Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2020
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ISBN 978-3-644-10069-5
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Meinen Söhnen
Leo und Benedikt
In den vergangenen fünf Jahren habe ich in Indien gelebt, als Korrespondent der Wochenzeitung «Die Zeit». Bald nach meiner Ankunft im Land lernte ich einen jungen Autor aus Kaschmir kennen, der paradiesisch schönen und wie von der Geschichte verfluchten Region zu Füßen des Himalaya. Kaschmir ist die einzige mehrheitlich muslimische Provinz im mehrheitlich hinduistischen Indien, viele Kaschmiris wollen nicht zu Indien gehören und hassen den indischen Staat als Besatzungsmacht, gewaltsamer Widerstand trifft auf brutale Repression. Der Kaschmirkonflikt ist ein Desaster wie die Palästinafrage, genauso traumatisch und hoffnungslos und auf allen Seiten schmutzig – nur eines, über das man im Westen viel weniger weiß und für das man sich kaum interessiert. Basharat Peer, der Autor, war mit dem Bürgerkrieg aufgewachsen und hatte ein Buch darüber geschrieben: Demonstrationen, Kontrollposten und Razzien; Dorfjungen, die zu den antiindischen Milizen gingen und nie wiederkamen; das «Verhörzentrum» der Sicherheitskräfte, aus dem die Schreie der geprügelten Gefangenen in die Schlafsäle des benachbarten Schulgebäudes drangen.
Jetzt saßen wir an einem schönen Frühlingsnachmittag auf der Dachterrasse eines Cafés in Delhi, mit Blick in die Wipfel der Bäume, die zu den umliegenden Villen gehörten. Basharat war gerade mit einem neuen Projekt fertig geworden, der Arbeit an einem Drehbuch. Kino ist in Indien eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung (wie sonst nur Kricket), und «Haider», nach Basharats Drehbuch entstanden, war der erste Film, der den Kampf zwischen Staat und Rebellen in Kaschmir realistisch darstellte, ohne falsche patriotische Rücksichten auf die Ehre von Polizei und Militär. Doch neben seiner politischen Brisanz war noch etwas ungewöhnlich an diesem Kinostück. «Haider» war eine Neubearbeitung von William Shakespeares «Hamlet».
Basharat Peer erzählte mir, er habe in Shakespeares Tragödie die Tragödie seiner eigenen Heimat wiedergefunden. Ein Regisseur, der schon zwei Filme nach Shakespeare-Dramen gedreht hatte, wollte noch einen dritten versuchen, am liebsten über Kaschmir, und hatte Basharat um Hilfe gebeten. Der Autor nahm sich den «Hamlet» vor und stolperte darüber, dass Dänemark, der Schauplatz der Handlung, im Stück ein «Gefängnis» genannt wird – für ihn klang das nach Kaschmir mit seinen allgegenwärtigen Kasernen, den dauernden Ausgangssperren und dem Hausarrest für Oppositionelle. An Kaschmir erinnerte ihn auch das politisch vergiftete Klima von Misstrauen und Verrat, das in «Hamlet» herrscht, bis in die Familie hinein: «dass der Bruder den Bruder tötet», wie er mir an diesem Nachmittag sagte, «dass deine eigenen Leute deine Feinde werden».
Bei Shakespeare hat Hamlets Onkel Hamlets Vater ermordet und Hamlets Mutter geheiratet – das ist der Hintergrund, das treibende Motiv, des ganzen Dramas. Hamlet muss das Verbrechen rächen und kann sich nicht dazu durchringen, das macht ihn zur tragischen Figur. In Basharats Peers Filmversion «Haider» ist der Vater ein Arzt, der verwundete Guerillakämpfer versorgt, und sein Onkel ein Anwalt, der mit dem indischen Sicherheitsapparat kollaboriert und dabei seinen Bruder beseitigen lässt. Der Sohn, der auswärts studiert, kehrt nach Hause zurück, um das Verschwinden seines Vaters aufzuklären. Er findet heraus, wer der Schuldige ist, er sollte den Täter zur Rechenschaft ziehen, aber wie Hamlet blockieren ihn Depression, eine komplizierte Mutterbindung und moralische Skrupel. Das Zweifeln und Zögern, die innere Gespaltenheit, Markenzeichen von Shakespeares melancholischem Prinzen, die ihn zur wahrscheinlich berühmtesten Figur der Weltliteratur gemacht haben – das alles kam Basharat vollkommen vertraut und wirklichkeitsnah vor: «Das Zerrissensein, das ist die Realität von Kaschmir.» Hamlets Problem war sein eigenes, er war auch kein revolutionärer Tatmensch geworden, kein Rächer der Ungerechtigkeit, sondern ein Intellektueller.
Als wir uns damals in Delhi unterhielten, war ich noch nie in Kaschmir gewesen. Erst später in meiner Korrespondentenzeit bin ich hingereist, um darüber zu schreiben. Aber ich kannte den «Hamlet». Die klaustrophobische Atmosphäre von Staatskontrolle und Familienrücksichten, in der Shakespeares Held keine Luft zum Atmen bekommt und wo er zwischen Widerstand und Lähmung zerrieben wird, verriet mir mehr über Kaschmir als alle politischen Studien und Artikel, die ich darüber gelesen hatte. Ich konnte mich auf einmal in diese fremde Welt hineinversetzen, ich konnte mitfühlen und begreifen. Shakespeare und sein Werk stifteten etwas Gemeinsames, Verbindendes zwischen Basharat und mir. Sie hatten ihm eine Sprache gegeben, um eine sonst kaum vermittelbare Erfahrung auszudrücken, und mir die Fähigkeit, sie zu verstehen. Ein vier Jahrhunderte altes Stück eines Engländers brachte im Jahr 2014 einen Inder (der keiner sein wollte) und einen Deutschen zusammen, eine urabendländische Geschichte lieferte den Schlüssel zu einem aktuellen politischen Konflikt in Asien. Ein Kunst- oder Gedankenwerk, das so etwas kann, nennen wir einen Klassiker.
Solche Erlebnisse sind gemeint, wenn in diesem Buch von Bildung die Rede ist. Bildung ist, was solche Erlebnisse möglich macht. Es sind Glückserlebnisse. Sie sind nichts Mühsames und Pflichtmäßiges, sie gehören in den Schubladen meines Bewusstseins nicht mit Anstrengungen wie Lernen und Arbeit zusammen, nicht mit kalten, technischen Begriffen wie Information oder Kompetenz, sondern mit dem, was das Leben lebenswert macht: Liebe und Freundschaft, Reisen und Natur. Bildung ist etwas Existenzielles und Menschliches, sie geht nicht bloß unseren Kopf an, sondern auch unser Herz und unsere Seele. Mein Buch soll die Leserinnen und Leser mit dieser Freude anstecken und ihnen dabei helfen, selbst ähnliche Erfahrungen zu machen. Es ist eine Einladung und Anleitung, das sogenannte kulturelle Erbe in Besitz zu nehmen und sich darin zu Hause zu fühlen, als wirkliche Erben: als Töchter und Söhne, denen dieser einschüchternde und etwas verödete Geistespalast und sein antikes Mobiliar tatsächlich gehören.
«Bildung» ist ein abschreckendes Wort. Es klingt streberhaft, nach ehrgeizigen Eltern, die angestrengt die perfekte Schule für ihre Kinder suchen. Oder bürokratisch, nach Kultusministerkonferenz. Oder altmodisch und elitär, als würde man einer Zeit nachtrauern, da der Weg in die bessere Gesellschaft mit Goethezitaten und einem humanistischen Abitur gepflastert war. Um nichts davon wird es in diesem Buch gehen. Ich bin kein Bildungspolitiker und kein Didaktikexperte, ich will weder für das Gymnasium noch für die Gesamtschule werben, ich werde nicht zu beweisen versuchen, dass das Lateinlernen für das Medizinstudium nützlich ist, und ebenso wenig aufzählen, welche Bücher man gelesen haben muss, um auf jeder Party mitreden zu können.
Denn jenseits von Karriere, Politik und Angeberei bedeutet Bildung etwas sehr Einfaches: dass wir nicht allein sind beim Versuch, das Leben zu meistern und die Welt zu verstehen. Wenn wir die Geschöpfe eines großen Dichters wie Shakespeare einmal kennengelernt haben, im Buch oder auf dem Theater, dann begleiten sie uns wie Freunde, ihre Reden sprechen zu uns, ihre Erfahrungen werden unsere, sie stehen uns kaum weniger lebendig vor Augen als wirkliche Menschen. In der Depression (oder in der politischen Vereinsamung) haben wir Hamlet an unserer Seite. In der unglücklichen, von gesellschaftlichen Vorurteilen und familiärer Engstirnigkeit kaputtgemachten Liebe: Romeo und Julia. In der Eifersucht: Othello. Die Welt bekommt durch das Paralleluniversum der Klassiker eine Dimension hinzu, sie wird größer und tiefer, aber auch vertrauter, voller Bezugs- und Anknüpfungspunkte, voller Chancen, sich zu vergleichen und wiederzuerkennen.
Während meines Studiums in Tübingen hat uns mein Lehrer, der Philologe und Rhetorikprofessor Walter Jens (damals für mich der Inbegriff eines gebildeten Menschen), einmal erklärt, warum in der Literatur der alten Griechen die Götter- und Heldengeschichten eine so enorme Rolle spielen. Sein Beispiel: Vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden hat die Lyrikerin Sappho, die erste Autorin der Weltliteratur, ein Liebesgedicht verfasst, in dem sie über die Trennung von einer Freundin klagt. Das Thema ist rein persönlich und intim. Aber die Macht der Gefühle erklärt Sappho überhaupt nicht privat, sondern mit einer scheinbar weit hergeholten Sagenerzählung: Sie erinnert sich an die Geschichte von Helena, der schönsten Frau der Welt, verheiratet mit dem besten Mann, dem König von Sparta, die plötzlich und ohne Rücksicht ihre Ehe, ihre Familie und ihre Heimat zurücklässt, als die Liebesgöttin Aphrodite sie mit Verlangen nach dem jungen trojanischen Prinzen Paris erfüllt. Der «Raub der Helena» war der berüchtigtste Skandal der Antike, der Vorfall, der den Trojanischen Krieg ausgelöst hat.
Doch was hat das alles in Sapphos Gedicht zu suchen, warum redet sie nicht einfach im eigenen Namen von ihrer Sehnsucht und ihrem Schmerz, warum hängt sie sich an ein sagenhaftes und literarisches Vorbild an? Die Antwort lautet: weil sie dann nicht mehr allein ist. Das mythische Modell hilft ihr, das eigene Schicksal, die Überwältigung durch die Übermacht der Liebe, zu verstehen und zu ertragen, es in einen größeren Rahmen zu stellen, die Sprachlosigkeit des Unglücks zu überwinden. Der Dichterin geht es elend, aber um ihre Schultern liegt ein sagenhafter Königinnenmantel und verleiht ihr Würde. Die Helena-Geschichte verbindet Sappho mit einer geistigen Heimat, einem Kosmos von Sinn und Bedeutung, einer inneren Welt, die ihr niemand zu nehmen und die niemand zu zerstören vermag. So wie das Hamlet-Drama es für Basharat Peer und seine Kaschmiris getan hat. So wie Sapphos uraltes Gedicht es für eine Liebende oder einen Liebenden von heute tun kann.
Mit dem Erbe von Dichtung und Kunst, aber auch von Geschichte, Wissenschaft und Philosophie sind wir wie mit einer Wolke von guten Geistern umgeben – und Bildung bedeutet, das magische Losungswort zu kennen, mit dem wir diese Geister zum Sprechen bringen und zu Hilfe rufen können. Lesern und Kinozuschauern von «Harry Potter» ist der «Patronuszauber» vertraut, mit dem man in der Not, als Beistand gegen die Mächte der Finsternis, die Erinnerung an das Liebste und Beste im Leben heraufzubeschwören vermag, wie einen Talisman. Bildung ist der Patronuszauber der Menschheit – und für jeden von uns.
Im Kampf um die Gerechtigkeit mobilisiert sie die Propheten des Alten Testaments, die im Namen Gottes gegen die Reichen und Mächtigen ihrer Zeit gewettert haben – aber ebenso die atheistischen Propheten des Sozialismus, Marx und Engels. Zum Dilemma, ob wir für eine gute Sache lügen oder Krieg führen dürfen, holt sie Rat bei einem wunderlichen preußischen Junggesellen, der seine Stadt nie verließ und die ganze Welt im Kopf hatte, namens Immanuel Kant. Zur Verantwortung des Wissenschaftlers hört sie als Zeugen Galileo Galilei, der wusste, dass sich die Erde um die Sonne dreht und diese Wahrheit öffentlich verleugnete, weil die Kirche ihn dazu zwang und er sich vor der Folter fürchtete. Das alles sind keine toten Autoritäten, es sind unsichtbare Zeitgenossen, die für uns mitdenken, mitentdecken, mitempfinden. Bildung heißt nicht, sich Kenntnisse und Fähigkeiten anzutrainieren, sondern sich einer Gemeinschaft anzuschließen, einer Schwestern- und Bruderschaft.
Trotz aller unangenehmen Assoziationen von Zeugnisnoten und 19. Jahrhundert lebt in unserer Gesellschaft eine tiefe, ungestillte Sehnsucht nach Bildung. Man kann vielleicht nicht mehr sagen, was den gebildeten Menschen ausmacht, aber er ist immer noch ein Ideal, mit dem Charme unzeitgemäßer Souveränität. So wie es Leute gibt, bei denen jeder sofort erkennt, dass sie gut angezogen sind, obwohl ihnen die Mode offenkundig vollkommen gleichgültig ist. «Bildung» klingt solide, nach Halt und Haltbarkeit; das macht sie in einer Zeit der Verunsicherung auf neue Weise attraktiv.
Sie verspricht Orientierung im Unterschied zur bloßen Information, die unter dem Eindruck der Online-Datenflut inzwischen eher als Bedrohung erscheint. Bildung steht für das, was wirklich zählt und Bestand hat, für «Werte». Das gibt ihr eine moralische Qualität, als Bastion gegen relativistische Beliebigkeit. Bildung soll auch zur Behauptung unserer kollektiven Identität dienen, als Antwort auf die zunehmend schwierige Frage, wer «wir» eigentlich sind, in einer pluralistischen, globalisierten, multikulturellen Welt. «Wir» sind dann angeblich die Eigentümer und Hüter der jüdisch-christlichen Zivilisation oder der Aufklärung. Siehe das erstaunliche Comeback, das die jahrzehntelang fast verschwundene, hoffnungslos veraltete Kategorie des «Abendlands» in unseren Tagen erlebt. Das Abendland ist wieder populär, seit man sich damit gegen den Islam abgrenzen kann.
Auch in diesem Buch geht es recht abendländisch zu, das dürften meine Leserinnen und Leser schnell merken. Sie werden immer wieder auf Gestalten und Werke aus der Antike stoßen, besonders aus dem alten Griechenland. Das hat mit meiner persönlichen Bildungsgeschichte zu tun. Ich habe in der Schule Latein und Altgriechisch gelernt und später Klassische Philologie studiert: Sprache und Literatur des griechisch-römischen Altertums. Die Welt der Antike hat mich schon als Jungen fasziniert, wie andere Kinder für Raumfahrt oder Tiefseeforschung schwärmen. Gustav Schwabs «Sagen des klassischen Altertums» oder historische Romane wie «Ich, Claudius, Kaiser und Gott» von Robert von Ranke-Graves habe ich verschlungen. Meine Eltern hatten mich zunächst auf eine neusprachliche Oberschule geschickt, aber irgendwann erklärte ich, dass ich Griechisch lernen und auf ein humanistisches Gymnasium wechseln wollte. Der eigenwilligen Entscheidung verdanke ich mehr Freude als fast jeder anderen in meinem Leben.
Meine Altertumsliebe ist also eine ziemlich individuelle Marotte. Ich glaube, dass sie trotzdem eine ganz gute Voraussetzung ist, wenn man unsere Kultur verstehen und verständlich machen will. Durch viele Jahrhunderte hindurch haben europäische Künstler und Denker kaum etwas so wichtig genommen und so gründlich studiert wie die Antike. Kein anderes Geisteserbe, von der Bibel abgesehen, hat unser gesamtes Weltbild ähnlich stark beeinflusst wie «die Alten», wie man sie in früheren Zeiten nannte. Der englische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead wollte durchaus keinen Witz machen, als er einmal erklärte, das ganze westliche Denken bestehe nur aus ein paar Fußnoten zu Platon, dem größten theoretischen Kopf des antiken Athen.
Das Abendland ist eine wunderbare Sache. Die Abendländerei dagegen, die uns Abendländer zu Kulturträgern erklärt, damit andere (vor allem Muslime) als Halbwilde dastehen, ist ausgesprochen widerwärtig. Waffen für einen «Kampf der Kulturen» will dieses Buch keineswegs bereitstellen. Überhaupt ist die reaktionäre Attitüde, die Verachtung für die da unten oder die da draußen, die schwerste Hypothek auf allem, was unter der Fahne «Bildung» segelt; von ihr muss man sich unbedingt freimachen. Bildung bedeutet im Gegenteil Großzügigkeit und die Ausdehnung unseres Gesichtskreises, nicht Abschottung, sondern Neugier: auf vergangene Zeiten und ferne Länder, auf geistige Abenteuer, auf die Geschichten außerordentlicher Frauen und Männer. Der schlimmste Feind, der eigentliche Gegensatz des gebildeten Menschen, ist nicht der Barbar, es ist der Spießer, der alles schon zu wissen meint und selbstzufrieden in seinem Denken und Dasein ruht.
Die Welt der Bildung ist größer als Europa oder der Westen. Ich kann nach meinen fünf Jahren in Indien nicht behaupten, dass mir mehr gelungen ist, als nur an der Oberfläche der Zivilisation zu kratzen, die hier seit vier Jahrtausenden heimisch ist. Doch so viel habe ich immerhin mitbekommen, dass ich ein Stück «Stammeskunst» ästhetisch genauso ernst nehme wie ein italienisches Barockgemälde und Mahatma Gandhi in meinen Augen kein weniger hellsichtiger Kritiker der Moderne ist als die intellektuell von Marx und Hegel herkommenden Denker Max Horkheimer und Theodor W. Adorno mit ihrer «Dialektik der Aufklärung». Ein indisches Götter- und Heldengedicht wie das dschungelhaft poetische «Ramayana» gehört genauso zum Vorrat der ewigen Menschheitsgeschichten wie die Epen des griechischen Urpoeten Homer. Dasselbe gilt für die Meisterwerke der arabischen oder persischen, chinesischen oder japanischen Literatur, mit denen ich weniger in Berührung gekommen bin. Dank meiner eigenen Biographie sind meine Perspektive und dieses Buch unvermeidlich «eurozentrisch». Aber hoffentlich wenigstens nicht borniert.
Vor dem Abendlandsgetue muss man sich also in Acht nehmen. Dagegen gibt es nicht den mindesten Grund, sich für die zentrale Rolle der Hochkultur in einem Buch über Bildung zu schämen oder zu entschuldigen. Die Schöpfungen und Gedanken von Shakespeare und seinen Geniekollegen, vom Kampf um Troja bis zu Freuds Entdeckung des Unbewussten, sind wirklich die Bildungsschätze, die zu kennen sich mehr als alles andere lohnt. Für den Einwand, dass man heute nicht mehr so viel Gewicht auf die klassischen Meisterwerke und Meisterdenker legen könne, bin ich mit voller Überzeugung schwerhörig, um nicht zu sagen taub. Die Kritik wäre überzeugender, wenn es einen echten Gegenvorschlag gäbe, eine andere Bildungsidee, die der Menschheit auf ihrem mühsamen Weg durch die Geschichte vorangeleuchtet hätte und mit der man sich ein Leben lang vergnüglich und gewinnbringend beschäftigen könnte. Shakespeare&Co. sind in Wahrheit ohne ernstzunehmende Konkurrenz. Man sollte sich ungeniert zu ihnen bekennen, nicht mit frustriertem Kulturpessimismus (die Geistesheroen werden vergessen, die Welt verdummt), sondern mit fröhlicher Siegeszuversicht: Dies ist das Beste, und wer es einmal richtig damit probiert hat, wird gar nicht mehr genug davon bekommen können.
Im Übrigen stimmt es keineswegs, dass die Konzentration auf die großen Namen und Werke elitär und exklusiv wäre. Es ist im Gegenteil genau die ästhetische und intellektuelle Hochprominenz, die es bis in die Populärkultur und das Alltagsbewusstsein geschafft hat und für die sich die meisten Leute am stärksten interessieren. Wie der Sport und das Entertainment hat auch die Kunst- und Geistesgeschichte ihre Stars, die selbst den Nichtfans etwas sagen, und diese Stars sind die Klassiker. Sie in den Mittelpunkt zu stellen, ist gerade nicht snobistisch, sondern demokratisch. Jeder hat vom Ödipuskomplex oder von der «unsichtbaren Hand des Marktes» gehört, jeder weiß, dass ein Don Juan so etwas wie ein Playboy ist und ein Don Quichotte ein liebenswürdiger Narr. Jeder versteht es, wenn ein langwieriger Besuch auf dem Einwohnermeldeamt «kafkaesk» war oder ein zynischer Machtpolitiker «machiavellistisch» ist. Aber der Ruhm und die Popularität der Klassiker in der Alltagskultur sind vage und andeutungshaft, wie ein Gerücht, und es gibt ein legitimes Bedürfnis, mehr darüber zu erfahren. Das ist es, was Bildung tut: Sie verwandelt das Gerücht in Erkenntnis.
Mir selbst ist das Kennenlernen dieser Schätze leicht gemacht worden. Ich bin in einem Elternhaus mit Büchern, Opernbesuchen und Gesprächen über Literatur und Musik groß geworden. Meine Mutter und mein Vater stammen durchaus nicht aus dem alten Bildungsbürgertum; beide sind Akademiker der ersten Generation. Trotzdem war es eine privilegierte Herkunft, und ich habe von den Startbedingungen, die meine Familie mir bot, später im Leben sehr profitiert. Allerdings hatte der Geist, der bei uns zu Hause herrschte, nichts mit dem Anspruch auf irgendeinen Elitestatus zu tun. Sondern einfach damit, dass man klares Denken und gute Sprache, Wissen und Schönheit und Geschichte ernst und wichtig nahm.
Die nachfolgenden Kapitel sind teils sachlicher, teils persönlicher gehalten. Manche handeln recht seriös von «Bildungsinhalten» (kein schönes Wort): von der Antike, der Bibel und ihren bis heute reichenden Wirkungen etwa oder von Philosophien und Theorien, dank derer wir den Menschen anders sehen als vorher. Andere, wie die Abschnitte über Kunst und Musik, sind laienhafter und impressionistischer, denn diese herrlichen Dinge liebe ich zwar, bin aber alles andere als ein Experte. Es ist klar, dass kein Kompendium alles Wissenswerten geboten werden kann, nicht einmal in den allerspärlichsten Umrissen. Ich stelle Beispiele vor, und lieber diskutiere ich in einem Kapitel zwei oder drei Figuren oder Werke leidlich eingehend, als dass ich ein langes und trockenes Verzeichnis von Pflichtlektüren abarbeite.
Die Auswahl ist hoffentlich nicht willkürlich, aber unweigerlich subjektiv; sie spiegelt meine Kenntnisse und Vorlieben. Bei den Naturwissenschaften bin ich ein vollkommener Laie, und sie eignen sich kaum zur sprachlichen Darstellung. Ein paar Funde und Neuerungen, die unser Weltbild revolutioniert haben (und die ich halbwegs verstehe), werden dennoch geschildert. Insgesamt will das Buch nichts vorschreiben, sondern anbieten und anregen – zur Auffrischung oder Revision von eigenen früheren «Bildungserlebnissen», in der Schule oder außerhalb; zu neuen Entdeckungen; zum Widerspruch gegen den Autor. Trotz des Bekenntnisses zum kulturellen Establishment soll Bildung nicht staatstragend und sozialkonform verstanden werden, als geistiger Überbau der bestehenden Verhältnisse. So beschäftigt sich ein Kapitel gerade mit den Klassikern der Rebellion, mit künstlerischen und intellektuellen Kampfansagen an das Patriarchat, den Kapitalismus, die weiße Kolonial- und Rassenarroganz. Die 1919 im Berliner Tiergarten von rechten Milizionären totgeschlagene Revolutionärin Rosa Luxemburg gehört genauso in die Galerie der humanen Schutzpatrone wie der Weimarer Geheimrat und Minister Johann Wolfgang von Goethe.
Wieder andere Passagen handeln mehr vom «Wie» der Bildung, von Kulturtechniken oder Wesenszügen, die ein gebildeter Mensch braucht oder die zu ihm passen. Das Lesen natürlich: Wie kann man es üben und Freude daran gewinnen? Das Erinnern, ohne das es keine Geschichte gibt. Ich versuche auch, die sträflich unterschätzte und vernachlässigte Haltung des Bewunderns wieder zu Ehren zu bringen. Man denkt leicht, dass sich im Staunen vor dem Schönen, Guten und Wahren Naivität oder eine Art geistiger Obrigkeitsglaube ausdrücken, ein Mangel an kritischer Distanz. Wer bewundert, scheint ein bisschen schlicht oder sogar töricht zu sein. Doch in Wahrheit ist die Bewunderung die Mutter der Kultur. Sie schafft die Motivation, das Bewunderte kennenzulernen und sich anzueignen, es für die Zukunft zu bewahren – und dann sich daran zu messen und es in Frage zu stellen.
Es wird Leserinnen und Leser geben, denen bei diesem Lob der Bildung unwohl bleibt – und zwar nicht aus irgendeiner Zeitgeisthörigkeit heraus, sondern aus sehr achtbaren, letztlich moralischen Gründen. Wird hier nicht zu viel Wert auf etwas gelegt, das am Ende doch nur die Weltanschauung eines abgehobenen, saturierten Milieus ist, der Gruppen-Marker eines spezifischen Segments der oberen Mittelschicht? Was ist mit Leuten, die den Namen «Shakespeare» nicht einmal buchstabieren könnten und denen zugleich nichts, gar nichts an echter Humanität fehlt? Ist es nicht wichtiger, ein guter Mensch zu sein als ein gebildeter?
Selbstverständlich ist das so. Bildung ist nicht das Wichtigste und Höchste, sondern etwas Vorletztes – und ein gebildeter Mensch, wenn er wirklich einer ist und kein aufgeblasener Kulturprotz, weiß das auch. Beim Jüngsten Gericht wird uns keiner nach unserer Kant-Lektüre fragen (übrigens auch nicht nach unserer Bibelkenntnis). Und wenn wir im Leben auf unsere Kant-Lektüre ein bisschen zu stolz waren, wird uns das bei dieser Gelegenheit nicht zum Vorteil gereichen. Doch heißt das nicht, dass Bildung moralisch und menschlich ohne Wert wäre. Es gibt so etwas wie eine Ethik der Bildung, eine Haltung und Denkweise, die mit ihr vielleicht nicht notwendig, aber doch natürlich verbunden ist. Bildung bedeutet Horizonterweiterung, sie bricht den Seelenkäfig der Phantasielosigkeit auf, die sich keine andere Welt und keine andere Weltsicht als die eigene vorstellen kann. Sie dehnt die Grenzen unserer Vorstellungskraft aus, sie lehrt Einfühlung und Toleranz, sie macht offen für die Überraschungen der Zukunft. Zugleich hat Bildung mit Bewahren und Wiederfinden und Heimkehr zu tun, mit der Suche nach Ursprüngen und Quellen – danach, woher wir kommen. Sie lässt Tradition nicht verkommen und wirft das Vergangene nicht weg, sondern rettet es und hebt es auf. Bildung ist jenseits von «rechts» und «links». Sie ist Neugier, also Fortschritt. Aber auch Treue, also konservativ.
Für Basharat Peer, den Hamlet-Nachdichter aus Kaschmir, mit dem ich an jenem Frühlingsnachmittag in Delhi auf der Dachterrasse saß, war Shakespeare nicht nur ein Schutzpatron. Er war auch eine Kontrollinstanz. In jedem schweren politischen Konflikt, in jedem Krieg oder Bürgerkrieg, ist die Versuchung groß, die eigenen Leute nur als Opfer zu sehen und die Widersacher nur als Täter. In einer großen Dichtung jedoch gehen die Rechnungen mit Gut und Böse so glatt nicht auf. Hamlet, der feinsinnige Gewissensmensch, dem zweifellos Unrecht geschieht, tötet ohne Bedenken Menschen oder schickt sie in den Tod, wenn er sie verachtet oder sie ihm gleichgültig sind. Die komplizierten Psychospiele, mit denen er im Intrigendickicht des dänischen Königshofs manövriert, treiben seine Verlobte Ophelia in den Wahnsinn und in den Selbstmord. Der Held der Tragödie ist kein Held wie im Comic oder in der vaterländischen Geschichtslegende. Und seine Gegenspieler, selbst wenn sie Verbrechen begangen haben wie Hamlets brudermordender und thronräuberischer Onkel, sind nicht ohne Nachdenklichkeit und Verantwortungsgefühl.
Indem er sich auf den «Hamlet» einließ, entschied sich Basharat gegen Karikatur und Ideologie und für Wahrhaftigkeit, auch wenn sie weh tat. Die Militanten, die ein unabhängiges Kaschmir wollen, stellte er als wirkliche Menschen dar, nicht als fanatisch bombende Terroristen, wie der indische Staat sie gern sehen möchte. Aber umgekehrt musste er auch den Kollaborateuren und Polizeispitzeln plausible Motive geben, und er musste zeigen, dass an den Händen der vermeintlichen Freiheitskämpfer Blut klebt. Vielleicht ist ihm das nicht leichtgefallen; ich weiß es nicht, ich habe ihn nicht danach gefragt. Doch wenn ich es getan und davon gesprochen hätte, dass Shakespeare uns keine moralische Schummelei durchgehen lässt, dass er uns zwingt, auch zu unseren Freunden streng zu sein und zu unseren Feinden fair – ich bin mir sicher, Basharat hätte mich sofort verstanden.
Bildung macht uns nicht automatisch zu guten Menschen. Aber schlecht zu sein, nämlich engherzig und selbstgerecht, das macht sie ein ganzes Stück schwerer. Und das ist eine große Sache.
Ich muss dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal die Akropolis in Athen gesehen habe. Meine Eltern hatten mich auf eine Griechenlandreise mitgenommen, und als wir den Weg zum antiken Burgberg mit seinen Tempeln hinaufstiegen, passierte etwas Seltsames, das ich damals als Frühjugendlicher, mäßig sensibel für die Gefühlswelt der Erwachsenen, nicht recht verstanden habe. Mein Vater wurde plötzlich blass, ihm blieb die Sprache und beinahe der Atem weg, und er musste sich mit weichen Knien auf einen der mehrtausendjährigen Steine niedersetzen, die überall herumlagen.
Der Schwächeanfall hatte nichts mit Erschöpfung zu tun. Mein Vater war mattgesetzt von der Schönheit der Marmorruinen, die da vor ihm auftauchten. Aber es war noch etwas anderes im Spiel. In dem altsprachlichen Gymnasium, das meine Mutter und er dreißig Jahre vorher besucht hatten, war von der Kultur des Altertums stets in den höchsten Tönen die Rede gewesen: von den Staatsmännern, Dichtern, Künstlern und Denkern Athens und ihren unsterblichen Werken, die angeblich den Gipfel menschlicher Zivilisation darstellten und für alle Zeiten unerreichte Vorbilder sein sollten. Doch diese ganze Schulantike war irgendwie unwirklich gewesen, etwas, das bloß in Büchern stand, eine Legende, wie die Geschichten von König Artus und den Rittern der Tafelrunde oder die klassischen Götter- und Heldensagen von Gustav Schwab. Der Gymnasialhumanismus hatte keinen Bezug zur Realität; unvorstellbar, dass man eines Tages tatsächlich vor den Überresten dieser Kultur stehen, sie mit eigenen Augen anschauen und mit den Händen anfassen würde. Jetzt kam, mit der Wucht eines Schocks, das Bewusstsein: Das alles, wovon sie uns immer erzählt haben, gibt es also wirklich. Als hätte der Zollbeamte des Feenlandes einem gerade den Pass gestempelt und den Schlagbaum zur Weiterfahrt geöffnet – und würde ein bisschen ungeduldig darauf warten, dass man endlich den Zündschlüssel umdreht und den Motor anlässt.
Wir sind dann den Akropolisfelsen weiter hochgestiegen, zu den Tempeln, die im 5. Jahrhundert vor Christus gebaut wurden: das spirituelle Zentrum des antiken Athen, in dem damals auch die Staatskasse untergebracht war, ein Vatikan, der gleichzeitig als Fort Knox diente. Im Altertum sah diese Architektur nicht so edel weiß aus wie heute; der Marmor war bunt bemalt. Die Umrisse der Tempel aber waren klar und schlicht, von fast verächtlicher Schnörkellosigkeit, verglichen mit den Wülsten, Bögen, Vorsprüngen, Kuppeln, Schnecken und Nischen, mit denen der Mensch seine Bauten sonst gern verziert. Wir schauten den Abhang des Burgbergs hinunter in das Dionysos-Theater, wo die griechischen Dramendichter ihre Stücke aufführten und ihre Heldinnen und Helden wie Antigone, Ödipus oder Medea in Extremsituationen verstrickten, die seitdem mit einem griechischen Wort «tragisch» heißen. Und wir sahen, in weniger als einem Kilometer Entfernung, die Pnyx, den Hügel, auf dem in der Antike die athenische Volksversammlung tagte, die Geburtsstätte der Demokratie.
Doch am stärksten im Gedächtnis geblieben sind mir von diesem Tag acht Worte, die wir nur zufällig mitbekamen. Im Museum auf dem Akropolisfelsen, in dem die wichtigsten Funde der Ausgrabungen ausgestellt sind, trafen wir eine englischsprachige Besuchergruppe mit einem griechischen Führer, der die Exponate ziemlich redselig erläuterte. Nach einem längeren Rundgang kamen die Leute zu einem Marmorrelief aus der Zeit um 460 vor Christus, das oft «die trauernde Athene» genannt wird. Es zeigt die Schutzpatronin Athens, die Göttin des Krieges und der Weisheit, stehend, im Profil, den Helm auf dem Kopf, leicht vorgeneigt, auf ihren Speer gestützt, den Blick gesenkt. Schwer zu sagen, ob sie wirklich trauert oder eher nachdenklich ist. Das Bild ist jedenfalls ein Musterbeispiel für das, was man «klassisch» nennt: weder karg noch üppig, weder kalt noch gefühlig, sondern in einer vollkommenen Balance – in einer Mitte nicht zwischen den Extremen, sondern über ihnen. Vor diesem Steinrelief nun hielt der wortreiche Führer an, stoppte seinen bisherigen Redefluss, startete keinerlei Erläuterungsversuche, wie ich sie eben gerade gemacht habe, sondern wandte sich an seine Gruppe mit einem einzigen Satz: «Look at it and keep it in mind.» Und dann kam nichts mehr. Die acht Worte sind in unserer Familie zu einem geflügelten Wort für den Respekt vor dem Schönen und Großen geworden. Und eine Gipskopie der «trauernden Athene» hängt bis heute in der Wohnung meiner Eltern an der Wand über dem Kachelofen.
Die Griechenverehrung, die meine Eltern in der Schule erlebt hatten, war keine spezielle Marotte ihrer Lehrer. Sie war das kulturelle Glaubensbekenntnis zweier Jahrhunderte, besonders in Deutschland. «Humanistische Bildung», die auf dem Studium der griechischen und lateinischen Literatur in den Originalsprachen beruhte, galt als höchste Form der Bildung überhaupt. Für geistig und künstlerisch angehauchte Kreise war Athen zeitweise eine heilige Stätte wie Jerusalem (oder noch ein bisschen heiliger), die Griechenvergötterung trug Züge einer Ersatzreligion. Gestiftet hatte diesen eigentümlichen Kult Mitte des 18. Jahrhunderts ein Schustersohn aus der preußischen Provinz: Johann Joachim Winckelmann. Winckelmann, der in Armut aufgewachsen war und nach einem ungeliebten Theologiestudium zunächst jahrelang in einem kümmerlichen Brotberuf als Schulmeister gelitten hatte, brachte es schließlich als Altertumsexperte in einem märchenhaften internationalen sozialen Aufstieg bis zum Vatikanbibliothekar und Kurator der Kunstschätze eines Kardinals in Rom. Er starb 1768 als europäische Berühmtheit.
Winckelmann war homosexuell, die unverklemmte Darstellung nackter männlicher Schönheit in der Antike bedeutete für ihn ein Ideal und ein Befreiungserlebnis, und etwas vom existenziellen Charakter der Griechenbegeisterung hat sich in der «humanistischen» Tradition trotz aller Biederkeit späterer Bildungsbürger erhalten. «Die reinsten Quellen der Kunst», erklärte Winckelmann 1755 voller Enthusiasmus, «sind geöffnet: glücklich ist, wer sie findet und schmecket. Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen.» Und er fuhr gebieterisch fort, eine unverrückbare Kulturnorm für seine Zeitgenossen und für die Nachwelt setzend: «Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.» Der Satz ist übrigens bloß das zweitberühmteste Winckelmann-Zitat. Noch weiter tiefer eingegraben hat er sich in die Herzen der Humanisten mit einer anderen Prägung, die nur aus vier Wörtern besteht: «Edle Einfalt, stille Größe». Das war Winckelmanns Formel für das Wesen antiker Kunstwerke, für das Geheimrezept ihrer Schönheit. Nicht Schmuck und Pracht, sondern ästhetisches Understatement.
Man kann sich heute fast nicht mehr vorstellen, in welchem Ausmaß diese Parolen Gehör fanden und befolgt wurden. Goethe feierte Winckelmann wie einen Heros oder Heiligen und verfasste mit seiner «Iphigenie auf Tauris» ein eigenes Griechendrama nach klassischen Vorbildern, in dem er ein Evangelium der Menschlichkeit in antikem Gewand predigte. Als sich der hohe preußische Beamte Wilhelm von Humboldt nach der Niederlage seines Staates gegen Napoleon 1806 daranmachte, das Schulwesen des Landes zu reformieren, konnte er sich für die richtige Erziehung der künftigen Elite kein besseres Rezept vorstellen als möglichst viel Griechisch und Latein. Das war die programmatische Grundsteinlegung des humanistischen Gymnasiums. Selbst die schärfsten ideologischen Antipoden teilten im 19. Jahrhundert immer noch die gemeinsame Basis der Antikenkenntnis und -bewunderung: Der Vordenker des revolutionären Proletariats Karl Marx hatte seine Doktorarbeit über frühgriechische Philosophie geschrieben, und Friedrich Nietzsche, der Prophet des herrenhaften Übermenschen, war Professor für Klassische Philologie in Basel gewesen. Worüber auch immer man sonst stritt und sich verfeindete, an der Vortrefflichkeit des Altertums wenigstens konnte für einen gebildeten Menschen kein Zweifel bestehen.
Das Interessante an dieser Antikenbegeisterung ist nicht, dass sie übertrieben war. Das Interessante ist, dass sie trotz aller Übertreibungen nicht völlig falsch war. Zwar stimmt es keineswegs, dass das alte Griechenland perfekt oder ein Paradies gewesen wäre. Athen hat die Demokratie erfunden, aber es war zugleich eine Sklavenhaltergesellschaft. Ihre ganze Kultiviertheit hat die Athener und ihre Nachbarn und Gegner nicht daran gehindert, sich untereinander mit barbarischer Grausamkeit zu bekriegen. Die griechische «Polis», der Stadtstaat, in dem sich in klassischer Zeit alles politische Leben abspielte, griff mit einer Rücksichtslosigkeit ins Eigentum und in die Freiheit ihrer Bürger ein, die kein Bewohner eines modernen liberalen Gemeinwesens akzeptieren würde. Menschenrechte waren unbekannt. Ein Philosoph wie Aristoteles argumentierte ohne Bedenken, dass kranke und schwächliche Kinder in der Wildnis ausgesetzt und dem Tod preisgegeben werden sollten.
Doch das alles ändert nichts daran, dass die Griechen wirklich etwas Besonderes waren. Nicht bloß wegen der Schönheit ihrer Kunst, in Werken wie der «trauernden Athene», die von keinem Michelangelo und keinem Picasso übertroffen wurden. Es ist, als habe das menschliche Bewusstsein hier einen neuen Grad von Klarheit und Schärfe erreicht, im Guten wie im Bösen. Die Griechen hatten einen spektakulären, manchmal geradezu unheimlichen Sinn für das Wesentliche, für den Kern der Sache, für das, was hinter den Erscheinungen liegt, für das Freilegen von Strukturen und Prinzipien. Sie waren Weltmeister darin, Schleier wegzuziehen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie haben, könnte man sagen, das Eigentliche entdeckt: die Tatsache, dass es etwas «Eigentliches» im Unterschied zum Peripheren oder Illusorischen überhaupt gibt. Es passt absolut, dass sich ihre Bildhauer so auf nackte Körper spezialisiert haben.
Daher ist die wichtigste Erfahrung bei der Beschäftigung mit der Antike nicht etwa, was für eine schwierige, entlegene Kultur das war und wie viel man wissen muss, um sie zu verstehen. Sondern im Gegenteil: Die Griechen konfrontieren uns mit einer fast brutalen Einfachheit, die wir aus unserer feinschattierten, hyperdifferenzierten Gegenwart überhaupt nicht mehr gewohnt sind. Eine Tragödie des Sophokles ist nicht etwa komplizierter als ein heutiges TV-Drama, sie ist tatsächlich viel simpler, fast schematisch: weniger Psychologie, weniger Ausstattung, Kontext und Hintergrund, weniger Tendenz, Moralisieren und Sentimentalität – nichts als ein präzise angeordneter Menschenversuch, in dem die Konsequenzen von Hochmut oder Verblendung demonstriert werden, wo ein überdimensionierter Held mit der unerbittlichen Ordnung der Dinge in Konflikt gerät und dabei zugrunde geht.
Ein Text eines griechischen Philosophen hat keine Fußnoten und am Ende kein Literaturverzeichnis, der Autor benutzt keine vorher schon feststehende Terminologie, die er mitbringt und die der Leser kennen muss; er erfindet seine eigenen Begriffe und baut seine Gedankenarchitektur vor unseren Augen. Der Philosoph ist nicht Professor für Philosophie, nicht Rezensent einer philosophischen Fachzeitschrift, nicht Gastgeber einer philosophierenden Fernsehshow, er ist einfach Philosoph. Im Unterschied zu unserer routinierten Kultur, wo immer alles schon da gewesen ist, eine lange Vorgeschichte hat, in einem unentrinnbaren Netz von Bedingungen und Konsequenzen festhängt, wo man nie wirklich etwas anfängt, sondern immer weitermacht, erleben wir im alten Griechenland, dass das Neue möglich ist. Es ist das Abenteuer einer historischen Jugendzeit. Bei den Griechen sehen wir die Welt, als sei sie gerade eben fertig geworden, und uns bleibt als den ersten Menschen in dieser Welt nur das Staunen.
Die griechische Klarheit kann bezaubernd sein, doch sie kann auch die Kälte unbarmherziger Erkenntnis haben. Der Historiker Thukydides schildert in seinem Geschichtswerk den Verlauf des «Peloponnesischen Krieges», den Athen und Sparta, die beiden wichtigsten griechischen Stadtstaaten, von 431 bis 404 vor Christus (also sehr bald nach dem Bau der Akropolistempel) gegeneinander führten. Es war ein zäher, bitterer Bruderkampf, in dem die klassische Epoche Griechenlands und die Blütezeit der athenischen Demokratie ein quälendes Ende fanden. Im fünften Buch seines Geschichtswerks berichtet Thukydides über einen Disput zwischen Athen und der kleinen Insel Melos. Die Athener haben eine Delegation zu den Meliern geschickt, um die bisher eher feindlich gesonnene Insel zum Kriegseintritt an ihrer Seite zu bewegen. Athen ist mächtig, Melos ist es nicht – es versteht sich von selbst, dass dieses Gefälle bei den diplomatischen Verhandlungen eine Rolle spielt. Aber die unverblümte Direktheit, mit der das geschieht, ist atemberaubend.
Gleich zu Beginn wischen die Athener alle moralischen Gesichtspunkte beiseite: Wir werden, sagen sie, uns nicht etwa auf historische Verdienste wie unseren Sieg über die Perser berufen (das war Athens vaterländische Großtat im Interesse aller Griechen, sein panhellenischer Ruhmestitel, ein halbes Jahrhundert vorher errungen). Gerechtigkeit, erklären sie, gibt es nur unter Gleichen; zwischen Starken und Schwachen herrscht ein ganz anderes, rein kräftemäßiges Verhältnis: Der Starke tut, was er kann, der Schwache erduldet, was er muss. Sie stellen Melos vor die krasse, nicht einmal mit rhetorischer Heuchelei verschleierte Alternative: Unterwerfung oder Untergang. Die Melier fragen, ob nicht eine freundschaftliche Neutralität akzeptabel wäre. Nein, antworten die Athener, wenn wir uns so billig zufriedenstellen ließen, würden unsere anderen Vasallenstädte den Respekt vor uns verlieren und womöglich rebellisch werden.
Die Melier versuchen, sich dem aufgezwungenen, gangsterhaft rohen Diskussionsklima anzupassen, und halten verzweifelt Ausschau nach Argumenten für ihre Sache: Ist es nicht auch für den Mächtigen vorteilhaft, sich an Spielregeln zu halten – falls er irgendwann seine Macht verliert und selbst auf Fairness angewiesen ist? Ist es wirklich klug, sich durch Grausamkeit verhasst zu machen und Widerstand oder Rachegelüste zu provozieren? Werden nicht die Spartaner, die andere, gegnerische Großmacht in diesem Krieg, einer von den Athenern angegriffenen Insel zu Hilfe kommen?
Doch die Athener erklären das alles für wirklichkeitsfremdes und verlogenes Gerede. Das Recht des Stärkeren ist in ihren Augen die einzige Realität: «Wir glauben, dass vermutlich auch die Götter, sicher aber die Menschen mit Naturnotwendigkeit immer, so weit ihre Gewalt reicht, Herrschaft ausüben. Wir haben dies Gesetz weder erlassen noch, da es nun einmal besteht, als Erste davon Gebrauch gemacht. Sondern wir haben es als gültig übernommen und werden es als ewig gültig der Nachwelt hinterlassen. Wir wenden es an in dem Wissen, dass auch ihr und andere, die in den Besitz derselben Macht wie wir kämen, genauso handeln würden.»
Die athenischen Gesandten fahren ab, kopfschüttelnd über den Unverstand der Melier. Bald erscheint das athenische Heer, schließt Melos mit einer Mauer ein und beginnt die Belagerung. Sie schleppt sich eine Weile hin, aber schließlich verstärken die Athener ihre Truppen und machen ernst mit dem Krieg. Als ihnen auch noch Verrat zu Hilfe kommt, «ergaben sich die Melier auf Gnade oder Ungnade. Die Athener töteten alle erwachsenen melischen Männer, soweit sie ihrer habhaft wurden, Frauen und Kinder verkauften sie in die Sklaverei. Den Ort gründeten sie selbst neu, indem sie später fünfhundert Siedler dorthin schickten.»
Die massenmörderische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns an Berichte von schlimmeren historischen Verbrechen gewöhnt, mit mehr Opfern und wilderer Schlächterei. Aber man wird kaum ein neueres Beispiel finden, das die Skrupellosigkeit einer amoralischen Politik mit solcher Radikalität, in so klinischer Reinheit zeigt wie hier bei Thukydides im «Melierdialog», wie die Passage von den Altertumsgelehrten genannt wird. Keine religiöse Verbrämung, keine Beschwörung irgendwelcher Werte, keine Ideologie. Es passiert alles in vollem Bewusstsein und auf offener Szene, gewissermaßen im gleißenden Sonnenlicht eines schattenlosen griechischen Mittags. Die Athener praktizieren nicht nur das Recht des Stärkeren, sie proklamieren es ausdrücklich und ohne Gewissensbisse, sie bekennen sich dazu als Maxime und formulieren es mit der Allgemeingültigkeit eines Weltgesetzes.
Der «Melierdialog» liest sich, als habe ein Naturforscher zum ersten Mal das chemische Element «Macht» isoliert, ohne jede Beimischung anderer Stoffe. Thukydides ist bis heute der ultimative Lehrer der Realpolitik; wer wissen will, wie Macht pur funktioniert, kann auf moderne Studien zu den internationalen Beziehungen verzichten und gleich den «Peloponnesischen Krieg» lesen. Dabei hat Thukydides aber kein Grinsen im Gesicht, er ist frei von der sadistischen Genugtuung, mit der so viele Verfechter der Realpolitik den Idealisten reinreiben, dass sie blauäugig seien und die Welt nicht verstünden. Thukydides trumpft nicht auf mit seiner Illusionslosigkeit, er ist einfach ernst, und vielleicht ist er in seinem Innern traurig. Der größte aller Geschichtsschreiber ist kein Zyniker, der sich über das Böse im Menschen freut, sondern ein Wahrheitssucher, der es aushalten muss.
Das typisch griechische Talent zur Konzentration, die Begabung zum Wesentlichen, zeigt sich schon in dem Werk, mit dem die griechische Literatur anfängt und das die Griechen selbst als eine Art Gründungsurkunde ihrer Zivilisation betrachtet haben: Homers «Ilias», sein Epos, seine Verserzählung, über den Trojanischen Krieg. Die Gelehrten können es nicht genau datieren, es stammt wahrscheinlich aus der Mitte des 8. Jahrhunderts vor Christus. Das war dreihundert Jahre vor den Akropolistempeln, dem Peloponnesischen Krieg und dem «Melierdialog», und die Welt, in der die «Ilias» spielt, ist noch älter, eine halb historische, halb mythische Heroenzeit. Es ist nicht klar, wer Homer war und ob es ihn wirklich gegeben hat. Hinter dem schriftlichen Text des Epos steht offenbar eine lange Tradition mündlicher, von Sängern memorierter und vorgetragener Poesie. Auf welchem Weg aus diesem Material schließlich das Buch wurde, das wir heute lesen, lässt sich nicht mehr exakt rekonstruieren. Doch die fertige «Ilias» ist ein genau durchdachtes Werk, und wer immer ihren Plan entworfen und durchgeführt hat, der ist für uns Homer, der erste griechische und europäische Dichter.
Aber worin besteht nun das «typisch Griechische», die Konzentration auf das Wesentliche, im Fall der «Ilias»? Sie schildert, sagten wir, den Trojanischen Krieg, den zehnjährigen Kampf zwischen Griechen und Trojanern, nachdem der Trojanerprinz Paris die Griechenkönigin Helena entführt hat und die Griechen mit einem Heer vor den Mauern Trojas erschienen sind, um die Stadt zu belagern und zu erobern. Nur dass diese Inhaltsangabe in Wahrheit komplett in die Irre führt. Homer berichtet nämlich gar nicht, was sich in zehn langen Jahren Krieg ereignet hat. Sondern er greift einen kurzen Zeitabschnitt heraus und traktiert in den fast sechzehntausend Versen der «Ilias» nicht mehr als ein paar Wochen im letzten Kriegsjahr. Gleichzeitig konstruiert er die Handlung um ein einziges Motiv herum, oder besser: von einem einzigen Motiv her, das das gesamte Geschehen antreibt und beherrscht. Statt einer episodenhaften Und-dann-und-dann-Geschichte entwirft er ein kompaktes Drama, das einer inneren Logik gehorcht. Er schafft etwas Ganzes, etwas Klares, etwas Zwingendes. Etwas Griechisches.