Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

Marl wollte tanken und sah das Kind neben der Einfahrt zur Tankstelle stehen, hätte es beinahe für eine Statue nehmen wollen im Eifer achtlosen Vorbeifahrens, lief aber, als er das Auto an der Zapfsäule zum Stillstand gebracht hatte, überrascht zurück. Das Kind stand mit nassen Strümpfen in der Sommerhitze und weinte. (Auch als Marl das Kind später in den Rettungswagen trug, in der Klinik besuchte, weinte es. Kopfstarrig, wie Marl meinte, und vollkommen lautlos.) Die nassen Strümpfe waren nicht gerade ein Kapitel für sich, aber doch seltsam an solch einem heißen Julitag ohne Anflug von Regen, denn das Kind war ansonsten vollkommen trocken. Trug altertümliche Lederhosen und ein Streifenhemd, dem man bei aller Pflege den Wechsel der Vergangenheiten ansah. Marls Körper wurde augenblicks von waghalsigem Mitleid umspült. Sehr lange hatte er auf ein Kind warten müssen. Er spürte die Not des Kindes, die auch ihn sofort umschloss, als er es aus der Sonne nahm und in die Kühle des Verkaufsraumes trug. Auf den Fliesen liegend, lieferte sich das Kind noch einmal aus: Seine Kehle war offenbar durchschnitten und mit hoher Kunstfertigkeit wieder in eins genäht worden. Als den beteiligt oder unbeteiligt dreinschauenden Kunden, allen voran Marl, der an tanken längst nicht mehr dachte, dies klar wurde, schien es, als zöge die klimatisierte gläserne Halle sich zurück in den stumpfen Entwurf.

Das Kind hatte ihn engagiert. Als dessen Anwalt vollzog er nun, was er für seine Pflicht hielt.

 

Walja Zeiger hatte vom Verschwinden des Kindes, das in der von ihr bevorzugten Zeitung die kleine Janina genannt wurde, beim Wäscheaufhängen erfahren. Immer nach dem Deutschkurs für Aussiedler, den sie an der Volkshochschule besuchte, hängte sie noch ein bisschen Wäsche auf die Leine und versuchte, ihren Wortschatz durch lautes Aufsagen der Textilpflegeanleitungen und Materialzusammensetzungen zu erweitern. Und sie ließ nebenbei das Radio laufen. Sie hatte sich das Datum des Verschwindens nicht einprägen müssen, denn es war der Tag gewesen, an dem sie ihren Mann Edward von einer Besuchsreise in die frühere Heimat zurückerwartete. Vergeblich übrigens. Er war dann eine halbe Woche später als vereinbart eingetroffen, ohne ihr zuvor eine diesbezügliche Nachricht übermittelt zu haben. In jenen Tagen des Wartens hatte Walja sehr oft an die kleine Janina denken müssen. Nicht, dass sie das Verschwinden kleinerer Kinder für ein sehr ungewöhnliches Ereignis gehalten hätte, Edwards Ausbleiben war ihr in dieser Hinsicht viel ungewöhnlicher erschienen. Aber Edward hatte eine laufende und sprechende Puppe mit nach Kasachstan genommen für die neugeborene Tochter seines Bruders, und Walja selbst hatte für das Puppenkind noch Pullover gehäkelt und Hosen gestrickt und immerhin zu bedenken gegeben, dass ein neugeborenes Mädchen wohl kaum eine siebzig Zentimeter große Puppe würde an- und ausziehen wollen, und sie ertappte sich während der Abwesenheit ihres Mannes bei dem Gedanken, wie viel nützlicher es doch gewesen wäre, hätte das verschwundene Kind jetzt eine siebzig Zentimeter große Puppe, die es nach Belieben an- oder ausziehen könnte.

 

Irgendwann meinte Lioba Zeplin, sich eine Putzhilfe leisten zu wollen und tat das im Kollegenkreis kund. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, einer der sich selbst verwaltenden unverheirateten Herren würde ihr sogleich eine Telefonnummer aushändigen können. Stattdessen meldete sich am Abend des letzten Schultages vor den Ferien ein älterer Herr namens Koenig in aufgeheiterter Stimmung und raunte durch die Muschel, seine Tochter könne für sie fegen und wischen, bohnern und Fenster putzen. Seine Nachbarin, seit Langem Lehrerin an Liobas Schule, habe ihm erzählt, dass sie jemanden suche. Die Frage nach einer Entlohnung fegte er mit der Bemerkung aus der Leitung, seine Tochter sei es von klein auf gewohnt, immer mal jemandem eine Freude zu machen, und dafür nähme sie nun wirklich nur den üblichen Satz, zehn Mark die Stunde. Sie habe schon mehrere Jobs und manche Empfehlung, und überhaupt sei es ihm wichtig, sie ausreichend beschäftigt zu wissen. Wenn die gnädige Frau die Güte hätte …? Ein höflicher Mann.

Frau Koenigs erste Feudelstunde bei Lioba Zeplin fiel auf jenen Tag, da vom Verschwinden des Kindes in beinahe jeder Zeitung zum ersten Mal zu lesen gewesen war.

 

So fing etwas an.

***

Marl war zweiundvierzig Jahre alt geworden neben Frieling. Marl trug die Haut sehr straff. Aber nicht deshalb liebte ihn Frieling. Er war Marls Mandant gewesen während der Zeit seiner Scheidung, Marl hatte Frieling gut vertreten und ihn niemals zu Erfolg versprechendem Hass auf die Beklagte aufgefordert. Das musste gereicht haben, dass ihn eines Tages die Liebe, die Hur überfiel, die sich ihm verweigert hatte bislang, und es war die Liebe zu Marl gewesen, seinem Anwalt. Der hatte ihn glimpflich davonkommen lassen aus der beklagten Enttäuschung. So sehr Frieling sich bemüht hatte, seine Frau zu wollen, so sehr war ihm das misslungen. Bis dann die Liebe, die Hur ihn auf Mann brachte. Auf Marl, dessen Haut, dessen Haar. Wie sie aßen, sich durchfütterten, gegenseitig, untergehakt, wie sie küssten – ganz Marl war Frielings Liebe geworden, ganz ausgeschlossen ein Fremdblick. Und Marl genoss. Noch im Obstholen und Milchkaufen floss es ihm über aus der Herzgegend, wenn er sich die Flasche an Frielings Mund vorstellte, die Apfelspalte auf Frielings Zunge. Den Gaumen, wie er das Fruchtfleisch zerdrückte. Nichts Besonderes fand Marl an Frieling, nur seine Liebe. Das war genug. Marl wollte ein Kind mit Frieling. Das war vielleicht zu viel, aber es gelang ihm zumindest, Frieling deutlich zu machen, wie er sich selbst vermisste als Kind, wie er sich nicht erinnern konnte daran, ein Kind und klein und ungeschützt gewesen zu sein, wie er überhaupt nicht ahnte, was das sein könnte: ein Kind. Stundenlang hörte er Frieling zu, wenn der unter der Liebe, der Hur, in ihrem Schweiß, davon flüsterte. Auf Marls Verlangen sich herzeigte als Kind, in den Alben herumging mit zitterndem Finger, seine ledernen Hosen vorstellte, deren Geruch. Und immer sprach er zu Marl von Mutter- und Vaterhaben, und Marl verstand nicht und hatte alle Papiere in seinem Schrank, die Urkunde seiner Geburt mit den Namen der Eltern, seinen Pionierausweis und das Abgangszeugnis der achten Klasse, das glänzende Abitur … Marl kannte sich nicht. Manchmal besuchten ihn Vatermann und Mutterfrau, die sich Marl nannten wie er, Reinhard und Viola. Inzwischen kannte er deren Liebe zu schwarzem Kaffee, ihre Plundersucht, den ältlichen Paargeruch. Aber sich selbst kannte Marl erst, seit er seinen ersten Arbeitstag angetreten hatte im Notariat HÜBLER & KOLLWEG, lange bevor er mit eigener Kanzlei und als Anwalt sich niederließ. Er musste studiert haben, tatsächlich, denn er beherrschte perfekt, was man bei HÜBLER & KOLLWEG von ihm erwartete. Kannte die Gepflogenheiten des Alltags, die Preise von Fleisch und Milch, gute Lokale, kannte Verena, Simone, Marona. Wusste, wie er zu vögeln hatte, dass sie zur rechten Zeit kamen. Liebte sie nicht, fand sie aber passend zu seiner körperlichen Verfassung, fand überhaupt die meisten Situationen passabel, nur was ein Kind ist, wusste er nicht. Konnte sich nicht erinnern und erfand einen inneren Kanzler für seinen Kopf, den er wählen konnte, wenn ihm nichts mehr einfallen wollte, für den er Zettel falten und in seinen Mund schieben konnte wie in die Urne in der Fritz-Reuter-Grundschule am Wahltag, und wenn er Papier kaute, glaubte er sich manchmal am Beginn eines Erinnerns. Weiter allerdings kam Marl auch damit niemals.

Frieling ahnte nur, was seinen Mann umtrieb, zu unfasslich erschien ihm der Kinderwunsch. Am Beginn ihres Zusammenlebens hatte er Marls Blicke auf Kinder gefürchtet, die Kinder selbst gefürchtet als mögliche Konkurrenten, was sich mit den Jahren glücklicherweise verlor. Sie waren gemeinsam beim zuständigen Jugendamt vorstellig geworden mit einem Antrag auf Adoption, hatten ihre Einkommensverhältnisse offengelegt und keinerlei Ansprüche geltend gemacht, was Geschlecht, Herkunft, Intelligenz des Kindes betraf. Eine Zeit lang war Frieling Marl, wenn auch nicht ganz bei der Sache, zum Bahnhof Lichtenberg gefolgt, wo sich Romafamilien aus Südosteuropa ein Stelldichein gaben und oft auch Kinder, von denen man zumindest vermuten durfte, dass sie sich in einem Zustand relativer Elternlosigkeit befinden könnten, den Reisenden um die Füße strichen. Sehr schnell hatten sie es wieder aufgegeben, solche Kinder zu sich nach Hause zu nehmen, sie zu waschen, ihnen zu essen zu geben und einige Kleidungsstücke. Nachbarn hatten sie eilfertig angezeigt, von Kinderhandel und Beihilfe zur Prostitution war die Rede gewesen. (Frieling erinnerte sich hin und wieder, dass Marls Halsschlagader fingerdick angeschwollen war angesichts solchen Vorwurfs. Vor allem aber erinnerte er sich daran, wie ihn diese Gefäßschwellung sexuell erregt und welche Mühe er gehabt hatte, dem Freund in dieser Situation klaren Kopfes beizustehen.) In der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch der DDR schienen die neuen Jugend-Beamten, die auch einmal die alten Funktionsträger gewesen waren, Marl und Frieling wohlgesonnen, schienen sie deren Antrag auf Adoption eines Kindes tatsächlich prüfen zu wollen. Marl schrieb das eher ihrer Unsicherheit im Umgang mit der frisch erworbenen Gesetzlichkeit zu als dem Bestreben, einem Kind zu einem Elternpaar zu verhelfen, und als er recht behielt, brauchte er sich darüber zumindest nicht mehr zu wundern. Seinen Wunsch gab er dann nicht etwa auf, nein, aber ihn zu erfüllen, würde mehr als ihrer beider Kraft kosten. Marl leckte Frielings schnurgerade, bebende Wirbelsäule, während er ihm seinen Entschluss mitteilte, fürderhin nur noch abwarten zu wollen.

Frieling führte den Haushalt und kannte die Liebe, die Hur inzwischen hinreichend genau. Marls nackte Beine, die kräftigen, aus der Wölbung des Hinterns in ihre eigene Rundung fliehenden Schenkel, die Kniegelenke, die Keulen der Waden, von Frieling sporadisch zu anmutiger Gymnastik benutzt, mussten Marl einfach menschlicher Begehrlichkeit aussetzen. Frieling war eifersüchtig. Dennoch mochte er den Freund nicht kontrollieren, blieb hinter der Zeitung sitzen, wenn Marl ihm allmorgendlich zum Abschied Vorfreude in den Mund küsste. An jenem Tag, da Marl das Kind an der Einfahrt zur Tankstelle entdecken sollte, konnte er es aber nicht lassen, ihn beim Frühstück an das Versprechen zu erinnern, mit langen Hosen aus dem Haus zu gehen. Später fiel ihm ein, dass er Marl auch nicht nachgeschaut hatte, als er die Treppe hinuntersprang, um in die Kanzlei zu fahren.

Marls Sekretärin war alt genug, sich keine Hoffnungen zu machen. Wenn er morgens eintraf, hatte sie die ersten anfallenden Arbeiten bereits erledigt und saß in einem tiefen Sessel am Fenster, von wo aus sie den Passanten unten auf der Straße nachträumen konnte, während sie rauchte. Marl mochte die Art durchaus, mit der Marona Birnenbaum die Beine übereinanderschlagen konnte. Possierliche Beine. Früher einmal war sie nicht nur seine Sekretärin, sondern auch eines seiner drei wechselnden Zimmer gewesen. Das hatte er nicht vergessen und versuchte gelegentlich, sich vorzustellen, wie er in sie hineingegangen war. Dabei musste er regelmäßig bemerken, dass er Maronas Eigenheiten als Zimmer offenbar nicht bemerkt hatte – sie flossen in seiner Erinnerung mit dem, was ihm Verena und Simone gezeigt hatten, in eins. Maronas Eigenheiten als Sekretärin hingegen kannte er sehr genau, schätzte sie. Darüber ein Wort zu verlieren, fiel ihm nicht ein, was Marona inzwischen nicht mehr bedauern musste. Die Sicherheit ihres Jobs bei großzügiger Bezahlung genügte ihr, eine beflissene Angestellte abzugeben. Sie saß also am Fenster wie immer, als Marl an jenem Morgen hereinkam. Die Putzfrau war gerade dabei, Kittel und Latschen im Spind der Teeküche einzuschließen, der Kessel summte, und noch ehe Marona ein spöttisches Wort über Marls nackte Beine hätte verlieren wollen, verschwand Marl, um Kaffee aufzugießen. Als sie dann beieinandersaßen am Fenster, sah auch er den Passanten da unten hinterher, deren Geschäftigkeit ihn nicht daran hindern konnte, an einen ruhigen Tag zu glauben. Sie schwiegen, rauchten. Frau Birnenbaum referierte später die letzten Telefonate des gestrigen Abends, Marl schickte sich in die übliche Arbeit, empfing zwei Mandanten, diktierte, ging zum Mittag außer Haus, aß irgendwas. Merkte zum Ende der Pause, während er schon in die Kokoschkastraße einbog und die Scheibe seines Wagens herunterkurbelte, um eine Kippe hinauszuwerfen, dass sein Tank leer war. Drückte also zurück, um wieder aus der Kokoschkastraße aus- und in die Stendaler einzuscheren, der Tankstelle zu, und geriet so, meinte er später, mitten hinein. Als man das Kind längst in den Rettungswagen getragen hatte, referierte er den eintreffenden Beamten detailliert, wie er es zwischen kümmerlich ausgeilendem Gesträuch zunächst gar nicht gesehen, die Gestalt eher für eine Reklamefigur aus Kunststoff gehalten, wie er dann aber von der Zapfsäule aus das Weinen vernommen habe, gehört, obwohl das Kind ja eigentlich lautlos greine, nicht einmal ein Schniefen oder Schnorcheln von sich gebe. Dass es den Kopf so starr zwischen den Schultern fixiere, sei angesichts der massiven Verletzung kein Wunder. Dass er lange auf ein Kind hatte warten müssen, sagte er den Beamten aber nicht. Stattdessen gab er vor, es flüchtig zu kennen. Tatsächlich war es nicht viel mehr als der undeutliche Nachhall einer Erinnerung, der ihn mit dem kleinen Gesicht verband, sodass seine Aussage, das Kind habe vor drei Wochen in der Schlange vor der Kasse eines Supermarktes in einem südlichen Berliner Vorort unmittelbar vor ihm gestanden, um eine Packung Weichkaramellen zu bezahlen, behördliches Stirnrunzeln hervorrufen musste. Marl war aufgeregt genug, sich daraus nicht viel zu machen. Während er redete, spürte er den Talar, den das neue Anwaltamt ihm verliehen zu haben schien, kühl über die Beine streichen. Frieling hatte ihn am Morgen an sein Versprechen erinnert, in Zukunft nicht mehr nacktbeinig aus dem Haus zu gehen. Frieling musste womöglich geahnt haben, dass ihm der frühe Nachmittag einen halbwegs öffentlichen Auftritt bescheren würde.

***

Vom Wiederauffinden des Kindes erfuhr Walja Zeiger am selben Tage, da Marl dessen Anwalt wurde. Dass sie sich hier in Deutschland ein Auto leisten konnten, schien für ihren Mann eines der bedeutendsten Ergebnisse ihrer Umsiedlung zu sein. Da er bislang keine Arbeitsstelle hatte finden können, befasste er sich mit dem Gefährt alltäglich ungefähr so lange, wie es einer durchschnittlichen Berufstätigkeit in seinem einstigen Heimatland entsprach, unterbrach aber das Putzen und Schrauben und Lackausbessern durch lange Pausen, in denen ihm Walja Piroshki servierte, bei schönem Wetter auf dem Parkplatz vor dem Wohnblock, bei nicht ganz so schönem Wetter in der Küche, in der Nähe Sinaida Bergnerowas und des Zeitungsstapels, den sie immer in ihrer Nähe hielt und auf eine Gelegenheit lauerte, die Fensterscheiben zu einem Drittel zuzukleben. War Waljas Großmutter aber unterwegs zu einem der erforderlichen Behördengänge oder zum Seniorentreff des Aussiedlerzentrums, so kam es schon vor, dass Edward die Pausen dafür verwandte, seiner Frau so nahe wie möglich zu kommen. Noch hatten sie keine Kinder miteinander und wunderten sich manchmal darüber. Walja freute sich, dass ihr Mann jene siebzig Zentimeter große Puppe wieder mitgebracht hatte aus Kasachstan, denn während er seiner Beschäftigung nachging, konnte sie nun reden mit dem Mädchen, das sie Janina nannte, nach dem Grund ihrer anhaltenden Unruhe. Janina saß im Zentrum des Ehebettes, zwischen den schweigenden Paradekissen. Janina wechselte täglich die Wäsche, wurde sauber gehalten, trug praktische Strumpfhosen und kurze, bestickte Röckchen darüber, was auch Edward recht hübsch fand. Obwohl er gelegentlich nachfragte, ob diese rote Bluse, jenes Knäuel Wolle für ein neues Jüpchen denn wirklich notwendig gewesen wären.

Walentina Zeiger nahm auch an jenem Tag die Zeitung zwischen den Glasscheiben ihres Küchenfensters und den feinweißen Halbstores mit einem Gesichtsausdruck fort, der ihre Großmutter ängstlich die Hände vom Schoß über den Kopf reißen ließ zur Vorsicht, aber ein Schlag blieb aus. Walentina, genannt Walja, hatte auf das Häkeln dieser Stores viel Mühe verwandt, und sie wollte oder konnte einfach nicht glauben, dass die Alte immer wieder frisches Zeitungspapier benutzen würde, den draußen vorbeilaufenden Deutschen dieses Kunstwerk vorzuenthalten. Als reiche es noch nicht aus, dass sie nach wie vor behördliche Unterlagen mit »Sinaida S. Bergnerowa« unterschrieb, wenn man sie allein auf den Amtsweg schickte. Als reiche es immer noch nicht aus, dass sie sich allenthalben nach Art der Orthodoxen bekreuzigte. Als hätten sie ihr nicht tausendmal erklärt, dass sie sich nun im Land der Ahnen aufhalten dürfen, wenigstens was sie selbst, Walja, und ihren Mann betraf, und die Großmutter nun einfach nur noch Ida Bergner zu heißen brauche. Zum Glück konnte sie wenigstens einigermaßen gut Deutsch sprechen, was sie als das Mädchen Sinaida Semjonowna Partkowa einmal in Deutschland gelernt hatte. Walja Zeiger fragte sich immer noch, wann das wohl gewesen sein mochte. Die Worte Ida Bergners klangen ungleich breiter und schmutziger als das gackhüpfelnde Reden ihres Ehemannes, und was diese Worte bezeichneten, glaubte Walja zwar seit ihrer Kindheit zu kennen, fand das aber nach ihrer Ankunft in Deutschland nur selten bestätigt. Früher hatte die Großmutter, die damals noch Sina hieß oder Sinotschka gar, das Kind Walja zum Essen gerufen mit jenem Lauthalsschrei, der wie ESSFASS klang und eine Weile als »Iss was« galt in der Familie. Erst als Walja die Großmutter davon hatte überzeugen wollen, dass dieser Ruf in diesem Falle eigentlich den Plural erforderte nach den Regeln der deutschen (und übrigens auch der russischen) Grammatik, hatte sich Sinaida Semjonowna ärgerlich ins Recht gesetzt mit einer langsamen Wiederholung, und da hörten die Kinder natürlich das »n« hinter ESS und FASS, klang es, ganz klar, vollkommen richtig: ESSNFASSN, egal, ob zum Beispiel nur Walja oder auch die Nachbarskinder gerufen werden sollten.

Walja Zeiger schien dennoch, als sie das wellige Papier von den Scheiben nahm, nicht wirklich Wut zu verspüren auf ihre Großmutter. Schließlich sorgte die dafür, dass ein bisschen mehr Geld für alle zur Verfügung stand, und davon ließ sich gut Häkelgarn kaufen für weitere feinweiße Stores, wie sie eines Tages an allen Fenstern der für die Zeigers ungewöhnlich geräumigen Wohnung den Deutschen einen Wink geben sollten.

Als Edward ihr zum Ende seiner Arbeit, die er wie gewöhnlich mit einem Dudelprogramm seines Autoradios unterlegt hatte, vom Wiederauftauchen des Kindes erzählte, bat sie ihn, mit ihr gemeinsam das kleine Stück Weg zur Tankstelle in der Stendaler Straße abzulaufen. Dass die kleine Janina ausgerechnet in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung gefunden worden war, beunruhigte sie stärker, als Edward Zeiger ahnen konnte. Walja hielt es für eines der Zeichen, die Edwards Mutter immer in Aussicht gestellt hatte für den Fall einer Sünde, und sie beeilte sich, ihr Herzschlagen unter dem schnellen Schritt ihrer Füße unhörbar zu machen. Kroch, wie Edward es liebte, mit ihrem zu seinem rechten Arm unter den Stoff der Jacke, während sie untergehakt das Haus verließen. So warm floss die Sommerluft um ihre Körper, dass sie ein paar Sekunden stehen blieben vor Staunen. Sie erkannten den Duft von Malven und Ranunkeln, er unterschied sich nicht von jenem, der sie auch in Konstantinowka ins Gras hinterm Haus getrieben hatte, unter die Bäume. Wenn sie dort lagen, sahen sie die Fruchtansätze der Pflaumen, Äpfel, Birnen über sich vor dem Grün der Kronen, und lagen sie lange genug, konnte es Abend werden und dunkel für sie allein.

Walentina hatte sich sehr lange für ein russisches Mädchen gehalten. Genau genommen bis zu jenem Tag, als sie die Ehe mit dem deutschstämmigen Mechaniker Edward Zeiger schloss. Von da an meinte sie, eine russische Frau zu sein, die mit einem Deutschen verheiratet ist. Schon ihre Großmutter Sinaida Semjonowna Partkowa hatte einen Deutschen geheiratet, allerdings war sie zu jenem Zeitpunkt bereits Mutter einer kleinen Tochter gewesen, die ihren leiblichen Vater nicht kannte. Sinaida Semjonowna war mit dem Kind im Bauch aus Deutschland zurückgekehrt. Als Waljas Mutter im November 1950 zur Welt kam, hatte Sinaida Semjonowna, nach dem Deutschen, längst das Schweigen erlernt. Sogar während der schwierigen Geburt war kein Laut über ihre Lippen gekommen, die sich erst zu einem erstaunten achnee, ä Mädelschen öffneten, als die Mutter einen Blick zwischen die Beine des Kindes geworfen hatte. Die Hebamme hatte den Ausspruch natürlich nicht verstehen können, sie war eine freundliche kleine Kasachin, die der Wöchnerin unter der Hand einen Beutel mit Wäsche für das Neugeborene schenkte. Zum Dank nannte Sinaida die Tochter nach ihr: Daghira. Glücklicherweise – und weil er von Semjon Partkow ein schönes Stück Geld dafür erhielt – erklärte sich der Kolchosbauer Woldemar Bergner aus Konstantinowka zum Vater des Kindes, ehe er die Wöchnerin heiratete und aus Pawlodar in sein Heimatdorf holte. So kam alles in jene Ordnung, in der später auch Daghiras Tochter Walentina aufwachsen sollte. Die Liebe, die Hur dachte zunächst nicht daran, der jungen Familie Bergner zur Hand zu gehen, aber nach einigen Jahren, als Bergners leibliche Söhne Wilhelm und Viktor eine große Zuneigung zu ihrer älteren Schwester Daghira fassten, ließ sie sich erweichen und drückte Sinaidas und Woldemars Herzspitzen kurz aneinander während einer heimlichen Betstunde. Die kleine Daghira war die einzige Zeugin des Ereignisses und sah, wie die Brustkörbe ihrer Mutter und ihres Stiefvaters sich einen Moment lang öffneten, um in einer leichten Wehe zwei Aromen abzusondern. Daghira verfolgte die Wölkchen vom Küchenschemel aus mit ihren grünblauen Augen. Sie vermischten sich in der Nähe des Fensters, und als das Mädchen hinzutrat, prägte es sich diesen neuen Geruch sorgfältig ein für den Fall, dass er doch wieder verloren ginge.

 

Als das Ehepaar Zeiger um die Ecke bog, hatte sich der Menschenauflauf um die abgesperrte Tankstelle aufgelöst. Nur vereinzelt liefen noch Kinder herbei, fuhren mit ihren Rädern dicht an die rot-weiße Markierung heran und diskutierten, was sie gehört oder gesehen hatten. Walja wagte es nicht, ihren Mann loszulassen und in den Verkaufsraum zu laufen, sie hätte den Polizisten am Eingang beiseitestoßen und einen sehr schnellen, kräftigen Schritt wählen müssen. Obwohl sie sich das durchaus zutraute, sah man das Ehepaar Zeiger nach wenigen Minuten scheinbarer Andacht die Stendaler Straße hinunterlaufen, auf die Einkaufspassage zu, und als Walja unterwegs die Speisekarte eines Restaurants studiert hatte, beschloss sie, Edward und ihre Großmutter morgen zu einer Pizza einzuladen.

***

Verschwinden und Wiederauftauchen des Kindes wurden ungewöhnlich lange besprochen in den Blättern, Frühstückssendungen und Kassenschlangen, an Stammtischen und Schaltertresen. Als Frau Koenig begann, in Liobas sauberer Wohnung Zettel zu hinterlassen, zunächst wie nebenbei hingelegt, vergessen oder beim Aufräumen übersehen, hatte das sogenannte öffentliche Interesse an dem »Fall« längst Liobas Wahrnehmung erreicht, aber diese Gleichzeitigkeit fiel ihr zunächst gar nicht auf. Sie glaubte später sogar, dass sie die ersten zwei, drei säuberlich mit Computer geschriebenen Seiten achtlos ins Altpapier gegeben, sie für Agitationsschriften irgendeines Vereins oder für Werbepapiere einer sich besonders seriös gebenden politischen Partei gehalten hatte. Standen nicht sogar Wahlen vor der Tür? Erst als ein solches Papier beinahe überdeutlich aufforderte, es aufzuheben, als es unter der frisch ausgeklopften Schmutzfangmatte des Flures hervorsah und Lioba Zeplin nicht mehr daran vorbeisehen konnte, dass es ihre Person meinte, während sie die Schuhe aufschnürte und ins Regal stellte, griff sie danach. Es wäre immerhin auch möglich gewesen, Frau Koenig einfach darauf hinzuweisen, sie dürfe nichts herumliegen lassen, sonst müsse sie sich nach einer anderen Hilfe umsehen, alles herumliegen lassen, könne sie schließlich auch selbst.

Lioba las:

ES GIBT KEINEN GRUND

In der Küche steht Wasser neben Wasser, die Flaschen, die Eimer, die Töpfe nebeneinandergerückt, durcheinandergestapelt, drei Menschen dazwischen, darunter auch Ichalstochter, sieben und stramm, die sich die Küche nicht vorgestellt hat. Nein, hat sich nie Küchen nur vorstellen müssen und Wasser neben Wasser und sich mittendrin: Es gibt sie ganz wirklich.

Die Augen flinkern nicht, still ruht die See ihrer Blicke über allem und wartet auf das Ende der Abwechslung, die die Vorgänge in der Küche ihrer Familie darstellen. Dann nämlich wird sie schlafen geschickt und träumen und stille sein und trockene Haferflocken essen zur Strafe, und das ist genug.

Es gibt keinen Grund. Trotzdem steht Ichalstochter seltsam fest, wo man sie hinstellt. In die Vorschule, ein Beispiel. Die Lehrerin besucht Siealseltern: Nicht muff und nicht mäh, was für ein Kind. Ichalstochter litt weder unter kalten Händen noch unter der Vorstellung, ein Schaf zu sein. Warum also hätte sie muff sagen sollen und mäh?

Auch später weiß sie selten, warum den Mund auftun, da alles schon einmal gesagt, schon einmal gesungen worden ist. Aber zunächst:

Ein ernstes Gesicht.

Es gehört dem Mann, den Vati zu nennen eine ihrer ersten Amtshandlungen war. Ichalstochter hatte keine Mühe damit und erfreute die anderen Bewohner der Küche schon früh mit Vati. Dafür singt er ihr heute noch vor und fährt sie über Berg und Tal mit dem Fahrrad. Ichalstochter glaubt auch, dass er ihr dafür schon mehrere Male die Socken hochzog, sogar das. Sein ernstes Gesicht singt aus einer runden Öffnung unter der Nase, die dazu angetan scheint, die kurzen Blicke, die ihm aus den Augen gehen, sogleich hineinstürzen zu lassen. Seine Art zu singen hat also etwas von Selbstverschlingung. Ichalstochter hört das gern. Dualstochter, sagt die Mutter manchmal, du kannst aber auch ruhig mal bisschen mitsingen. Siealstochter, wischpert Frau Brehme von ganzoben zu Frau Kaltwaßer von halboben, ist aber auch gestraft.

Weiß Gott.

 

Nun aber mal ein bisschen Bewegung hier, nun aber mal flotti.

Der Selbstverschlinger ist immerhin ein Kassenwart der Kultur, ein Münzeneinsammler und Zettelverteiler, Wahlurnenschwenker und Radfahrer. Da heißt es beweglich sein, nicht etwa starr zwischen Wasser und Wasser verharren und müde tun. Im Winter ein Zapfen unter der Nase, im Sommer das Krachleder am Hintern, das Froschhemd darüber, grün kariert, gebügelt von Ihralsfrau.

So wird ein Schuh draus.

So wird eine Zeit ausgemacht.

Ichalstochter sagt neunzehnhundertzweiundsechzig, sagt oderauchungefähr. Die Zeit, als die Möbel noch nicht gestrichen, das Klavier noch schwarzmasrig war. Sagt vielleicht auch nicht viel. Ein Anhaltspunkt nur, wozu Anstalten machen? Sagt ichmeinejabloß. Immerhin klingt das Klavier frisch gestimmt, und wie die schwarzen Masern über das Holz ziehn Stimmen ums Haus. Wandschleicherei auch aufseiten Frau Brehmes, ganzoben, wenn drüben Musik tönt. Hat Glück bei den Fraun. Bei Frau Kaltwaßer nicht, die Ichalstochter hin und wieder ein Loch schenkt mit Strumpfhose drumrum, wer weiß woher. Siealsmutter kann Nadel und Faden benutzen, das Loch verschwinden lassen, dass nur noch die Strumpfhose übrig bleibt. Mein schönes, mein liebes Loch, sagt Ichalstochter enttäuscht.

Die letzte Strumpfhose, die Lioba gestopft hatte, lag einige Jahre zurück. Sie erinnerte sich, dass sie mit Mann und Tochter in der Küche einer schimmligen Altstadtwohnung gesessen hatte, als ihr das Kind ein Loch zeigte. Im trockenen Blut hatten sich Steinchen und Gräser verfangen, Lioba steckte die Strumpfhose in den Wäschesack, den sie aus grünem und rotem Stoff genäht und im unteren Teil eines weißen Regals befestigt hatte. Zuvor waren die unteren Ablagebretter entfernt worden. So enstand unter dem mittleren, das mit den Seitenplanken fest verschraubt worden war, ein Leerraum für den Schmutzwäschesack. Später hing die Strumpfhose ihrer Tochter neben anderen sauberen Wäschestücken, Kleidchen, Pullovern, Unterhemden, auf der Leine über der Badewanne. Damals war Lioba eine praktische Frau gewesen: in zwei Leisten in regelmäßigen Abständen Löcher gebohrt, eine Plastikschnur hindurchgezogen, die Leisten dann in die links und rechts der Wanne befindlichen Wände geschraubt – fertig war der Trockenplatz. Im Stopfen von Strumpfhosen oder Socken hatte sie es in jenen Jahren zur Meisterschaft gebracht, meinte wunderbar entspannen zu können dabei, schickte Vater und Kind auf entlegene Spielplätze. Wenn sie zurückkamen, schien sie manchmal nicht zu erkennen, wer da über die Schwelle trat, ja bitte?, ließ sie regelmäßig vernehmen, wenn der Mann mit dem Kind am Hals neben dem Sofa im Wohnzimmer stand, wenn er ihr über die Schulter sah auf die rechte Hand hinunter, wie sie die Nadel zum Weben einer Stopfstelle hin und her durch die senkrecht gespannten Fäden schob. Der Mann nahm ihr dann immer die Kopfhörer ab und schlug zu, sie brachte später das Kind ins Bett und wunderte sich, dass es so gar nichts in ihr auslöste, wenn es die Ärmchen um ihren Hals, die knisternden, trockenen, ängstlich gespannten Lippen an ihrem Ohr vorbei auf den Hals schob. Zwar spürte sie, wie der Mund sich festsog an ihrer Haut, konnte auch später die zarten, blauroten Male erkennen, brachte es aber nicht zusammen – das Kind und sich selbst. Einmal waren sie, Mann, Frau und Tochter, in die Märkische Schweiz gefahren, hatten Pilze und späte Beeren gefunden, gespielt, gelacht. Der Mann hatte ihr seine Jacke zur Nackenrolle gefaltet und untergelegt, sich selbst dann über sie, während das Kind Rehe und Hasen beobachten sollte. Das war schön, Mücken und Ameisen breiteten süßen Schmerz über Liobas Haut. Schmerz, der ihr von außen nach innen drang – wie jener andere, andersherum, aufhörte, als der Mann dann aufstand. Wunderbar, wie es lange noch wehtat, als sie die Strümpfe, die Schuhe, die Hosen längst wieder übergezogen hatte. Das Fehlen des Kindes hatte sie nicht bemerkt, erst der Mann machte sie darauf aufmerksam, dass auf sein Rufen kein Tochterkind auftauchte hinter den Stämmen der Fichten, zwischen den hohen Gräsern. Dass Lioba weinen musste vor Schmerz, kam ihr zupass, als später die Polizei das Kind zu suchen begann: Sie konnte endlich einmal der allgemeinen Erwartung entsprechen, der Mann jedoch ihre Tränen für ein Zeichen der Zuneigung halten, zum Kind, und sich freuen, und immerhin musste er lächeln, während die Männer mit Hunden ausschwärmten, sein einziges Kind aus dem Dickicht zu retten, und lächelte langsam, breit, voller Staunen, machte sich noch verdächtig, bis das Kind nach zwei Stunden Suche vor ihnen stand wie immer, die Strumpfhose über dem sumpfigen Loch im Knie zerrissen und blutig, das helle Gesicht von Schlaf und Erschöpfung zerdrückt. Wie immer stülpte es den Napf seines Munds über die trauliche Stelle an Liobas Hals, wie immer blieb die Liebe, die Hur unbeteiligt an jenem zartblauen Mal. Nur dass sie dann gehen mussten, zusammen nach Hause fahren, ließ Lioba den Ausflug im Nachhinein in eher unschönem Licht erscheinen. Sie hatte lange nicht an das Kind denken müssen, das später bei seinem Vater aufgewachsen war. Wo es hingehörte. Wo es Lioba nicht jeden Tag sehen musste, zum Glück. Die Erleichterung darüber kroch wie stets, wenn sie sie fühlte, auch jetzt als betörender Schmerz über Liobas Haut. Nach jenem Ausflug war diese juckende, umwerfende, benebelnde Nesselsucht hin und wieder aufgetreten, wenn die Ausflüge von Vater und Tochter zwei Stunden überschritten hatten und Lioba sich vorzustellen begann, sie kehrten nicht wieder. Die letzte Strumpfhose, die sie gestopft hatte, lag einige Jahre zurück – wie der letzte Auftritt der Quaddeln auf ihrer Haut.

Lioba schob Frau Koenigs Zettel eher achtlos in eine leere Lade im Schrank der Küche, zu aufgeregt genoss sie den süßen Reiz, die weißen Erhebungen auf der geröteten Haut ins Blut zu schicken. Sie trug den einzigen gestrickten Pullover, den sie jemals besessen und der einmal ein Kleid gewesen war und mit den Jahren die Luft verloren hatte zwischen den Maschen. Ob nun die fortgesetzte Aggression der Waschlaugen oder aber ihr innerer Zustand für das Engerwerden des Kleidungsstückes verantwortlich waren, darüber dachte sie nicht nach. Ihr genügte es, in den noch zählbaren Jahren seit ihrem Abitur nur drei, vier Pfund zugelegt zu haben. Jetzt riss sie den filzigen, braunen Pullover wie einen störenden Belag von der Haut, besah für einen Augenblick ihre gepflegten Hände, die erdbeerroten langen Nägel, und als die ersten langen blutigen Spuren ihre Arme überzogen, ließ sie sich auf den Boden gleiten in ihrem Glück.

Je länger das Glück dauerte, desto besser konnte Lioba spüren, dass sich dahinter etwas anderes befand, das sie neugierig machte. Auf Glück war sie nie neugierig gewesen. Neugier hatte allenfalls dazu beigetragen, Glück gar nicht erst auftauchen zu lassen. Wenn sie darüber nachdachte, musste sie ohnehin vermuten, dass Glück kein Empfinden, sondern eine außerhalb ihrer Haut befindliche günstige Konstellation der Umstände bedeutete. Glück war etwas für die Augen. Etwas, was sie sehen, nicht fühlen konnte. Am besten ging es, wenn sie im richtigen Moment die Augen schloss, wie jetzt, ausgestreckt auf dem Küchenfußboden. Den Filz des Pullovers hatte sie nach einigen Minuten der Bewusstlosigkeit liebevoll unter ihren Kopf geschoben und überlegte nun, wem diese Liebe zu gelten hatte.

Der Pullover war während ihres letzten Schuljahres aus einem fünfzig mal fünfzig Zentimeter großen, um das Viertel eines alten Besenstiels gewickelten Wollknäuel entstanden. Jeweils am Sonntagabend waren Liobas Schultern und Arme vermessen worden. Die Mutter hatte dazu das gelbe Bandmaß ihres Mannes benutzt. Dass es Hochsommer wurde, ehe endlich die Nähte geschlossen und zwei metallene Reißverschlüsse eingenäht werden konnten am Halsausschnitt, tat der Freude der Mutter, endlich auch einmal etwas zur Staffage der Tochter beigetragen zu haben, keinen Abbruch. Der Damenmaßschneider Zeplin, Herrmann Ingolf, fand während der Monate der Bestrickung wenig mehr als ein paar spöttische Bemerkungen, wenn ihm die klappernden Bemühungen seiner Frau zu Gesicht kamen, und er schloss, ehe ihm der Spott hätte davongehen können, fest die Lippen. Lioba erinnerte sich, dass sie in jenem letzten Jahr ihrer Schulzeit kaum eine andere Sehnsucht gekannt hatte als die, sich vor der Wucht der in ihren Eltern stecken gebliebenen Worte in Sicherheit zu bringen. Sie hatte begonnen, sich Ziele zu setzen. Indem sie ihnen die Namen ihrer männlichen Mitschüler gab, machte sie diese Ziele schnell unrealistisch. Der ins Unbestimmte geöffnete Blick, die durchscheinenden Flügel der Nase, die schon auf winzige Erregungen mit einem heftigen Flattern reagierten, der mit dünnem, unsicherem Strich aufgezogene Mund – Liobas Gesicht sorgte dafür, dass die angepeilten Ziele sich aus ihrer Blickrichtung entfernten, auf andere Mädchenaugen zu, die weniger Komplikationen bei den entschiedenen körperlichen Experimenten verhießen. Als der helle Gunnar doch einmal seine Zunge an Liobas Ohrläppchen vorbei über ihren Hals zog, konnte er sich auf einmal nicht mehr lösen, schmeckte das Karamel, das von Liobas Hals zäh in seinen Mund floss und, als er nicht loskam mit seiner Zunge, schnell nach verbranntem Zucker bitterte, sodass er den nahen Frieden gegen eine heftige Angst eintauschen musste. Auch auf Lioba ging diese Angst schließlich über. Sie sprang nicht, sondern schob sich wie ein breitfußiger, beweglicher Polyp von jener Stelle, wo eben noch Gunnars Lippen auf süßseichtem Wasser gerutscht waren, über den Kiefer in den noch geöffneten Mund. Lioba würgte, erbrach sich. Der Polyp war nicht zu entdecken, als sie mit einem Stöckchen nach ihm stocherte, sodass sie ihn von nun an in ihrem Leib wähnte. Zuweilen vergaß, aber doch immer wieder auf ihn zurückkam. Es war nicht leicht, mit solchem Parasiten im Inneren neue Ziele anzupeilen. Gunnar trug die Kunde von der zeplinschen Klebrigkeit lautstark vor sich her bis zum Ende des Schuljahres, konnte aber seine Angst mit anderen, weniger aufgelösten Mädchen rechtzeitig verlieren. Nur die Sucht nach dem Bitteren verbrannten Zuckers sollte sein Liebesleben begleiten. Er trug noch nach Jahren immer ein Schächtelchen Karamel mit sich herum und schob, wenn er eine Frau planieren wollte, einen Splitter davon unter die Zunge.

Inzwischen hatte ein feines rotes Netz Liobas Körper überzogen. Sie fühlte sich darin sicher, während sie sich an Gunnar erinnerte – und an den Polypen, den sie ihm abgeschluckt hatte. Ihr Blick rutschte jetzt über die auch nach fünfzehn Jahren noch nicht erneuerten Möbel der Küche: Über den Spülschrank mit dem braunen, emaillierten Becken. Die Hängeschränke mit den schief in ihren Angeln hängenden Türen, die sich nicht mehr schlossen. Die beiden weinrot gepolsterten Metallstühle, deren klägliches Krähen, setzte sich jemand darauf, sie sofort im Ohr hatte. Den sprelacartbezogenen Tisch mit den beiden abgeklappten Verlängerungsstücken, die seit Langem nicht mehr benutzt worden waren. Schließlich hinüber zum bauchigen Plastiktrichter über dem Herd, durch den der Luftschacht den Wrasen abziehen sollte. Stattdessen blies er die Dünste der darunterliegenden Wohnungen in Liobas Küche und zog einen fettigen Schmarren über die Konservendosen und Flaschen, die Lioba auf den Schränken zur Aufbewahrung abstellte. Wie hatte sie eigentlich hier unten Platz finden können, zwischen all den Möbelfüßen und Tischbeinen, auf denen die konservierte Langeweile sich niemals abzunutzen schien? Mit den Fingern fuhr sie das vorgegebene Streckennetz ab, das die langen, gepflegten Nägel – sie hatte sie einmal ihren ganzen Stolz genannt vor den Kollegen – auf ihre Haut projiziert hatten. Ohne dieses Netz, fand sie, passte sie ganz gut in diese doch eher hoffnungslose Kulisse. Spürte nun auch, wie ihr Puls der Stille seinen Rhythmus auftackerte und darin einem ihrer windigsten Schüler ähnelte: Die Ohren über Stöpsel mit einem CD-Player in der Hosentasche verbunden, hatte der seine dreckigen Schuhe benutzt, gegen ihren unbeteiligten Monolog über die Geschichte der Habsburger anzutrampeln. Hatte jenes Grinsen, das sein Gesicht wie ein weit geöffnetes Brötchen aussehen ließ, nicht mehr zurücknehmen können im Triumph und war Liobas Verlangen, etwas sehr Dickes zwischen die Semmelhälften zu stopfen, mit der eigenen Zunge zuvorgekommen. Auch jetzt noch musste Lioba die Niederlage anerkennen. Seufzte. Da, zwischen dem Impuls aufzustehen und dem zentralen Befehl an die Muskulatur, dafür zu sorgen, klingelte es.

***

Nein! Sie würde ihr Geld nie für diese teure Klumpstreu ausgeben, die ihr immer nur zu einem engen Hals und zu röhrendem Husten verhalf, wenn Walja sie ins Katzenklo kippte. Ida Bergner stieg die Treppe hinunter. Eine der Wachstuchtaschen, die sie bald nach der Ankunft zu nähen begonnen hatte, schaukelte an ihrem eingewinkelten Arm. Vor dem Bauch hatte eine die andere Hand fest im Griff. Der Weste fehlten nämlich die Taschen, und Ida schämte sich, ihren Händen kein Versteck anbieten zu können. Kann sein, dachte sie, dass jemand die Gedanken nicht schon nach Haus geschickt hat und die Augen halbwegs geöffnet trägt in dieser frühen Abendstunde. Dann käme ihr jene schläfrige Wut vielleicht in den Weg, die ihr Anblick schon einige Male, insbesondere bei Gleichaltrigen, ausgelöst hatte. Ida wollte sich das nicht erklären müssen und dem grämlichen Geruch von Feindseligkeit ausweichen. Sie überquerte die Straße, lief nun auf die Eckkonditorei zu, in der manchmal in sogenannter Aktion ein ihr vertraut schmeckendes Brot verkauft wurde. Ehe sie dazu kam, ein solches Kosakenbrot zu verlangen, erblickte sie durchs Schaufenster die alternden Damen Deutschlands, denen sie ja hatte entgehen wollen, an einem der weißen Tischchen. Die Zeit über Kreuz legend, die ihnen so schlecht verging. Sie mussten sie wohl immer über eine Tasse Kaffee, ein Stückchen Sandkuchen oder eine Zigarette falten, damit sie ihrer Herr werden konnten, die Ärmsten. Außerdem schienen sie sich einige wenige altrosafarbene Jacken und graue Strickhosen teilen zu müssen. Nur was die Blusen betraf, gab es eine gewisse Auswahl. Manchmal auch bestickte, pastellfarbene Pullover. Ida hatte vergessen, die geblümte Schürze abzulegen, ehe sie aus dem Haus ging. Sie hielt mit einem gewissen Trotz zu ihresgleichen, die in größerer Zahl in diesem Teil der Stadt angesiedelt worden waren. Ausgekippt, wie Waljas Mann mehr als einmal bemerkte. Obwohl Walja ihr eine dunkelgrüne, solide aussehende Jacke gekauft hatte, trug Ida jetzt doch die Filzweste aus Kasachstan. Die ohne Taschen. In der sie auch ohne die geblümte Schürze wie entlarvt aussah. Die nach Lehm und Mist und Äpfeln roch und in dieser Mischung dafür sorgte, dass Ida ihre Schwere für ein Wohlfühlgewicht halten konnte. Nun wollte sie aber doch lieber kein Brot mehr verlangen, die alternden Damen Deutschlands hatten sie schon zielsicher ausgemacht. Hielten sich noch bedeckt in der Erwartung, dass sie den Laden betreten würde, hatten aber die scharf bemalten Lippen schon mal in Idas Richtung geschürzt. Mit Brot in der Tasche fühlte sich Ida Bergner einigermaßen heimisch in dieser zugigen Ecke Berlins, aber dieses Brot musste es wirklich nicht sein und nicht diese Konditorei und nicht diese auf sie gerichteten Blicke. Außerdem würde die Ladenschlusszeit womöglich mit jenem Moment zusammenfallen, in dem Ida Bergner die Klinke drückte. Alle Aufmerksamkeit würde auf sie zufließen, als stünde sie in einer Vertiefung des polierten Marmorfußbodens, und es würde sie nicht wundern, wenn man sie schließlich für diese Vertiefung verantwortlich machte. Als wäre eine der schwarzen Platten ihrem Wohlfühlgewicht zum Opfer gefallen. Ida bezähmte sich und den Wunsch nach Brot und nahm einem vietnamesischen Imbissbudenbetreiber, ganz in der Nähe, eine Reispfanne ab. Die Hühnerfleischfetzen erinnerten sie an die Schlachttage in Konstantinowka und an jene hässliche Krankheit, der die Geflügelbrut des Jahres 1969 gänzlich zum Opfer gefallen war. Das war nicht schön gewesen, wirklich nicht, wie die Hühner im April die Fallsucht bekommen hatten und in seltsamen Anfällen auf die eben gelegten Eier losgegangen waren, die der epileptischen Wucht natürlich nicht hatten standhalten können. Anfangs hatte sie manchmal noch die zerflossenen Dotter zusammengekratzt und zum Backen benutzt, als aber eines Tages Daghira aus der Schule die Nachricht mitbrachte, einem der Kinder sei ein ähnliches Unheil zugestoßen wie den bergnerschen Legehennen, es hätte nämlich zu zittern begonnen und sich in einem blutigen Krampf zu Boden gelassen, sei über zwei dünne Erstklässler buchstäblich hergefallen mit seinem auf einmal sehr schweren Körper, ging Woldemar Bergner ans Töten. Ida hatte der Familie des Jungen zwei Wochen zuvor eine fallsüchtige Henne zur Suppe geschlachtet und verkauft.

Sie musste jetzt ein Schälchen Hühnerbrühe mit Glasnudeln bestellen, der Vietnamese lächelte ihr zu. Eigenartig kalt erschien ihr der Sommerabend – hätte sie doch eine wärmere Jacke überziehen sollen? Sie holte die Suppe vom Tresen, nachdem sie noch einmal den Weg überdacht hatte, den sie nach dem Essen nehmen wollte. Der Vietnamese, dessen einziger Gast sie inzwischen war, kam hinter dem Verkaufstisch seines kleines Wagens hervor und stellte zwei Gläser Pflaumenwein auf den Plastiktisch, sagte dazu nicht viel, sondern henkelte sich bei Ida ein. Die Nudeln, vom Löffel geschliddert, zogen über Weste und Schürze abwärts in den breiten Spalt, der sich zwischen Idas Knöcheln und dem Leder der orthopädischen Schuhe auftat. Der Mann an ihrem Ellbogen war vielleicht einen Unterarmknochen kürzer als sie und erinnerte sie an einen drahtigen Koreaner, der in ihrem Heimatdorf die Kolchosbibliothek geführt und Estradenprogramme organisiert hatte, die Ida immer ganz gern besuchte mit ihren Kolleginnen. Der Dessertwein, den sie bei diesen Gelegenheiten zu trinken bekamen, schmeckte dem Pflaumengetränk vor ihr auf dem Tisch sehr ähnlich, und als Ida nach einem Blick in die kleinen schwarzen Augen des Gastgebers das Glas leerte, tat sie es sehr entschlossen und mit unverhohlen wohliger Erinnerung. So süß wurde es im Kopf, dass sie sich viel zu freundlich verabschiedete von dem kleinen Mann und noch zwei Pakete Mie-Nudeln mitnahm und eine ganze Flasche Pflaume. Und nicht merkte, wie ihr der Vietnamese mehr als dreißig Mark schuldig blieb. Gab ihr einfach das Wechselgeld nicht, das sie auf ihren Fünfzig-Mark-Schein hätte bekommen müssen, lächelte nur süß zurück. Ida hatte nicht übel Lust, ihm das Lächeln mit Daumen und Zeigefinger von der Wange zu kneifen und in die Wachstuchtasche zu packen, ehe sie davonging.

Aus der längst geschlossenen Bäckerei lockte noch immer ein letztes Kosakenbrot zwischen einigen glanzlosen Baguettes und versprach mehr Geschmack, als sie jetzt bereit war, sich vorzustellen. Also ignorierte sie es nach einem Blick aus den Augenwinkeln und beschleunigte ihren Schritt auf die Schonung zu, auf den schmalen Streifen aus Birken und Pappeln, den man zwischen die Überlandstraße und den Beginn der Plattensiedlung gezogen hatte. Einige Tümpel gab es hier und säuberlich angelegte Wege für Spaziergänger, hin und wieder Bänke und über allem die Hochspannungsleitung. Zu abendlicher Stunde verirrte sich kaum jemand hierher, während Ida in der Tiefe der Nacht schon öfter Gruppen junger Leute beobachtet hatte, die im Schallschutz des Baumstreifens Musik hörten, rauchten und Wein tranken und auf eine Weise ausgelassen waren, die sie sich nicht recht erklären konnte. Und es gab Herrn Baum und Frau Nieder aus Idas Block, beide nett verheiratet, wenn auch nicht miteinander, die, in wärmeren Nächten nackt und in kälteren Nächten durch eben ausreichende Öffnungen der Kleidung hindurch, miteinander in Verkehr standen, dass Ida lächeln musste, wenn sie zusah. Die Selbstverständlichkeit dieses Lächelns hatte verhindert, dass sie es für einen unerlaubten Genuss hielt, und auf ihren nächtlichen Gängen in die Schonung schaute sie gern nach, ob die beiden da waren. Herr Baum mit dem grauen Anzug und der silberfarbenen Krawatte, Frau Nieder mit dem ebenso grauen, kurzen Kostüm über den karminrot bestrumpften Beinen, zwei sehr ordentliche Menschen. Ein schönes Paar, dem keine Ehe die Liebe austreiben würde, dachte Ida beruhigt, wenn Frau Nieders Strumpfhosen aus dem Trabantwrack herauswehten, oder wenn Herrn Baums gut rasierte Wangen im fahlen Mondlicht Schweißtropfen absonderten, die pastellfarben funkeln konnten. Wenn Ida Bergner ihre Witwenrente abheben ging, bevorzugte sie den Schalter, an dem Frau Nieder bediente in der Sparkasse des Stadtteilzentrums, und wenn sie die Bank verließ, vergaß sie nie, Herrn Baum bedeutungsvoll zuzunicken, der an einem separaten Tisch Finanzierungsmodelle für Ihr Traumauto anbot. Ida hatte viel Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie man in Deutschland miteinander Deutsch sprach heutzutage. Ein Wort wie Stadtteilzentrum konnte die erste Masche in einer langen Häkelkette von Gedanken sein, die sie aus dieser peripheren und mit dem Wort ZentrumFinanzierungsmodell