Auch »kn« und »schn« sind für Türken problematische Konsonantenfolgen, sodass sie zum Knobeln »Kunobeln« sagen – oder auch »schinick, schanack, schunuck«.
Bravo, mein Sohn – bei Gott, ich liebe dich sehr!
Gesundheit für deine Hände, Mutter, ich liebe dich auch sehr!
Herr Denizoğlu spricht »Scheiße« zumeist mit stimmhaftem s aus – was dem Wort irgendwie die Schärfe nimmt. Nach einer Niederlage des 1. FC Köln hat er mir das Wort einmal so gesimst: »Şeyze«.
Du bist mein Leben.
Willkommen in Deutschland, Onkel (väterlicherseits).
Die Atatürk-Partei
Türkisch für die Spiegelung des Mondlichts im Meer.
Interessanterweise gibt es im Türkischen kein Wort für »Privatsphäre«. Wozu auch etwas benennen, das nicht existiert?!
Betonwüste in Köln, wo städteplanerisches und architektonisches Kollektivversagen zu einem Ensemble des Grauens geführt hat, das durch die totale Abwesenheit von Ästhetik beeindruckt (Synonyme: Mordor, Todesstern, Dimiter-Zilnik-Inszenierung).
Willst du mich heiraten?
Tante, was ist passiert? Wie geht es dir? Ich habe solche Angst gehabt!
Ich liebe dich sehr, Tante.
Für Hülya
»Unsere Flitterwochen-Top-3 sind: Seychellen, Malediven und Hawaii.«
Kenan, der smarte Geschäftsführer von Ünül Tours, fährt sich durch seine gegelten schwarzen Haare und schaut meine Verlobte Aylin und mich erwartungsvoll an. Kenan trägt ein schwarzes Hemd mit silbernen Applikationen, einen Dreitagebart mit orientalischem Muster – und ist natürlich ein Familienmitglied. Wir Deutschen machen möglichst keine Geschäfte mit der Familie. Türken machen möglichst keine Geschäfte ohne die Familie.
»Aber auch die Bahamas und Thailand sind sehr beliebt. Oder Barbados, Bali, Mexiko …«
Aylin lächelt mich an. Eigentlich ist mir völlig egal, wo sie mich anlächelt – mit ihr würde ich meine Flitterwochen sogar in der Gartenabteilung der OBI-Filiale Bitterfeld verbringen. Kenan dagegen scheint uns beweisen zu wollen, dass er alle Fernreiseziele des TUI-Katalogs auswendig kennt:
»… Mauritius, Kenia, Jamaika, Kuba, Dominikanische Republik, Südafrika, Australien …«
Ich hasse diese totale Wahlfreiheit. Immer kriegt man das Gefühl, man verpasst irgendwas. Es fällt mir schon schwer, mich im Restaurant für ein Essen zu entscheiden. Inzwischen habe ich ein System: Ich bestelle beim Italiener immer Pizza Funghi, in Bistros immer Salat mit Putenbrust und beim Chinesen grundsätzlich die M8. Egal, was es ist. Einmal, im China-Restaurant »Goldener Drache« in Bergisch Gladbach, gab es keine M8. Ich habe also gefragt, ob sich der Koch eine M8 für mich ausdenken kann – aber der Chinese an sich ist wenig flexibel, was die freie Interpretation von Speisekarten betrifft.
Aylin legt die Hand auf mein Bein – eine Berührung, die auch fast vier Monate nach unserem ersten Kuss noch dazu führt, dass mein Herz einen Sprung macht.
»Was meinst du denn, Daniel?«
»Hmm … auf den Seychellen haben wir weißen Sand und türkisblaues Meer. Die Malediven zeichnen sich eher durch türkisblaues Meer und weißen Sand aus, während Mauritius vor allem weißen Sand hat, aber auch türkisblaues Meer.«
»Tja, bei so unterschiedlichen Optionen machen wir am besten eine Pro-und-Kontra-Liste.«
Aylin und ich grinsen uns an und lachen nur deshalb nicht laut los, weil wir merken, dass Ünül-Tours-Kenan sich ein klein wenig verarscht fühlt. Und wir wollen ihn nicht verletzen, schließlich ist er Aylins Cousin. Das hat für Türken eine emotionale Bedeutung, die für Deutsche nur mit der Mutterbindung kurz nach der Geburt vergleichbar ist.
Ich beschließe, Kenan den Schwarzen Peter zuzuschieben:
»Was würdest du uns denn empfehlen?«
Kenan zögert nicht den Bruchteil einer Sekunde:
»Auf jeden Fall Malediven. Kein Zweifel.«
Ich bin mal wieder beeindruckt. Türkische Männer zweifeln einfach nie an irgendetwas. Ich habe die Worte »Kein Zweifel« nur ein einziges Mal in meinem Leben benutzt: als mich meine erste Freundin gefragt hat, ob ich mit 22 Jahren wirklich noch nie Sex hatte.
Eigentlich finde ich Zweifel ganz sympathisch. Ich habe sogar Spaß daran, mir gelegentlich auszumalen, wie mein Leben wohl verlaufen würde, wenn ich beim Chinesen zukünftig statt der M8 die M7 bestelle. Und ich weiß auch: Aylin liebt mich, weil ich eben kein Macho bin.
»Also Malediven? Was meinst du, Aylin?«
»Klingt gut. Was meinst du denn?«
»Ich habe zuerst gefragt.«
»Ich habe ja gesagt, es klingt gut.«
»Also Malediven. Oder nicht?«
»Weiß nicht.«
»Wieso, du hast doch gesagt, es klingt gut.«
»Klar. Aber du hast noch gar nichts gesagt, Daniel.«
»Es klingt auf jeden Fall gut. Aber du hast gesagt: weiß nicht.«
»Ja, weil du noch nichts gesagt hast.«
»Jetzt hab ich’s ja gesagt.«
»Was?«
»Na, dass ich auch finde, dass es gut klingt.«
»Okay.«
»Also Malediven.«
»Ja.«
»Oder lieber Seychellen?«
»Weiß nicht.«
So was passiert nicht zum ersten Mal. Einmal haben Aylin und ich eine halbe Stunde vor dem Kino gestanden und konnten uns nicht zwischen Willkommen bei den Sch’tis und Kung Fu Panda entscheiden. Es war vielleicht ein Fehler, dass wir uns dann eine Dokumentation über Leni Riefenstahl reingezogen haben, aber wenigstens war es ein gemeinsamer Fehler.
Doch Ünül-Tours-Kenan scheint wenig Verständnis für die Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung in einer gleichberechtigten Partnerschaft zu haben und schaut mich mit einem »Bist-du-sicher-dass-du-nicht-schwul-bist«-Blick an. Als ein türkischer UPS-Mitarbeiter in der typischen braunen Uniform das Reisebüro betritt, nickt Kenan ihm kurz zu und verschwindet im Hinterzimmer.
Seychellen oder Malediven – was für eine absurde Frage! Sein oder Nichtsein, da kann man schon mal eine Weile drüber nachdenken. Aber wenn Hamlet die Frage »Seychellen oder Malediven« innerlich zerrissen hätte – ich weiß nicht, ob Sir Alec Guinness, Gustaf Gründgens oder Kenneth Branagh die Rolle dann gespielt hätten.
Während der UPS-Mitarbeiter vergeblich versucht, Blickkontakt mit meiner Verlobten herzustellen, kommt Ünül-Tours-Kenan mit einem originalverpackten Kühlschrank aus dem Hinterzimmer zurück.
»Den hab ich heute Morgen an Erol verkauft. Du kommst doch sicher auf deiner Route an seinem Café vorbei?!«
»Klar, kein Problem.«
»Und wegen Geld …«
»… gibst du mir für den nächsten Antalya-Flug Rabatt.«
»Perfekt.«
Der UPS-Mitarbeiter verschwindet. Ich bin verblüfft:
»Du verkaufst Kühlschränke?«
»Klar. Braucht ihr auch einen?«
»Nein, ich dachte nur, das ist ein Reisebüro.«
Gut, vor drei Monaten war es noch ein Klamottenladen, und ich habe bei Kenan ein türkisches Disco-Outfit gekauft – also warum wundere ich mich?
»Klar ist das ein Reisebüro. Aber wenn ihr Küchengeräte braucht oder Flat-Screens oder Computer, müsst ihr nie zu Saturn – kriegt ihr alles hier.«
»Gut zu wissen. Aber …«
»Ab nächste Woche mache ich auch Sportwetten. Nur, damit ihr Bescheid wisst.«
»Super. Ich freue mich. Aber jetzt wollen wir erst mal die Frage klären, wohin unsere Hochzeitsreise geht.«
Ich schaue Aylin fragend an. Sie schaut fragend zurück. Ich weiß, sie wird keine Entscheidung treffen. Und noch besser weiß ich, dass ich keine Entscheidung treffen werde. Elektrogeräte-Sportwetten-und-Ünül-Tours-Kenan schaut mich jetzt schon ein wenig spöttisch an. Aber das ist mir egal. Ich bin nämlich hier der moralisch Überlegene: kein Macho, sondern ein verlässlicher Partner in einer Beziehung auf Augenhöhe. Ein Mann, der seine Frau ernst nimmt und nicht über sie bestimmt. Und ich weiß: Das ist genau das, was Aylin sich immer gewünscht hat.
»Daniel?«
»Ja, Aylin?«
»Triff einfach die Entscheidung. Du bist der Boss.«
Vor etwa fünf Sekunden hat meine Verlobte gesagt: »Du bist der Boss.« Seitdem ist unheimlich viel passiert. Nicht auf der physischen Ebene – ich sitze immer noch auf demselben Stuhl im selben Reisebüro, neben mir sitzt immer noch Aylin, und Ünül-Tours-Kenans Blick stellt weiterhin meine Heterosexualität infrage.
Aber mein Gehirn hat in diesen fünf Sekunden einen Weltrekord im Möglichst-viel-wirres-Zeug-auf-einmal-Denken aufgestellt. Hier die fünf wichtigsten Gedanken:
Wie kann man in einer gleichberechtigten Partnerschaft der Boss sein?
Wie kann man in einer gleichberechtigten Partnerschaft der Boss sein?
Wie kann man in einer gleichberechtigten Partnerschaft der Boss sein?
Wie kann man in einer gleichberechtigten Partnerschaft der Boss sein?
Warum darf ein Mann mit Glitzerhemd und orientalischem Muster im Dreitagebart mich mit einem »Bist-du-sicher-dass-du-nicht-schwul-bist«-Blick angucken?
Plötzlich keimt Hoffnung in mir auf. Vielleicht hat Aylin nur einen Scherz gemacht? Ich lache vorsichtig, um diese Möglichkeit abzuklären. Aber ihr Gesichtsausdruck zeigt: Sie meint es vollkommen ernst. Ich suche schnell nach einem Ausweg aus dem Dilemma:
»Okay, heute bin ich der Boss. Aber wir wechseln uns ab: Morgen bist du der Boss, übermorgen wieder ich. Oder wochenweise.«
Jetzt lacht Aylin, weil sie denkt, ich hätte Spaß gemacht. So schnell kann das gehen. Vor inzwischen zwanzig Sekunden war ich ein gleichberechtigter Partner, plötzlich bin ich der Boss. Ich hatte in meinem bisherigen Leben zwar wenig Zeit, Führungsqualitäten zu entwickeln – die einzige Entscheidungsfreiheit in meiner letzten Beziehung lag in der Frage, ob ich das Geschirr vor dem Spülen einweichen soll oder nicht –, dafür bin ich ein absoluter Experte im Verantwortung-schnell-wieder-Loswerden. Im Bruchteil einer Sekunde ziehe ich eine Ein-Euro-Münze aus meinem Portemonnaie:
»Pass auf, Aylin: Zahl ist Malediven. Kopf ist Seychellen. Okay?«
»Okay.«
Ich werfe die Münze und kann dabei Kenans Gedanken lesen: Einer Frau die Entscheidung zu überlassen, ist schwul; einer Münze die Entscheidung zu überlassen, ist krank. Der Kopf liegt oben. Ich bin erleichtert:
»Tja, damit ist die Entscheidung gefallen: Seychellen. Das ist doch perfekt – oder was meinst du, Aylin?«
»Ja, gut, perfekt.«
»Oder hat es dich gestört, dass Hawaii nicht dabei war?«
»Tja, eigentlich …«
»Sag ruhig, wenn du unsicher bist.«
»Ich weiß nicht.«
»Also bist du unsicher.«
»Bist du denn unsicher?«
»Eigentlich nicht. Aber sooo sicher bin ich auch nicht.«
»Ich sag ja, du bist unsicher.«
»Ja, aber nur, weil du unsicher bist.«
»Wie gesagt: Du bist der Boss.«
»Stimmt. Hatte ich kurz vergessen. Pass auf: Ich werfe noch mal. Diesmal ist der Kopf Hawaii und die Zahl Seychellen.«
Ich werfe die Münze erneut. Zahl. Ich bin begeistert:
»Die Münze hat sich wieder für die Seychellen entschieden. Also, wenn das kein Zeichen ist!«
Ich weiß, dass Aylin an Zeichen glaubt – und auch wenn ich mir da nicht ganz so sicher bin, kommt es auf jeden Fall gut an, wenn ich so tue. Bei Aylin. Nicht so bei Ünül-Tours-Kenan mit der künstlerisch wertvollen Dreitagebartschnitzerei:
»Natürlich. Die Münze hat zwar keine Ausbildung zum Reisekaufmann. Aber wenn sie sich für die Seychellen entscheidet, dann hat sie sicher sehr gute Gründe.«
»Was? Nein, ich wollte nicht … Natürlich vertrauen wir deiner Kompetenz, Aylin und ich. Es ist nur …«
»Ich sage Malediven. Die Münze sagt Seychellen. Ich habe eine Ausbildung. Die Münze … ist eine Münze. Sie ist nicht mal ein Tier. Sie ist einfach nur Blech.«
In Momenten emotionaler Erregung behandeln Türken einen Gedanken gerne sehr ausführlich. Insofern ist mir klar, dass Kenans Monolog noch nicht zu Ende ist.
»Am besten wäre ich direkt als Münze auf die Welt gekommen, dann hätte ich nicht mal zur Schule gehen müssen. Woher weiß denn die Münze, wie es auf den Seychellen ist? Hä? Woher weiß sie das denn? War sie auf Mauritius? Nein. Sie ist nur eine Münze.«
Das scheint mir ein perfekter Abschluss für Kenans kleine Abhandlung zum Thema »Entlarvung des Münzwurfs als Fehlerquelle bei der Entscheidungsfindung in Reiseangelegenheiten«. Kenan selbst sieht es offensichtlich anders:
»War sie auf den Seychellen? Nein. War sie auf Hawaii? Nein. War sie auf … war sie irgendwo? Nein, sie war nur hier in Deutschland.«
Das ist ein Elfmeter für mich – schließlich prangt auf der Münze nicht der Bundesadler, sondern der Kopf von König Juan Carlos I.
»Und in Spanien.«
Kenan schaut sich die Münze an und pfeffert sie dann wütend in die Ecke. Aylin und ich tauschen Blicke aus und müssen erneut ein Lachen unterdrücken. Aber Selbstironie scheint nicht direkt zu Kenans Stärken zu zählen – was er durch einen finsteren »Wenn-du-jetzt-lachst-gibt’s-einen-auf-die-Fresse«-Blick unterstreicht. Und eine körperliche Auseinandersetzung wäre insofern problematisch, als ich mindestens drei Jahre intensives Krafttraining brauchte, um ansatzweise Kenans Muskelmasse aufzubauen.
Also schaue ich Kenan lieber mit dem demütigen Bitte-hab-mich-wieder-lieb-Grinsen an, das ich vom gestiefelten Kater aus Shrek 2 geklaut habe. Jetzt muss Kenan ein Lachen unterdrücken. Perfekt. Seine Wut ist so schnell verschwunden, wie sie gekommen war.
»Also, was soll ich für euch buchen?«
Ich bin in einem Dilemma. Wenn ich mich für die Seychellen entscheide, gebe ich der Münze recht und Kenan ist beleidigt. Wähle ich aber die Malediven, gebe ich Kenan recht. Und das will ich nicht, weil … weil … er Aylin zum wiederholten Mal mit dem »Was-macht-eine-Traumfrau-wie-du-eigentlich-mit-so-einem-Durchschnittstyp«-Blick anschaut.
Diesen Blick kenne ich, und er macht mir Angst. Es gibt kaum einen Mann, der nicht auf Aylin abfährt. Es ist, als wäre meine große Liebe ständig in Gefahr. Als hätte Aylin die Weltformel auf den Rücken tätowiert und würde nackt durch ein Atomphysiker-Symposium spazieren.
Ich habe die ganze Zeit diese latente Anspannung in der Magengegend, und dieses Gefühl hat sich verstärkt, seit Tante Emine ein Problem für unsere Hochzeit im Kaffeesatz gesehen hat. Wir waren bei ihr zum Essen eingeladen, und ich hatte mal wieder eine Menge Fleisch zu mir genommen, mit der der Kölner Zoo seinen gesamten Raubtierbestand durch den Winter gebracht hätte, als Emine einen besorgten Blick auf das Muster des Mokkasatzes in meiner Tasse warf:
»Ich sehe Schwierigkeiten für Hochzeit. Kommt nicht von Beziehung. Kommt von außen.«
Ich hatte so was nie für bare Münze genommen. Aber inzwischen fand ich es eigentlich ganz lustig, zumal Emine immer etwas Positives für Aylin und mich gesehen hatte. Umso irritierter war ich jetzt:
»Moment, das kann doch gar nicht sein. Letzte Woche hast du noch gesagt: ›Alles wird gut.‹ Wenn wir also davon ausgehen, dass der Kaffeesatz die Wahrheit sagt, liegt hier ein logischer Fehler.«
»Daniel, geht nicht um Fehler. Kaffeesatz ist einfach Medium.«
»Ja, aber ein fehlerhaftes Medium. Wir haben zwei Aussagen. Erstens: ›Alles wird gut.‹ Zweitens: ›Ich sehe Schwierigkeiten.‹ Diese Aussagen widersprechen sich.«
»Ich sage nur, was ich sehe. Sehe ich Widerspruch, sage ich auch. Ist aber nicht Widerspruch.«
»Und warum nicht?«
»Weil alles ist wahr.«
»Ach so. Das leuchtet natürlich ein.«
Man sollte immer versuchen, die Bereiche Kaffeesatzlesen und logisches Argumentieren voneinander zu trennen. Tante Emine bekam einen mitfühlend lächelnden, weisen Gesichtsausdruck wie Yoda aus Star Wars.
»Du musst nicht Angst haben, Daniel.«
Eigentlich hätte sie »Keine Angst haben er muss« sagen sollen. Aber ich war viel zu beunruhigt, um mir über solche sprachlichen Feinheiten Gedanken machen zu können.
Seit dieser Vorhersage sind zwei Wochen vergangen, und es ist noch nichts Schlimmes passiert – abgesehen von einer neuen Staffel Germany’s next Topmodel. Bis zur Hochzeit sind es noch sechs Wochen, und dann kann mich kein Kaffeesatz der Welt mehr von meiner Lieblingsfrau trennen.
In diesem Moment wird mir schlagartig bewusst, dass mich sowohl Aylin als auch Ünül-Tours-Kenan erwartungsvoll anschauen. Adrenalin schießt durch meinen Körper, und ich höre mich sagen:
»Wir nehmen die Seychellen.«
»Okay. Wie ihr wollt.«
Kenans Unterton war beleidigt, aber auch mit einer winzigen Prise Respekt, dass ich endlich eine Entscheidung getroffen habe. Jawohl, das habe ich. Ich bin jetzt der Boss!
Während Kenan unsere Daten in den Computer eintippt, erscheint Tante Emine im Reisebüro, aber nicht die Kaffeesatzlese-Emine, sondern eine der beiden anderen Emine-Tanten, die nicht mit der Cousine Emine und schon gar nicht mit den vier Emine-Großcousinen verwechselt werden darf. Diese Tante Emine ist auf irgendeine Art auch mit Kenan verwandt, aber da blicke ich nicht mehr durch. Ach ja, sie ist seine Mutter.
Aylin kreischt vor Freude, als sie ihre Tante sieht, umarmt sie und küsst sie auf die Wangen. Das Zur-Begrüßung-vor-Freude-Kreischen hat bei türkischen Frauen keine besondere Bedeutung, vielmehr ist das Nicht-vor-Freude-Kreischen eine grobe Respektlosigkeit.
Da Kenan und ich als Männer nicht verpflichtet sind, vor Freude zu kreischen, begrüßen wir Tante Emine mit einfachen Wangenküssen. Kenan geht zu einem Medizinschrank, der direkt neben den TUI-Prospekten steht, und holt seiner Mutter eine Schachtel heraus:
»Hier, deine Tabletten.«
»Oh, danke, du bist eine Engel, vallaha, die habe ich gebraucht. Ich habe Schmerzen überall, vallaha.«
Ich bin erneut perplex:
»Medikamente verkaufst du auch?«
»Nur Schmerzmittel und Schlafmittel.«
Ich schaue auf die Packung.
»Aber das Mittel ist gegen hohen Blutdruck.«
»Ja, manchmal kommen Schmerzen auch von hohem Blutdruck.«
Ich sage lieber nichts. Vielleicht war ja bei der Ausbildung zum Reisekaufmann ein Medizinstudium inklusive, wer weiß. Tante Emine lässt sich sowieso nicht beirren.
»Mittel hat vor zwei Jahren geholfen meiner Schwester. Jetzt hilft mir auch garantiert.«
»Und was hatte deine Schwester?«
»Irgendwelche Schmerzen.«
»Aber, äh, ohne Kenans Fachwissen in Zweifel zu ziehen … Vielleicht solltest du doch lieber zu einem Arzt …«
»Ach, Unsinn, Ärzte nehme nur Geld und wisse gar nix. Ich nehme Medizin, und wenn nicht besser wird, nehme ich andere Medizin. Hauptsache, ich nehme Medizin.«
Diese Einstellung der Türken zu Medikamenten ist mir bekannt, seit sich Aylins Onkel Mustafa gegen einen offensichtlich allergischen Hautausschlag insgesamt zehn Aspirin-Tabletten eingeworfen hat. Der Hautausschlag ist irgendwann von alleine verschwunden, und seitdem gilt Aspirin in Aylins Familie als Antiallergikum.
Tante Emine hat sich aus einem Wasserspender am Eingang einen Becher genommen und schluckt jetzt zwei Tabletten – natürlich ohne die Packungsbeilage zu lesen. Dann wendet sie sich an Aylin.
»Und? Was machen hier?«
»Wir buchen unsere Hochzeitsreise.«
»Aha. Und wo geht hin?«
»Auf die Seychellen.«
»Seychellen? Ist viel zu teuer.«
Sie schaut Kenan vorwurfsvoll an. Kenan verteidigt sich:
»Hey, sie kriegen natürlich Familienrabatt.«
»Aber wie viel müsse bezahle?«
»So zweitausendfünfhundert, schätze ich.«
»Kommt gar nicht infrage. Ich gebe euch meine Sommerhaus in Antalya. Ihr kriegt Ehebett, dann übernachte Mustafa und ich auf dem Sofa.«
Ich versuche, so unauffällig wie möglich den Kopf zu schütteln. Aylin versucht, diplomatisch zu sein:
»Das ist sehr nett von dir, Tante, aber …«
»Keine Widerspruch. Ich sage wirklich von ganze Herz.«
»Das ist wirklich unglaublich großzügig, aber …«
»Vallaha, ich bin beleidigt, wenn ihr nicht kommt.«
Aylin schaut mich an. Jetzt ist sie es, die das Grinsen des Katers aus Shrek 2 imitiert, und plötzlich werden mir zwei Dinge klar. Erstens: Ich bin nicht der Boss. Zweitens: Wir werden unsere Flitterwochen zusammen mit Aylins Tante verbringen.
»Was meinst du? Stört er hier die Wirkung des Uecker-Bildes?«
Meine Mutter hat den Weihnachtsbaum einen halben Meter in Richtung Fenster geschoben und schaut meinen Vater unsicher an. Der tritt einen Schritt zurück und lässt das Gesamtbild auf sich wirken.
»Nun ja, ich finde, dass die abstrakte Sandsteinplastik von Alfons Kunen einen ironischen Kontrast zur Tanne bildet.«
»Aber was ist mit dem Uecker-Bild?«
»Vielleicht sollten wir es gegen das Paul-Klee-Aquarell tauschen. Die Wirkung von Ueckers Nägeln wird durch die Nadeln irgendwie geschwächt, finde ich.«
»Ja, ich hatte auch so ein komisches Gefühl im Bauch.«
Wenn meine Eltern ihren Weihnachtsbaum aufstellen, ist das immer so, als würden sie eine wichtige Ausstellung im Museum of Modern Art vorbereiten. Hauptsache, es sieht nicht so aus, als würden sie Weihnachten feiern. Wenn Intellektuelle »O Tannenbaum« singen, fürchten sie wahrscheinlich, dass Jean-Paul Sartre aus dem Grab steigt und sie als Spießer beschimpft.
Da aber jeder gerne Weihnachten feiert, brauchen Intellektuelle immer eine Rechtfertigung – meine Eltern haben dafür drei Methoden entwickelt:
Sie erklären den Weihnachtsbaum zu einem Kunstwerk, indem sie alternativen Schmuck verwenden – in diesem Jahr hängen leere Joghurtbecher in den Zweigen (laut Aussage meines Vaters eine Anspielung auf den russischen Künstler Ilya Kabakov).
Sie ersetzen die traditionellen Rituale durch eigene (zum Beispiel legt mein Vater zur Bescherung immer »Wann ist denn endlich Frieden« von Wolf Biermann auf).
Sie tun so, als würden sie Weihnachten nur feiern, um meiner Oma Berta eine Freude zu machen.
Oma Berta, die Mutter meines Vaters, wohnt eine Etage unter meinen Eltern, ist 92, leicht verwirrt und wird dank Pflegestufe 2 professionell betreut. Sie sitzt auf dem Sofa und schaut irritiert auf die geschmückte Tanne.
»Ich verstehe nicht, wozu wir im April einen Weihnachtsbaum brauchen.«
»Berta, heute ist Heiligabend.«
»Was? Das hat mir keiner gesagt.«
»Doch, ich habe dir … egal. Findest du, der Baum passt zum Uecker?«
»Uecker – ist das nicht der Schwule aus der Lindenstraße?«
»Nein, der Künstler.«
»Welcher Künstler?«
»Der diese Bilder macht, die nur aus Nägeln bestehen.«
»Was soll das? Ein Bild aus Nägeln?«
Jetzt kann ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen:
»Oma, Nägel haben in der christlichen Kunst eine große Tradition. Du musst dir nur Jesus und das Kreuz dazu denken.«
Meine Oma schaut mich verdutzt an, während die Aufmerksamkeit meines Vaters vom Paul-Klee-Aquarell absorbiert wird, das meine Mutter nun neben den Weihnachtsbaum an die Wand hält.
»Und – was meinst du, Rigobert?«
Mein Vater starrt ins Leere. Sein typischer Ausdruck, wenn er in Gedanken versunken ist.
»Rigobert?«
Jetzt scheint sich mein Vater in seinem Kopf mit jemandem zu unterhalten. Er wird zunächst wütend, dann entspannt er sich und reibt sich schließlich die Hände – als hätte er seinem imaginären Gesprächspartner aber mal so richtig die Meinung gegeigt. Dann kommt er zurück in die Realität und scheint kurz überrascht, dass ich im Raum bin.
»Daniel, wusstest du eigentlich, dass Paul Klee bei den Nazis als ›entartet‹ galt?«
Ich schaue zur Uhr.
»23 Minuten 44 – das ist guter Durchschnitt.«
Ein kleines Spiel von mir: Wenn ich meinen Vater treffe, stoppe ich die Zeit, die er braucht, bis er auf den Nationalsozialismus zu sprechen kommt. Der Rekord liegt bei fünf Sekunden. (Ich hatte mir die Haare sehr kurz schneiden lassen, und mein Vater stellte noch vor der Begrüßung klar, dass ich wie ein Hitlerjunge aussähe.)
Jetzt bedenkt er mich – wie üblich – mit einem kurzen Über-das-Dritte-Reich-macht-man-keine-Witze-Blick und wird nur durch die Türklingel davon abgehalten, mir von der Freundschaft zwischen Paul Klee und Wassily Kandinsky zu erzählen. Eigentlich schade – vielleicht wäre ihm ja irgendein Detail eingefallen, das ich noch nicht kenne.
Meine Eltern eilen zum Eingang und öffnen ihren besten Freunden die Tür, der Schauspielerin Ingeborg Trutz und ihrem Exfreund, dem osteuropäischen Theaterregisseur Dimiter Zilnik. Ingeborg ist die Grande Dame des Kölner Schauspielhauses und nutzt auch ihr Privatleben stets für den großen Auftritt:
»Also, eigentlich ist mir gar nicht nach Feiern zumute. Ich habe gerade einen Bericht über die streunenden Katzen von Fuerteventura gesehen. Ich will ja hier keine schlechte Stimmung verbreiten, aber das hat mir den Appetit verdorben, ganz ehrlich. Na ja, Schwamm drüber! Heute Abend wollen wir einfach Spaß haben. Ich habe eine Migräne, das könnt ihr euch nicht vorstellen, aber das kommt wahrscheinlich vom Elektrosmog – und natürlich von den armen Katzen. Ach, was soll’s. Reiß dich zusammen, Ingeborg.«
Unnötig zu erwähnen, dass sich Ingeborg Trutz nicht zusammenreißt. Tapfer gegen die Tränen ankämpfend, bringt sie noch hervor:
»Es sind doch nur Katzen.«
Dann versagt ihr die Stimme, und die Tränen vermischen sich mit dem viel zu dick aufgetragenen Mascara zu einem dunkelgrauen Matsch. Ingeborg Trutz atmet fünf Sekunden lang pathetisch mit geschlossenen Augen, bis sie die Traurigkeit abrupt durch positive Energie ersetzt:
»Also, euer Tannenbaum ist ja umwerfend, ist das eine Anspielung an HA Schult?«
»Nein, an Ilya Kabakov.«
»Na, egal. Es ist so schön, dass es euch gibt. Ich glaube, ohne euch würde ich mich Weihnachten umbringen, hahaha … Also, entweder mich oder Dimiter. Oder uns beide. Hach, ich werde Weihnachten immer sentimental. Ich hasse diesen ganzen Kitsch. Eine verlogene Scheiße ist das, Kapitalismus pur. Und wenn ich Engelschöre sehe, kommt mir das Frühstück hoch, ehrlich. Aber egal, uns geht es doch gut – auf jeden Fall besser als den Katzen auf … Ach, ich fange nicht schon wieder damit an. Ich liebe euch.«
Ingeborg umarmt meine Eltern mit großer Geste, bis ihr Blick auf mich fällt:
»Daniel – auweia, du bist ja so groß geworden!«
Ich bin zwar seit 13 Jahren nicht einen Zentimeter gewachsen, aber dieser Satz gehört einfach zum Weihnachtsfest dazu.
Dimiter Zilnik hat bis jetzt noch kein Wort gesagt. Er sagt überhaupt selten etwas – was ihn zur idealen Ergänzung von Ingeborg Trutz macht. Erst wenn sein Alkoholpegel die 1,5-Promille-Grenze überschreitet, bringt er Sätze wie »Der osteuropäische Film hat seine Seele verkauft« oder »Wenn Mutter Courage von einer nackten Studentin gespielt wird, ist das ein Verfremdungseffekt, den Brecht geliebt hätte«. Warum er sich von Ingeborg Trutz getrennt hat, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, warum sie nach der Trennung weiter zusammenleben. Zumindest ist das einem geistig gesunden Menschen schwer zu erklären.
Jetzt steckt sich Dimiter Zilnik, der wie üblich ganz in Schwarz erschienen ist, eine Zigarre an und hustet dann eine gute Minute lang so blechern, als würde jemand auf eine leere Regentonne einprügeln. Wenn er nicht seit dreißig Jahren exakt so husten würde, müsste man mit seinem baldigen Ableben rechnen. Einmal, in einer Aufführung von Vivaldis Vier Jahreszeiten, hat er den kompletten Frühling durchgehustet, bis ein Ordner der Kölner Philharmonie ihn freundlich aufforderte, den Saal zu verlassen. Was für ihn wahrscheinlich eine Erlösung war, denn er findet Vivaldi »grauenhaft kitschig« und war nur Ingeborg Trutz zuliebe mitgegangen, die später vom Winter so gerührt war, dass ihr Schnappatmungs-Schluchzen den Saalordner erneut auf den Plan rief.
Ich bin mit diesen Menschen aufgewachsen, und als Kind findet man ja erst mal alles normal, was man im Elternhaus so vorfindet. Ein Durchschnittsmann war für mich jemand, der bis nachts um vier in abgestandenem Zigarrenqualm stockbesoffen über irgendwelche Theaterinszenierungen debattiert, dann wahllos mit der nächstbesten Frau ins Bett geht, die noch nicht eingeschlafen oder vom Nervenarzt abgeholt worden ist, und sich am nächsten Morgen bei einem zehnfachen Espresso darüber beschwert, dass das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung sein Niveau verloren habe. Dass man auch eine monogame Paarbeziehung führen und Dinge wie »Schönes Wetter heute« sagen kann, habe ich erst sehr viel später gelernt.
Ich sehe die Verschrobenheit meiner Eltern und ihrer Freunde inzwischen gerne mit ironischer Distanz und komme auf diese Weise wunderbar damit klar.
Jetzt habe ich allerdings die Sorge, dass meine zukünftigen türkischen Schwiegereltern die Hochzeit abblasen werden, wenn sie meine Eltern zusammen mit Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik erleben. Ich habe versucht, meine Mutter zu stoppen – aber sie hat Aylins Familie tatsächlich eingeladen, um den Heiligabend gemeinsam zu verbringen. Nicht dass ich gegen Integration wäre – ich finde es toll, wenn Türken Weihnachten feiern. Aber bitte nicht mit meinen Eltern!
Ich flehe höhere Mächte an, dass Ingeborg Trutz nicht wieder im besoffenen Kopf das Hemd meines Vaters öffnet und an seiner Brustwarze lutscht wie im letzten Jahr. Ich fühle mich ein bisschen, als sähe ich meiner eigenen Hinrichtung entgegen. Plötzlich fällt mir etwas ein. Ich ziehe meine Mutter beiseite:
»Wo ist der Stoff-Harlekin?«
»In der Kommode.«
»Du musst ihn rausholen. Frau Denizoğlu wird beleidigt sein, wenn du ihr Geschenk nicht würdigst.«
»Tut mir leid, im Wohnzimmer haben wir ausschließlich die klassische Moderne.«
»Dann leg ihn halt in den Flur.«
»Zu den Originalskizzen von A. R. Penck???«
»Ja, ich weiß – ein Stoff-Harlekin gehört weder in die klassische Moderne noch in die Postmoderne, sondern in die Mülltonne. Aber es ist doch nur für heute Abend.«
Widerwillig öffnet meine Mutter die unterste Schublade der Kommode und zieht aus der hintersten Ecke den Harlekin mit einer schwarzen Träne im weißen Porzellangesicht und rosa Pailletten im Kostüm heraus. Dieses »Kunstwerk« ist für sie definitiv schlimmer als streunende Katzen für Ingeborg Trutz.
»Pass auf, ich lege dieses … also … das da … ich lege es auf mein Bett. Und wenn Aylins Mutter mich fragt, dann sage ich, dass … es … meinen Schlaf bewacht.«
»Danke, das ist lieb von dir. Ich weiß, wie viel Überwindung dich das kostet.«
»Ich lüge nur für Aylin. Ich mag sie nämlich sehr.«
Jetzt mischt sich mein Vater ein:
»Trotzdem muss die Wahrheit für uns immer das Maß aller Dinge bleiben.«
Ich seufze:
»Rigobert, es geht nur um einen Stoff-Harlekin.«
»Nein, es geht eben nicht um einen Stoff-Harlekin. Es geht um einen abendländischen Konsens. Die Akzeptanz der Wahrheit ist die Voraussetzung für Demokratie.«
»O Mann!«
»Mit kleinen Lügen fängt es an. Und wenn es dann irgendwann um die Menschenrechte geht, sitzt man in der Falle.«
Mein Vater ist ein Meister darin, überall eine Entwicklung zum Faschismus auszumachen. Einmal hat er Bruno, dem Besitzer von »Brunos Teestube«, in einer zweiseitigen E-Mail erklärt, dass das bewusste Nichtausschenken von Kaffee ein totalitär-faschistoides Ausgrenzungsprinzip darstelle – und dass sich Teetrinker ebenso wie Nichtraucher und Fahrradfahrer in einer moralischen Überlegenheit wähnten, die mit der Arroganz der Nazis durchaus vergleichbar sei – woraufhin er das Nichtraucherschutzgesetz mit den Nürnberger Rassegesetzen verglich. Als er später erfuhr, dass Bruno eine jüdische Mutter hat, arbeitete mein Vater eine ganze Woche an einem 23-seitigen Entschuldigungsschreiben. Inzwischen gehört Bruno zu seinem engeren Freundeskreis.
Es klingelt: Aylin und ihre Familie. Als sich ihre Schritte der Wohnungstür nähern, drückt mir meine Mutter den Stoff-Harlekin in die Hand. Ich gehe schnell ins Schlafzimmer und platziere ihn liebevoll auf dem Kopfkissen. Als ich den Blick hebe, stelle ich fest, dass ich mir eigentlich keine Sorgen wegen Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik machen muss. Ich sollte mir nämlich besser überlegen, wie ich verhindern kann, dass Aylins Eltern das Ölgemälde neben dem Bett entdecken, auf dem ein befreundeter Künstler mit beeindruckendem Realismus dargestellt hat, wie sich meine splitternackte Mutter an eine griechische Adonis-Statue schmiegt.
Ich schließe die Schlafzimmertür und trete in den Flur, wo meine Eltern gerade von Aylin, ihrem Bruder Cem sowie ihren Eltern mit Küsschen auf beide Wangen begrüßt werden. Meine Eltern haben sich inzwischen an das Kuss-Ritual zur Begrüßung gewöhnt – und wenn mein Vater nicht während des Küssens auch noch die Hände schütteln würde, wäre alles perfekt.
Ich sehe Aylin, die mit Stiefeln, schwarzem Minikleid und silbernem Schmuck mal wieder so umwerfend aussieht, dass ich sie am liebsten sofort auffressen würde – wüsste ich nicht inzwischen, dass Türken auf die richtige Reihenfolge Wert legen. Und so begrüße ich
Herrn Denizoğlu
Frau Denizoğlu
Bruder Cem
Aylin
Während Cem bereits am Esstisch sitzt und auf seinem iPhone eine türkische Telenovela verfolgt, hat Frau Denizoğlu ein vielfarbig schimmerndes Etwas aus einer Plastiktüte gezogen und meiner Mutter in die Hand gedrückt, das sich bei näherem Hinsehen als die wohl kitschigste Weihnachtskrippe aller Zeiten entpuppt: Ein rosa glitzerndes Christkind mit goldenem Heiligenschein liegt in einer silbernen Krippe – und auch für Josef, Maria, die drei Könige, Kühe, Schafe und Esel wurden sämtliche schillernden Pastelltöne verwendet, die die Palette hergibt. Während das Dach des Stalls aus blassrosa eingefärbten Muscheln besteht, sind die Wände lückenlos mit goldenen Perlen besetzt. Kurz, eine Krippe, zu der selbst die katholischste Dorf-Mama in Süditalien gesagt hätte: »Nee, das ist echt drüber.«
Schon vor drei Monaten, als sie den Stoff-Harlekin bekam, musste meine Mutter einen Würgereflex bekämpfen. Diesmal ist es schlimmer. Ich glaube, meine Eltern hätten sich sogar über die Reichskriegsflagge mehr gefreut. Frau Denizoğlu hält die Bestürzung in den Augen meiner Eltern für Ehrfurcht und preist ihr Geschenk an:
»Vallaha, ich finde auch unheimlich schön. Das ist schönste Krippe aller Zeiten!«
Meine Mutter ringt immer noch mit der Fassung:
»Also, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das ist so … so …«
Sie wird kreidebleich. Frau Denizoğlu dagegen kann ihre Begeisterung kaum zügeln:
»Vallaha, ist wirklich wunderschön. Ist doch wunderschön, oder Frau Hageberger?!«
»Tja …«
»Vallaha, wunderschön. Ich hätte so gerne selbst behalten, aber …«
Plötzlich wittert meine Mutter eine Chance:
»Sie wollten sie selbst behalten?!«
»Ja, aber habe ich dann gedacht: Nein, für Daniels Eltern kann gar nicht sein schön genug.«
»Ich glaube, ich kann das gar nicht annehmen, wenn Sie es eigentlich selbst behalten wollen.«
»Sie sind zu nett, Frau Hageberger. Aber kommt wirklich von meine ganze Herz.«
»Aber Sie würden mir eine große Freude machen, wenn Sie die Krippe wieder mitnehmen … Weil sie Ihnen doch so gut gefällt.«
Sie drückt Aylins Mutter die Krippe in die Hand. Die gibt ihr die Krippe wieder zurück.
»Auf gar keine Fall.«
Meine Mutter gibt die Krippe noch einmal Frau Denizoğlu, nur um sie postwendend zurückzubekommen. Ich habe etwas Ähnliches vor einiger Zeit in Antalya mit einer Rosenverkäuferin erlebt. Deshalb weiß ich: Meine Mutter hat keine Chance. Irgendwie macht es mir Spaß, sie leiden zu sehen. Das sollte ich in meiner nächsten Therapiesitzung erwähnen. Erneut wandert die Krippe zwischen Frau Denizoğlu und meiner Mutter hin und her.
»Ich bitte Sie, Frau Denizoğlu!«
»Kommt gar nicht in die Frage.«
»Es würde mir viel bedeuten. Sie wissen gar nicht, wie viel.«
»Sie haben eine große Herz, Frau Hageberger.«
»Genau. Und deshalb möchte ich, dass Sie die Krippe wieder mit nach Hause nehmen.«
»Aber ich habe auch eine große Herz. Deshalb, Krippe bleibt hier.«
»Bitte nicht.«
»Keine Diskussion.«
»Was kann ich tun, damit Sie die Krippe nehmen?«
»Gar nix.«
»Gar nix?«
»Gar nix. Pass auf, ich suche jetzt gute Platz.«
Frau Denizoğlu schnappt sich die Krippe und spaziert mit ihr ins Wohnzimmer. Meine Eltern schauen mit angstgeweiteten Augen hinterher. So ähnlich müssen im 16. Jahrhundert die Serben geguckt haben, als das osmanische Heer Belgrad erstürmt hat.
Aylin lächelt mir entschuldigend zu. Sie kann mit dem Kitsch ihrer Mutter ebenso wenig anfangen wie ich mit modernen Theaterinszenierungen. Herr Denizoğlu hat wahrscheinlich einen inneren Spam-Filter für derartige Objekte, denn einerseits quillt seine Wohnung über von diesem Pastell-Glitzer-Nippes, andererseits kann ein heterosexueller Mann so etwas auf gar keinen Fall schön finden.
Frau Denizoğlu ist im Wohnzimmer so mit der Suche nach einem geeigneten Krippen-Platz beschäftigt, dass sie die ungläubigen Blicke von Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik gar nicht bemerkt. Dimiter Zilnik fragt sich wahrscheinlich gerade, ob er LSD in der Zigarre hat, denn in einem normalen Bewusstseinszustand hat er solche Farben sicher noch nie erlebt. (Die grellste Kulissenfarbe, die ich jemals in einer seiner Theaterinszenierungen gesehen habe, war ein schimmelartiges Graubraun.) Ingeborg Trutz hingegen stellt ihren persönlichen Rekord im Nichtsprechen auf und zündet sich nervös eine Roth-Händle an, die sie stets mit einer schwarzen Zigarettenspitze raucht, wie Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany’s. Ich möchte Frau Denizoğlu beglückwünschen: Sie hat Ingeborg Trutz tatsächlich zum Schweigen gebracht – das ist Dimiter Zilnik in über dreißig Jahren nicht gelungen.
Endlich hat Aylins Mutter einen geeigneten Platz gefunden: auf der abstrakten Steinplastik von Alfons Kunen.
»Vallaha, hier sieht super aus.«
Meine Eltern stehen mit immer noch schreckgeweiteten Augen in der Tür. Aber Frau Denizoğlu hat ihren Eingriff in die klassische Moderne noch nicht abgeschlossen:
»Platz ist vallaha sehr gut, nur Stein ist bisschen hässlich. Keine Angst, kaufe ich eine schöne Stoff oder Tüll, dann sieht besser aus.«
Die Stimme meiner Muter nimmt jetzt einen flehenden Tonfall an:
»Das ist wirklich nicht nötig.«
»Keine Widerrede, ich mache gerne.«
Aylin scheint sich noch nicht entschieden zu haben, ob sie sich für ihre Mutter schämen oder vom Kunstgeschmack meiner Eltern befremdet sein soll. Ihr Blick haftet an einem hässlichen rotbraunen Geschmiere (meine Einschätzung) beziehungsweise einem unheimlich intensiven Farberlebnis (Wahrnehmung meiner Eltern). Das Bild dominiert allein schon aufgrund seiner Größe von 2,30 × 3,50 Metern das Wohnzimmer. Herr Denizoğlu scheint von diesem Werk ähnlich erfreut wie von der Idee eines freien Kurdistan – und seine Frau überlegt vermutlich gerade, wie viele Pailletten man braucht, um die gesamte Fläche zuzukleben. Aber ich kenne die türkische Mentalität inzwischen gut genug und kann meiner Familie in spe eine Brücke zur klassischen Moderne bauen:
»Das Bild ist über 10000 Euro wert.«
Zur Abscheu in den Augen der Denizoğlus gesellt sich jetzt Respekt. Immerhin ein Anfang.
In einer Übersprunghandlung begrüßt Aylins Mutter Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik mit Wangenküsschen, was diese regungslos über sich ergehen lassen.
Als Frau Denizoğlu meine Oma entdeckt, ist sie völlig aus dem Häuschen:
»Aaaaaaah, ist deine Oma?! Vallaha, ist unheimlich süß, Allah, Allah, sehr süß deine Oma, Daniel, guck doch mal, ist soooo süüüüß hahahaha.«
Jetzt gibt sie auch Oma Berta Wangenküsschen, was bei dieser großes Befremden auslöst. Sie ist selbst für eine Westfälin noch überdurchschnittlich distanziert – die zärtlichste Geste, die ich von ihr je erlebt habe, war, als sie meinem Vater zum Abschied kurz auf die Schulter geklopft hat. (Vielleicht hat sie auch nur nach einer Fliege geschlagen.) Auf jeden Fall wird diese Frau, die seit dem Tod meines Opas vor dreißig Jahren bis auf das Schütteln von Händen keinerlei Hautkontakt mit anderen Menschen hatte, jetzt von Frau Denizoğlu in beide Wangen gekniffen, gleichzeitig herzhaft auf die Stirn geküsst und anschließend so fest gedrückt, dass sie nach Luft schnappt.
Aylin lässt sich von der Begeisterung ihrer Mutter anstecken und drückt meine Oma, die sich gerade noch von der ersten Umarmung erholt, ebenfalls an sich und küsst sie zunächst auf die Hand, dann auf beide Wangen. Damit hat sich die körperliche Zuwendung, die meine Oma in den vergangenen dreißig Jahren erhalten hat, innerhalb von 25 Sekunden verhundertfacht. Irritation ist eine extreme Untertreibung für das, was sich jetzt im Gesicht meiner Oma spiegelt.
»Wer sind diese Menschen? Und was wollen sie von uns?«
»Das sind meine Verlobte Aylin und ihre Mutter.«
»Und warum begrabbeln sie mich?«
»Das ist eine türkische Tradition.«
»Was? Das sind Türken?«
»Ja.«
»Und was machen die hier in Deutschland?«
»Na, die leben hier.«
»Wie? Haben die uns etwa besiegt? Das hat mir keiner gesagt.«
Zur Abwechslung ist mir jetzt mal meine Oma peinlich.
»Oma, die Türken sind nicht unsere Feinde.«
»Und warum besetzen sie dann unser Haus?«
»Oma, die …«
»Und wozu steht im April noch der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer? Wir sind doch hier nicht bei den Hottentotten!«
In diesem Moment stellt Frau Denizoğlu unter Beweis, dass Türken die schöne Gabe besitzen, um des lieben Friedens willen die Realität schlicht zu ignorieren:
»Daniel, vallaha, deine Oma ist wirklich unheimlich süß – Allah, Allah …«
Dieses Ausblenden der Realität praktizieren die Denizoğlus auch bei ihrem eigenen Sohn: Sie wissen eigentlich, dass Cem homosexuell ist, aber weil es ja keine schwulen Türken gibt, kann das gar nicht sein, und dann ist es auch nicht so.
Im selben Moment, als Frau Denizoğlu meiner überforderten Oma erneut in beide Wangen kneift, überreicht Herr Denizoğlu meinem Vater eine verpackte CD. Ich ahne schon, dass es sich eher nicht um die größten Erfolge von Wolf Biermann oder ein Hörbuch von Peter Sloterdijk handeln wird. Als ich Heinos Brille sehe, wird meine Ahnung bestätigt: Deutsche Weihnacht – Heino und Hannelore singen die schönsten Lieder zum Fest.
Jetzt sehe ich meine Chance, mich für die vielen Freejazz-Konzerte zu rächen, zu denen mich meine Eltern in meiner Jugend mitgeschleppt haben:
»Also, ich finde, die CD sollten wir sofort auflegen.«
Nachdem Heinos Interpretation von Kommet ihr Hirten es geschafft hat, den Nichtsprech-Rekord von Ingeborg Trutz um weitere drei Minuten zu verlängern, platzt es dann doch aus ihr heraus, als Hannelore die ersten Töne von Lasst uns froh und munter sein anstimmt:
»Das ist unerträglich. Keiner interessiert sich mehr für Bertolt Brecht, die Erde stirbt, auf Fuerteventura verhungern die Katzen – und wir sollen froh und munter sein. Ich glaube, ich kriege einen Migräneanfall. Hach, da ist er schon.«
Sofort zückt Frau Denizoğlu ihre Aspirinschachtel:
»Hier, nehme Sie. Hilft auch sehr gut gegen Hautproblem.«
»Danke, aber mir würde schon reichen, wenn diese grauenhafte Musik aufhörte.«
Mein Vater stoppt die CD, und auch Familie Denizoğlu scheint erleichtert – so gruselig hatten sie sich deutsche Weihnachtsmusik wahrscheinlich gar nicht vorgestellt. Eine peinliche Pause entsteht. Dann zeigt Oma Berta auf die Denizoğlus:
»Sind das die Russen, die sie bei uns einquartiert haben?«
Eine weitere peinliche Pause entsteht. Dann stupst meine Mutter meinen Vater an, der sich schnell erhebt und einen weißen Zettel aus seiner Hemdtasche holt. Das bedeutet Unheil: Er wird eine seiner gefürchteten Reden halten. Ich suche nach Fluchtgelegenheiten. Aylin seufzt. In einem Wer-schämt-sich-am-meisten-für-seine-Familie-Contest hätten wir jetzt ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen. Aber ich fürchte, die Rede meines Vaters wird meinen Sieg bedeuten.
Er räuspert sich. Stille. Er räuspert sich erneut. Stille. Und noch einmal. In diesen Momenten bastelt er sich im Kopf aus den Stichworten den ersten Satz seiner Rede zusammen. Ein erneutes Räuspern, gefolgt von gut zehn Sekunden Pause und einem finalen Start-Räuspern, dann geht es los:
»Liebe Berta, liebe Erika, lieber Daniel, liebe Ingeborg, lieber Dimiter, liebe Aylin, lieber …«
Ihm fällt der Name von Aylins Bruder Cem nicht ein.
»… lieber …«
Er räuspert sich. Ich helfe ihm:
»Cem.«
»… lieber Cem. Und äh, liebes Ehepaar Denizoğlu. Dass wir heute gemeinsam Weihnachten feiern, erscheint mir ein wenig surreal, aber ich sehe darin auch eine gewisse Ironie.«
Ich sehe in den Gesichtern von Aylins Eltern, dass sie die Worte »surreal« und »Ironie« zum ersten Mal in ihrem Leben hören.
»… denn schließlich messen weder die Hagenbergers und ihre Freunde als Agnostiker noch die Denizoğlus als Vertreter der muslimischen Glaubensgemeinschaft der Geburt Christi eine größere Bedeutung bei. Und doch haben wir uns heute hier versammelt, um gemeinsam Jesu Geburtstag zu feiern.«
Frau Denizoğlu ist irritiert:
»Wer hat Geburtstag?«
Wie aus der Pistole geschossen antwortet Oma Berta:
»Der Führer.«
»Nein, Mutter. Jesus Christus.«
»Das kann gar nicht sein. Dann wäre ja Weihnachten.«
Frau Denizoğlu hakt noch einmal nach:
»Also Weihnachten ist Geburtstag von Jesus?«
Mein Vater erlebt seine glücklichsten Momente, wenn er Wissen weitergeben kann:
»Exakt. Weihnachten ist im Prinzip nichts anderes als eine Geburtstagsfeier. Mit der kleinen Abweichung, dass das Geburtstagskind schon tot ist.«
Oma Berta ist irritiert.
»Der Führer ist tot?«
»Der auch. Aber ich rede von Jesus Christus.«
»Das stimmt gar nicht. Jesus lebt. Haben neulich erst meine Nachbarn gesagt.«
»Mutter, das waren die Zeugen Jehovas. Ich habe dir doch erklärt: Die sind nicht deine Nachbarn und du sollst sie nicht immer einladen.«