sein, leihe mir dein schönes Gesicht, vertraue mir, hilf mir, und deine Augen werden schon mein halbes Meisterwerk sein.‹ Niemand liebt und achtet den Reichtum der Natur so wie der Künstler, dessen Phantasie ihn immer nur mehrt. Er weiß, was in der Realität stecken kann – ob es Raffael wußte, können Sie am besten an seinem unnachahmlichen Porträt von Tommaso Inghirami dort hinter uns beurteilen –, aber seine Phantasie schwebt darüber wie im Schauspiel Ariel über dem schlafenden Prinzen. Es gibt nur einen Raffael, doch ein Künstler darf immer noch ein Künstler sein. Wie ich gestern abend schon sagte: Die Tage des Lichtes sind dahin und Visionen selten geworden; wir müssen lange Ausschau halten, um sie zu erblicken. Aber in der Meditation vermögen wir das Ideal zu pflegen, abzurunden, zu glätten und zu vollenden. Das Ergebnis, das Ergebnis« – plötzlich versagte seine Stimme, und sein Blick wanderte zu dem Bild hinüber; als er mich dann wieder ansah, standen ihm Tränen in den Augen –, »das Ergebnis mag nicht an dieses hier heranreichen, aber es kann dennoch gut, kann groß sein!« rief er erregt. »Es kann jahrelang in der stattlichsten Gesellschaft hängen und die Erinnerung an den Künstler lebendig erhalten. Stellen Sie sich vor: der Menschheit auf solche Weise bekannt zu sein; Schritt zu halten mit den rastlosen Jahrhunderten und der sich ständig verändernden Welt; weiterzuleben durch die Gaben von Auge und Hand, die längst dem Staub vergangener Zeiten angehören: als Erbauung und Gesetz für ferne Generationen; die Schönheit mehr und mehr zu einer Macht, die Reinheit mehr und mehr zu einem Vorbild zu machen!«

»Der Himmel verhüte«, sagte ich lächelnd, »daß ich Ihnen den Wind aus den Segeln nehme! Aber meinen Sie nicht auch, daß Raffael nicht nur ein Genie, sondern auch glücklich war in einem Glauben, zu dem wir den Zugang verloren haben? Ich weiß, es gibt Leute, die es leugnen, daß diese makellosen Madonnen mehr als hübsche, von Raffaels Hand lediglich idealisierte Blondinen jener Zeit sind, und behaupten, sie seien genauso berechnend und materialistisch gewesen wie alle anderen. Sei dem, wie ihm wolle: die religiöse und die ästhetische Sehnsucht des Menschen gehen Hand in Hand, und man könnte sagen, eine Sehnsucht nach der sichtbaren und anbetungswürdigen Heiligen Jungfrau muß der Hand des Künstlers solche Sicherheit verliehen haben. Ich fürchte, heute gibt es diese Sehnsucht nicht mehr.«

Mein Freund starrte mich an – dann erschauerte er und schüttelte sich unter diesem kalten Guß. Aber er ließ sich nicht beirren. »Es gibt immer eine Sehnsucht – dieser unbeschreibliche Typ gehört zu den unsterblichen Wünschen des menschlichen Herzens; nur fromme Seelen sehnen sich stumm, wenn nicht gar schamhaft danach. Stellen Sie diesen Typ dar – dann wächst Ihr Glaube ins unendliche. Wie jedoch wollen Sie ihn in dieser korrupten Generation darstellen? So etwas läßt sich schließlich nicht befehlen. Wenn allerdings dieser Befehl in Posaunenstößen von den Lippen der Kirche selbst käme und sich an ein Genie richtete, das von Inspirationen überquillt, dann wäre es etwas anderes. So aber kann er nur aus dem Boden leidenschaftlicher Arbeit und großer Kultur erwachsen. Glauben Sie wirklich, daß ein solches Urbild verlorengehen kann, da doch immer wieder ein Mann mit den Gaben künstlerischer Vision in diese Welt hineingeboren wird? Der Mann, der diesen Typ malt, hat alles gemalt. Das Thema erlaubt in jeder Weise Vollkommenheit: in Form, Farbe, Ausdruck und Komposition. Es kann so einfach sein wie nur möglich und doch auch so reich – so groß angelegt und frei und doch auch voll von zarten Einzelheiten. Denken Sie nur an die Darstellung der Haut bei dem nackten, sich kuschelnden Kind, der strahlenden Gottheit; an die Darstellung der Falten des schlichten und wallenden Gewandes seiner Mutter. Denken Sie an die einzigartige Geschichte, die Sie in diesem einfachen Thema verdichten können. Denken Sie vor allem an das Gesicht der Mutter und seine vielsagende Bedeutung, die doppelte Bürde von Freude und Angst, die Zärtlichkeit, die in Verehrung übergeht, und die Verehrung, die in ahnungsvolles Mitleid übergeht. Und dann betrachten Sie das Ganze: die vollkommenen Linien und zarten Farben, den Atem der Wahrheit und Schönheit und Meisterschaft.«

»Anch’io son pittore!« sagte ich lachend. »Wenn ich mich nicht irre, sind Sie dabei, ein Meisterwerk zu schaffen. Gelingt es Ihnen, all dies wahrzumachen, dann werden Sie Raffael übertreffen. Lassen Sie es mich wissen, wenn Ihr Bild fertig ist, und wo immer in der weiten Welt ich dann auch gerade sein mag: ich werde umgehend nach Florenz kommen und ihr meine Reverenz erweisen: der Madonna der Zukunft!«

Er errötete und seufzte halb protestierend, halb resignierend. »Ich spreche nicht gern von meinem Bild. Ich hasse diese modische Unsitte vorzeitiger Publizität. Ein großes Werk braucht Schweigen, Stille, Geheimnis. Und die Menschen, wissen Sie, sind so grausam, so frivol – so unfähig, sich vorzustellen, daß ein Mensch heutzutage noch eine Madonna malen möchte; man hat mich schon ausgelacht, tatsächlich ausgelacht, Sir!« Seine verlegene Röte nahm nur noch zu. »Ich weiß gar nicht, was mich veranlaßt hat, zu Ihnen so offen und vertrauensvoll zu sein. Aber Sie sehen aus, als würden Sie mich nicht auslachen. Lieber junger Mann« – er legte die Hand auf meinen Arm –, »ich bin Ihrer Achtung wert. Wo immer auch meine Grenzen liegen mögen – ich meine es ehrlich. An einer so reinen Neigung, an einem Leben, das sich ihr hingibt, ist nichts Groteskes.«

II

Es war etwas so bewundernswürdig Offenes in seinem Blick und Ton, daß mir weitere Fragen gerade jetzt indiskret erschienen wären. Ich hatte jedoch noch wiederholt Gelegenheit, zu fragen, soviel ich wollte, denn von nun an verbrachten wir so manche Stunde miteinander. Zwei Wochen lang trafen wir uns täglich, damit er mich mit den Schätzen dieser Stadt vertraut mache. Er kannte sich in Florenz gut aus und hatte es mit großer Geduld durchforscht, war in allen großen wie kleinen Ereignissen seiner Geschichte bewandert – kurz: er war ein so zärtlicher und echter Florentiner geworden, daß er den idealen valet de place abgab; ich ließ also alle trockenen Abhandlungen daheim und lernte, was mir wissenswert dünkte, von seinen Lippen und seinem Beispiel. Er sprach von Florenz, wie ein ergebener alter Liebhaber von einer unvergleichlichen ehemaligen Geliebten sprechen mag, der die Zeit nichts hat anhaben können; und immer wieder erzählte er, daß er sein Herz auf den ersten Blick an diese Stadt verloren habe. »Es ist zwar üblich, jede Stadt als Femininum zu sehen, aber ich finde, in der Regel ist dies ein gräßlicher Irrtum. Oder besitzt Florenz etwa dasselbe Geschlecht wie New York, wie Chikago, wie London oder Liverpool? Es ist von allen die einzige wirkliche Dame. Man kommt sich dieser Stadt gegenüber vor wie ein empfindsamer, erregter Jüngling vor einer schönen älteren Frau mit ›Vergangenheit‹. Sie treibt einen zu höchst vermessener Galanterie.« Diese selbstlose Leidenschaft schien meinem Freund alle gesellschaftlichen Bindungen zu ersetzen; er führte ein einsames Leben und kümmerte sich um nichts als um seine Arbeit. Ich fühlte mich geschmeichelt, daß er meiner unwissenden Jugend seine Gunst schenkte und seine kostbare Zeit mit mir teilte. Wir verbrachten sie in historischen Straßen und weihevollen Nischen, in Kirchen und Klöstern und Galerien – und vor allem mit dem Studium jener alten Gemälde, an denen Florenz so reich ist, kehrten immer wieder mit unverhohlener Beglückung zu ihnen zurück und fanden in diesen zarten Blüten einen Schmelz und Duft, der viel köstlicher war als das reife Wissen der späteren Epochen. Wie oft saßen wir in der Medicikapelle von San Lorenzo und betrachteten Michelangelos düster dreinblickenden Krieger, der wie der leibhaftige Zweifel hinter seiner ewigen Maske über die Geheimnisse des Lebens nachsinnt. Mehr als einmal standen wir in den kleinen Zellen, in denen Fra Angelico gemalt, als hätte ihm ein Engel die Hand geführt, und hatten dabei das Gefühl von verstreuten Tautropfen und frühen Vogelrufen, die eine Stunde unter diesen Schätzen zu einem Morgenspaziergang in einem Klostergarten machten. Wir taten dies und anderes, schritten durch dunkle Kapellen, feuchte Höfe und düstere Palastsäle – immer auf der Suche nach Spuren von Fresken und irgendwo lauernden Skulpturen.

Ich war mehr und mehr beeindruckt von der bemerkenswerten Einmaligkeit der Ansichten meines Gefährten. Es gab nichts, das ihn nicht zu hohen Gedankenflügen angeregt hätte. Nichts wurde betrachtet oder erwähnt, das ihn nicht früher oder später zu leidenschaftlichen Äußerungen über das Wahre, das Schöne und das Gute verführt hätte. Wenn mein Freund wahrscheinlich auch kein Genie war, so doch bestimmt ein geborener Rhapsode – wenn nicht nur ein harmloser Irrer; ich fand sein Temperament, seinen Humor und seinen offenen, weltabgewandten Charakter so ungewöhnlich, als wäre er ein Wesen von einem andern Stern. Tatsächlich schien er von dem unsern nicht eben viel zu wissen und lebte ausschließlich in seiner grenzenlosen Provinz der Kunst. Man konnte sich kein Geschöpf vorstellen, das die Zufälle des Lebens weniger verbittert hätten, und manchmal hielt ich es einfach nicht für möglich, daß es eine künstlerische Begabung und reine Ästhetik geben sollte, in der die Erfahrungen des Alltags so geringe Spuren hinterlassen konnten. Es war schwer, ihn als einen von unserem dickschädeligen Schlag anzuerkennen; andererseits aber bewies nichts deutlicher seine amerikanische Abkunft als seine Sucht, aus allem irgendeinen Nutzen zu ziehen. Allein schon seine feurige Verehrung war ein Zeichen der Konversion; jene, die im Bezirk des Tempels geboren worden sind, nehmen ihre Chancen für selbstverständlicher. Außerdem besaß er unser angestammtes Mißtrauen gegen alles Intellektuelle und unser Vergnügen an klangvollen Superlativen. Als Kritiker ignorierte er alle Maßstäbe; wenn er etwas anerkannte, tat er es großzügig und in aller Öffentlichkeit, und wenn er über etwas urteilte, kam dies für ihn einer wahren Entdeckung gleich. Das Kleingeld der Billigung schien ihm nicht die angemessene Münze für einen Gentleman zu sein; und doch blieb er bei aller Übertreibung von Ansicht und Geste ein Rätsel. Seine Geständnisse waren genaugenommen Masken oder Kulissen, und wenn er auf sich selbst anspielte, wie etwa auf seine dunkle Herkunft, war es etwa so, als schwenkte er eine verrußte Laterne. Er war bescheiden und stolz zugleich und sprach nie über seine häuslichen Angelegenheiten. Offensichtlich war er arm, und doch mußte er eine gewisse Unabhängigkeit besitzen, sonst hätte er nicht so frohgemut erklären können, daß seine Verehrung der idealen Schönheit ihm nie einen Heller eingebracht habe. Ich vermutete, daß er mich wegen dieser Armut nie-in seine Wohnung bat, ja, nicht einmal erwähnte, wo sie sich befand. Wir trafen uns entweder in der Stadt oder in meinem Hotel, wo ich ihn so gut wie möglich bewirtete, ohne daß es nach Wohltätigkeit aussah. Meistens machte er einen hungrigen Eindruck, und das war eigentlich sein menschlichster Zug. Ich hatte mir vorgenommen, nie eine bestimmte Grenze zu überschreiten, wagte dann aber doch bei jeder neuen Begegnung eine Andeutung auf sein großes Werk und fragte, wie es voranschreite.

»Wir kommen voran – mit Gottes Hilfe«, sagte er dann mit der ihm eigenen nie erlahmenden Tapferkeit. »Man kann wohl kaum behaupten, wir kämen nicht gut voran. Sehen Sie, ich habe den großen Vorteil, daß ich nie Zeit verliere. Jede Stunde, die ich mit Ihnen verbringe, ist ein reiner Gewinn. Sie schenken mir eine wahre Fülle von Einfällen. So wie der wahrhaft fromme Mensch immer betet, ist der Künstler stets bei der Arbeit. Er nimmt sich, was immer er findet – er lernt von allem unterm Sonnenlicht kostbare Geheimnisse. Wenn Sie wüßten, wie faszinierend es ist, während man sich mit seinem Werk beschäftigt, zu beobachten und sich zu erinnern und zu registrieren! Mit jedem Blick sammle ich Erfahrungen über das Licht, die Farbe, den Stil, und wenn ich heimkomme, schütte ich all diese Schätze meiner Madonna in den Schoß. Nein, ich bin nicht müßig. Nulla dies sine linea

Inzwischen war ich einer Amerikanerin vorgestellt worden, deren Salon schon seit langem der Treffpunkt für eine angebliche Elite von Ausländern war. Sie wohnte irgendwo im vierten Stock und war keinesfalls reich; doch sie bot ihren Gästen ausgezeichneten Tee, kleine Kuchen in reicher Auswahl und eine nicht zu übertreffende Konversation. Meist ging diese Konversation um ein anspruchsvolles Thema der Ästhetik, denn Mrs. Coventry war berühmt für ihre »musischen« Neigungen. Ihre Wohnung glich einem Miniatur-Palazzo Pitti. Sie besaß Dutzende von »frühen Meistern« – in ihrem Eßzimmer eine Sammlung von Peruginos, in ihrem Boudoir einen Giotto, über dem Kamin im Salon einen Andrea del Sarto. Umgeben von diesen Schätzen und zahllosen Bronzen, Mosaiken, Majolikaschalen und kleinen, wurmstichigen Diptychen mit ungelenken Heiligen auf Goldgrund, genoß sie in der Gesellschaft die Würde einer Hohepriesterin der Kunst. Im Ausschnitt ihres Kleides trug sie stets eine riesige, wenn auch verkleinerte Kopie der Madonna dell Seggiola. Als ich sie eines Abends ungestört sprechen konnte, fragte ich sie, ob sie unter unseren Landsleuten hier den exzentrischen, jedoch reizenden Mr. Theobald kenne.

»Ob ich ihn kenne, den armen Theobald?« Sie sprach so laut, als hätte ich sie zum öffentlichen Ausruf herausgefordert. »Ganz Florenz kennt ihn, seine feuerfarbenen Locken, seinen schwarzen Samtrock, seine endlosen Tiraden über die Schönheit und seine mysteriöse Madonna, die noch kein sterbliches Auge je gesehen und auf die zu warten selbst der geduldigste aller Sterblichen längst aufgegeben hat.«

»Ach«, sagte ich, »Sie glauben also nicht an die geheimnisvolle Madonna?«

»O Sie reizender, junger Idealist«, gab meine boshafte Freundin zurück, »hat er etwa einen Proselyten aus Ihnen gemacht? Wir alle haben einmal an ihn geglaubt; als er seinerzeit nach Florenz kam – und in unsere kleine Kolonie hier –, hat er die Stadt im Sturm gewonnen. Wir glaubten, ein zweiter Raffael – mindestens! – sei uns geboren worden, und unser armes, gutes, barbarisches Land werde durch ihn endlich zu Ansehen kommen. Fiel ihm nicht auch wie Raffael das Haar bis auf die Schultern? Aber leider hat er nur dessen Haar, nicht jedoch dessen Kopf! Aber für uns war es der Große; wir hingen an seinen Lippen und trompeteten in die Welt hinaus, daß er ein Genie sei. Die Frauen sehnten sich danach, ihm für ein Porträt zu sitzen und durch ihn unsterblich zu werden wie Leonardos Mona Lisa! Wir fanden ihn überhaupt wie Leonardo – so ›esoterisch‹, unnachahmlich, faszinierend. Nun, es ist ja auch beim Esoterischen geblieben, und niemand kann beschreiben, was niemand je gesehen hat. Die Monate, die Jahre sind vergangen, und wir warten noch immer auf das Wunder: unser Meister hat sein Meisterwerk nie vollbracht. Er hat unzählige Stunden in Kirchen und Galerien verbracht, hat herumgestanden und gegrübelt und gestaunt; er hat mehr über sein Thema, über jedes Thema geredet, als je ein Mensch über irgend etwas geredet hat, aber nie hat er den Pinsel auf die Leinwand gesetzt. Wir alle hatten sozusagen auf das große Werk subskribiert; doch als dann nie etwas daraus wurde, verlangten die Leute ihr Geld zurück. Ich war eine der Ausdauerndsten seiner Getreuen; ich trieb die Verehrung so weit, ihm für ein Porträt zu sitzen. Wenn Sie das Scheusal gesehen hätten, das er aus mir gemacht hat, würden Sie verstehen, daß sich selbst die Begeisterung einer Frau, deren Eitelkeit sich darauf beschränkt, daß sie ihren Hut geraderückt, abkühlen mußte. Dieser Mann kannte nicht einmal das Einmaleins der Malerei. Seine Stärke sei, wie er mir anvertraute, sein Gefühl; aber wenn einer einen als Vogelscheuche gemalt hat, ist es dann etwa ein Trost, zu wissen, daß er es auch noch mit Vergnügen getan hat? Ich muß gestehen, daß wir einer nach dem andern von ihm abfielen, und Mr. Theobald rührte keinen Finger, um uns zu halten. Schon bei der ersten Andeutung, daß wir des Wartens müde seien und gern Taten sehen würden, ging er auf und davon. ›Große Werke brauchen Zeit, Kontemplation, Muße, Stille. O ihr Kleingläubigen!‹ Wir erwiderten, daß wir ja nicht auf einem großen Werk bestünden; die fünfaktige Tragödie könne aufgeführt werden, wann es ihm behebe; wir bäten nur um etwas, das uns vom Gähnen abhalte, irgendein kleines leichtes lever de rideau. Daraufhin spielte der arme Mann das mißverstandene Genie, den Märtyrer seiner Theorien und verließ uns noch zur selben Stunde. Zweifellos tut er mir die Ehre an, mich als das Haupt jener Verschwörung zu betrachten, die seinen Erfolg in der Knospe erstickt hat – einer Knospe, die sich zum Erblühen zwanzig Jahre Zeit gelassen hat. Fragen Sie ihn, ob er mich kennt, und er wird Ihnen erzählen, daß ich eine schreckliche, häßliche alte Schachtel sei, die ihm nur deshalb Rache geschworen habe, weil sie nicht begreife, daß er sie im Stil von Tizians Flora habe malen wollen. Seit damals hat er wohl nur noch zufällige Anhänger, arglose Touristen wie Sie, die ihm jedes Wort glauben. Der Berg kreißt noch immer; jedenfalls habe ich nicht gehört, daß die Maus inzwischen geboren worden wäre. Ab und zu begegne ich ihm in einer Galerie, und dann blickt er mich mit seinen großen dunklen Augen an, tut so überlegen gleichgültig, als wäre ich die schlechte Kopie eines Sassoferrato. Es ist schon eine Ewigkeit her, seit er mir erzählt hat, er mache Studien für eine Madonna, die alle anderen Madonnen italienischer Schule in sich vereinen solle – wie jene antike Venus, die von der einen die Nase und von der andern den Knöchel lieh. Gewiß, die Idee ist gut. Die einzelnen Teile mögen ja schön sein, aber wenn ich an mein verunglücktes Porträt denke, dann zittere ich um das Ganze. Er hat seine trouvaille unter dem Siegel der Verschwiegenheit mindestens fünfzig erwählten Geistern mitgeteilt – jedem, den er auch nur fünf Minuten am Rockaufschlag zu fassen bekam. Ich vermute, er wartet auf einen Auftrag, und das kann man ihm nicht einmal übelnehmen; der Himmel weiß, wovon er lebt. Ich sehe an Ihrem Erröten«, fuhr meine Freundin freimütig fort, »daß er auch Sie ins Vertrauen gezogen hat. Sie brauchen sich nicht zu schämen, mein Lieber; in Ihrem Alter ist eine gewisse Leichtgläubigkeit keine Schande. Erlauben Sie mir nur den einen Rat: lassen Sie diese Leichtgläubigkeit nicht auf Ihre Brieftasche übergreifen! Bezahlen Sie nicht für das Bild, ehe es geliefert ist. Man hat Ihnen doch keinen Blick darauf erlaubt, oder? Genauso ist es Ihren fünfzig vertrauensseligen Vorgängern ergangen. Es gibt Leute, die bezweifeln, daß überhaupt ein Bild vorhanden ist. Es würde mich nicht wundern, wenn man nach seinem Tode nicht mehr fände als in jener schrecklichen kleinen Erzählung von Balzac: eine Wirrnis sinnloser Kritzeleien und Kleckse – einen Haufen vertrockneter Farbe!«

Still verwundert lauschte ich dieser kühnen Charakterisierung. Sie klang so schmerzhaft einleuchtend und bestätigte manches von meinem eigenen leisen Verdacht. Meine Gastgeberin war zwar eine spöttische Natur, doch war sie weder verlogen noch rachsüchtig. Ich beschloß, weitere Ereignisse abzuwarten, bis ich mein Urteil fällte. Vielleicht hatte sie recht – wenn sie jedoch im Unrecht war, dann war ihr Unrecht eine Grausamkeit. Ihre Darstellung der Überspanntheiten meines Freundes weckte in mir die Ungeduld, ihn wiederzusehen und ihn im Licht der öffentlichen Meinung zu betrachten. Bei unserer nächsten Begegnung erkundigte ich mich daher, ob er Mrs. Coventry kenne. Er legte seine Hand auf meinen Arm, und sein Blick war trauriger, aber vielleicht auch durchdringender als je zuvor. »Hat diese Frau Sie unter die Knute bekommen? Sie ist eine bösartige Person. Sie ist hohl und intrigant, und dabei tut sie so seriös und gütig. Sie plappert über Giottos Epigonentum und Vittoria Colonnas Liaison mit ›Michael‹ – man könnte meinen, Michelangelo wohne ihr gegenüber und werde jeden Augenblick zum Whist erwartet –, aber sie weiß von der Kunst und den schöpferischen Voraussetzungen so wenig wie ich von der Effektenbörse. Sie entweiht die heiligsten Dinge«, erklärte er temperamentvoll, »und sie interessiert sich für Sie lediglich als jemand, der in diesem gräßlichen kleinen Salon mit seinen wertlosen Peruginos, in dem nichts echt ist, die Teetassen herumreichen kann! Wenn man nicht alle drei Tage ein neues Bild hinschmiert und es sie unter ihren Gästen herumgeben läßt, erzählt sie jedem, man sei ein nichtswürdiger Betrüger, von dem man sich ja fernhalten solle.«

Lorenzaccio