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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2014

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Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Illustration: Rudi Hurzlmeier)

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ISBN Printausgabe 978-3-499-23690-7 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-51941-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51941-1

Figuren! Da geht mir der Hut hoch. Das sind meine Familie, meine Freunde und Bekannten! Aber die Gute hat ja recht, es ist wohl besser, wenn ich Ihnen kurz erzähle, mit wem Sie es hier zu tun kriegen. Wissense, nichts ist einem ja unangenehmer, als wenn man auf einer Feier oder einer Beerdigung Leute trifft und sie einem nicht vorgestellt werden. Da weiß man gar nicht, was man von den Menschen denken soll. So soll es Ihnen nicht gehen:

Gertrud Potter

Gertrud ist 82 und meine beste Freundin. Sie ist ein Pfundskerl, und ich kann immer auf sie zählen. Gertrud ist verwitwet, aber nur einmal. Wir sind wohl gut befreundet, jawoll, aber wenn es um Männer geht, waren wir immer Konkurrentinnen: Wenn Silvester 1962 nicht die Extraflasche Korn in der Bowle gewesen wäre, hätte sie sich Wilhelm von Morskötter geangelt. Gertrud hatte die Bluse schon zwei Knöpfe weit auf und knallroten Lippenstift dran. Aber nach ein paar Tassen Bowle lag sie in der Speisekammer unter den frisch geräucherten Leberwürsten, während Wilhelm und ich einen Spaziergang bei Mondschein machten.

Aber jetzt bin ich schon mitten im Erzählen, dabei wollte ich doch nur kurz ein paar Worte zu den wichtigsten Personen sagen. Entschuldigen Sie.

Ilse und Kurt Gläser

Meine Freundin Ilse ist eine Seele von Mensch. Eine ganz Liebe. Sie ist wie ich 82 und seit – ach du liebe Zeit, wenn ich nachrechne, bekomme ich einen Schreck –, seit weit über 60 Jahren mit ihrem Kurt verheiratet. Was Männer betrifft, sind wir uns also nie in die Quere gekommen. Sie hat bis zu ihrer Pensionierung Englisch und Deutsch am Gymnasium gegeben und auch Stefan unterrichtet. Aus dem Jungen ist was geworden.

Ihr Mann Kurt ist 87. Er ist ein wenig brummig, aber das meint er nicht so. Bei ihm gilt «Ein Mann, ein Wort» noch was. An manchen Tagen ist ein Wort aber auch alles, was er bis abends hin sagt.

Kirsten von Morskötter

Kirsten ist meine Tochter. Sie stammt aus meiner zweiten Ehe mit Wilhelm. Kirsten ist jetzt 50 und arbeitet … na, sagen wir, sie macht … ach, es fällt mir immer noch schwer. Sie … lassen Sie mich nachschauen … praktiziert als «esoterische Lebensberaterin und Heilpraktikerin für Kleintiere»,

Stefan Winkler

Der Stefan ist Verwandtschaft von meinem ersten Mann Otto. Ein angeheirateter Enkel … nee. Neffe. Oder? Wissense, ich muss Ilse fragen, die kennt sich mit so was besser aus und kann sogar ihre Kusscousinen bis zum dritten Grad aufsagen. Stefan sagt jedenfalls Tante Renate zu mir und hilft mir immer mit dem Händi und dem Fernseher und solcher Technik. Er arbeitet hier in Berlin, irgendwas mit Computer. Ein ganz lieber Junge, der sich reizend um seine alte Tante kümmert. Oder angeheiratete Oma? Ist ja auch nicht wichtig, wissense, was zählt, ist doch, dass er für mich da ist. Als Dank für seine Hilfe putze ich alle paar Wochen mal bei ihm durch, er hat nämlich keine Freundin, da könnense sich denken, wie es da bei ihm aussieht.

Manja Berber

Die Berber ist erst letztes Jahr bei mir im Haus eingezogen, mit der werde ich nicht warm. Sie hat ein polterndes Kind mit Bindestrichnamen aus Frankreich und keinen Mann dazu. Die Zeiten sind halt so, bitte. Wir leben friedlich nebeneinander und behandeln uns mit höflichem Respekt. Liederliches Ding!

Schwester Hillburg ist noch eine vom alten Schlag. Sie arbeitet bei Frau Doktor Bürgel, meiner Hausärztin. Eine ganz famose Person. Sie hat immer ein Ohr für meine Sorgen und den Laden im Griff. Sie kommt im Notfall auch ins Haus und guckt nach dem Rechten, wie damals, Pfingsten, als Ilses Buttercremetorte einen Stich hatte und wir alle Durchfall bekamen. Ein Anruf, und Schwester Hillburg war da. Kirsten hat ihr zum Dank die Karten ausgelegt und die Zukunft wohlwollend vorhergesagt.

Frau Doktor Bürgel

Meine Hausärztin heißt Frau Doktor. Frau Doktor Bürgel. Frau Doktor hat einen großen Computer, in den sie alles schreibt, was ich ihr erzähle. Meist ruft sie nach dem zweiten Satz: «Nicht so schnell, nicht so schnell, Frau Bergmann, ich muss das ja alles hier … ach … nee. Hier? Moment. So!» Dann drückt sie eine Taste, und es geht weiter. Ihr Mann ist Internist, deshalb kriegt jeder eine Überweisung zu ihm. Die Kasse muss ja stimmen, da hat man doch Verständnis, nicht? Man munkelt ja, sie hat was mit dem Orthopäden, der eine Straße weiter um die Ecke praktiziert, aber an so einem Tratsch beteilige ich mich nicht.

Ursula Specht

Keine hat einen so guten Griff für mein Haar wie Ursula. Sie ist meine Friseurin seit – ach, man darf gar nicht nachrechnen. Seit Jahrzehnten! Ich kannte sie schon als Lehrmädel vom alten Meister Breckler, mit dem mein erster Mann

Hermann Hagekorn

Wissense, in meinem Alter hat man mit dem Thema «Männer» ja abgeschlossen. Aber der Herr Hagekorn ist ein Galan, von dem man sich gern ausführen lässt. Er sieht stattlich aus, hat noch volles Haar, hört gut und fährt noch selbst Auto, und zwar ohne dass sie hinter ihm hupen wie bei Kurt. Herr Hagekorn guckt auch nicht schief, wenn ich nach der Torte im Café noch einen Korn bestelle. Nicht mal beim Doppelten. Er ist Apotheker im Ruhestand. Er hat seine Apotheke seinerzeit so gut verkaufen können, dass er eine Eigentumswohnung im Grunewald hat und ein Haus am Tegernsee. Da wohnt aber sein Sohn drin, und der hat auch die Hand drauf, da hätte ich als Frau gar keine Chance. Obwohl ich mich da wegen des Pflichtteils noch mal genau kundig machen muss, ganz so einfach geht das, glaube ich, nicht.

 

So, nun kennen Sie erst mal die wichtigsten Personen in meinem Leben, und wir können dann mal anfangen, nich?

WAS ISt jetzt … jetzt geht es wieder.

Entschuldigen Sie.

Ich kenne mich mit diesen Geräten nicht so aus. Wissense, mein Neffe hat mir vor ein paar Monaten … aber ich war ja noch gar nicht fertig. Ich heiße Renate Bergmann. Ich bin eine geborene Strelemann. Das wird Ihnen bestimmt nichts sagen. Ich war viermal verheiratet und bin genauso oft verwitwet, aber die Namen jetzt alle aufzuzählen bringt ja nichts. Ich bin 82 Jahre alt und habe meine kleine Wohnung in Berlin-Spandau. Früher Staaken. Jetzt Spandau. Dabei bin ich nach der Wende nur ein paar Straßen weiter gezogen. Ulkig, findense nich? Im Grunde bin ich eine normale Rentnerin, die ganz bescheiden lebt, ihren Haushalt macht und regelmäßig zum Friseur und zum Seniorenturnen geht. Die Leute wundern sich nur, dass ich mich ein bisschen mit Internet und Händitelefon auskenne.

Alles fing damit an, dass mir mein Neffe sein altes Telefon gegeben hat. Er sagte: «Tante Renate, du bist viel unterwegs, und wir machen uns oft Sorgen. Du bist jetzt in einem Alter …»

Frechheit!

«… bist jetzt in einem Alter, wo dir immer mal was passieren kann. Wir wissen nicht, wo du dich rumtreibst, und können dich nicht mal erreichen. Es muss ja nicht mal was

Stellt mich der Rotzbengel doch als senile, alte Tante dar. Das eine Mal. Und ich bin nicht falsch eingestiegen, der Fahrer hat unterwegs die Nummer gewechselt. Da wird dann ewig drauf rumgeritten, so was wird man nicht wieder los. Eine Renate Bergmann steigt nicht in den falschen Bus!

Trotzdem war ich neugierig geworden.

Stefan zeigte mir das Gerät: Vorn war eine Glasscheibe und hinten eine angebissene Tomate. Es hatte keine Wählscheibe und auch keine Tasten. «Und damit kann man telefonieren?», fragte ich. Man hat ja schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.

Die folgenden zwei Stunden vergingen wie im Flug. Stefan zeigte mir so viele verrückte Sachen! Sie glauben es nicht; man kann mit dem Apparat fotografieren, einkaufen, Nachrichten schreiben, Briefe schicken und lesen und sogar Vögel mit einer Steinschleuder abschießen. Es macht auch Musik und hilft einem, den Weg zu finden. Das brauche ich aber nicht, ich fahre ja kein Auto. Und Kurt, der Mann von meiner Freundin Ilse, lässt sich da nicht reinreden, den verwirrt das nur, wenn man ihm die Strecke ansagen will. Spätestens seit er damals auf den Deich gefahren ist, weil Ilse und ich gleichzeitig «Links!» und «Rechts!» gerufen haben, halte ich lieber den Mund. Wir standen dann vor der Wahl, ob Kurt drei Kilometer zurückstößt oder ob ich den ACDC anrufe. Ach, das war eine Aufregung, fragense nicht!

«Und hab nur keine Angst, Tante Renate, du kannst gar nichts verkehrt machen», beruhigte mich der Stefan, als er nach Hause ging. Der Gute! Nachdem er weg war, probierte ich in aller Ruhe die Bildchen auf dem Glasscheibchen

Hihi.

Ein Zeichen war ein blaues F. Man sah Fotos, und jemand schrieb, ob ich mit zum Grillen kommen will. In der Ecke stand: «Gefällt mir.» Als ich mit dem Finger drauffasste, wurde es weiß. Das war so lustig! Ein anderes Zeichen war genauso blau, aber es war ein kleines T. Dann stand da: «Text bitte eingeben.» Ich schrieb: «Hallo Stefan, hier ist Tante Renate. Das ist aber ein tolles Gerät!», und drückte «Senden». Danach summte der Apparat ein paar Mal wie ein Brummkreisel, und dann standen da Nachrichten wie «Identitätskrise?» oder «Jetzt hat deine Tante dein Handy geentert oder was?». Unverschämt. Eine Anrede gebraucht die Jugend von heute wohl gar nicht mehr!

Keine Stunde später summte das Gerät, hopste über den Tisch, und Musik fing an zu spielen. Stefan hatte mir genau gezeigt, dass ich nur über das Glas wischen muss, und schon konnte ich ihn hören. Ich freute mich sehr, dass das so prima funktioniert.

«Tante Renate, was hast du gemacht?», rief er ohne Gruß.

So was. Die jungen Leute! So viel Zeit muss doch sein. Er blaffte mich stattdessen an, dass ich auf Fäßbuck und Zwitter gewesen sei. Dabei hatte ich, seit er zur Tür raus war, das Haus nicht verlassen. Nee. Ich doch nicht. Ich hatte nur geschrieben, dass mir das Telefon gefällt. Stefan hatte selbst gesagt, dass dabei nichts kaputtgehen kann. Auf einmal belehrte der Bengel mich, dass wir mir eigene Konten einrichten müssten. Diese jungen Leute. Ich bin seit Jahrzehnten bei der Sparkasse und mache jetzt, mit 82, kein neues Konto mehr auf. Kommt gar nicht in Frage. Wozu auch?

Drei Tage später klingelte es, und Stefan stand in der Tür. So regelmäßig hatte ich ihn sonst nur gesehen, wenn früher ein Westpaket gekommen ist. Er drückte mich zur Seite wie ein Handtaschendieb, stürmte in die Wohnung und rief: «Sag mal, spinnst du jetzt völlig, Tante Renate?»

«Wie sprichst du denn mit deiner alten Tante?»

«Komm mir nicht mit der Unschuldsnummer», rief er

«Was genau hast du gedrückt, Tante Renate?»

«Dass es mir gefällt. Diesen Daumen, weißt du …»

«Das wäre bei Facebook. Du warst bei eBay! Du hast ‹sofort kaufen› gedrückt.»

Ich … also, das war so klein, und meine Brille … Ich habe bloß immer gedrückt, dass die Felder weggehen. Das schwöre ich Ihnen!

«DU HAST 3500 € FÜR EIN GETRAGENES ABENDKLEID AUSGEGEBEN. DREITAUSENDFÜNFHUNDERT EURO

Gottchen, was hat der Junge sich aufgeregt. Von Prinzessin Diana getragen, immerhin. Ich habe ihm Tee angeboten. Ich bin berühmt für meinen Tee. Kaffee darf ich ja nur morgens eine Tasse, wegen Blutdruck. Aber Tee mache ich Ihnen in allen Varianten, da bin ich gut ausgestattet. Kommen Sie gerne mal vorbei! Mein Besuch ist immer ganz begeistert. Stefan wollte keinen Tee. Stefan wollte Schnaps. Und das Telefon. Ich hab dann lieber nichts mehr gesagt. Es gibt Momente, da hält man besser den Mund. Glauben Sie das einer alten Frau. Stefan drückte an dem Telefon rum wie ein Wilder, steckte ein Kabel dran und tippte mit seinem Klappcomputer irgendwas. Ab und an fluchte er, aber im Großen und Ganzen hatte er sich wieder beruhigt. Ich schielte zum Paket mit dem Kleid. Neugierig war ich ja nun schon, wenn man ein Stück von Prinzessin Dia

Ich hatte mir überlegt, dass meine Enkelin Sarah das Kleid zur goldenen Hochzeit von Mechthild und Georg Dressel tragen könnte, wenn man es umarbeitet. Passt doch.

Das war also meine erste Begegnung mit dem Internet. Im Laufe der Zeit habe ich mich da belesen und mit Stefans Hilfe alles auf den Namen Bergmann eingerichtet. Twitter,

 Auch wenn Winter ist – ich muss heute mal auf die Friedhöfe und wenigstens harken. «Den Männern die Haare kämmen», wie Gertrud immer sagt.

Jetzt bin ich gleich mit der Tür ins Haus gefallen. Dabei wissen Sie noch nicht mal, mit wem Sie es eigentlich zu tun haben, nich? Das war unhöflich. Entschuldigen Sie.

Also: Renate Bergmann, geborene Strelemann, vierfach verwitwet. Sie werden bestimmt staunen, aber die angenehmste Jahreszeit für mich ist der Winter. Ja, ich finde den Frühling auch angenehm, auch den Herbst. Aber am liebsten habe ich den Winter. Da liegt nicht so viel Arbeit auf den Friedhöfen an, und ich habe mal ein bisschen Zeit für mich. Meine vier verstorbenen Ehemänner liegen über die ganze Stadt verteilt auf vier verschiedenen Friedhöfen.

Walter war mein bislang letzter Ehemann. Der liegt hier in Spandau ganz in der Nähe, nur ein paar Straßen weiter. Ihn habe ich vor 10 Jahren begraben. So, wie die Dinge jetzt stehen, sollen sie mich mal zu ihm legen, wenn es bei mir so weit ist. Wobei ich manchmal denke: Er hatte immer so eisige Füße, da bin ich immer so erschrocken, wenn er mir die im Bett auf meine Seite rübergeschoben hat. Vielleicht überlege ich mir das noch mal. Sein Grab liegt im Schatten alter Tannen; im Sommer hält sich die Feuchtigkeit, und im Herbst hat man kein Laub. Wirklich pflegeleicht. Die paar Kannen Wasser, die Walter braucht, machen mir nichts aus. Er war schon zu Lebzeiten sehr genügsam und macht auch jetzt nicht viel Arbeit.

Mein erster Mann, Otto, starb sehr früh, noch vor dem Mauerbau. Wir wohnten damals in Moabit, und da wurde er auch beerdigt – es wusste ja keiner, wie mal alles kommt. Otto war ja deutlich älter als ich. Als er aus dem Krieg zurück war, kamen auf einen halbwegs vorzeigbaren Herren an die zehn Backfische. Da war man froh, wenn man sich nicht allein durchschlagen musste. Er war schon 53, als wir 1950 geheiratet haben, und ich unschuldige 19. Vom Otto kann ich Ihnen Geschichten erzählen … also, später vielleicht. Er war wirklich kein Traummann, kaum Haare auf dem Kopf und nur einen Anzug im Schrank, aber, wissense, groß war die Auswahl nicht. Den hat er dann auch anbekommen, als er 10 Jahre später starb. Den Anzug meine ich. Bald nach seinem Tod kam die Mauer und ich nicht mehr rüber. Ich

Wilhelm, der Vater von Kirsten, von der ich Ihnen später noch erzähle, starb 1967. Er kam auf den Friedhof Karlshorst, gleich neben den Tierpark. Ich habe Kirsten dann immer ins Brehm-Haus geschickt, wenn ich auf dem Friedhof zu tun hatte. Vielleicht kommt daher ihr Hang zu Katzen.

Mitte der Siebziger habe ich dann Franz kennengelernt. Franz war aus Staaken. Liebe Zeit, es war ein ganzes Stück weg von Karlshort. Und gleich an der Mauer!

Wieder umziehen, wieder neue Nachbarn und der Friedhof Karlshorst weit weg. Wir konnten ja früher nicht durch Berlin durch, sondern mussten außen rum! Schon damals habe ich mit Frau Bewert die Gießgemeinschaft gegründet, die bis heute andauert. Ihr Herbert liegt gleich schräg gegenüber von meinem Wilhelm. Sie hat mitgegossen; ich bin dafür am Wochenende und im Urlaub hin und habe sie mit Spargel aus dem Brandenburgischen versorgt.

Bis Karlshorst war es eine Tour von fast zwei Stunden mit dem Trabi, den ich mir von Wilhelms Lebensversicherung gekauft hatte. Franz sah es nicht gern, wenn ich zu Wilhelms Grab fuhr. Eifersüchtig auf einen Verstorbenen. Können Sie sich so was vorstellen? Der Mann war ein Fehl

Als Franz dann starb, du liebe Zeit, das war eine Aufregung! Er war ja Reisekader und gerade in Westberlin. Sie wollten ihn mir nicht zurückbringen, sondern gleich im Westen begraben. Wegen des Zolls oder so ähnlich, ich weiß das gar nicht mehr so genau. Sie sagten, sie wüssten, wie Rindfleisch verzollt wird und auch Blumenzwiebeln, aber dass mein Franz außer Landes gebracht wird, das hätten die Alliierten nicht vorgesehen. Natürlich ist Franz schlussendlich doch in Staaken beerdigt. Eine Renate Bergmann weiß doch, was sich gehört!

Nach der Wende bin ich dann nach Spandau gezogen, wo ich noch immer bin; einen alten Baum entwurzelt man ja nicht mehr. Damals war ich schon in Rente und habe geschaut, dass ich was Passendes fürs Alter finde. Eine Wohnung, meine ich. Keinen Ehemann mehr. Wissense, drei waren mehr als genug, und ein Pflegefall kommt mir nicht ins Haus. Eine Renate Bergmann pflegt ihre eigenen Zipperlein und kostet ansonsten das Leben aus. Von hier ist es nicht weit zum Ärztehaus, und das Einkaufszänter ist gleich um die Ecke. Ilse und Kurt wohnen nicht mal fünf Minuten entfernt, und Gertrud ist mit der S-Bahn auch in einer viertel Stunde hier. Ich hatte seinerzeit wirklich nicht vor, noch mal zu heiraten, aber der Nachbar, Herr Bergmann, war ein so charmanter Herr … na, was soll ich Ihnen sagen. Ich bin eben auch nur eine Frau.

Der Walter war eine Seele von Mensch, ach, es ist so schade, dass ihm nicht noch ein paar Jahre mehr vergönnt waren. Ich hätte ihn in Staaken beerdigen lassen sollen. Renate, habe ich mir gesagt, Renate, das ist praktischer so. Zwei

Ja, zum Pflanzen fahren mich Kurt und Ilse immer. Ilse geht mir auch zur Hand, wissense, in unserem Alter düselt einem ja doch schnell mal der Kopf, wenn man sich bückt. Da bin ich froh über ihre Hilfe. Wir müssen nur Kurt beschäftigen, damit er nichts anstellt. Vor ein paar Jahren kam Ilse auf die Idee, ihn die Gräber von Prominenten suchen zu lassen. Da ist Kurt nicht zu bremsen. Seit nun bald zehn Jahren sucht er in Karlshorst das Grab von Günter Pfitzmann, jedes Frühjahr wieder. Da kann er nicht weit weg, wir haben ihn immer in Sichtweite, und trotzdem wuselt er uns nicht vor den Füßen rum. Wenn wir fertig sind, ruft Ilse kurz: «Kurt, guck mal, hier liegt die Knef!», und schon kommt Kurt an. Die liegt, wie Pfitzmann, in Zehlendorf, aber das weiß ja Kurt nicht.

Nun wissen Sie ungefähr Bescheid. Ich weiß, es ist ein bisschen kompliziert, aber wenn man 82 Jahre alt ist, geht nicht immer alles glatt. Wissen Sie, ich habe die Mauer, vier Ehemänner und 217 Folgen «Denver Clan» überlebt, und nun regiert eine FDJ-Sekretärin Deutschland – es kommt nicht immer alles, wie man es erwartet und sich vorstellt.

 Die Meiser hat der Berber eine Karte aus dem Urlaub geschickt. Wetter ist gut, Essen schmeckt. Habe die Karte in den Kasten zurückgelegt.

Ich bin jetzt 82 und dankbar, dass ich noch so gut beieinander bin und allein leben kann. Die Beine wollen nicht mehr so, und hin und wieder zwickt der Rücken. Das kommt von der Ossiporose, sagt Frau Doktor. Aber ich esse viel Käse und Brokkoli und meide Rhabarber. Ein bisschen merke ich auch die Arthrose in den Fingern, und, ja, die Zuckerwerte sind ein bisschen hoch. Aber im Großen und Ganzen bin ich noch recht rüstig, wie es in den Heiratsanzeigen immer heißt.

Nicht, dass Sie jetzt denken, ich lese so was! Jedenfalls nicht regelmäßig. Hihi.

Hier bei uns in Spandau ist es sehr ruhig. Eine gesittete Gegend und alles, was man braucht, «dichte bei», wie wir Berliner sagen: Kaufhalle, Post und Sparkasse; ein Schwimmbad und auch ein Seniorenzentrum. Letzen Monat wurde ich in den Vorstand gewählt, und zwar ohne Gegenstimme. Da war ich schon ein bisschen stolz. Schauen Sie, selbst die Frau Merkel hat immer Gegenstimmen, wenn sie wieder Vorsitzende wird.

Meine Wohnung liegt in einem Mehrfamilienhaus mit sechs Mietparteien. Im Grunde alles sehr angenehme und ruhige Zeitgenossen, mit denen man auskommen kann. Nur die Meiser im zweiten Stock hört ständig Bumsmusik bis in die Puppen. Einmal war es fast neun! Und laut, nee, Sie machen sich keinen Begriff. Im Krieg habense Bomben geschmissen, und die Flak hat geballert, aber so ein Krach war nicht mal da! Wir haben auch Musik gehört, ja, aber

Sehr unhöflich.

Aber man hat ja doch keine Ruhe. Man muss doch wissen, mit wem man unter einem Dach wohnt. Man hört und liest so viel über Schläfer und Terroristen und solche Dinge. Oder Prostatation oder wie das mit den Dirnen heißt. Ich musste doch einfach Bescheid wissen! Ich kann sie vom Balkon aus immer kommen und gehen sehen; sie macht meist ein Geschrei und telefoniert mit dem Händi, wenn sie das Haus betritt oder verlässt. Da kann man sie gar nicht verpassen.

Eine Renate Bergmann ist sich ihrer Verantwortung immer und überall bewusst. Als sich die neue Nachbarin nach drei Tagen noch immer nicht gemeldet hatte, wollte ich klingeln. Ich bin leise an die Tür ran, konnte aber nichts hören. Den Türspion hatte sie von innen abgehängt, ich konnte auch nichts sehen. Eine Frechheit. Als würde da jemand durchgucken von außen … also, ich glaube nicht, dass das überhaupt zulässig ist. Ich werde bei der nächsten Mietersprechstunde bei der Hausverwaltung nachfragen. Ich war jedenfalls so verärgert, dass an Klingeln gar nicht mehr zu denken war. Als ich dann in der Mülltonne, also, als da … nun ja. Ich habe daraus geschlossen, dass sie gern Fisch in Dosen isst und Manja Berber heißt.

Ein paar Tage drauf machte ich einen neuen Versuch. Es ließ mir einfach keine Ruhe! Ich klingelte – nichts.

Der Klingelknopf war auch nicht beschriftet, ich wusste nicht mal einen Namen. Also nicht offiziell.

Ich klopfte.

«Ja und?», bellte mir eine stark gebaute Person entgegen.

«Es ist doch wohl üblich, dass man sich bei den Nachbarn vorstellt, wenn man neu einzieht.»

«Wir werden uns schon noch kennenlernen, aber das reicht ja wohl auch noch morgen, oder?»

Sie donnerte die Tür zu. Wumms! Ich war außer mir.

So etwas war mir noch nie passiert. Eine Frechheit! Eine Unverschämtheit, eine Unverfrorenheit sondergleichen! Ich genehmigte mir einen Korn zur Beruhigung.

Am nächsten Morgen machte ich mich wie immer auf den Weg zum Bäcker, um mir frische Brötchen zum Frühstück zu holen. Wissense, Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag. Man muss dem Magen immer eine Kleinigkeit anbieten, auch wenn man keinen Hunger hat. Der Appetit kommt manchmal erst beim Essen. Frühstück ist auch deshalb die schönste Mahlzeit für mich, weil ich morgens eine Tasse Bohnenkaffee darf. Die eine Tasse genieße ich und trinke sie schwarz, man will ja auch was haben vom Aroma, nich? Wegen des Blutdrucks hat mir Frau Doktor Bürgel geraten, nachmittags Tee zu trinken. Das ist schon gemein: Im Krieg hatten wir keinen Kaffee, zu DDR-Zeiten hat er nicht geschmeckt, und heute darf ich keinen mehr. Als ich bei der Berber vorbeikam, dachte ich mir: «Komm, Renate, reichste ihr die Hand und fragst, ob sie was vom Bäcker haben will.» Keiner machte auf. Als ich vom Bäcker zurück war, kam sie mir schon entgegen und schrie mich an, ich solle nie wieder bei ihr schellen. Dabei wollte ich nur freundlich sein. Schließlich weiß eine Renate Bergmann, wann sie zu weit gegangen ist. Aber offenbar ist die Berber auch so eine, die

Hihi.

Außerdem gibt es wenigstens keine Schlieren, wenn man die Fenster vor Sonnenaufgang putzt. Die blitzen wie ein Spiegel bei mir! Auch die Rahmen. Die jungen Dinger sind ja meist sehr oberflächlich; wenn sie überhaupt Fenster putzen, dann nur die Scheiben. Ich sage immer: «Wer die Rahmen nicht mitputzt, wäscht sich auch nicht an Stellen, die man nicht sieht.»