Das vorliegende Buch ist eine emotionsgeladene Schilderung meines Lebens: von dem Zeitpunkt an, als ich von meiner Familie in Marial Bai getrennt wurde, über die dreizehn Jahre, die ich in äthiopischen und kenianischen Flüchtlingslagern verbrachte, bis zu meinen Begegnungen mit der pulsierenden westlichen Kultur, in Atlanta und anderswo.
Beim Lesen dieses Buches werden Sie von den zweieinhalb Millionen Menschen erfahren, die im sudanesischen Bürgerkrieg ums Leben kamen. Als der Krieg begann, war ich noch ein kleiner Junge, ein hilfloses Menschenkind, und ich überlebte nur, weil ich den Marsch durch viele unwegsame Gegenden auf mich nahm und den Bomben der sudanesischen Luftwaffe, Tretminen, Mördern und wilden Tieren entgehen konnte. Ich ernährte mich von unbekannten Früchten, Pflanzen, Blättern, Tierkadavern und bekam mitunter tagelang nichts in den Magen. Das eine oder andere Mal wurde die Situation für mich schier unerträglich. Ich hasste mich selbst und versuchte, mir das Leben zu nehmen. Viele meiner Freunde und Tausende meiner Landsleute haben diese Strapazen nicht überlebt.
Dieses Buch entstand, weil der Autor und ich anderen begreiflich machen wollten, welche Gräuel die jeweiligen Regime des Sudan vor und während des Bürgerkriegs begingen. Zu diesem Zweck habe ich dem Autor im Verlauf der letzten Jahre meine Geschichte erzählt. Er hat daraus einen Roman gemacht, wobei er meiner Stimme möglichst treu blieb und auf wichtigen Ereignissen meines Lebens aufbaute. Viele Passagen aber sind frei erfunden, und daher lässt sich das Ergebnis als Roman bezeichnen. Er sollte nicht als eine verbindliche Geschichte des Bürgerkriegs im Sudan oder des sudanesischen Volkes verstanden werden, nicht mal als die meiner Brüder, die man als die Lost Boys kennt. Er ist lediglich die subjektiv erzählte Geschichte eines Mannes. Doch obwohl sie fiktionalisiert wurde, möchte ich betonen, dass die Welt, wie ich sie erlebt habe, sich nicht allzu sehr von der Welt unterscheidet, die auf diesen Seiten dargestellt wird. Wir leben in einer Zeit, in der sogar die grässlichsten Passagen dieses Buches wahr werden könnten und in den meisten Fällen bereits wahr geworden sind.
Selbst in meinen dunkelsten Stunden habe ich daran geglaubt, dass ich meine Erfahrungen eines Tages einem größeren Publikum vermitteln könnte, um zu verhindern, dass sich die Schrecknisse der Geschichte wiederholen. Dieses Buch ist eine Art Kampf, und dieser Kampf gibt mir Mut. Kämpfen heißt, meinen Glauben zu bestärken, meine Hoffnung und mein Vertrauen in die Menschheit. Ich danke Ihnen, dass Sie dieses Buch lesen, und ich wünsche Ihnen alles Gute.
VALENTINO ACHAK DENG, ATLANTA, 2006
Ich habe keinen Grund, die Tür nicht aufzumachen, also mache ich die Tür auf. Ich habe nicht so ein winziges Guckloch, um zu sehen, wer da ist, daher öffne ich die Tür, und vor mir steht eine große, kräftig gebaute Afroamerikanerin, ein paar Jahre älter als ich, in einem roten Nylonjogginganzug. Sie fragt sehr laut: »Haben Sie ein Telefon, Sir?«
Sie kommt mir bekannt vor. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie vor einer Stunde auf dem Parkplatz gesehen habe, als ich von dem kleinen Laden an der Ecke zurückkam. Ich sah sie an der Treppe stehen und hab ihr zugelächelt. Ich antworte ihr, dass ich ein Telefon habe.
»Ich habe eine Autopanne«, sagt sie. Hinter ihr ist es schon fast dunkel. Ich habe beinahe den ganzen Nachmittag gelernt. »Kann ich von Ihrem Telefon aus die Polizei anrufen?«, fragt sie.
Ich weiß nicht, warum sie wegen eines liegen gebliebenen Autos die Polizei anrufen will, aber ich gestatte es ihr. Sie tritt ein. Ich mache Anstalten, die Tür zu schließen, doch sie hält sie auf. »Dauert nur eine Sekunde«, sagt sie. Es kommt mir merkwürdig vor, dass ich die Tür offen lassen soll, aber ich tue es, weil sie es wünscht. Wir sind schließlich in ihrem Land, nicht in meinem.
»Wo ist das Telefon?«, fragt sie.
Ich sage ihr, dass mein Handy im Schlafzimmer ist. Noch ehe ich den Satz ganz zu Ende gesprochen habe, ist sie schon an mir vorbei und den Flur hinunter, eine Riesin in raschelndem Nylon. Die Tür zu meinem Zimmer schließt sich, dann höre ich ein Klicken. Sie hat sich in meinem Schlafzimmer eingeschlossen. Ich will ihr nach, als ich hinter mir eine Stimme höre.
»Hiergeblieben, Afrika.«
Ich drehe mich um und sehe einen Mann, Afroamerikaner, der eine weite puderblaue Baseballjacke und Jeans trägt. Sein Gesicht unter einer Baseballkappe ist nicht zu erkennen, eine Hand hält er an der Hüfte, als müsse er seine Hose festhalten.
»Gehören Sie zu der Frau?«, frage ich ihn. Ich verstehe das alles noch nicht, und ich bin verärgert.
»Setz dich einfach hin, Afrika«, sagt er und deutet mit dem Kinn auf meine Couch.
Ich bleibe stehen. »Was macht sie da in meinem Schlafzimmer?«
»Beweg deinen Arsch zum Sofa«, sagt er diesmal drohend.
Ich setze mich, und jetzt zeigt er mir den Griff der Pistole. Er hatte sie die ganze Zeit in der Hand, und ich hätte das auch wissen sollen. Aber ich weiß nichts. Die Dinge, die ich eigentlich wissen sollte, weiß ich nie. Im Augenblick weiß ich nur, dass ich überfallen werde und dass ich woanders sein möchte.
Es ist seltsam, und das ist mir auch klar, aber in diesem Moment denke ich, dass ich wieder in Kakuma sein möchte. In Kakuma gab es keinen Regen, der Wind wehte neun Monate im Jahr, und achtzigtausend Flüchtlinge aus dem Sudan und anderen Ländern lebten von nur einer Mahlzeit am Tag. Doch in diesem Moment, während eine Frau in meinem Schlafzimmer ist und ein Mann mich mit seiner Pistole bedroht, möchte ich in Kakuma sein, wo ich in einer Hütte aus Plastik und Sandsäcken lebte und eine einzige Hose besaß. Ich glaube nicht, dass es im Flüchtlingslager Kakuma diese Art von Bösartigkeit gab, und ich wünschte, ich wäre wieder dort. Oder auch nur in Pinyudo, dem äthiopischen Lager, wo ich lebte, bevor ich nach Kakuma kam. Dort gab es nichts außer ein oder zwei Mahlzeiten am Tag, aber immerhin auch kleine Freuden. Damals war ich ein Junge und konnte leicht vergessen, dass ich ein unterernährter Flüchtling und tausend Meilen weit weg von Zuhause war. Wie auch immer, wenn das hier die Strafe dafür ist, dass ich so hochmütig war, Afrika verlassen zu wollen und von einem Studium und von Wohlstand in Amerika zu träumen, dann bin ich jetzt geläutert, und ich bitte um Verzeihung. Ich werde gesenkten Hauptes zurückkehren. Warum habe ich diese Frau angelächelt? Lächeln ist bei mir ein Reflex, und es ist eine Gewohnheit, die ich mir abgewöhnen sollte. Sie fordert Vergeltung heraus. So oft, wie ich schon gedemütigt worden bin, seit ich hierherkam, glaube ich allmählich, jemand versucht verzweifelt, mir eine Botschaft zu vermitteln, und diese Botschaft lautet: »Geh fort von hier.«
Kaum habe ich diesen Standpunkt des Bedauerns und des Rückzugs angenommen, wird er auch schon von dem des Widerspruchs verdrängt. Diese neue Haltung lässt mich aufstehen und den Mann im puderblauen Anzug ansprechen. »Ich möchte, dass Sie beide die Wohnung verlassen«, sage ich.
Der Pudermann wird zornig. Ich habe das Gleichgewicht gestört, habe ihrem Vorhaben ein Hindernis, meine Stimme, in den Weg gestellt.
»Willst du mir sagen, was ich zu tun habe, du Arschloch?«
Ich starre in seine kleinen Augen.
»Na los, Afrika, willst du Arschloch mir sagen, was ich zu tun habe?«
Die Frau hört uns und ruft aus dem Schlafzimmer: »Erledigst du ihn jetzt oder was?« Sie ist verärgert über ihren Partner, und er über mich.
Puder dreht den Kopf zu mir und zieht die Augenbrauen hoch. Er macht einen Schritt auf mich zu und deutet erneut auf die Pistole in seinem Gürtel. Er scheint bereit, sie zu benutzen, doch plötzlich sacken seine Schultern nach unten, und er lässt den Kopf hängen. Er starrt auf seine Schuhe und atmet langsam, sammelt sich. Als er den Blick wieder zu mir hebt, hat er die Beherrschung zurückgewonnen.
»Du bist aus Afrika, oder?«
Ich nicke.
»Na gut. Das heißt, wir sind Brüder.«
Ich bin nicht bereit, ihm zuzustimmen.
»Und weil wir Brüder sind und so, kriegst du jetzt von mir eine Lektion erteilt. Weißt du nicht, dass man Fremden nicht die Tür aufmachen soll?«
Bei der Frage verziehe ich das Gesicht. Der Überfall an sich wäre in gewisser Weise noch akzeptabel gewesen. Ich habe Überfälle gesehen, bin selbst beraubt worden, wenn auch in weit kleinerem Umfang als jetzt. Bis ich in die Vereinigten Staaten kam, war mein kostbarster Besitz die Matratze, auf der ich schlief, und daher fielen die Diebstähle wesentlich geringer aus: eine Wegwerfkamera, ein Paar Sandalen, ein Packen Schreibmaschinenpapier. Das alles war wertvoll, ja, aber jetzt besitze ich einen Fernseher, einen Videorecorder, eine Mikrowelle, einen Wecker und viele andere Luxusgüter, allesamt Spenden von der Peachtree United Methodist Church hier in Atlanta. Manche Geräte waren gebraucht, die meisten waren neu, und alle waren anonym gestiftet worden. Sie anzusehen, tagtäglich zu benutzen ließ mich erschauern – ein eigentümliches, aber echtes körperliches Gefühl der Dankbarkeit. Und jetzt vermute ich, dass mir all diese Geschenke in den kommenden Minuten genommen werden sollen. Ich stehe vor Puder, und mein Gedächtnis sucht nach dem letzten Mal, als ich mich so verraten fühlte, mich einem so gleichgültigen Bösen gegenübersah.
Während er mit einer Hand noch immer den Griff der Pistole umfasst hält, legt er mir die andere Hand auf die Brust. »Jetzt setz dich einfach auf deinen Arsch und schau zu.«
Ich mache zwei Schritte rückwärts und setze mich auf die Couch, ebenfalls ein Geschenk der Kirche. Eine pausbäckige Weiße in einem Batikhemd brachte sie an dem Tag, als Achor Achor und ich einzogen. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie nicht schon vor unserer Ankunft geliefert worden war. Die Leute von der Kirche neigten dazu, sich oft zu entschuldigen.
Ich starre zu Puder hoch, und ich weiß, an wen er mich erinnert. Die Soldatin, eine Äthiopierin, erschoss zwei meiner Gefährten und hätte auch mich beinahe getötet. Sie hatte das gleiche wilde Funkeln in den Augen und gab sich zunächst als unsere Retterin aus. Wir waren auf der Flucht aus Äthiopien, verfolgt von Hunderten äthiopischen Soldaten, die auf uns schossen, der Fluss Gilo war voll mit unserem Blut, da tauchte sie aus dem hohen Gras auf. Kommt her zu mir, Kinder! Ich bin eure Mutter! Kommt her. Sie war nur ein Gesicht im grauen Gras und hatte die Hände ausgestreckt, ich zögerte. Zwei der Jungen, die mit mir zusammen flohen, Jungs, auf die ich am Ufer des blutigen Flusses gestoßen war, gingen auf sie zu. Und als sie nah genug waren, hob sie ein Sturmgewehr und schoss den Jungen in Brust und Bauch. Sie fielen vor mir zu Boden, und ich drehte mich um und rannte. Komm zurück!, rief sie. Komm zu deiner Mutter!
Ich rannte an dem Tag weiter durch das Gras, bis ich Achor Achor fand, und zusammen mit Achor Achor fanden wir das Stille Baby, und wir retteten das Stille Baby, und eine Zeit lang hielten wir uns für Ärzte. Das ist so viele Jahre her. Ich war zehn oder elf. Das weiß niemand. Der Mann vor mir, Puder, wird so etwas nie erlebt haben. Es würde ihn auch nicht interessieren. Die Erinnerung an den Tag, als wir aus Äthiopien zurück in den Sudan getrieben wurden, Tausende Tote im Fluss, gibt mir Kraft gegen diesen Menschen in meiner Wohnung, und wieder stehe ich auf.
Der Mann sieht mich jetzt an, wie ein Vater, der gleich zu seinem eigenen Bedauern etwas tun muss, das sein Kind ihn zu tun zwingt. Er kommt mir so nahe, dass ich irgendetwas Chemisches an ihm riechen kann, wie Bleichmittel.
»Bist du … Bist du …?« Er presst die Lippen zusammen und verstummt. Er zieht die Pistole aus dem Gürtel und reißt sie mit einer Rückhandbewegung nach oben. Ich sehe etwas Schwarzes, und dann knirschen meine Zähne aufeinander, und die Decke kommt auf mich zu.
Ich bin in meinem Leben schon auf viele verschiedene Arten geschlagen worden, aber noch nie mit einem Pistolenlauf. Ich kann mich glücklich schätzen, mehr Leiden gesehen als am eigenen Leib erfahren zu haben, aber immerhin, man hat mich hungern lassen, mit Stöcken geschlagen, mit Ruten, mit Besen und Steinen und Speeren. Ich bin fünf Meilen auf einem Lkw voller Leichen mitgefahren. Ich habe zu viele kleine Jungen in der Wüste sterben sehen, manche, als legten sie sich hin, um ein wenig zu schlafen, manche nach tagelangem Wahnsinn. Ich habe gesehen, wie drei Jungen von Löwen angefallen und gefressen wurden. Ich war dabei, als das Tier sie riss, in den Fängen davonschleppte und im hohen Gras verschlang, ich war so nah dran, dass ich das nasse, klatschende Geräusch von reißendem Fleisch hören konnte. Ich habe gesehen, wie ein guter Freund neben mir in einem umgekippten Lastwagen starb, die Augen auf mich gerichtet, während sein Leben aus einem Loch entwich, das ich nicht sehen konnte. Und doch, in diesem Augenblick, während ich quer über die Couch kippe und meine Hand nass von Blut ist, merke ich, dass ich ganz Afrika vermisse. Ich vermisse den Sudan, vermisse die heulende graue Wüste im Nordwesten Kenias. Ich vermisse die gelbe Leere Äthiopiens.
Von meinem Angreifer sehe ich nur noch den Bereich um seine Taille, seine Hände. Er hat die Waffe weggesteckt, und jetzt sind seine Hände an meinem Hemd und meinem Hals, und er reißt mich von der Couch Richtung Teppich. Auf dem Weg nach unten schlägt mein Hinterkopf gegen den Beistelltisch, und zwei Gläser und ein Radiowecker gehen mit mir zu Boden. Auf dem Teppich angekommen, wo meine Wange in ihrer eigenen Blutlache liegt, erlebe ich einen Moment des Wohlgefühls und denke, dass er höchstwahrscheinlich fertig ist. Schon werde ich müde. Ich habe das Gefühl, als könnte ich die Augen schließen und das alles hinter mir lassen.
»Und jetzt halt die Schnauze«, sagt er.
Diese Worte klingen nicht überzeugend, und das tröstet mich. Er ist kein zorniger Mann, das wird mir klar. Er hat nicht vor, mich zu töten. Vielleicht ist er von dieser Frau manipuliert worden, die jetzt die Schubladen und Schranktüren in meinem Schlafzimmer öffnet. Sie scheint das Sagen zu haben. Sie kümmert sich um die Sachen in meinem Zimmer, und ihr Gefährte hat die Aufgabe, mich ruhig zu stellen. So einfach ist das, und er hat anscheinend kein Interesse daran, mir noch weiteren Schaden zuzufügen. Daher ruhe ich mich aus. Ich schließe die Augen und ruhe mich aus.
Ich bin dieses Land leid. Ich bin ihm dankbar, ja, in den drei Jahren, die ich nun hier bin, habe ich vieles daran schätzen gelernt, aber ich bin der Versprechen müde. Ich kam hierher, viertausend von uns kamen hierher, und wir erhofften und erwarteten Ruhe. Frieden, eine Ausbildung und Sicherheit. Wir erwarteten ein Land ohne Krieg und wohl auch ein Land ohne Elend. Wir waren aufgedreht und ungeduldig. Wir wollten alles sofort – ein Zuhause, Familie, Studium, die Möglichkeit, Geld in die Heimat zu schicken, einen Collegeabschluss und endlich etwas Einfluss. Doch für die meisten von uns hat die endlose Übergangszeit – nach fünf Jahren habe ich noch immer nicht die erforderlichen Punkte zusammen, um mich an einem regulären College zu bewerben – katastrophale Folgen gehabt. Wir hatten zehn Jahre in Kakuma gewartet, und ich vermute, wir wollten hier nicht wieder damit anfangen. Wir wollten den nächsten Schritt tun, und zwar schnell. Doch es kam anders, zumindest in den meisten Fällen, und wir haben Möglichkeiten gefunden, uns die Zeit zu vertreiben. Ich habe schon zu viele Aushilfsjobs gehabt, und zurzeit arbeite ich in der frühestmöglichen Schicht am Empfang eines Fitnessklubs, wo ich die Mitglieder begrüße und möglichen Neumitgliedern die Vorzüge des Klubs erkläre. Das ist nichts Aufregendes, aber es bringt eine gewisse Stabilität mit sich, wie sie manche gar nicht kennen. Zu viele sind abgestürzt, zu viele haben das Gefühl, gescheitert zu sein. Der Druck, der auf uns lastet, die Versprechen, die wir uns selbst gegenüber nicht halten können – diese Dinge machen aus zu vielen von uns Ungeheuer. Und der einzige Mensch, von dem ich überzeugt war, er könne mir helfen, die Enttäuschungen und die Banalität des Ganzen zu überwinden, eine mustergültige Sudanesin namens Tabitha Duany Aker, ist nicht mehr.
Jetzt sind sie in der Küche. Jetzt in Achor Achors Zimmer. Während ich hier liege, überlege ich, was sie mir wegnehmen können. Erleichtert fällt mir ein, dass mein Computer im Auto ist und verschont bleiben wird. Aber Achor Achors neuen Laptop werden sie mitnehmen. Und es wird meine Schuld sein. Achor Achor ist einer der führenden jungen Flüchtlinge hier in Atlanta, und ich fürchte, alles, was er braucht, wird mit seinem Computer verloren gehen. Die Protokolle der vielen Besprechungen, die Finanzen, Tausende E-Mails. Ich kann nicht zulassen, dass das alles gestohlen wird.Achor Achor ist seit Äthiopien an meiner Seite, und ich bringe ihm immer nur Unglück.
In Äthiopien blickte ich in die Augen eines Löwen. Ich war vielleicht zehn Jahre alt, und man hatte mich in den Wald geschickt, um Holz zu sammeln, und das Tier kam langsam hinter einem Baum hervor. Ich blieb einen Moment stehen, eine Ewigkeit, lange genug, um mir seine Fratze mit den toten Augen einzuprägen, ehe ich fortlief. Er brüllte hinter mir her, aber er verfolgte mich nicht. Ich würde gern glauben, dass er mich für einen zu gefährlichen Gegner hielt. Ich habe also diesem Löwen in die Augen geschaut, ich habe zahllose Male in die Gewehrläufe von bewaffneten arabischen Reitermilizen geschaut, deren weiße Gewänder in der Sonne leuchteten. Und deshalb werde ich es schaffen, ich werde diesen unbedeutenden Überfall aufhalten. Ich stemme mich noch einmal auf die Knie.
»Runter mit dir, du Arschloch!«
Und erneut schlägt mein Gesicht auf den Boden. Jetzt kommen die ersten Tritte. Er tritt mich in den Bauch und jetzt gegen die Schulter. Am schmerzhaftesten ist es, wenn Knochen auf Knochen trifft.
»Du scheißnigerianisches Arschloch!«
Jetzt scheint er sich zu amüsieren, und das gibt mir Anlass zur Sorge. Wo Vergnügen ist, ist oft auch Haltlosigkeit, und dann passieren Fehler. Sieben Tritte in die Rippen, einen gegen die Hüfte, dann ruht er sich aus. Ich hole tief Luft und überschlage den mir zugefügten Schaden. Er ist nicht groß. Ich umklammere eine Ecke der Couch und bin jetzt entschlossen, ruhig liegen zu bleiben. Ich war nie ein Kämpfer, gestehe ich mir endlich selbst ein. Ich habe viele Grausamkeiten überlebt, aber ich habe nie Mann gegen Mann gekämpft.
»Scheißnigerianer! Völlig bescheuert!«
Er ringt nach Atem, die Hände auf die gebeugten Knie gestützt.
»Kein Wunder, dass ihr Wichser noch in der Steinzeit lebt.«
Er versetzt mir noch einen Tritt, schwächer als die anderen, aber er trifft mich genau an der Schläfe, und ein weißer Lichtblitz füllt mein linkes Auge.
In Amerika bin ich schon häufig als Nigerianer bezeichnet worden – wahrscheinlich ist es das bekannteste afrikanische Land –, aber ich bin nie getreten worden. Wenn ich auch das zur Genüge mit angesehen habe. Ich glaube, was Gewalt angeht, gibt es nur weniges, was ich im Sudan oder in Kenia nicht gesehen habe. Ich habe Jahre in einem äthiopischen Flüchtlingslager verbracht, und dort habe ich gesehen, wie zwei Jungen, etwa zwölf Jahre alt, so heftig um ihre Essensrationen kämpften, dass der eine den anderen tottrat. Natürlich hatte er nicht die Absicht gehabt, seinen Gegner zu töten, aber wir waren jung und sehr geschwächt. Du kannst nicht kämpfen, wenn du seit Wochen nicht mehr ordentlich gegessen hast. Der Körper des toten Jungen war nicht für brutale Schläge gewappnet, die Haut straff über spröde Rippen gespannt, die sein Herz nicht mehr richtig schützen konnten. Er war tot, ehe er den Boden berührte. Es war kurz vor Mittag, und nachdem der Junge weggetragen worden war, um in der steinigen Erde begraben zu werden, bekamen wir gedünstete Bohnen und Mais zu essen.
Ich nehme mir vor, nichts mehr zu sagen und einfach abzuwarten, bis Puder und seine Freundin gehen. Lange werden sie nicht bleiben; bestimmt werden sie schon bald alles mitgenommen haben, was sie wollen. Ich sehe die Sachen, die sie auf unserem Küchentisch stapeln und mit denen sie die Wohnung verlassen werden – der Fernseher, Achor Achors Laptop, der Videorecorder, die schnurlosen Telefone, mein Handy, die Mikrowelle.
Der Himmel wird dunkler, meine Gäste sind seit rund zwanzig Minuten in unserer Wohnung, und Achor Achor wird erst in einigen Stunden kommen, wenn überhaupt. Er hat einen Job, wie ich ihn früher hatte – im Lager eines eleganten Möbelgeschäfts, wo er Musterproben zusammenstellt und an Innenarchitekten verschickt. Und auch wenn er nicht arbeitet, ist er selten zu Hause. Nach vielen Jahren ohne weibliche Gesellschaft hat Achor Achor nun eine Freundin gefunden, eine Afroamerikanerin namens Michelle. Sie ist hübsch. Sie haben sich am Community College kennengelernt, in einem Quiltkurs, für den Achor Achor sich versehentlich angemeldet hatte. Er ging hinein, bekam einen Platz neben Michelle und blieb. Sie riecht nach Zitrusparfüm, einem blumigen Zitrusduft, und ich sehe Achor Achor immer seltener. Es gab mal eine Zeit, als ich mir so etwas auch für mich und Tabitha vorstellen konnte. Ich stellte mir vor, wie wir unsere Hochzeit planten und eine Schar Kinder hervorbrachten, die Englisch sprachen wie die Amerikaner, doch Tabitha lebte in Seattle, und derlei Pläne lagen noch in weiter Zukunft. Vielleicht idealisiere ich das jetzt. Das ist mir in Kakuma auch einmal passiert. Ich verlor jemanden, der mir sehr nahe stand, und glaubte hinterher, ich hätte ihn retten können, wenn ich ihm ein besserer Freund gewesen wäre. Aber jeder muss gehen, ganz gleich, von wem er geliebt wird.
Jetzt beginnen sie damit, unser Eigentum hinauszuschaffen. Puder streckt die Arme aus, und seine Komplizin stapelt unsere Sachen darauf – zuerst die Mikrowelle, dann den Laptop, jetzt die Stereoanlage. Als der Berg Puder bis ans Kinn reicht, geht die Frau zur Wohnungstür und öffnet sie.
»Scheiße!«, sagt sie und schließt die Tür rasch wieder.
Sie sagt Puder, dass draußen, auf unserem Parkplatz, ein Polizeiauto steht und ihrem eigenen Wagen den Weg versperrt.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, tobt sie.
Die Panik hält eine Weile an, und kurz darauf beziehen sie Posten, rechts und links des Fensters, das zum Hof hinausgeht. Ich entnehme ihrer Unterhaltung, dass der Cop mit einem Latino spricht, die Körpersprache des Officer aber vermuten lässt, dass es um keine dringliche Angelegenheit geht. Die Frau und Puder äußern wachsende Zuversicht und Erleichterung, weil der Officer offensichtlich nicht ihretwegen da ist. Aber warum verschwindet er dann nicht, wollen sie wissen. »Wieso geht der Wichser nicht endlich wieder an die Arbeit?«, fragt sie.
Sie warten. Die Blutung an meiner Stirn hat anscheinend nachgelassen. Mit der Zunge erkunde ich den Schaden in meinem Mund. Von einem meiner unteren Schneidezähne ist ein Stück abgebrochen, und ein Backenzahn ist gesplittert. Er fühlt sich scharf an, ein gezackter Bergkamm. Aber ich kann nicht über Zahnprobleme nachdenken. Wir Sudanesen sind nicht gerade bekannt für unser vollkommenes Gebiss.
Als ich aufblicke, sehe ich, dass die Frau und Puder meinen Rucksack haben, in dem sich doch lediglich meine Hausaufgaben für das Georgia Perimeter College befinden. Die Vorstellung, wie viel Zeit es kosten wird, diesen Verlust wieder gutzumachen, noch dazu so kurz vor den Halbjahresklausuren, bringt mich fast wieder auf die Beine. Ich starre meine Besucher mit so viel Hass an, wie ich aufbringen kann, wie mein Gott es mir erlaubt.
Ich bin ein Idiot. Warum habe ich die Tür geöffnet? Ich habe eine afroamerikanische Freundin hier in Atlanta, Mary, eine gute Freundin, die über all das lachen wird. Es ist keine Woche her, da saß sie in diesem Zimmer hier auf der Couch, und wir sahen uns zusammen mit Achor Achor Der Exorzist an. Achor Achor und ich hatten den Film schon immer mal sehen wollen. Wir interessieren uns für die Idee des Teufels, zugegeben, und die Vorstellung eines Exorzismus hatte uns fasziniert. Obwohl wir uns in unserem Glauben stark fühlten und eine gründliche katholische Erziehung erhalten hatten, war uns noch nie zu Ohren gekommen, dass ein katholischer Priester eine Teufelaustreibung vorgenommen hatte. Also schauten wir uns den Film an, und er machte uns beiden Angst. Achor Achor hielt nur die ersten zwanzig Minuten aus. Dann ging er in sein Zimmer, schloss die Tür, schaltete die Stereoanlage an und machte Mathematik-Hausaufgaben. In einer Szene des Films klopft es unheilschwanger an der Tür, und da kam mir eine Frage. Ich hielt den Film an, und Mary seufzte resigniert. Sie ist daran gewöhnt, dass ich im Gehen oder beim Autofahren unvermittelt stehen bleibe, um etwas zu fragen – Warum betteln die Leute auf dem Mittelstreifen des Highway? Sind die Büroräume in den Gebäuden da wirklich alle belegt? – und in dem Moment fragte ich Mary, wer in Amerika an die Tür geht, wenn es klopft.
»Wie meinst du das?«, fragte sie.
»Ich meine, geht der Mann oder die Frau?«, fragte ich.
Sie lachte spöttisch. »Der Mann«, sagte sie. »Der Mann. Der Mann ist ja schließlich der Beschützer, oder?«, sagte sie. »Natürlich geht der Mann an die Tür. Wieso?«
»Im Sudan«, sagte ich, »kann der Mann das nicht machen. Es geht immer die Frau an die Tür, wenn es nämlich an der Tür klopft, will jemand den Mann holen.«
Ha, ich habe noch einen angeknacksten Zahn entdeckt. Meine Freunde stehen noch immer am Fenster, lugen dann und wann durch den Vorhang, um festzustellen, dass der Cop noch immer da ist, woraufhin sie eine Weile fluchen, ehe sie mit hängenden Schultern weiter warten.
Eine Stunde vergeht, und jetzt würde ich auch gern wissen, was der Cop so lange auf dem Parkplatz zu suchen hat. Ich beginne, mir Hoffnungen zu machen, dass er doch von dem Überfall weiß, eine gefährliche Konfrontation vermeiden will und deshalb einfach abwartet, bis meine Freunde herauskommen. Aber warum macht er seine Anwesenheit dann so offenkundig? Ist der Officer vielleicht hier in der Wohnanlage, um die Drogendealer aus C4 zu vernehmen? Aber die Männer in Apartment C4 sind Weiße, und soweit ich das mitbekommen habe, spricht der Officer mit Edgardo, der in C13 wohnt, acht Türen von meiner entfernt. Edgardo ist Mechaniker und mein Freund. Seiner Schätzung nach hat er mir in den zwei Jahren, die wir jetzt Nachbarn sind, 2200 Dollar an Autoreparaturen erspart. Dafür kutschiere ich ihn regelmäßig zur Kirche, zur Arbeit, zur North DeKalb Mall. Er hat ein eigenes Auto, aber damit fährt er nicht. In den letzten sechs Monaten habe ich nicht gesehen, dass mal Reifen dran gewesen wären. Er bastelt gern an seinem Wagen, und es macht ihm nichts aus, an meinem zu arbeiten, einem 2001er Corolla. Wenn er an meinem Auto arbeitet, will Edgardo immer von mir unterhalten werden. »Erzähl mir Geschichten«, sagt er, weil ihm die Musik, die im Radio läuft, nicht gefällt. »In meinem Land spielen sie überall Norte-Musik, aber nicht in Atlanta. Was mach ich hier eigentlich? Das ist keine Stadt für Musikfreunde. Erzähl mir eine Geschichte, Valentino. Sprich mit mir, sprich mit mir. Erzähl ein paar Geschichten.«
Als er mich das erste Mal bat, fing ich an, ihm meine eigene Geschichte zu erzählen, die damit begann, dass die Rebellen, Männer, die sich schließlich der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee, der Sudan People’s Liberation Army, kurz SPLA, anschließen sollten, den Laden meines Vaters in Marial Bai plünderten. Ich war damals sechs Jahre alt, und die Zahl der Rebellen in unserem Dorf wuchs von Monat zu Monat. Die meisten duldeten sie, andere lehnten sie ab. Für dortige Verhältnisse war mein Vater ein reicher Mann, Besitzer eines Gemischtwarenladens in Marial Bai und eines weiteren Ladens ein paar Tage Fußweg entfernt. Jahre zuvor hatte er selbst den Rebellen angehört, doch jetzt war er Geschäftsmann und wollte keinen Ärger. Er wollte keine Revolution, er hatte nichts gegen die Islamisten in Khartoum. Sie störten ihn nicht, sagte er, sie waren eine halbe Welt entfernt. Er wollte nur Getreide verkaufen, Mais, Zucker, Töpfe, Stoffe, Süßigkeiten.
Eines Tages saß ich bei ihm im Laden auf dem Boden und spielte. Über mir wurde es laut. Drei Männer, zwei davon mit Gewehren bewaffnet, wollten einfach alles mitnehmen, was sie brauchten. Sie sagten, es sei zum Wohle der Rebellion und sie würden einen Neuen Sudan erschaffen.
»Nein, nein«, sagte Edgardo. »Nichts mit Kampf. Von der ganzen Kämpferei will ich nichts hören. Ich lese drei Zeitungen täglich.« Er deutete auf die Zeitungen, die ausgebreitet unter dem Auto lagen, voll mit braunen Ölflecken. »Davon höre ich schon genug. Ich weiß von eurem Krieg. Erzähl mir was anderes. Erzähl mir, woher du deinen Namen hast, Valentino. Das ist ein komischer Name für jemanden aus Afrika, findest du nicht?«
Also erzählte ich ihm die Geschichte von meiner Taufe. Das war in meinem Heimatort. Ich war ungefähr sechs Jahre alt. Die Taufe war die Idee meines Onkels Jok. Meine Eltern, die nichts mit dem Christentum anfangen konnten, nahmen nicht daran teil. Sie glaubten an die traditionellen religiösen Vorstellungen meines Stammes, und die zögerliche Annäherung des Dorfes an den christlichen Glauben beschränkte sich auf die jungen Leute, wie Jok, und diejenigen, die sie leicht verführen konnten, wie mich. Die Konvertierung war für jeden Mann ein Opfer, da Pater Dominic Matong, ein von italienischen Missionaren ordinierter Sudanese, die Polygamie untersagte. Aus diesem Grund lehnte mein Vater, der viele Ehefrauen hatte, die neue Religion ab, und auch weil er den Eindruck hatte, die Christen verließen sich allzu sehr auf das geschriebene Wort. Mein Vater konnte genauso wenig lesen wie meine Mutter; nicht viele Menschen in seinem Alter waren des Lesens mächtig. – Geh du nur zu deiner Kirche der Bücher, sagte er. – Du kommst schon zurück, wenn dein Verstand wiederkehrt.
Ich trug ein weißes Gewand und stand zwischen Jok und seiner Frau Adeng, als Pater Matong seine Fragen stellte. Er hatte einen Zweitagemarsch von Aweil nach Marial Bai auf sich genommen, um mich und drei weitere Jungen zu taufen, die nach mir dran waren. Ich war so nervös wie noch nie. Die anderen Jungen meinten, das wäre doch nichts im Vergleich zu einer drohenden Prügelstrafe durch ihren Vater, aber so etwas kannte ich nicht. Mein Vater erhob nie die Hand gegen mich.
Pater Matong stellte sich vor Jok und Adeng, hielt die Bibel in der einen Hand und hob die geöffnete andere in die Luft. – Wünscht ihr die Taufe eures Kindes mit ganzem Herzen und Vertrauen, auf dass es ein gläubiges Mitglied der Familie Gottes werde?
– Ja!, sagten sie.
Ich fuhr zusammen, als sie das sagten. Es war viel lauter, als ich erwartet hatte.
– Widersagt ihr dem Satan und seiner Macht, Falschheit und Treulosigkeit?
– Wir widersagen!
– Glaubt ihr an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, der geboren ist von der Jungfrau Maria, der gelitten hat und gekreuzigt wurde und am dritten Tag von den Toten auferstand, um uns von unseren Sünden zu erlösen?
– Wir glauben!
Und dann wurde mir kaltes, sauberes Wasser über den Kopf geschüttet. Pater Matong hatte es den weiten Weg von Aweil mitgebracht.
Dabei erhielt ich meinen Taufnamen Valentino, den Pater Matong ausgesucht hatte. Viele Jungen hörten auf ihren Taufnamen, doch in meinem Fall wurde er nur selten verwendet, weil keiner, mich selbst eingeschlossen, ihn aussprechen konnte. Wir sagten Valdino, Baldero, Benedeeno. Erst als ich in einem äthiopischen Flüchtlingslager lebte, benutzten ihn alle, die mich kannten. Damals sah ich Pater Matong wieder, ein unwahrscheinlicher Zufall nach so vielen Kriegsjahren. Damals rief er mir meinen Taufnamen in Erinnerung, erklärte mir dessen Herkunft und brachte mir bei, ihn richtig auszusprechen.
Diese Geschichte gefiel Edgardo sehr. Bis dahin hatte er nicht gewusst, dass ich Katholik war wie er. Wir nahmen uns vor, eines Tages zusammen zur Messe zu gehen, doch bis jetzt haben wir das noch nicht getan.
»Sieh dir den Typen an. Blutet am Kopf und glotzt wütend!«
Puder meint mich. Er steht noch immer am Fenster, aber seine Komplizin ist schon seit einer Weile im Badezimmer. Durch diese neue Entwicklung, dadurch dass sie mein Badezimmer benutzt, bin ich mir nun sicher, dass ich diese Wohnung werde verlassen müssen. Jetzt ist ihre Entweihung komplett. Am liebsten würde ich hier Feuer legen, sobald sie weg sind.
»He, Tonya, komm raus und sieh dir diesen nigerianischen Prinzen an. Was ist los mit dir, Mann? Bist du noch nie ausgeraubt worden?«
Jetzt starrt auch sie mich an. Sie heißt Tonya.
»Gewöhn dich dran, Afrika«, sagt sie.
Mir kommt der Gedanke, dass sich meine Chancen, entdeckt zu werden, verbessern, je länger der Polizist auf dem Parkplatz ist. Solange der Cop dort ist, besteht immer noch die Möglichkeit, dass Achor Achor zurückkommt oder Edgardo an meine Tür klopft. Er klopft nur ganz selten – er ruft lieber an –, aber es ist nicht ausgeschlossen. Falls er an meine Tür klopft, würde herauskommen, was hier geschieht.
Mein Handy klingelt. Tonya und Puder lassen es klingeln. Minuten später klingelt es erneut. Es muss fünf Uhr sein.
»Guck dir diesen Zuhälter an«, sagt Puder, »bei dem klingelt alle paar Minuten das Handy. Bist du so ’ne Art Zuhälter, Prinz?«
Wenn ich keine Regeln aufgestellt hätte, würde das Telefon ununterbrochen klingeln. Es gibt einen Kreis von rund dreihundert Sudanesen in den USA, die miteinander in Verbindung bleiben, ich mit ihnen, aber häufiger sie mit mir, und wir tun das auf eine Art, die man für exzessiv halten könnte. Alle denken, ich habe so etwas wie einen direkten Draht zu den Rebellen der SPLA. Sie rufen an, um sich irgendwelche Gerüchte bestätigen zu lassen, um meine Meinung zu neuen Entwicklungen zu erfahren. Ehe ich darauf bestand, nur in der Zeit zwischen fünf und neun angerufen zu werden, hatte ich durchschnittlich siebzig Anrufe pro Tag erhalten. Ich neige nicht zu Übertreibungen. Die Anrufe hören nicht auf. Jedes Fünfminutengespräch wird bestimmt acht- oder neunmal durch weitere Anrufe unterbrochen. Da ruft Bol aus Phoenix an, und während ich mit ihm über ein Visum für seinen Bruder rede, der sich bis Kairo durchgeschlagen hat, ruft James aus San Jose an, und er braucht Geld. Wir tauschen Informationen über Jobs aus, über Autokredite, Versicherungen, Hochzeiten, die Ereignisse im Südsudan. Als John Garang, der Kopf der SPLA und der Mann, der mehr oder weniger den Bürgerkrieg entfacht hat, im vergangenen Juli bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam, hielten sich die Anrufe an keine vereinbarten Zeiten mehr. Ich war vier Tage lang ohne Unterbrechung am Telefon. Dabei wusste ich nicht mehr als jeder andere auch.
In vielen Fällen haben die Lost Boys des Sudan sonst niemanden. »Lost Boys« ist eine Bezeichnung, die nicht viele von uns schätzen, aber sie ist passend. Wir flohen von zu Hause oder wurden fortgeschickt, viele von uns sind verwaist, und Tausende zogen jahrelang, so kam es uns zumindest vor, durch Wüsten und Wälder. In vielerlei Hinsicht sind wir allein, und meistens wissen wir nicht einmal, in welche Richtung wir uns eigentlich bewegen. In Kakuma, einem der größten und entlegensten Flüchtlingscamps der Welt, fanden wir – zumindest viele uns – neue Familien. Ich wohnte bei einem Lehrer aus meinem Heimatort, und als er nach zwei Jahren seine Frau und Kinder ins Lager holte, waren wir so etwas wie eine Familie. Wir waren fünf Jungen und drei Mädchen. Ich nannte sie Geschwister. Wir gingen gemeinsam zur Schule, wir holten gemeinsam Wasser. Doch seit unserer Umsiedelung in die Vereinigten Staaten sind wir Lost Boys wieder allein. Es gibt nur sehr wenige Sudanesinnen in den USA und sehr wenige ältere Sudanesen, daher verlassen wir uns in praktisch allen Dingen des Lebens aufeinander. Das hat seine Nachteile, denn sehr oft beschäftigen wir uns mit haltlosen Gerüchten und leiden an extremer Paranoia.
Als wir hier ankamen, blieben wir wochenlang in unseren Wohnungen und trauten uns nur nach draußen, wenn es unumgänglich war. Einer unserer Freunde, der schon länger in den USA war als wir, war gerade auf dem Nachhauseweg überfallen worden. Es war leider so, dass die Täter auch damals junge afroamerikanische Männer waren, und wir dachten darüber nach, wie wir wohl wahrgenommen wurden. Wir fühlten uns beobachtet, verfolgt. Wir Sudanesen sind leicht zu erkennen; niemand sonst auf der Erde sieht so aus wie wir. Wir sehen nicht mal so aus wie andere Ostafrikaner. Die Abgeschiedenheit vieler Teile des Südsudans hat dafür gesorgt, dass unsere Blutlinie größtenteils unvermischt blieb. In jenen Wochen gingen wir kaum vor die Tür, nicht nur aus Furcht vor raubgierigen jungen Männern, sondern auch aus Sorge, die Beamten der amerikanischen Einwanderungsbehörde könnten ihre Meinung über uns ändern. Aus heutiger Sicht ist es beinahe amüsant, wie naiv wir waren, wie verzerrt unsere Sicht war. Alles schien möglich. Wir hielten es für durchaus denkbar, dass man uns allesamt unverzüglich zurück nach Afrika schicken würde, wenn wir zu sichtbar würden oder falls ein paar von uns sich Ärger einhandeln sollten. Vielleicht würde man uns auch nur einsperren. Achor Achor glaubte, wir könnten hingerichtet werden, falls herauskam, dass wir mal mit der SPLA zu tun gehabt hatten. In Kakuma logen viele von uns in ihren Antragsformularen und bei Gesprächen mit den Behörden. Wir wussten, wenn wir irgendeine Verbindung zur SPLA zugaben, würde man uns nicht nach Atlanta, North Dakota, Detroit schicken. Wir würden in Kakuma bleiben. Also logen diejenigen von uns, die lügen mussten. Die SPLA war sehr früh Teil unseres Lebens geworden, und über die Hälfte der jungen Männer, die sich Lost Boys nennen, waren Kindersoldaten oder etwas Ähnliches. Doch das ist ein Teil unserer Geschichte, über den wir, wie man uns gesagt hat, nicht reden sollen.
Also blieben wir in unseren vier Wänden. Wir saßen fast Tag und Nacht vor dem Fernseher, nickten zwischendurch ein und spielten hin und wieder eine Partie Schach. Einer der Männer, die in jenen Tagen bei uns wohnten, hatte bis auf einige wenige Male in Kakuma noch nie ferngesehen. Ich hatte in Kakuma und in Nairobi ferngesehen, aber niemals etwas Vergleichbares erlebt wie die 120 Kanäle, die wir in jener ersten Wohnung empfangen konnten. Das war einfach zu viel, um es an einem Tag oder zwei oder drei zu verkraften. Eine Woche saßen wir fast ununterbrochen vor dem Fernseher, und danach waren wir ganz aufgelöst, mutlos und zutiefst verwirrt. Gegen Abend wurde jeweils einer von uns losgeschickt, um etwas zu essen zu holen und was wir sonst noch so brauchten, immer von der Angst verfolgt, auch wir könnten Opfer eines Überfalls durch junge afroamerikanische Männer werden.
Die sudanesischen Stammesältesten hatten uns zwar vor dem Verbrechen in den Vereinigten Staaten gewarnt, doch so etwas gehörte nicht zu unserer offiziellen Einweisung. Als wir nach zehn Jahren endlich erfuhren, dass wir das Lager verlassen würden, wurden wir in einem zweitägigen Kurs darüber unterrichtet, was wir in den USA sehen und hören würden. Ein Amerikaner namens Sasha hielt uns einen Vortrag über die amerikanische Währung, über Berufsausbildung, Autos, über die Höhe der Mieten, über Klimaanlagen, die öffentlichen Verkehrsmittel und Schnee. Viele von uns sollten in Orte wie Fargo und Seattle geschickt werden, und um uns einen Eindruck vom dortigen Klima zu verschaffen, verteilte Sasha Eiswürfel. Viele der Kursteilnehmer hatten noch nie Eis in der Hand gehabt. Ich schon, aber nur weil ich im Camp für die Jugendarbeit zuständig war und auf dem UN-Gelände schon so einiges gesehen hatte, darunter auch Lagerräume für Lebensmittel, Sportgeräte, die von Japan und Schweden gespendet worden waren, oder Filme mit Bruce Willis. Sasha erklärte uns zwar, dass selbst die erfolgreichsten Männer in Amerika nur eine einzige Frau haben können – mein Vater hatte sechs –, und er sprach über Rolltreppen, Sanitäranlagen und wichtige Gesetze des Landes, aber er bereitete uns nicht darauf vor, dass mir amerikanische Teenager sagen würden, ich solle zurück nach Afrika gehen. Als das zum ersten Mal passierte, saß ich in einem Bus.
Einige Monate nach meiner Ankunft wagten wir uns allmählich aus der Wohnung, zum Teil nur, weil wir Geld für lediglich drei Monate bekommen hatten und uns jetzt Arbeit suchen mussten. Das war im Januar 2002, und ich arbeitete bei Best Buy im Lager. Um acht Uhr abends war ich auf dem Nachhauseweg und schon dreimal umgestiegen (der Job war nichts von Dauer, weil ich für die achtzehn Meilen immer neunzig Minuten brauchte). Aber an dem Tag war ich ziemlich zufrieden. Ich verdiente 8,50 Dollar die Stunde, und außer mir arbeiteten noch zwei andere Sudanesen im Lager von Best Buy, wo wir Plasmafernseher und Spülmaschinen schleppten. Ich war müde und auf dem Heimweg und freute mich darauf, mir ein Video anzuschauen, das unter den Lost Boys in Atlanta die Runde machte. Irgendwer hatte vor Kurzem in Kansas City die Hochzeit eines bekannten Sudanesen mit einer Sudanesin gefilmt, die ich in Kakuma kennengelernt hatte. Kurz vor meiner Haltestelle sprachen mich zwei afroamerikanische Teenager an.
»He, du Freak«, sagte einer der Jungen zu mir. »Wo bist du her?« Ich drehte mich um und erwiderte, dass ich aus dem Sudan stammte. Das ließ ihn stutzen. Der Sudan ist nicht sehr bekannt oder war es zumindest nicht, bis der Krieg, den die Islamisten uns vor zwanzig Jahren bescherten, mit seinen Stellvertreterarmeen und seinen zügellosen Milizen im Jahr 2003 nach Darfur kam.
»Aha«, sagte der Teenager, neigte den Kopf und taxierte mich. »Dann bist du also einer von diesen Afrikanern, die uns verkauft haben.« Er redete eine Zeit lang in dieser Art weiter, bis klar wurde, dass er meinte, ich sei für die Versklavung seiner Vorfahren verantwortlich. Sie stiegen mit mir aus und verfolgten mich einen Häuserblock weit, riefen irgendwas hinter mir her und rieten mir erneut, ich solle doch zurück nach Afrika gehen. Dieser Vorschlag ist auch Achor Achor schon unterbreitet worden, und jetzt haben meine beiden Gäste ihn ausgesprochen. Gerade eben hat Puder mich nicht ohne Mitgefühl angesehen und gefragt: »Mann, wieso bist du überhaupt hier? Wolltest wohl Anzüge tragen und so tun, als wärst du so’n gebildeter Schnösel, was? Hast du nicht gewusst, dass die dich hier drankriegen?«
Ich habe zwar eine schlechte Meinung von den Teenagern, die mich belästigten, aber ich stehe derlei Erfahrungen toleranter gegenüber als einige meiner sudanesischen Landsleute. Es ist erschreckend, welche Vorurteile Afrikaner über Afroamerikaner entwickeln. Wir sehen uns amerikanische Filme an, und wir kommen mit der Annahme in dieses Land,Afroamerikaner seien Drogendealer und Bankräuber. Die sudanesischen Stammesältesten in Kakuma erklärten uns unmissverständlich, wir sollten uns von Afroamerikanern fernhalten, vor allem von den Frauen. Was würden sie wohl sagen, wenn sie wüssten, dass der erste und wichtigste Mensch, der uns hier in Atlanta beistand, eine Afroamerikanerin war, die nichts anderes wollte als uns mit anderen hilfsbereiten Leuten zusammenzubringen. Dabei sollte ich erwähnen, dass auch uns diese Hilfe verwirrte: In mancherlei Hinsicht betrachteten wir sie als unser gutes Recht, während wir sie zugleich für andere, die ebenso darauf angewiesen waren, infrage stellten. Wenn wir in Atlanta Arbeitslose sahen, Obdachlose oder junge Männer, die sich an Straßenecken oder in Autos betranken, sagten wir: »Sucht euch Arbeit! Ihr habt Hände, also arbeitet!« Aber das war, ehe wir selbst auf Jobsuche gingen, und ganz sicher ehe uns klar wurde, dass die Arbeit bei Best Buy uns keineswegs unserem Ziel näher brachte, aufs College zu gehen und etwas Anständiges zu werden.
Als wir auf dem John F. Kennedy International Airport landeten, versprach man uns, drei Monate lang für unseren Lebensunterhalt aufzukommen. Ich wurde nach Atlanta geflogen, bekam eine vorläufige Green Card und eine Krankenversicherung und erhielt vom International Rescue Committee genug Geld, um meine Miete exakt drei Monate lang bezahlen zu können. Meine 8,50 Dollar die Stunde bei Best Buy reichten nicht. In jenem ersten Herbst nahm ich noch einen zweiten Job an, und zwar in einem Laden für Weihnachtsartikel, der im November aufmachte und Anfang Januar wieder schloss. Ich füllte Regale mit Keramik-Weihnachtsmännern, ich sprühte Kunstschnee auf Miniweihnachtskränze, ich fegte siebenmal täglich den Boden. Und doch verdiente ich mit zwei Teilzeitjobs weniger als 200 Dollar netto die Woche. Ich kannte Männer in Kakuma, die mit dem Verkauf von Schuhen aus Gummireifen und Kordel im Verhältnis dazu mehr einnahmen.
Schließlich jedoch bewirkte ein Zeitungsartikel über die Sudanesen in Atlanta, dass zahlreiche wohlwollende Bürger uns neue Jobs anboten, und ich fing in einem Möbelgeschäft an, einem, in dem Innenarchitekten einkaufen, in einem Vorstadteinkaufszentrum mit vielen solchen Läden. Ich arbeitete im hinteren Bereich des Ladens, bei den Stoffmustern. Ich sollte mich deswegen nicht schämen, aber irgendwie tue ich es doch: Meine Arbeit bestand darin, Stoffmuster für die Einrichter zusammenzustellen und sie wieder einzusortieren, wenn sie zurückgeschickt wurden. Das habe ich fast zwei Jahre lang gemacht. Der Gedanke an all die vertane Zeit, all die Zeit, die ich auf einem Holzhocker saß, katalogisierte, lächelte, Leuten dankte, einsortierte – während ich doch eigentlich hätte zur Schule gehen sollen –, dieser Gedanke macht mir zu schaffen. Meine aktuellen Arbeitszeiten beim Century Club Gesundheits- und Fitnesscenter sind auf den ersten Blick annehmbar, die Klubmitglieder lächeln mich an und ich sie, aber meine Geduld ist allmählich erschöpft.