Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2017

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Lektorat Frank Strickstrock

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63137-5 (1. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-56261-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-56261-5

Fußnoten

Begriffe, die beim ersten Auftritt kursiv und mit * markiert sind, werden im Anhang näher erläutert.

Siehe speziell zu Hypnose auch das Kapitel über Hypnose ab S. 149.

Inhalt

Vorwort

Chaos

Gibt es überhaupt Messies, und wenn ja: wieso?

Sandra Felton: die Mutter des Begriffs

Inneres Chaos – äußeres Chaos

Die Ich-Liebe wiederfinden

Wenn der Tod ins Leben tritt – Stefan

Der Müll ist die Welt: Bindung an die Dinge

Die Gläsersammlerin – Manuela

Der Informationssammler – Hans-Jürgen

Schöne neue Welt: Der Cyber-Messie

Wenn die Cyber-Welt zur Heimat wird – Yvonne

Das Phänomen – eine kleine Typologie

Der Visionär

Der Rebell

Der Reinliche

Der Zeit-Chaot

Der Sentimentale

Die Spartanerin

Der Sicherheits-Messie

Überforderung im Alter

Bin ich schon ein Messie?

Jeder hat die Wahl – aber Messies spüren sie nicht mehr

Menschen in Bewegung bringen

Die Beziehung zu sich selbst wieder aufbauen

Der Seelenvertrag

Das Innere Kind, das Kind-Ich und die Seelenreise

Manchmal geht es schnell – Hermann

Hypnose – warum und wozu?

«Als ob etwas Schweres sich aufgelöst hat» – Michaela

Wie wir Wohnung und Seele aufräumen

Anhang

Glossar

Hypnosebeispiele

Literatur

Dank

Vorwort

Ordnung ist das halbe Leben. Wer diesen Spruch hört, darf sich mit Fug und Recht fragen, was denn dann die andere Hälfte ist. Chaos? Kreatives Chaos gar? Ein wirres Durcheinander, das unser Leben bedroht? Oder doch die Chance auf Selbstverwirklichung ohne starres Korsett durch Regeln und Vorschriften?

Für Menschen, die unter dem Messie-Phänomen leiden, gilt das nicht mehr. Sie haben die Wahl des ihnen gemäßen Lebensstils irgendwann verloren. Unordnung bestimmt ihr Leben. Das Chaos, oft Schmutz und ein nicht mehr zu bewältigendes Durcheinander.

Nachdem die Sonderschulpädagogin Sandra Felton 1985 den Begriff «Messie» prägte, ist er so selbstverständlich in unseren Alltags-Wortschatz eingegangen, dass wir uns kaum noch Gedanken über die Hintergründe machen. Wir verwenden den Begriff – ähnlich übrigens wie beim «Mobbing» – gern im übertragenen Sinn und verniedlichen ihn damit aber auch; mit dem Phänomen im eigentlichen Sinn möchten wir lieber nicht zu tun haben.

Dabei kann durch ungünstige Lebensumstände durchaus jeder betroffen sein. Wann haben Sie das letzte Mal Unterlagen auf dem Schreibtisch einfach auf einen Haufen gelegt, anstatt sie gleich in die vorhandenen Ordner zu sortieren? Gibt es bei Ihnen diese Stapel, die schon lange nach Bearbeitung rufen? Wie sieht es auf Ihrem PC aus; finden Sie noch wieder, was Sie dort alles abgespeichert haben; finden Sie noch durch? Geht es Ihnen noch gut damit?

Bei den meisten von uns gibt es diverse Formen der Unordnung, die uns deshalb nicht gleich zu Messies machen. Lassen wir es jedoch zu, dass die Unordnung Oberhand gewinnt, so kann das der erste Schritt auf dem Weg zu einem «echten» Messietum sein.

Dieses Buch soll niemandem Angst machen. Ich möchte keine Verhaltensweisen pathologisieren, mit denen die meisten Menschen gut klarkommen. Den Eindruck jedoch, den ein immer stärkeres Abgleiten in die Unordnung erzeugt, den kennen viele von uns.

Ich gehe der Frage nach, welche Zusammenhänge es zwischen innerer und äußerer Ordnung gibt, wie also unsere Psyche, unser Seelenleben, unsere Handlungsroutinen beeinflusst. Ich ergründe, wann und wieso man ein Messie-Problem attestieren muss und welche Auswege es gibt. Ich schreibe in diesem Buch also letztlich über uns alle, über Sie und auch über mich. Ich werde etwas zum theoretischen Hintergrund des Messie-Phänomens erläutern, aber auch zeigen, wie wir Messie-Tendenzen in unserem Leben entgegenwirken können.

Seit ich denken kann, liegt mir die Arbeit mit anderen Menschen am Herzen. Deshalb habe ich mich vermutlich auch zur Heilpraktikerin für Psychotherapie ausbilden lassen, mit einer Reihe von zusätzlichen Qualifikationen, die im Folgenden hier und da eine Rolle spielen werden. Irgendwann hat sich in meiner Praxis ein Schwerpunkt in der Arbeit mit sogenannten Messies ergeben. Die Erfahrungen, die ich dabei sammeln konnte, habe ich in eine TV-Doku-Serie («Das Messie-Team») eingebracht, und jetzt gebe ich sie in diesem Buch weiter.

Dazu gibt es immer wieder Alltagsbeispiele aus meiner Praxis. Sie sind natürlich gründlich anonymisiert worden; wenn sich jemand wiedererkennt, dann nur, weil er Verhaltensmuster wiedererkennt. Doch nichts davon ist erfunden oder zugespitzt. Die Beispiele im Buch zeigen, dass es den «typischen» Messie gar nicht gibt. Und dass ganz alltägliche Situationen dafür sorgen können, in dieses Problem hineinzurutschen. Denn passieren kann es jeder und jedem. Deshalb ist dieses Buch auch dazu da, Ihnen Hilfen an die Hand zu geben, falls Sie sich darüber klarwerden möchten, wie aufgeräumt Sie sich gerade fühlen. Im halben oder im ganzen Leben.

 

Sabina Hirtz, August 2016

Chaos

Ich bin erschüttert. Als ich in das Haus komme, empfängt mich ein bestialischer Geruch. Normales Gehen ist auf dem von Müll übersäten Boden nicht möglich. Ich stakse vorsichtig durch die Mengen von Kartons, Verpackungen, Schalen, in denen Essensreste gammeln, Gläsern und Flaschen. Einen Raum nach dem anderen nehme ich in Augenschein, überall das gleiche Bild. Objektiv gesehen ist das hier kein Wohnhaus mehr, es ist eine Müllkippe.

Eine Müllkippe, in der ein Mensch wohnt.

Dieser Mensch steht jetzt neben mir und schaut unsicher auf das Chaos. Ich spüre, dass er nach Erklärungen sucht, nach Entschuldigungen. Vielleicht würde er am liebsten weglaufen, doch dazu fehlt ihm mittlerweile die Kraft.

Szenen wie diese würden die meisten Menschen wohl als abstoßend empfinden und spontan die betroffenen Menschen verurteilen. Szenen, die Menschen schockieren, und für viele ist kaum vorstellbar, wie es so weit kommen kann.

Solche schweren Fälle bekomme natürlich auch ich nicht jeden Tag zu sehen; es sind jedoch Fälle, die in meiner TV-Sendung «Das Messie-Team» verdeutlichen, wie schlimm dieses Phänomen werden kann, wenn den betroffenen Menschen die notwendige therapeutische Betreuung fehlt.

What a mess(ie)!

«Messie» ist mittlerweile ein geflügeltes Wort. Es hat sich verselbständigt, und wir neigen dazu, leichtfertig unordentliche Menschen als Messie zu bezeichnen, um zum Ausdruck zu bringen, dass uns ihre Unordentlichkeit stört.

Das ist ein Grund, warum ich bei den Vorüberlegungen zu diesem Buch am liebsten auf das M-Wort im Titel verzichtet hätte. Ich verwende es aber dennoch, weil es trotz aller Unschärfe ein so sprechendes und auch geläufiges Wort ist, dass jeder etwas damit anfangen kann. Da die Übergänge von der unbedenklichen Unordentlichkeit zum pathologischen Messie-Phänomen durchaus fließend sind, ist es sinnvoll, zunächst einmal von diesem Wort auszugehen, auch um schließlich zeigen zu können, wie wir künftig anders über dieses Phänomen sprechen können.

Meine erste Begegnung mit dem Messie-Phänomen hatte ich durch meinen ersten Manager in der Musikszene.

Seit meiner Jugend mache ich Musik. Allerdings weniger Musik, die sich für Betriebsfeiern, Hochzeiten oder einen ruhigen Abend daheim eignet, sondern sehr, sehr laute Musik. Ich bin seit 35 Jahren Sängerin der Thrash-Metal-Band «Holy Moses», die mittlerweile zu den Urgesteinen des Genres gehört. Thrash-Metal ist in etwa das, wonach es klingt. Ehrliche, harte, laute Musik, wenn auch nicht wirklich massenkompatibel.

Sein Name war Uli. Er war damals eine echte Nummer im Musikbusiness. Er hat beispielsweise Nena in ihrer ganz frühen Zeit gemanagt, ebenso andere Größen der Neuen Deutschen Welle. Außerdem war er zu jener Zeit Herausgeber der «Aachener Illustrierten», einer regionalen Zeitschrift, für die er ein Interview mit der Band machen wollte, die ihn bereits längere Zeit interessierte. Darüber hinaus wollte er einiges über meine Moderatorentätigkeit beim TV-Metal-Magazin «Mosh» bei RTL wissen.

Wir trafen uns zum ersten Interview in einem thailändischen Restaurant, und auch danach fanden unsere Gespräche erst einmal an öffentlichen Orten statt. Wir lernten uns besser kennen und merkten recht schnell, dass Uli der Band einiges geben konnte. Schließlich wurde er unser Manager, und zu diesem Zeitpunkt betrat ich zum ersten Mal seine Wohnung. Er lebte damals in einer 2-Zimmer-Wohnung kurz hinter der deutsch-niederländischen Grenze. Sie war einerseits faszinierend, ließ sie doch keinen Zweifel darüber zu, wer hier wohnte. LP reihte sich an LP, eine unüberschaubare Zahl an Schallplatten, dazu Zeitungsausschnitte über Bands, Festivals, Konzerte und Aktenordner voll mit weiterem Material über die Musikbranche.

Andererseits spürte ich, dass hier etwas im Argen lag. Die Aktenordner waren nicht nur voll, sie quollen über. Darüber hinaus lagen unsortierte Ausschnitte und Unterlagen in der Wohnung herum, und ich hatte nicht das Gefühl, dass Uli sich zeitnah daranmachen wollte, sie wegzusortieren oder vielleicht sogar das eine oder andere Überflüssige zu entsorgen. Auffällig war auch, dass in ganz vielen Plattenhüllen die falschen Platten steckten. So konnte man durchaus eine vermeintliche Beatles-Platte aus dem Schrank ziehen und hatte plötzlich eine Stones-Scheibe in der Hand.

In der nächsten Zeit managte Uli Holy Moses. Er kannte Gott und die Welt in der Musikbranche und unterstützte die Band bei der Promotion, wo er nur konnte.

Mit seinem riesigen Fachwissen war er uns eine große Hilfe. Die Ordnung dieses immensen Wissens indes war ein ernst zu nehmendes Problem. Sowohl das Büro als auch die Wohnung stellte er immer weiter mit allen möglichen Aktenordnern, Platten, Demotapes und anderen Dingen voll. Auf den Punkt gebracht: Uli, unser Manager, war der erste Messie, dem ich begegnete, bei dem mir das volle Ausmaß dieses Phänomens nach und nach bewusst wurde. Bei dem mir auch bewusst wurde, dass Menschen, die darunter leiden, geholfen werden muss, dass man sie nicht alleine lassen darf. Und ich ahnte wohl auch damals schon, lange vor meiner Ausbildung zur Hypnosetherapeutin, dass die Ursache für die scheinbar chronische Unordnung nicht einfach nur irgendeine Unfähigkeit zum Aufräumen war, sondern sehr viel tiefer im Inneren liegen musste.

Gibt es überhaupt Messies, und wenn ja: wieso?

Die Begegnung mit Uli war also gewissermaßen mein Einstieg in die Messie-Welt, ohne dass ich das damals schon wissen konnte. Warum sich dieses Phänomen über all die Jahre zum Schwerpunkt meiner therapeutischen Tätigkeit entwickelt hat, lässt sich leicht erklären.

Es hat damit zu tun, dass es bei dem Messie-Phänomen nur oberflächlich betrachtet um Schwierigkeiten mit dem Aufräumen und Ordnunghalten geht. Die Unordnung, das Chaos bis hin zu völlig vermüllten Wohnungen oder sogar Häusern, ist nur die äußere Erscheinungsform einer tief in der Seele des einzelnen Menschen liegenden Unordnung. Die Hintergründe sind vielfältig, und ich werde sie in diesem Buch in einer Mischung aus Fallbeispielen und fachlichen Erläuterungen erklären. Dabei ersetzt dieses Buch keine Therapie! Wer ernsthaft vom Messie-Phänomen betroffen ist, wird nicht nach der Lektüre geheilt sein. Es bedarf zum Teil jahrelanger professioneller Begleitung, um dorthin zu gelangen, wo unsere Seele die Auslöser für das Messie-Phänomen versteckt hat.

Gleichwohl ist dieses Buch für eine breite Leserschaft gedacht, nämlich sowohl für alle, die sich unsicher sind, ob oder wie sehr sie bereits Messie sind, als auch für Angehörige, Freunde und Bekannte. Darüber hinaus sind auch ganz unabhängig von der Messie-Problematik alle Leser herzlich eingeladen, die mehr darüber wissen wollen, wie man die Seele entrümpeln kann. Nicht jede seelische Belastung äußert sich letztlich über ein Messie-Verhalten; die hier beschriebenen psychotherapeutischen Methoden eignen sich auch in anderen Fällen, um die Wunden der Seele zu behandeln.

Sandra Felton: Die Mutter des Begriffs

Die Idee, das Messie-Phänomen als eigenständiges Krankheitsbild zu beschreiben, ist relativ jung. 1985 stellte die Sonderschulpädagogin Sandra Felton eine eigenartige «Macke» an sich selbst fest: Sie, die in ihrem Job überaus ordentlich, strukturiert und organisiert arbeitete, schaffte es in ihrem Privatleben immer weniger, Ordnung zu halten und das Privatleben ebenfalls zu strukturieren. Im Büro, so erzählt es Felton im Rückblick, habe man sie gerade wegen ihres Talents zur Organisation sehr geschätzt, darüber hinaus sei für den Beruf der Sonderschulpädagogin besonders viel Strukturierung erforderlich gewesen, um der vielfältigen Anforderungen Herr zu werden.

Und daheim: Immer mehr Chaos und bald schon eine handfeste Ehekrise. Feltons Mann stellte sie vor die Wahl: Es muss etwas passieren oder ich gehe. Doch Feltons Ehe hielt, ihre drei Kinder mussten nicht auf den Vater verzichten, weil sie in der Lage war, ihr eigenes Problem zu analysieren und konstruktiv anzugehen.

Felton ging, wie ich es heute nennen würde, «in die Struktur». Sie schuf sich Strukturhilfen, um Ordnung in das heimische Chaos zu bringen. Sie traf damit eine Wahl, was banal klingt, tatsächlich aber sehr wichtig ist, weshalb ich es an anderer Stelle noch ausführlich erklären werde.

Das ist eine Vorgehensweise, die nicht bei jedem Messie funktioniert. Genauer gesagt: Sie funktioniert dann, wenn das Messie-Phänomen aus der ganz konkreten Lebenssituation heraus entsteht, wenn also keine tiefliegenden psychischen Ursachen dahinterstecken, sondern «nur» eine partielle Überforderung, wie sie bei Felton durch die hohen Ansprüche im Job und ihre zeitliche Inanspruchnahme insgesamt ausgelöst worden waren. Sie funktioniert auch dann, wenn psychische Ursachen erforscht und therapiert wurden, um wieder Grund in das häusliche Chaos zu bekommen.

Bei vielen Menschen jedoch führen die gerade auch von Angehörigen häufig vorgebrachten Vorschläge, wie man durch einfaches Strukturieren Ordnung schaffen könne, nur zu noch mehr Stress und Abwehrhaltung und in der Folge zu noch mehr Chaos. Dann liegen die Gründe für das Messie-Phänomen wesentlich tiefer und müssen auch entsprechend behandelt werden.

Sandra Felton schaffte es über einen langen Zeitraum, ihr Leben zu verändern. Sie gründete eine Selbsthilfegruppe und nutzte diese Erfahrung produktiv, um ihre Erkenntnisse in mehreren Büchern zu verarbeiten. Dabei entstand der Begriff «Messie», der heute fast schon sprichwörtlich ist. Sandra war die Erste, die die Gefahren und das latent Pathologische in übergroßer Unordnung nicht nur erkannte, sondern systematisch bearbeitete.

An ihrer Person lässt sich auch erkennen: Das Messie-Phänomen ist nicht auf eine bestimmte soziale Schicht begrenzt. Die Assoziation von «unordentlich» und «auf niedrigem Bildungsstand» greift daneben. Messies gibt es quer durch alle sozialen Schichten. Allerdings führt ein unbehandeltes Messie-Phänomen häufig zu sozialem Abstieg, weil das eigene Leben aus den Fugen gerät, Freunde und Bekannte sich abwenden und nicht selten auch berufliche Konsequenzen bis hin zum Jobverlust folgen.

Zu mir in die Praxis kommen in der Regel Menschen, die es nicht, wie Sandra Felton, über Strukturhilfen schaffen, dem Chaos etwas entgegenzusetzen. Entsprechend bin ich auch kein Aufräumcoach. Es ist zwar oft Teil meiner Therapie, Hilfestellungen beim eigentlichen Vorgang des Aufräumens zu leisten, doch steht dieser Teil immer erst am Ende, wenn die Ursachen des Phänomens erfolgreich behandelt wurden. Deshalb hat der Untertitel dieses Buches auch einen tieferen Sinn: Die Wohnung können Messies erst dann nachhaltig entrümpeln, wenn sie die tief in ihrer Seele liegenden Probleme bearbeitet haben. Ein einfaches «Räum endlich auf!» oder «Schmeiß doch die Sachen endlich weg!» von außen kann für echte Messies fatale Auswirkungen haben, weil niemand versteht, dass es bei ihnen nicht um das Nicht-aufräumen-Wollen, sondern tatsächlich um ein Nicht-aufräumen-Können geht.

In Deutschland wird bis heute nicht offen über die Messie-Problematik gesprochen. Auch das hoffe ich mit diesem Buch aufbrechen zu können. Menschen, die unter diesem Phänomen leiden, werden belächelt oder als schlampig und chaotisch abqualifiziert. Wer in einem kreativen Job arbeitet, hat meist bei seinen Mitmenschen eine höhere Toleranzschwelle, weil es ja das geflügelte Wort vom «kreativen Chaos» gibt, aus dem Gutes entsteht. Ein Bankangestellter, dessen Wohnung in der Unordnung versinkt, hat da mit weniger Nachsicht zu rechnen; immerhin hat schon sein Beruf viel mit Ordnung und Struktur zu tun, die Zahlen im täglichen Geschäft müssen schließlich stimmen.

Gerade weil so wenig konkret über die Problematik gesprochen wird, gibt es eine große Zahl von Klischees, Vorurteilen und vollkommen falschen Vorstellungen darüber, worum es beim Messie-Phänomen geht. Schon der Fakt, dass nur schwer an wirklich aussagekräftiges statistisches Material zu kommen ist, weist auf die mangelnde Auseinandersetzung mit dem Thema hin. Vorsichtige Schätzungen gehen von mindestens einer Million betroffenen Menschen in Deutschland aus, etwas mutigere sprechen von bis zu drei Millionen, und wie immer wird die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen. Wenn aber tatsächlich eine siebenstellige Zahl an Menschen in diesem Land ernsthaft von dem Phänomen betroffen ist, dann ist es umso seltsamer, dass man sich nur sporadisch damit auseinandersetzt.

Natürlich liegt das, wie bei allen psychischen Vorgängen, auch daran, dass die eigentlichen Ursachen des Problems nicht zu sehen sind. Anders als bei einem Beinbruch oder organischen Veränderungen im Körper, die man heute mit bildgebenden Verfahren sichtbar machen kann, liegen Verschiebungen in unserer Psyche im Dunkeln. Der Betroffene spürt sie, während er nach außen für seine Umwelt zunächst vollkommen normal wirkt. Die Außenstehenden sehen allenfalls die Symptome: Unordnung, Chaos bis hin zur totalen Vermüllung. Über eine symptomatische Herangehensweise im Sinne etwa des bereits erwähnten Aufräumcoachings wird man aber selten an die Wurzel des Problems kommen.

Eine Fokussierung auf bloße Hilfen beim Aufräumen kann schon deshalb nicht funktionieren, weil das Messie-Phänomen keinesfalls eindimensional ist. Es gibt die unterschiedlichsten Ausprägungen von Messies. Das Ansammeln von mehr und mehr Müll in der Wohnung ist nur die markanteste Form, die man am einfachsten erkennt und die auch für Außenstehende konkrete Probleme verursacht. Weitere Formen, von denen ich einige an anderer Stelle näher erläutern werde, sind beispielsweise der Zeit-Messie, der Cyber-Messie, der Alters-Messie oder auch der Messie, der nichts vermüllt und im Chaos versinken lässt, sondern im Gegenteil zwanghaft Ordnung hält. Eine Ordnungsliebe allerdings, die nicht hilft, sondern Probleme bereitet. Dies ist übrigens eines der wichtigsten Kriterien bei der Beurteilung, ob jemand Hilfe braucht oder nicht: Gibt es ein Problem?

Generell kann jeder sich selbst ein paar Fragen stellen, um erste Hinweise auf ein vorliegendes Problem zu bekommen. Solche Fragen sind beispielsweise:

1. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Unordnung größere Probleme bei der Bewältigung des Alltags verursacht?

Beispiele: Sie wollen Daten auf einen USB-Stick packen und wissen ganz genau, dass Sie schon um die fünf Stück haben; Sie können aber keinen finden und müssen los und einen neuen kaufen. Das kostet jetzt Geld und vor allem Zeit; Zeit, die vielleicht für etwas anderes wichtig gewesen wäre, etwa das Aufräumen der Küche.

Sie wollen sich von den alten VHS-Videokassetten trennen. Aber dann fällt Ihnen ein, dass Sie mit dem alten VHS-Recorder ja immer gut umgehen konnten und Kassetten immer schwieriger zu bekommen sind. Sie beschließen, die Kassetten erst einmal zu behalten, obwohl Sie sie eigentlich gar nicht mehr benutzen.

Sie wollen Kleidung aussortieren. Die Jacke passt nicht mehr und hat ein kleines Loch an einer unsichtbaren Stelle. Dann überlegen Sie: Vielleicht kann man das ja noch stopfen und vielleicht passe ich da ja später wieder hinein; und überhaupt kann es sein, dass ich sie noch mal brauche, wenn ich mir keine neue leisten kann. Also wird sie doch verwahrt. Oder sie landet auf dem Stapel der zu flickenden Sachen, die nie geflickt werden. Sie kaufen womöglich eine Nähmaschine, die dann doch nie benutzt wird.

Kennen Sie das oder ähnliche Situationen? Wenn ja, dann könnte ein Problem vorliegen.

2. Wie fühlen Sie sich in der eigenen Wohnung?

Haben Sie zu viele Dinge in einem Raum, erfordern Ihre Lebensumstände immer mehr Raum? Sie hören beispielsweise sehr gerne Musik und schauen gerne Filme. Sie haben Ihre Sammlungen gerne griffbereit im Schrank stehen. Mittlerweile haben Sie aber so viele CDs und Filme, dass sie sich stapeln, auch neben den Regalen. Sie müssen ja alles noch einsortieren, nach Namen oder Musikrichtung. Dazu ist aber ein neues Regal notwendig. Das muss gekauft und aufgebaut werden. Dazu fehlt die Zeit, also werden erst mal Stapel im Wohnzimmer, im Flur, in der Küche oder im Schlafzimmer angelegt. Dies kann genauso für Bücher gelten. Spüren Sie einmal nach, wann Sie das letzte Mal so richtig Luft holen konnten in Ihrer eigenen Wohnung. Und wann Sie ohne das Wegräumen von Stapeln durchsaugen konnten. Oder saugen und putzen Sie immer an Stapeln vorbei oder haben sogar schon keine Lust mehr zu saugen, weil es sowieso nie sauber wird rund um die Stapel? Fühlt sich Ihr Zuhause so an, als könnte es selber nicht richtig durchatmen?

Wenn Sie dieses Gefühl so oder so ähnlich kennen, dann könnte ein Problem vorliegen.

3. Wie laufen Ihre sozialen Beziehungen?

Haben Sie keine Kraft mehr, sich mit Freunden zu treffen? Sie möchten sich eigentlich nach der Arbeit mit Freunden treffen, haben aber ein schlechtes Gewissen, weil zu Hause noch so viel liegengeblieben ist. Sie gehen dann nach Hause, aber Sie können sich nicht mehr aktivieren. Setzen sich lieber vor den Fernseher und zappen herum, landen dann womöglich sogar bei einem Shopping-Sender, der vorgaukelt, dass dort Freunde sind, die einem etwas empfehlen.

Wenn Sie das oder so ähnlich kennen, dann könnte ein Problem vorliegen.

4. Laden Sie Freunde in Ihre Wohnung ein?

Gerümpel kann Scham verursachen, und womöglich hat sich bei Ihnen schon so viel angesammelt auf Stapeln und in Ecken, dass es total unordentlich ist und Sie erst mal alles wegräumen müssten, damit Sie Freunde einladen können. Im Ernstfall ist Ihr Zuhause nur noch mit großem Aufwand zu reinigen, sodass Sie sich schämen, Leute zu sich einzuladen. Bekommen Sie Panik, wenn jemand unerwartet vor Ihrer Tür steht, sei es der Heizungsableser oder die Nachbarin von nebenan, die Ihnen eigentlich nur ein Päckchen bringen will? Wenn Sie dann die Tür nur einen kleinen Spalt öffnen oder sagen, Sie müssten zu einem wichtigen Termin, nur um niemanden in die Wohnung zu lassen – dann liegt womöglich schon ein ernstes Problem vor.

5. Haben Sie Probleme, Entscheidungen zu treffen und/oder zu Entscheidungen zu stehen?

Mussten Sie schon zusätzliche Kosten beim Flug bezahlen, weil die Koffer zu schwer waren? Denn Sie konnten sich nicht entscheiden, was Sie unbedingt mitnehmen müssen, aber auch getrost zu Hause lassen können? Denn man weiß ja nie, was so alles passieren könnte …?

Oder tun Sie sich schon morgens mit der Frage schwer, ob Sie duschen wollen oder nicht – oder ist das Routine bzw. stellt keine ernsthafte Frage dar? Gut, wenn es so ist. Gut auch, wenn Sie sich ebenfalls keine Gedanken machen, die Post zu öffnen, egal was Sie da erwartet. Wenn Sie viele Stapel auf dem Schreibtisch haben, aber einfach eine Menge zu tun ist, und Sie die Stapel in der geplanten Zeit strukturiert nacheinander abarbeiten. Dann haben Sie auch kein Problem. Wenn Sie aber, bei all den vielen Sachen, die zu erledigen sind, nicht mehr entscheiden können, wo Sie anfangen sollen, und dann womöglich mit gar nichts anfangen – ja, dann haben Sie ein Problem.

 

Welches genau und wie ernst? Darauf kann es hier von mir keine Antwort geben. Jedenfalls nicht nach dem Motto, wer dreimal von fünfmal ja sagt, der sei schon ein Messie. Die Fragen sind einzig ein Angebot, einmal in sich zu gehen, sich Ihrer selbst zu vergewissern. Geben Sie sich selbst eine ehrliche Antwort auf die Fragen und notieren Sie sich gerne dazu eigene Stichworte.

Die ehrliche Beantwortung solcher Fragen kann einen ersten Hinweis darauf geben, ob es angebracht ist, einmal mit einem Therapeuten zu sprechen.

Leider haben Messies keine Lobby, Betroffene werden häufig in unwürdiger Weise abgewertet, und bei vielen kommt es tragischerweise nie so weit, dass sie sich Beistand suchen. Ich selbst habe das in meiner früheren Tätigkeit als PPM-Kraft in der ambulanten fachpsychiatrischen Hilfe festgestellt, wenn ich in chaotisch anmutende Wohnungen hineinkam und völlig unglückliche Bewohner vorfand. In den meisten Fällen stellte sich schnell heraus, dass mit einfachen Gesprächen und Hinweisen den Problemen nicht beizukommen war. Die Missachtung dieses Leids mitzuerleben erhöhte bereits damals meine Aufmerksamkeit für die beobachteten Phänomene. Auch dies war neben dem geschilderten Erlebnis mit meinem Manager einer der Auslöser für meine intensivere Beschäftigung mit der Thematik. Immer wieder erlebte ich Situationen, die dringend nach einer Lösung verlangten, für die sich aber niemand wirklich zu interessieren schien. Die Betroffenen fragten mich direkt: «Was kann ich machen? Ich bin so hilflos!» Ich selbst war zu Beginn überfragt und wusste nicht auf alles eine Antwort. Aus dieser Situation heraus traf ich die Wahl, mich näher und intensiver mit dem Thema zu beschäftigen.

Mir war also schnell klar, dass Antworten notwendig waren und dass ich selbst gefordert sein würde, solche Antworten zu finden. Dass ich mich aufmachen musste, für diese Menschen nach Lösungen zu suchen.

Inneres Chaos – äußeres Chaos

Oberflächlich gesprochen kann man sagen: Jemand, in dessen Innerem Durcheinander herrscht, wird auch in seiner Lebensgestaltung Mühe haben, eine Struktur zu finden, die ihn problemlos durch den Alltag kommen lässt. Das innere Chaos gebiert das äußere Chaos.

Menschen, deren Psyche aus dem Gleichgewicht geraten ist, haben dann Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Und zwar von den kleinsten Entschlüssen bis hin zu den großen Weichenstellungen im Leben. Welchen Pullover ziehe ich morgens an? Gehe ich duschen oder nicht? Sauge