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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2020

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ISBN 978-3-644-10069-5

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Leo und Benedikt

Unsere unsichtbaren Helfer

In den vergangenen fünf Jahren habe ich in Indien gelebt, als Korrespondent der Wochenzeitung «Die Zeit». Bald nach meiner Ankunft im Land lernte ich einen jungen Autor aus Kaschmir kennen, der paradiesisch schönen und wie von der Geschichte verfluchten Region zu Füßen des Himalaya. Kaschmir ist die einzige mehrheitlich muslimische Provinz im mehrheitlich hinduistischen Indien, viele Kaschmiris wollen nicht zu Indien gehören und hassen den indischen Staat als Besatzungsmacht, gewaltsamer Widerstand trifft auf brutale Repression. Der Kaschmirkonflikt ist ein Desaster wie die Palästinafrage, genauso traumatisch und hoffnungslos und auf allen Seiten schmutzig – nur eines, über das man im Westen viel weniger weiß und für das man sich kaum interessiert. Basharat Peer, der Autor, war mit dem Bürgerkrieg aufgewachsen und hatte ein Buch darüber geschrieben: Demonstrationen, Kontrollposten und Razzien; Dorfjungen, die zu den antiindischen Milizen gingen und nie wiederkamen; das «Verhörzentrum» der Sicherheitskräfte, aus dem die Schreie der geprügelten Gefangenen in die Schlafsäle des benachbarten Schulgebäudes drangen.

Jetzt saßen wir an einem schönen Frühlingsnachmittag auf der Dachterrasse eines Cafés in Delhi, mit Blick in die Wipfel der Bäume, die zu den umliegenden Villen gehörten. Basharat war gerade mit einem neuen Projekt fertig geworden, der Arbeit an einem Drehbuch. Kino ist in Indien eine

Basharat Peer erzählte mir, er habe in Shakespeares Tragödie die Tragödie seiner eigenen Heimat wiedergefunden. Ein Regisseur, der schon zwei Filme nach Shakespeare-Dramen gedreht hatte, wollte noch einen dritten versuchen, am liebsten über Kaschmir, und hatte Basharat um Hilfe gebeten. Der Autor nahm sich den «Hamlet» vor und stolperte darüber, dass Dänemark, der Schauplatz der Handlung, im Stück ein «Gefängnis» genannt wird – für ihn klang das nach Kaschmir mit seinen allgegenwärtigen Kasernen, den dauernden Ausgangssperren und dem Hausarrest für Oppositionelle. An Kaschmir erinnerte ihn auch das politisch vergiftete Klima von Misstrauen und Verrat, das in «Hamlet» herrscht, bis in die Familie hinein: «dass der Bruder den Bruder tötet», wie er mir an diesem Nachmittag sagte, «dass deine eigenen Leute deine Feinde werden».

Bei Shakespeare hat Hamlets Onkel Hamlets Vater ermordet und Hamlets Mutter geheiratet – das ist der Hintergrund, das treibende Motiv, des ganzen Dramas. Hamlet muss das Verbrechen rächen und kann sich nicht dazu durchringen, das macht ihn zur tragischen Figur. In Basharats Peers Filmversion «Haider» ist der Vater ein Arzt, der verwundete Guerillakämpfer versorgt, und sein Onkel ein

Als wir uns damals in Delhi unterhielten, war ich noch nie in Kaschmir gewesen. Erst später in meiner Korrespondentenzeit bin ich hingereist, um darüber zu schreiben. Aber ich kannte den «Hamlet». Die klaustrophobische Atmosphäre von Staatskontrolle und Familienrücksichten, in der Shakespeares Held keine Luft zum Atmen bekommt und wo er zwischen Widerstand und Lähmung zerrieben wird, verriet mir mehr über Kaschmir als alle politischen Studien und Artikel, die ich darüber gelesen hatte. Ich konnte mich auf einmal in diese fremde Welt hineinversetzen, ich konnte mitfühlen und begreifen. Shakespeare und sein Werk stifteten etwas Gemeinsames, Verbindendes zwischen Basharat und mir. Sie hatten ihm eine Sprache gegeben, um eine sonst kaum vermittelbare Erfahrung auszudrücken, und mir die Fähigkeit, sie zu verstehen. Ein vier Jahrhunderte altes

 

Solche Erlebnisse sind gemeint, wenn in diesem Buch von Bildung die Rede ist. Bildung ist, was solche Erlebnisse möglich macht. Es sind Glückserlebnisse. Sie sind nichts Mühsames und Pflichtmäßiges, sie gehören in den Schubladen meines Bewusstseins nicht mit Anstrengungen wie Lernen und Arbeit zusammen, nicht mit kalten, technischen Begriffen wie Information oder Kompetenz, sondern mit dem, was das Leben lebenswert macht: Liebe und Freundschaft, Reisen und Natur. Bildung ist etwas Existenzielles und Menschliches, sie geht nicht bloß unseren Kopf an, sondern auch unser Herz und unsere Seele. Mein Buch soll die Leserinnen und Leser mit dieser Freude anstecken und ihnen dabei helfen, selbst ähnliche Erfahrungen zu machen. Es ist eine Einladung und Anleitung, das sogenannte kulturelle Erbe in Besitz zu nehmen und sich darin zu Hause zu fühlen, als wirkliche Erben: als Töchter und Söhne, denen dieser einschüchternde und etwas verödete Geistespalast und sein antikes Mobiliar tatsächlich gehören.

«Bildung» ist ein abschreckendes Wort. Es klingt streberhaft, nach ehrgeizigen Eltern, die angestrengt die perfekte Schule für ihre Kinder suchen. Oder bürokratisch, nach Kultusministerkonferenz. Oder altmodisch und elitär, als würde man einer Zeit nachtrauern, da der Weg in die

Denn jenseits von Karriere, Politik und Angeberei bedeutet Bildung etwas sehr Einfaches: dass wir nicht allein sind beim Versuch, das Leben zu meistern und die Welt zu verstehen. Wenn wir die Geschöpfe eines großen Dichters wie Shakespeare einmal kennengelernt haben, im Buch oder auf dem Theater, dann begleiten sie uns wie Freunde, ihre Reden sprechen zu uns, ihre Erfahrungen werden unsere, sie stehen uns kaum weniger lebendig vor Augen als wirkliche Menschen. In der Depression (oder in der politischen Vereinsamung) haben wir Hamlet an unserer Seite. In der unglücklichen, von gesellschaftlichen Vorurteilen und familiärer Engstirnigkeit kaputtgemachten Liebe: Romeo und Julia. In der Eifersucht: Othello. Die Welt bekommt durch das Paralleluniversum der Klassiker eine Dimension hinzu, sie wird größer und tiefer, aber auch vertrauter, voller Bezugs- und Anknüpfungspunkte, voller Chancen, sich zu vergleichen und wiederzuerkennen.

Während meines Studiums in Tübingen hat uns mein Lehrer, der Philologe und Rhetorikprofessor Walter Jens (damals für mich der Inbegriff eines gebildeten Menschen), einmal erklärt, warum in der Literatur der alten Griechen die

Doch was hat das alles in Sapphos Gedicht zu suchen, warum redet sie nicht einfach im eigenen Namen von ihrer Sehnsucht und ihrem Schmerz, warum hängt sie sich an ein sagenhaftes und literarisches Vorbild an? Die Antwort lautet: weil sie dann nicht mehr allein ist. Das mythische Modell hilft ihr, das eigene Schicksal, die Überwältigung durch die Übermacht der Liebe, zu verstehen und zu ertragen, es in einen größeren Rahmen zu stellen, die Sprachlosigkeit des Unglücks zu überwinden. Der Dichterin geht es elend, aber um ihre Schultern liegt ein sagenhafter Königinnenmantel und verleiht ihr Würde. Die Helena-Geschichte verbindet Sappho mit einer geistigen Heimat, einem Kosmos von Sinn und Bedeutung, einer inneren Welt, die ihr niemand zu nehmen und die niemand zu zerstören vermag. So wie das Hamlet-Drama es für Basharat Peer und seine

Mit dem Erbe von Dichtung und Kunst, aber auch von Geschichte, Wissenschaft und Philosophie sind wir wie mit einer Wolke von guten Geistern umgeben – und Bildung bedeutet, das magische Losungswort zu kennen, mit dem wir diese Geister zum Sprechen bringen und zu Hilfe rufen können. Lesern und Kinozuschauern von «Harry Potter» ist der «Patronuszauber» vertraut, mit dem man in der Not, als Beistand gegen die Mächte der Finsternis, die Erinnerung an das Liebste und Beste im Leben heraufzubeschwören vermag, wie einen Talisman. Bildung ist der Patronuszauber der Menschheit – und für jeden von uns.

Im Kampf um die Gerechtigkeit mobilisiert sie die Propheten des Alten Testaments, die im Namen Gottes gegen die Reichen und Mächtigen ihrer Zeit gewettert haben – aber ebenso die atheistischen Propheten des Sozialismus, Marx und Engels. Zum Dilemma, ob wir für eine gute Sache lügen oder Krieg führen dürfen, holt sie Rat bei einem wunderlichen preußischen Junggesellen, der seine Stadt nie verließ und die ganze Welt im Kopf hatte, namens Immanuel Kant. Zur Verantwortung des Wissenschaftlers hört sie als Zeugen Galileo Galilei, der wusste, dass sich die Erde um die Sonne dreht und diese Wahrheit öffentlich verleugnete, weil die Kirche ihn dazu zwang und er sich vor der Folter fürchtete. Das alles sind keine toten Autoritäten, es sind unsichtbare Zeitgenossen, die für uns mitdenken, mitentdecken, mitempfinden. Bildung heißt nicht, sich Kenntnisse und Fähigkeiten anzutrainieren, sondern sich einer Gemeinschaft anzuschließen, einer Schwestern- und Bruderschaft.

 

Sie verspricht Orientierung im Unterschied zur bloßen Information, die unter dem Eindruck der Online-Datenflut inzwischen eher als Bedrohung erscheint. Bildung steht für das, was wirklich zählt und Bestand hat, für «Werte». Das gibt ihr eine moralische Qualität, als Bastion gegen relativistische Beliebigkeit. Bildung soll auch zur Behauptung unserer kollektiven Identität dienen, als Antwort auf die zunehmend schwierige Frage, wer «wir» eigentlich sind, in einer pluralistischen, globalisierten, multikulturellen Welt. «Wir» sind dann angeblich die Eigentümer und Hüter der jüdisch-christlichen Zivilisation oder der Aufklärung. Siehe das erstaunliche Comeback, das die jahrzehntelang fast verschwundene, hoffnungslos veraltete Kategorie des «Abendlands» in unseren Tagen erlebt. Das Abendland ist wieder populär, seit man sich damit gegen den Islam abgrenzen kann.

Auch in diesem Buch geht es recht abendländisch zu, das dürften meine Leserinnen und Leser schnell merken. Sie werden immer wieder auf Gestalten und Werke aus der Antike stoßen, besonders aus dem alten Griechenland. Das

Meine Altertumsliebe ist also eine ziemlich individuelle Marotte. Ich glaube, dass sie trotzdem eine ganz gute Voraussetzung ist, wenn man unsere Kultur verstehen und verständlich machen will. Durch viele Jahrhunderte hindurch haben europäische Künstler und Denker kaum etwas so wichtig genommen und so gründlich studiert wie die Antike. Kein anderes Geisteserbe, von der Bibel abgesehen, hat unser gesamtes Weltbild ähnlich stark beeinflusst wie «die Alten», wie man sie in früheren Zeiten nannte. Der englische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead wollte durchaus keinen Witz machen, als er einmal erklärte, das ganze westliche Denken bestehe nur aus ein paar Fußnoten zu Platon, dem größten theoretischen Kopf des antiken Athen.

Das Abendland ist eine wunderbare Sache. Die Abendländerei dagegen, die uns Abendländer zu Kulturträgern

Die Welt der Bildung ist größer als Europa oder der Westen. Ich kann nach meinen fünf Jahren in Indien nicht behaupten, dass mir mehr gelungen ist, als nur an der Oberfläche der Zivilisation zu kratzen, die hier seit vier Jahrtausenden heimisch ist. Doch so viel habe ich immerhin mitbekommen, dass ich ein Stück «Stammeskunst» ästhetisch genauso ernst nehme wie ein italienisches Barockgemälde und Mahatma Gandhi in meinen Augen kein weniger hellsichtiger Kritiker der Moderne ist als die intellektuell von Marx und Hegel herkommenden Denker Max Horkheimer und Theodor W. Adorno mit ihrer «Dialektik der Aufklärung». Ein indisches Götter- und Heldengedicht wie das dschungelhaft poetische «Ramayana» gehört genauso zum Vorrat der ewigen Menschheitsgeschichten wie die Epen des griechischen Urpoeten Homer. Dasselbe gilt

Vor dem Abendlandsgetue muss man sich also in Acht nehmen. Dagegen gibt es nicht den mindesten Grund, sich für die zentrale Rolle der Hochkultur in einem Buch über Bildung zu schämen oder zu entschuldigen. Die Schöpfungen und Gedanken von Shakespeare und seinen Geniekollegen, vom Kampf um Troja bis zu Freuds Entdeckung des Unbewussten, sind wirklich die Bildungsschätze, die zu kennen sich mehr als alles andere lohnt. Für den Einwand, dass man heute nicht mehr so viel Gewicht auf die klassischen Meisterwerke und Meisterdenker legen könne, bin ich mit voller Überzeugung schwerhörig, um nicht zu sagen taub. Die Kritik wäre überzeugender, wenn es einen echten Gegenvorschlag gäbe, eine andere Bildungsidee, die der Menschheit auf ihrem mühsamen Weg durch die Geschichte vorangeleuchtet hätte und mit der man sich ein Leben lang vergnüglich und gewinnbringend beschäftigen könnte. Shakespeare&Co. sind in Wahrheit ohne ernstzunehmende Konkurrenz. Man sollte sich ungeniert zu ihnen bekennen, nicht mit frustriertem Kulturpessimismus (die Geistesheroen werden vergessen, die Welt verdummt), sondern mit fröhlicher Siegeszuversicht: Dies ist das Beste, und wer es einmal richtig damit probiert hat, wird gar nicht mehr genug davon bekommen können.

Im Übrigen stimmt es keineswegs, dass die Konzentration auf die großen Namen und Werke elitär und exklusiv

Mir selbst ist das Kennenlernen dieser Schätze leicht gemacht worden. Ich bin in einem Elternhaus mit Büchern, Opernbesuchen und Gesprächen über Literatur und Musik groß geworden. Meine Mutter und mein Vater stammen durchaus nicht aus dem alten Bildungsbürgertum; beide sind Akademiker der ersten Generation. Trotzdem war es eine privilegierte Herkunft, und ich habe von den Startbedingungen, die meine Familie mir bot, später im Leben sehr profitiert. Allerdings hatte der Geist, der bei uns zu Hause herrschte, nichts mit dem Anspruch auf irgendeinen Elitestatus zu tun. Sondern einfach damit, dass man klares

 

Die nachfolgenden Kapitel sind teils sachlicher, teils persönlicher gehalten. Manche handeln recht seriös von «Bildungsinhalten» (kein schönes Wort): von der Antike, der Bibel und ihren bis heute reichenden Wirkungen etwa oder von Philosophien und Theorien, dank derer wir den Menschen anders sehen als vorher. Andere, wie die Abschnitte über Kunst und Musik, sind laienhafter und impressionistischer, denn diese herrlichen Dinge liebe ich zwar, bin aber alles andere als ein Experte. Es ist klar, dass kein Kompendium alles Wissenswerten geboten werden kann, nicht einmal in den allerspärlichsten Umrissen. Ich stelle Beispiele vor, und lieber diskutiere ich in einem Kapitel zwei oder drei Figuren oder Werke leidlich eingehend, als dass ich ein langes und trockenes Verzeichnis von Pflichtlektüren abarbeite.

Die Auswahl ist hoffentlich nicht willkürlich, aber unweigerlich subjektiv; sie spiegelt meine Kenntnisse und Vorlieben. Bei den Naturwissenschaften bin ich ein vollkommener Laie, und sie eignen sich kaum zur sprachlichen Darstellung. Ein paar Funde und Neuerungen, die unser Weltbild revolutioniert haben (und die ich halbwegs verstehe), werden dennoch geschildert. Insgesamt will das Buch nichts vorschreiben, sondern anbieten und anregen – zur Auffrischung oder Revision von eigenen früheren «Bildungserlebnissen», in der Schule oder außerhalb; zu neuen Entdeckungen; zum Widerspruch gegen den Autor. Trotz des Bekenntnisses zum kulturellen Establishment soll Bildung nicht staatstragend und sozialkonform verstanden

Wieder andere Passagen handeln mehr vom «Wie» der Bildung, von Kulturtechniken oder Wesenszügen, die ein gebildeter Mensch braucht oder die zu ihm passen. Das Lesen natürlich: Wie kann man es üben und Freude daran gewinnen? Das Erinnern, ohne das es keine Geschichte gibt. Ich versuche auch, die sträflich unterschätzte und vernachlässigte Haltung des Bewunderns wieder zu Ehren zu bringen. Man denkt leicht, dass sich im Staunen vor dem Schönen, Guten und Wahren Naivität oder eine Art geistiger Obrigkeitsglaube ausdrücken, ein Mangel an kritischer Distanz. Wer bewundert, scheint ein bisschen schlicht oder sogar töricht zu sein. Doch in Wahrheit ist die Bewunderung die Mutter der Kultur. Sie schafft die Motivation, das Bewunderte kennenzulernen und sich anzueignen, es für die Zukunft zu bewahren – und dann sich daran zu messen und es in Frage zu stellen.

Es wird Leserinnen und Leser geben, denen bei diesem Lob der Bildung unwohl bleibt – und zwar nicht aus irgendeiner Zeitgeisthörigkeit heraus, sondern aus sehr achtbaren, letztlich moralischen Gründen. Wird hier nicht zu viel Wert auf etwas gelegt, das am Ende doch nur die

Selbstverständlich ist das so. Bildung ist nicht das Wichtigste und Höchste, sondern etwas Vorletztes – und ein gebildeter Mensch, wenn er wirklich einer ist und kein aufgeblasener Kulturprotz, weiß das auch. Beim Jüngsten Gericht wird uns keiner nach unserer Kant-Lektüre fragen (übrigens auch nicht nach unserer Bibelkenntnis). Und wenn wir im Leben auf unsere Kant-Lektüre ein bisschen zu stolz waren, wird uns das bei dieser Gelegenheit nicht zum Vorteil gereichen. Doch heißt das nicht, dass Bildung moralisch und menschlich ohne Wert wäre. Es gibt so etwas wie eine Ethik der Bildung, eine Haltung und Denkweise, die mit ihr vielleicht nicht notwendig, aber doch natürlich verbunden ist. Bildung bedeutet Horizonterweiterung, sie bricht den Seelenkäfig der Phantasielosigkeit auf, die sich keine andere Welt und keine andere Weltsicht als die eigene vorstellen kann. Sie dehnt die Grenzen unserer Vorstellungskraft aus, sie lehrt Einfühlung und Toleranz, sie macht offen für die Überraschungen der Zukunft. Zugleich hat Bildung mit Bewahren und Wiederfinden und Heimkehr zu tun, mit der Suche nach Ursprüngen und Quellen – danach, woher wir kommen. Sie lässt Tradition nicht verkommen und wirft das Vergangene nicht weg, sondern rettet es und hebt es auf. Bildung ist jenseits von «rechts» und «links». Sie ist Neugier, also Fortschritt. Aber auch Treue, also konservativ.

 

Indem er sich auf den «Hamlet» einließ, entschied sich Basharat gegen Karikatur und Ideologie und für Wahrhaftigkeit, auch wenn sie weh tat. Die Militanten, die ein unabhängiges Kaschmir wollen, stellte er als wirkliche Menschen dar, nicht als fanatisch bombende Terroristen, wie der indische Staat sie gern sehen möchte. Aber umgekehrt musste er auch den Kollaborateuren und Polizeispitzeln plausible Motive geben, und er musste zeigen, dass an den Händen der vermeintlichen Freiheitskämpfer Blut klebt. Vielleicht ist ihm das nicht leichtgefallen; ich weiß es nicht, ich habe

Bildung macht uns nicht automatisch zu guten Menschen. Aber schlecht zu sein, nämlich engherzig und selbstgerecht, das macht sie ein ganzes Stück schwerer. Und das ist eine große Sache.

Die Entdeckung des Eigentlichen

Ich muss dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal die Akropolis in Athen gesehen habe. Meine Eltern hatten mich auf eine Griechenlandreise mitgenommen, und als wir den Weg zum antiken Burgberg mit seinen Tempeln hinaufstiegen, passierte etwas Seltsames, das ich damals als Frühjugendlicher, mäßig sensibel für die Gefühlswelt der Erwachsenen, nicht recht verstanden habe. Mein Vater wurde plötzlich blass, ihm blieb die Sprache und beinahe der Atem weg, und er musste sich mit weichen Knien auf einen der mehrtausendjährigen Steine niedersetzen, die überall herumlagen.

Der Schwächeanfall hatte nichts mit Erschöpfung zu tun. Mein Vater war mattgesetzt von der Schönheit der Marmorruinen, die da vor ihm auftauchten. Aber es war noch etwas anderes im Spiel. In dem altsprachlichen Gymnasium, das meine Mutter und er dreißig Jahre vorher besucht hatten, war von der Kultur des Altertums stets in den höchsten Tönen die Rede gewesen: von den Staatsmännern, Dichtern, Künstlern und Denkern Athens und ihren unsterblichen Werken, die angeblich den Gipfel menschlicher Zivilisation darstellten und für alle Zeiten unerreichte Vorbilder sein sollten. Doch diese ganze Schulantike war irgendwie unwirklich gewesen, etwas, das bloß in Büchern stand, eine Legende, wie die Geschichten von König Artus und den Rittern der Tafelrunde oder die klassischen Götter- und

Wir sind dann den Akropolisfelsen weiter hochgestiegen, zu den Tempeln, die im 5. Jahrhundert vor Christus gebaut wurden: das spirituelle Zentrum des antiken Athen, in dem damals auch die Staatskasse untergebracht war, ein Vatikan, der gleichzeitig als Fort Knox diente. Im Altertum sah diese Architektur nicht so edel weiß aus wie heute; der Marmor war bunt bemalt. Die Umrisse der Tempel aber waren klar und schlicht, von fast verächtlicher Schnörkellosigkeit, verglichen mit den Wülsten, Bögen, Vorsprüngen, Kuppeln, Schnecken und Nischen, mit denen der Mensch seine Bauten sonst gern verziert. Wir schauten den Abhang des Burgbergs hinunter in das Dionysos-Theater, wo die griechischen Dramendichter ihre Stücke aufführten und ihre Heldinnen und Helden wie Antigone, Ödipus oder Medea in Extremsituationen verstrickten, die seitdem mit einem griechischen Wort «tragisch» heißen. Und wir sahen, in weniger als einem Kilometer Entfernung, die Pnyx, den Hügel, auf dem in der Antike die athenische Volksversammlung tagte, die Geburtsstätte der Demokratie.

 

Die Griechenverehrung, die meine Eltern in der Schule erlebt hatten, war keine spezielle Marotte ihrer Lehrer. Sie war das kulturelle Glaubensbekenntnis zweier Jahrhunderte,

Winckelmann war homosexuell, die unverklemmte Darstellung nackter männlicher Schönheit in der Antike bedeutete für ihn ein Ideal und ein Befreiungserlebnis, und etwas vom existenziellen Charakter der Griechenbegeisterung hat sich in der «humanistischen» Tradition trotz aller Biederkeit späterer Bildungsbürger erhalten. «Die reinsten Quellen der Kunst», erklärte Winckelmann 1755 voller Enthusiasmus, «sind geöffnet: glücklich ist, wer sie findet und schmecket. Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen.» Und er fuhr gebieterisch fort, eine unverrückbare Kulturnorm für seine Zeitgenossen und für die Nachwelt setzend: «Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.» Der Satz ist

Man kann sich heute fast nicht mehr vorstellen, in welchem Ausmaß diese Parolen Gehör fanden und befolgt wurden. Goethe feierte Winckelmann wie einen Heros oder Heiligen und verfasste mit seiner «Iphigenie auf Tauris» ein eigenes Griechendrama nach klassischen Vorbildern, in dem er ein Evangelium der Menschlichkeit in antikem Gewand predigte. Als sich der hohe preußische Beamte Wilhelm von Humboldt nach der Niederlage seines Staates gegen Napoleon 1806 daranmachte, das Schulwesen des Landes zu reformieren, konnte er sich für die richtige Erziehung der künftigen Elite kein besseres Rezept vorstellen als möglichst viel Griechisch und Latein. Das war die programmatische Grundsteinlegung des humanistischen Gymnasiums. Selbst die schärfsten ideologischen Antipoden teilten im 19. Jahrhundert immer noch die gemeinsame Basis der Antikenkenntnis und -bewunderung: Der Vordenker des revolutionären Proletariats Karl Marx hatte seine Doktorarbeit über frühgriechische Philosophie geschrieben, und Friedrich Nietzsche, der Prophet des herrenhaften Übermenschen, war Professor für Klassische Philologie in Basel gewesen. Worüber auch immer man sonst stritt und sich verfeindete, an der Vortrefflichkeit des Altertums wenigstens konnte für einen gebildeten Menschen kein Zweifel bestehen.

Doch das alles ändert nichts daran, dass die Griechen wirklich etwas Besonderes waren. Nicht bloß wegen der Schönheit ihrer Kunst, in Werken wie der «trauernden Athene», die von keinem Michelangelo und keinem Picasso übertroffen wurden. Es ist, als habe das menschliche Bewusstsein hier einen neuen Grad von Klarheit und Schärfe erreicht, im Guten wie im Bösen. Die Griechen hatten einen spektakulären, manchmal geradezu unheimlichen Sinn für das Wesentliche, für den Kern der Sache, für das, was hinter den Erscheinungen liegt, für das Freilegen von Strukturen und Prinzipien. Sie waren Weltmeister darin, Schleier wegzuziehen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie haben, könnte man sagen, das Eigentliche entdeckt: die

Daher ist die wichtigste Erfahrung bei der Beschäftigung mit der Antike nicht etwa, was für eine schwierige, entlegene Kultur das war und wie viel man wissen muss, um sie zu verstehen. Sondern im Gegenteil: Die Griechen konfrontieren uns mit einer fast brutalen Einfachheit, die wir aus unserer feinschattierten, hyperdifferenzierten Gegenwart überhaupt nicht mehr gewohnt sind. Eine Tragödie des Sophokles ist nicht etwa komplizierter als ein heutiges TV-Drama, sie ist tatsächlich viel simpler, fast schematisch: weniger Psychologie, weniger Ausstattung, Kontext und Hintergrund, weniger Tendenz, Moralisieren und Sentimentalität – nichts als ein präzise angeordneter Menschenversuch, in dem die Konsequenzen von Hochmut oder Verblendung demonstriert werden, wo ein überdimensionierter Held mit der unerbittlichen Ordnung der Dinge in Konflikt gerät und dabei zugrunde geht.

Ein Text eines griechischen Philosophen hat keine Fußnoten und am Ende kein Literaturverzeichnis, der Autor benutzt keine vorher schon feststehende Terminologie, die er mitbringt und die der Leser kennen muss; er erfindet seine eigenen Begriffe und baut seine Gedankenarchitektur vor unseren Augen. Der Philosoph ist nicht Professor für Philosophie, nicht Rezensent einer philosophischen Fachzeitschrift, nicht Gastgeber einer philosophierenden Fernsehshow, er ist einfach Philosoph. Im Unterschied zu unserer routinierten Kultur, wo immer alles schon da gewesen ist,

 

Die griechische Klarheit kann bezaubernd sein, doch sie kann auch die Kälte unbarmherziger Erkenntnis haben. Der Historiker Thukydides schildert in seinem Geschichtswerk den Verlauf des «Peloponnesischen Krieges», den Athen und Sparta, die beiden wichtigsten griechischen Stadtstaaten, von 431 bis 404 vor Christus (also sehr bald nach dem Bau der Akropolistempel) gegeneinander führten. Es war ein zäher, bitterer Bruderkampf, in dem die klassische Epoche Griechenlands und die Blütezeit der athenischen Demokratie ein quälendes Ende fanden. Im fünften Buch seines Geschichtswerks berichtet Thukydides über einen Disput zwischen Athen und der kleinen Insel Melos. Die Athener haben eine Delegation zu den Meliern geschickt, um die bisher eher feindlich gesonnene Insel zum Kriegseintritt an ihrer Seite zu bewegen. Athen ist mächtig, Melos ist es nicht – es versteht sich von selbst, dass dieses Gefälle bei den diplomatischen Verhandlungen eine Rolle spielt. Aber die unverblümte Direktheit, mit der das geschieht, ist atemberaubend.

Gleich zu Beginn wischen die Athener alle moralischen Gesichtspunkte beiseite: Wir werden, sagen sie, uns nicht

Die Melier versuchen, sich dem aufgezwungenen, gangsterhaft rohen Diskussionsklima anzupassen, und halten verzweifelt Ausschau nach Argumenten für ihre Sache: Ist es nicht auch für den Mächtigen vorteilhaft, sich an Spielregeln zu halten – falls er irgendwann seine Macht verliert und selbst auf Fairness angewiesen ist? Ist es wirklich klug, sich durch Grausamkeit verhasst zu machen und Widerstand oder Rachegelüste zu provozieren? Werden nicht die Spartaner, die andere, gegnerische Großmacht in diesem Krieg, einer von den Athenern angegriffenen Insel zu Hilfe kommen?

Doch die Athener erklären das alles für wirklichkeitsfremdes und verlogenes Gerede. Das Recht des Stärkeren ist in ihren Augen die einzige Realität: «Wir glauben, dass vermutlich auch die Götter, sicher aber die Menschen mit Naturnotwendigkeit immer, so weit ihre Gewalt reicht,

Die athenischen Gesandten fahren ab, kopfschüttelnd über den Unverstand der Melier. Bald erscheint das athenische Heer, schließt Melos mit einer Mauer ein und beginnt die Belagerung. Sie schleppt sich eine Weile hin, aber schließlich verstärken die Athener ihre Truppen und machen ernst mit dem Krieg. Als ihnen auch noch Verrat zu Hilfe kommt, «ergaben sich die Melier auf Gnade oder Ungnade. Die Athener töteten alle erwachsenen melischen Männer, soweit sie ihrer habhaft wurden, Frauen und Kinder verkauften sie in die Sklaverei. Den Ort gründeten sie selbst neu, indem sie später fünfhundert Siedler dorthin schickten.»

Die massenmörderische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns an Berichte von schlimmeren historischen Verbrechen gewöhnt, mit mehr Opfern und wilderer Schlächterei. Aber man wird kaum ein neueres Beispiel finden, das die Skrupellosigkeit einer amoralischen Politik mit solcher Radikalität, in so klinischer Reinheit zeigt wie hier bei Thukydides im «Melierdialog», wie die Passage von den Altertumsgelehrten genannt wird. Keine religiöse Verbrämung, keine Beschwörung irgendwelcher Werte, keine Ideologie. Es passiert alles in vollem Bewusstsein und auf offener Szene, gewissermaßen im gleißenden Sonnenlicht eines schattenlosen griechischen Mittags. Die Athener

Der «Melierdialog» liest sich, als habe ein Naturforscher zum ersten Mal das chemische Element «Macht» isoliert, ohne jede Beimischung anderer Stoffe. Thukydides ist bis heute der ultimative Lehrer der Realpolitik; wer wissen will, wie Macht pur funktioniert, kann auf moderne Studien zu den internationalen Beziehungen verzichten und gleich den «Peloponnesischen Krieg» lesen. Dabei hat Thukydides aber kein Grinsen im Gesicht, er ist frei von der sadistischen Genugtuung, mit der so viele Verfechter der Realpolitik den Idealisten reinreiben, dass sie blauäugig seien und die Welt nicht verstünden. Thukydides trumpft nicht auf mit seiner Illusionslosigkeit, er ist einfach ernst, und vielleicht ist er in seinem Innern traurig. Der größte aller Geschichtsschreiber ist kein Zyniker, der sich über das Böse im Menschen freut, sondern ein Wahrheitssucher, der es aushalten muss.

 

Das typisch griechische Talent zur Konzentration, die Begabung zum Wesentlichen, zeigt sich schon in dem Werk, mit dem die griechische Literatur anfängt und das die Griechen selbst als eine Art Gründungsurkunde ihrer Zivilisation betrachtet haben: Homers «Ilias», sein Epos, seine Verserzählung, über den Trojanischen Krieg. Die Gelehrten können es nicht genau datieren, es stammt wahrscheinlich aus der Mitte des 8. Jahrhunderts vor Christus. Das war dreihundert Jahre vor den Akropolistempeln, dem Peloponnesischen Krieg und dem «Melierdialog», und die Welt, in der

Aber worin besteht nun das «typisch Griechische», die Konzentration auf das Wesentliche, im Fall der «Ilias»? Sie schildert, sagten wir, den Trojanischen Krieg, den zehnjährigen Kampf zwischen Griechen und Trojanern, nachdem der Trojanerprinz Paris die Griechenkönigin Helena entführt hat und die Griechen mit einem Heer vor den Mauern Trojas erschienen sind, um die Stadt zu belagern und zu erobern. Nur dass diese Inhaltsangabe in Wahrheit komplett in die Irre führt. Homer berichtet nämlich gar nicht, was sich in zehn langen Jahren Krieg ereignet hat. Sondern er greift einen kurzen Zeitabschnitt heraus und traktiert in den fast sechzehntausend Versen der «Ilias» nicht mehr als ein paar Wochen im letzten Kriegsjahr. Gleichzeitig konstruiert er die Handlung um ein einziges Motiv herum, oder besser: von einem einzigen Motiv her, das das gesamte Geschehen antreibt und beherrscht. Statt einer episodenhaften Und-dann-und-dann-Geschichte entwirft er ein kompaktes Drama, das einer inneren Logik gehorcht. Er schafft etwas Ganzes, etwas Klares, etwas Zwingendes. Etwas Griechisches.