Impressum

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel «Hidden Depths» bei Macmillan, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2010

Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Hidden Depths» Copyright © 2007 by Ann Cleeves

Redaktion Elisabeth Raether

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Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt (Foto: Andy & Michelle Kerry/Trevillion Images)

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ISBN 978-3-644-42201-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-42201-8

Kapitel Eins

Vor der Haustür blieb sie noch einmal stehen und kramte zwischen den Kajalstiften, den lippenstiftverschmierten Taschentüchern und dem Kleingeld in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Dabei ertastete sie die abgerissene Ecke des Bierdeckels. Eine Telefonnummer und ein Name. Ruf mich bald an! Und darunter ein kleines Herz. Der erste Mann, den sie berührt hatte, seit Geoff ausgezogen war. Sie dachte daran, wie sich seine Rückenwirbel unter ihren Händen angefühlt hatten, als sie tanzten. Schade, dass er so früh hatte gehen müssen.

Julie machte die Handtasche wieder zu und lauschte. Nichts. Es war so still, dass ihr der Nachhall der lauten Musik noch in den Ohren rauschte. War es tatsächlich möglich, dass Luke schlief? Laura war ein richtiges Murmeltier, doch Julies Sohn hatte noch nie viel Schlaf gebraucht.

Sie schaltete das Licht ein. Der grelle Schein tat ihr in den Augen weh und brachte ihren Magen wieder in Aufruhr. Sie ließ die Tasche fallen, rannte die Treppe hoch zum Bad und fiel dabei fast über die eigenen Füße. Bloß nicht auf den neuen Teppichboden kotzen. Die Tür zum Badezimmer war zu, Julie sah, dass drinnen Licht brannte. Aus dem Trockenschrank hörte sie das leise Gurgeln, mit dem sich der Heißwasserspeicher wieder füllte. Das war ja mal wieder typisch. Morgens musste sie Luke oft ewig zureden, zumindest unter die Dusche zu gehen, und jetzt badete er plötzlich mitten in der Nacht. Julie klopfte an die Badezimmertür, hatte es aber nicht mehr eilig. Die Übelkeit war schon wieder verflogen.

Luke gab keine Antwort. Wahrscheinlich wieder eine seiner Launen. Julie wusste, dass er nichts dafür konnte und dass sie eigentlich Geduld mit ihm haben sollte, aber manchmal wäre sie ihm doch am liebsten an die Gurgel gegangen, wenn er so komisch wurde. Sie überquerte den Flur und schaute in Lauras Zimmer. Der Anblick ihrer schlafenden Tochter machte sie plötzlich ganz sentimental. Sie musste sich mehr Mühe mit ihr geben, mehr Zeit

Sie ging zurück zur Badezimmertür und schlug mit der flachen Hand dagegen. «He, willst du etwa die ganze Nacht da drinbleiben?» Beim dritten Schlag gab die Tür nach. Sie war gar nicht abgeschlossen gewesen. Drinnen hing der schwere, süßliche Duft eines Badeöls, das Julie noch nie benutzt hatte. Auf dem Klodeckel lagen Lukes Kleider, ordentlich gefaltet.

Er war immer wunderschön gewesen, schon als Baby. Viel hübscher als Laura, was im Grunde ziemlich ungerecht war. Es lag an den blonden Haaren, den dunklen Augen, den langen, schwarzen Wimpern. Julie starrte ihn an, wie er da lag, ganz im Badewasser versunken, sein Haar, das sich wie Seegras knapp unter der Oberfläche wiegte. Den Körper sah sie kaum wegen der vielen Blumen, die auf dem duftenden Wasser trieben. Nur die Blüten, ohne Stiele und ohne Blätter. Julie sah die großen Margeriten, die immer auf den Kornfeldern blühten, als sie noch klein war. Sie sah verblühende Mohnblumen, deren rote Blütenblätter fast durchsichtig wirkten, und große, blaue Blüten, die sie schon oft in den Gärten im Dorf gesehen hatte, aber deren Namen sie nicht kannte.

Sie musste wohl geschrien haben. Der Laut klang ihr

Laura stieg aus dem Bett. Sie zitterte am ganzen Körper und schien noch gar nicht richtig wach zu sein. Julie legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich, und so stolperten sie gemeinsam die Treppe hinunter.

So standen sie auch kurz darauf eng umschlungen vor der Tür des Nachbarhauses, und ihr Schatten, den die Straßenlaternen an die Hauswand warfen, erinnerte Julie an zwei Leute bei einem dieser blödsinnigen Dreibeinrennen. Zwei betrunkene Studenten auf Kneipentour. Sie klingelte Sturm, bis oben das Licht anging, Schritte die Treppe herunterkamen und sie endlich jemandem von diesem Albtraum erzählen konnte.

Kapitel Zwei

Felicity Calvert war irritiert, weil sie nur noch Sex im Kopf hatte. Irgendwann hatte sie im Wartezimmer beim Arzt in einer Zeitschrift gelesen, dass halbwüchsige Jungen angeblich alle sechs Minuten an Sex dachten. Das fand sie damals schwer vorstellbar. Wie konnten diese jungen Männer überhaupt noch ein normales Leben führen, im Unterricht aufpassen, ins Kino gehen, Fußball spielen, wenn sie ständig so abgelenkt waren? Und was war mit ihrem eigenen Sohn? Undenkbar, dass James, der da auf dem Fußboden

Sie war im Garten, um die ersten Erdbeeren zu pflücken. Vorsichtig hob sie das Netz ein wenig an und schob die Hand zwischen Maschen und Strohunterlage. Die Früchte waren noch klein, aber es waren immerhin genug für James zum Abendessen. Felicity steckte eine in den Mund. Sie war noch warm von der Sonne und zuckersüß. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon fast Zeit für den Schulbus war. In spätestens zehn Minuten musste sie sich die Hände waschen und zur Landstraße hinuntergehen, um ihren Sohn abzuholen. Sie machte das längst nicht mehr jeden Tag. Er fand, dass er schon groß genug war, um alleine nach Hause zu kommen, und damit hatte er natürlich recht. Doch heute hatte er seine Geige dabei und würde sich sicher freuen, wenn sie kam und ihm beim Tragen half. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob der Bus heute wohl von dem älteren Mann gefahren würde oder von dem jüngeren mit den durchtrainierten Oberarmen und den ärmellosen Shirts. Dann schaute sie erneut auf die Uhr. Nur zwei Minuten seit dem letzten Gedanken an Sex. Wieder dachte sie sich, wie lächerlich das in ihrem Alter war.

Felicity war siebenundvierzig. Sie hatte einen Ehemann und vier Kinder. Sie hatte sogar schon ein Enkelkind. Und

Sie richtete sich auf und ging über den Rasen zur Küche. Fox Mill, ihr Haus, stand auf dem Grundstück einer ehemaligen Wassermühle. Das große Haus war in den dreißiger Jahren erbaut worden, als küstennahes Feriendomizil eines Großstädters, der ein Boot besaß. Mit den glatten, gewölbten Wänden, neben denen der Mühlbach entlangrauschte, sah es selbst ein wenig aus wie ein Boot, ein großes Art-déco-Boot, das an diesem völlig abwegigen Ort inmitten ebenen Ackerlands gestrandet war, den Bug zur Nordsee ausgerichtet, das Heck zu den Hügelketten Northumberlands am Horizont. Auf einer Seite erstreckte sich wie ein Bootsdeck die große Terrasse, die hier, wo es fast nie warm genug zum Draußensitzen wurde, allerdings fast überflüssig war. Felicity liebte das Haus. Von Peters Professorengehalt hätten sie es sich niemals leisten können, doch kurz nachdem Felicity und er geheiratet hatten, waren seine Eltern gestorben, und er hatte ihr ganzes Vermögen geerbt.

Felicity stellte das Körbchen mit den Erdbeeren auf den Küchentisch, dann warf sie einen Blick in den Garderobenspiegel, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und trug etwas Lippenstift auf. Sie war zwar älter als die Mütter von James’ Freunden, aber er sollte sich auf keinen Fall für sie schämen müssen.

 

An der Straße blühte der Holunder, sein Duft machte Felicity ganz benommen, sie spürte ihn hinten am Gaumen. Auf den Feldern zu beiden Seiten reifte das Korn heran. Die

Felicity überlegte, was sie an Peters Geburtstag am Wochenende unternehmen könnten. Freitagabend würden die Jungs zum Essen kommen, die Felicity für sich immer so nannte, obwohl zumindest Samuel in ihrem Alter war. Aber wenn das Wetter hielt, konnten sie am Samstag ein Picknick am Strand machen und einen Ausflug auf die Farne-Inseln, um dort die Papageitaucher und die Trottellummen zu beobachten. Das würde James sicher großen Spaß machen. Felicity blinzelte zum Himmel hinauf, um zu sehen, ob sie womöglich eine nahende Kaltfront spüren, eine noch so kleine Wolke am Horizont ausmachen würde. Aber nein: nichts. Vielleicht, dachte sie, war es sogar warm genug zum Baden; sie stellte sich die sanften Wellen an ihrem Körper vor.

Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, war vom Schulbus noch nichts zu sehen. Felicity schwang sich auf das hölzerne Podest, wo früher die Milchkannen vom Hof auf den Milchwagen warteten. Das Holz war warm und roch nach Harz. Sie stützte sich auf die Ellbogen und hielt das Gesicht in die Sonne.

In zwei Jahren würde James die Schule wechseln. Davor fürchtete sie sich schon jetzt. Peter wollte ihn auf eine Privatschule in der Stadt schicken, dieselbe Schule, die auch er besucht hatte. Felicity sah die Schüler in ihren gestreiften Blazern häufig in der Metro. Sie fand sie laut und ein bisschen zu selbstbewusst.

«Aber wie soll er denn da hinkommen?», hatte sie eingewandt, doch ihr eigentlicher Vorbehalt war ein anderer. Sie

«Ich bringe ihn hin und hole ihn auch wieder ab», hatte Peter erwidert. «Es werden zahlreiche Aktivitäten nach dem Unterricht angeboten, da wird er sich schon beschäftigen können, bis ich aus dem Büro komme.»

Das gefiel Felicity nun überhaupt nicht. Ihr war die Zeit sehr kostbar, die sie mit James verbrachte, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Diese Stunden, davon war sie überzeugt, waren sehr wichtig, um ihn zu verstehen.

Sie hörte, wie der Bus den Hang hinaufschnaufte, richtete sich auf und blinzelte in die Sonne, dem näher kommenden Fahrzeug entgegen. Am Steuer saß Stan, der alte Busfahrer. Felicity winkte ihm zu, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Normalerweise stiegen an dieser Haltestelle nur drei Kinder aus: die beiden Zwillingsmädchen vom Bauernhof und James. Doch heute kletterte noch vor ihnen eine Fremde aus dem Bus, eine junge Frau in Riemchensandalen und einem rot- und goldgemusterten ärmellosen Kleid mit enganliegendem Oberteil und einem weiten, schwingenden Rock. Felicity fand das Kleid wunderschön, den Schnitt und diese leuchtenden Farben – die Jugend von heute schien sonst selbst im Sommer nur Grau oder Schwarz zu tragen. Und als sie sah, wie die junge Frau James half, seinen Ranzen und die Geige aus dem Bus zu hieven, war sie ihr gleich sympathisch. Die Zwillinge überquerten die Straße und rannten den Feldweg zum Hof hinauf, der Bus fuhr an, und sie blieben leicht verlegen zu dritt vor der Hecke stehen.

Die junge Frau hatte eine große Korbtasche mit Lederriemen über die Schulter gehängt. Als sie Felicity eine sonnengebräunte Hand mit langen, schmalen Fingern hinstreckte, rutschte ihr die Tasche von der Schulter, und Felicity sah, dass einige Ordner und ein Bibliotheksbuch darin waren.

«Sagen Sie bitte Lily zu mir.» Sie hatte eine helle Stimme. «Ich bin noch an der Uni und mache gerade mein letztes Schulpraktikum.» Sie lächelte freundlich. Offenbar ging sie davon aus, dass Felicity sie erwartet hatte.

«Ich habe ihr gesagt, sie kann bei uns im Gartenhaus wohnen», verkündete James und trabte dann, von allen Lasten befreit, die Straße hinauf, ohne sich darum zu kümmern, welche der beiden Frauen seine Sachen trug.

Felicity wusste nicht, was sie sagen sollte.

«Er hat Ihnen doch hoffentlich erzählt, dass ich eine Unterkunft suche?», fragte Lily.

Felicity schüttelte den Kopf.

«Ach herrje, das ist mir jetzt aber peinlich.» Doch Lily wirkte keineswegs peinlich berührt, sondern im Gegenteil bemerkenswert selbstsicher. Sie schien die Sache eher amüsant zu finden. «Ohne Auto ist es ein Albtraum, jeden Tag von Newcastle anzureisen, deshalb hat die Direktorin vor ein paar Tagen bei der Morgenversammlung gefragt, ob jemand eine preiswerte Unterkunft für mich weiß. Wir dachten an eine Pension oder ein Zimmer zur Untermiete. Und gestern hat James mir erzählt, dass Sie Ihr Gartenhaus vermieten. Ich hatte vorhin noch versucht anzurufen, habe Sie aber nicht erreicht. James meinte, Sie seien wohl im Garten, ich solle doch einfach mitkommen. Und da ich annahm, dass er bereits mit Ihnen gesprochen hat … Ich konnte sein Angebot nicht ablehnen …»

«Aber wissen Sie, das ist wirklich nicht weiter schlimm. Es ist so ein schöner Nachmittag. Ich laufe einfach ins nächste Dorf, von dort geht um sechs ein Bus zurück in die Stadt.»

«Trinken Sie doch wenigstens noch einen Tee mit uns», sagte Felicity. «Ich muss mir das erst mal kurz durch den Kopf gehen lassen.»

Sie hatten das Gartenhaus schon gelegentlich vermietet, ein richtiger Erfolg war das aber nie gewesen. Anfangs waren sie noch ganz froh über die zusätzliche Einnahmequelle. Obwohl sie Peters Erbe hatten, war die Hypothek doch eine große Belastung. Später dann, mit drei Kleinkindern, war ihnen die Möglichkeit willkommen, ein Kinder- oder Au-pair-Mädchen dort unterzubringen. Doch die Mädchen beschwerten sich wegen der Kälte, der tropfenden Wasserhähne und der wenig modernen Ausstattung. Und auch Peter und Felicity hatten sich nie ganz wohl damit gefühlt, fremde Leute in so unmittelbarer Nähe zu haben. Die Verantwortung für die Mieterinnen war zusätzlicher Stress. Und obwohl ihnen keine je übermäßig zur Last gefallen war, waren sie doch immer erleichtert, wenn wieder jemand auszog. «Nie wieder», hatte Peter mit Nachdruck erklärt, als die letzte Bewohnerin, eine heimwehkranke junge Schwedin, wieder fort war. Felicity konnte also nicht recht sagen, wie er es finden würde, eine weitere junge Frau auf dem Grundstück zu haben, selbst wenn es nur für die vier verbleibenden Wochen bis zu den Sommerferien sein würde.

Doch als sie sich an den Küchentisch setzten und ein frischer Wind vom Meer die Musselinvorhänge vor dem offenen Fenster blähte, dachte sich Felicity Calvert, dass

James saß zwischen ihnen am Tisch, mit Schere, Klebstoff und diversen Papierschnipseln bewaffnet. Er trank Orangensaft und bastelte an einer Geburtstagskarte für seinen Vater, eine aufwendige Angelegenheit, für die er verschiedene Fotos von Peter aus alten Alben als Collage um eine große, aus Geschenkband und Glitzerfarbe gefertigte 60 anordnete. Lily bewunderte das Kunstwerk und stellte interessierte Fragen, und Felicity spürte, wie sehr sich James über die Zuwendung freute. Sie war der jungen Frau ausgesprochen dankbar dafür.

«Wenn Sie eine Wohnung in Newcastle haben», sagte sie, «werden Sie an den Wochenenden ja sicher gar nicht hier sein.» Ein weiteres Argument für Peter. Sie ist doch nur unter der Woche hier. Und du arbeitest ohnehin so viel, wahrscheinlich merkst du gar nicht, dass sie da ist.

 

Das Gartenhaus stand am anderen Ende der großen Wiese mit den wilden Blumen. Dieses Feld war neben dem Garten das einzige Land, das sie besaßen. Vom Haus aus wirkte der kleine Bau dahinter schmal und niedrig; man konnte sich nur schwer vorstellen, dass darin jemand wohnte. Über das Feld führte ein Trampelpfad, und Felicity sah, dass jemand dort gewesen war, seit das Gras wieder wuchs. Vermutlich James. Wenn er Freunde zum Spielen dahatte, nutzten sie das Gartenhaus manchmal als Spielhöhle. Allerdings war es normalerweise abgeschlossen, und Felicity konnte sich nicht erinnern, dass James in letzter Zeit nach dem Schlüssel gefragt hätte.

«Gartenhaus klingt viel großartiger, als es ist», sagte sie zu Lily. «Es hat nur zwei Zimmer, eins oben und eins unten,

Die Tür war mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Felicity öffnete es, zögerte dann aber, weil sie sich mit einem Mal unbehaglich fühlte. Sie hätte sich im Haus vorher noch einmal umsehen sollen, bevor sie eine Fremde hereinließ. Wahrscheinlich hätte sie Lily besser gebeten, in der Küche zu warten, während sie nachschaute, wie es dort aussah.

Doch obwohl sie gleich die Feuchtigkeit roch, machte das Haus insgesamt doch einen einigermaßen ordentlichen Eindruck. Im Kamin lag keine alte Asche mehr, obwohl Felicity sich nicht erinnern konnte, ihn gesäubert zu haben, seit ihre Jüngste an Weihnachten mit ihrem Mann hier gewesen war. Die Töpfe hingen alle an ihrem Platz an der Wand, die Wachstuchdecke auf dem Tisch wirkte frisch gewischt, und bei der Hitze draußen auf der Wiese war es drinnen angenehm kühl. Felicity öffnete das Fenster.

«Drüben auf dem Hof sind sie gerade beim Mähen», sagte sie. «Man riecht es bis hierher.»

Lily stand mitten im Zimmer und sagte nichts. Felicity, die irgendwie erwartet hatte, die junge Frau würde sich auf Anhieb in das Häuschen verlieben, fühlte sich gekränkt. Es kam ihr vor, als hätte die andere ein Freundschaftsangebot ausgeschlagen. Sie zeigte ihr das kleine Bad, wies darauf hin, dass die Dusche eben erst eingebaut und die Fliesen kürzlich erneuert worden waren, und kam sich dabei vor wie eine Maklerin, die verzweifelt versucht, ihr Objekt an den Mann zu bringen. Warum führe ich mich eigentlich so auf?, fragte sie sich. Eben war ich doch noch nicht einmal sicher, ob ich sie überhaupt hierhaben will.

Schließlich fragte Lily: «Können wir nach oben schauen?» Damit stieg sie auch schon die enge Holztreppe hinauf, die

Doch auch hier wirkte alles viel ordentlicher, als sie erwartet hatte. Das Bett war noch gemacht, das Federbett und die zusätzlichen Wolldecken lagen sorgfältig gefaltet am Fußende. Auf dem bemalten Bauernschrank und der Kommode mit den Familienfotos lag natürlich Staub, doch von dem üblichen Schlachtfeld aus vergessenem Kleinkram, das ihre Tochter sonst immer zurückließ, war nichts zu sehen. Auf der breiten Fensterbank stand eine Vase mit weißen Rosen. Felicity hob gedankenverloren ein abgefallenes Blütenblatt auf. Natürlich, dachte sie. Bestimmt war Mary hier, obwohl ich sie nicht ausdrücklich darum gebeten habe. Wie reizend von ihr! Sie ist immer so unaufdringlich hilfsbereit! Mary Barnes kam zweimal die Woche zum Putzen ins Haus.

Erst als sie das Vorhängeschloss schon wieder an der Haustür befestigt hatte, fiel ihr auf, dass die Rosen kaum länger als zwei, drei Tage dort stehen konnten und die eher phantasielose Mary ganz sicher nicht von sich aus auf eine solche Idee gekommen wäre.

Sie blieben einen Moment vor dem Gartenhaus stehen. «Und?», fragte Felicity. «Wie gefällt es Ihnen?» Sie hörte selbst die gezwungene Fröhlichkeit in ihrer Stimme.

Lily lächelte. «Es ist wunderhübsch», sagte sie. «Ganz ehrlich. Aber ich muss mir das doch noch einmal ganz genau durch den Kopf gehen lassen. Kann ich Sie nächste Woche anrufen?»

Eigentlich hatte Felicity ihr noch anbieten wollen, sie zumindest bis zur Bushaltestelle im Dorf zu fahren, doch nun drehte Lily sich einfach um und ging über die Wiese davon. Felicity brachte es nicht über sich, ihr hinterherzurufen

Kapitel Drei

Julie konnte nicht mehr aufhören zu reden. Sie kam sich ziemlich bescheuert dabei vor, aber die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, und die dicke Frau von der Polizei saß wie festgeklemmt in dem Sessel, den Sal letztes Jahr bei Delcor im Ausverkauf erstanden hatte, und hörte ihr zu. Sie machte sich keine Notizen, stellte auch keine Fragen. Sie hörte einfach nur zu.

«Er war so ein liebes Baby, ganz anders als Laura. Nach Luke war sie ein echter Schock für mich. Eine richtig unersättliche kleine Mamsell, wenn sie nicht gerade schlief oder schrie, hatte sie immer eine Flasche im Mund. Luke war irgendwie …» Sie hielt inne, um nach den richtigen Worten zu suchen, und die dicke Polizistin schwieg, ließ ihr Zeit zum Nachdenken. «… friedlich. Er lag den ganzen Tag nur da und hat sich die Schatten an der Decke angeschaut. Mit dem Sprechen hat er sich eher schwergetan, aber da war Laura ja schon da, und die Frau vom Gesundheitsdienst meinte, es lag daran. Laura war so lebhaft, hat meine ganze Aufmerksamkeit und Energie beansprucht, da blieb Luke ein bisschen auf der Strecke. Aber die Frau vom Gesundheitsdienst meinte, ich soll mir keine Sorgen machen, er würde schon aufholen, wenn er erst mal im Kindergarten ist. Damals war Geoff auch noch bei uns, aber er war ziemlich viel auf Arbeit unterwegs. Er ist Stuckateur. Im Süden kann man mehr Geld verdienen, deshalb hat er sich von so

Diesmal reagierte die Frau: Sie nickte einmal ganz leicht, um Julie zu zeigen, dass sie verstand.

«Ich habe Luke dann in den Kindergarten hier im Dorf gegeben. Erst wollte er überhaupt nicht hin, sie mussten ihn richtig von mir wegzerren, und wenn ich ihn eine Stunde später abholen kam, hat er immer noch geschluchzt. Das hat mir fast das Herz gebrochen, aber ich habe mir gesagt, es ist richtig so. Er brauchte doch Gesellschaft. Und die Frau vom Gesundheitsdienst fand es auch richtig. Irgendwann hat er sich dann auch dran gewöhnt, zumindest hat er kein Theater mehr gemacht, wenn er hinmusste. Aber er hat mich die ganze Zeit mit diesem Blick angeschaut. Gesagt hat er nichts, aber der Blick sprach Bände: ‹Mach, dass ich da nicht hinmuss, Mum. Bitte mach, dass ich da nicht hinmuss.›» Julie hockte auf dem Boden, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen. Sie sah zu der Polizistin hoch, die sie immer noch schweigend musterte, und plötzlich kam ihr der Gedanke, dass diese Frau, so breit und stabil wie ein Fels, vielleicht selbst einmal eine Tragödie durchlitten hatte. Nur deshalb konnte sie jetzt so dasitzen, ohne die ganze Zeit irgendwelche blöden, mitfühlenden Laute von sich zu geben, wie Sal und der Arzt. Diese Frau wusste, dass nichts, was sie sagen konnte, auch nur irgendetwas besser machen würde. Doch der Kummer der Polizistin war Julie im Grunde egal, und es war auch nur ein flüchtiger Gedanke. Sie sprach weiter.

«Zu der Zeit etwa kam Geoff aus London zurück. Mir hat er erzählt, es gäbe keine Arbeit mehr, aber ich wusste von seinem Kumpel, dass er sich mit dem Vorarbeiter gestritten hatte. Geoff macht gute Arbeit, er lässt sich nur

Sal hatte Tee gekocht. Richtigen Tee, eine ganze Kanne voll, keine einzelnen Teebeutel im Becher, wie Julie es immer machte. Julie griff nach der Kanne auf dem Tablett und goss sich noch eine Tasse ein. Eigentlich hatte sie gar keine Lust mehr auf Tee, aber die Tätigkeit gab ihr Zeit, sich darüber klarzuwerden, was genau sie sagen wollte.

«Es war keine gute Zeit. Geoff war nicht an die Kinder gewöhnt. Als er noch in London arbeitete, war er immer nur ein langes Wochenende im Monat zu Hause. Das war dann etwas ganz Besonderes für ihn. Er machte einen Riesenzinnober, brachte Geschenke mit. Wir benahmen uns alle so gut wie möglich, und er ging jeden Abend mit seinen Kumpels saufen. Als er dann dauerhaft wieder hier war, konnte das natürlich nicht so weitergehen. Sie wissen ja, wie das ist im Alltag. Nasse Babyklamotten auf der Heizung, Spielzeug im ganzen Haus, schmutzige Windeln … Manchmal hat er da einfach die Geduld verloren, vor allem mit Luke. Laura hat immer nur gekichert und ihn um den Finger gewickelt. Aber Luke war irgendwie in seiner eigenen Welt. Natürlich hat Geoff ihn nie geschlagen, aber er hat ihn angebrüllt, und das hat Luke solche Angst gemacht, man hätte denken können, er wäre wirklich verprügelt worden. Ich habe auch viel rumgebrüllt, aber bei mir wussten sie, dass ich es nicht ernst meine und dass sie am Ende doch ihren Willen kriegen. Bei Geoff war das anders. Manchmal hatte ich sogar selber Angst vor ihm.»

«In der Grundschule war Luke nicht weiter schwierig. Er schien sogar ganz gerne hinzugehen. Vielleicht war er einfach schon daran gewöhnt, weil der Kindergarten im selben Gebäude war. Und in der ersten Klasse hatte er auch eine ganz tolle Lehrerin, Mrs Sullivan. Sie war wie eine Oma für die Kinder, nahm sie auf den Schoß, um ihnen Lesen beizubringen. Sie hat mir gesagt, Luke hätte Probleme – nichts Schlimmes, meinte sie, aber es wäre doch besser, ihn mal untersuchen zu lassen. Sie fand, er sollte zum Psychologen. Aber wir hatten nicht genug Geld, die Wartelisten waren zu lang oder was auch immer, jedenfalls kam es nie dazu. Geoff meinte, Luke wäre einfach nur faul. Und dann hat er uns verlassen. Er hat behauptet, wir gingen ihm auf die Nerven, würden ihn nur runterziehen. Aber ich wusste natürlich, dass er eine Affäre hat, mit einer Krankenschwester vom Royal-Victoria-Krankenhaus. Sie sind dann zusammengezogen. Inzwischen sind sie verheiratet.»

Wieder schwieg sie einen Moment, nicht weil ihr der Redestoff ausgegangen wäre, sondern weil sie ein paarmal tief durchatmen musste. Sie glaubte, dass Geoff immer schon geahnt hatte, mit Luke könne etwas nicht stimmen. Wie oft hatte er ihn beim Spielen misstrauisch gemustert. Und trotzdem hatte er es sich nie eingestehen wollen.

Es war inzwischen halb neun, und sie saßen immer noch im Haus der Nachbarin, in Sals Wohnzimmer. Draußen ging gerade der Postbote vorbei und beäugte neugierig den Polizisten, der vor Julies Haustür stand. Am anderen

Die dicke Polizistin beugte sich vor – nicht, um Julie dazu zu bewegen, weiterzureden, sondern vielmehr, um ihr zu zeigen, dass sie Geduld und alle Zeit der Welt hatte. Julie trank von ihrem Tee. Sie hatte keine Lust, der Frau zu erzählen, wie Geoff Luke gemustert hatte.

«Das mit den Wutanfällen fing an, als er etwa sechs war. Sie kamen aus dem Nichts, er war dann gar nicht mehr zu bändigen. Meine Mutter meinte, ich bin schuld, weil ich ihn so verwöhnt habe. Damals war er zwar schon nicht mehr bei Mrs Sullivan in der Klasse, aber sie war die Einzige an der Schule, mit der ich darüber reden konnte, und sie meinte, er wäre von sich selbst enttäuscht. Er hatte Probleme mit dem Schreiben und mit dem Lesen, und das wurde ihm dann manchmal plötzlich alles zu viel. Einmal hat er auf dem Pausenhof einen anderen Jungen geschubst, weil der ihn geärgert hatte. Der Junge ist hingefallen und hat sich am Kopf verletzt. Er musste sogar ins Krankenhaus. Sie können sich ja vorstellen, wie das für mich war, als ich nachmittags kam, um die Kinder abzuholen. Die anderen Mütter standen alle da und haben geflüstert und mit dem Finger auf mich gezeigt. Luke hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Er wollte den anderen Jungen unbedingt im Krankenhaus besuchen, dabei hatte der ihn ja so provoziert. Aidan hieß er. Aidan Noble. Seine Mutter hat ganz gut reagiert, aber sein Vater stand irgendwann bei uns vor der Tür, um uns die Meinung zu geigen, und hat da draußen rumgebrüllt, dass die ganze Straße mithören konnte.

Dann hat mich der Direktor zu sich bestellt, Mr Warrender. So ein kleiner dicker Kerl mit dünnem Haar, unter dem man die Glatze sieht. Neulich habe ich ihn in der

Julie hielt wieder inne. Sie wollte der dicken Frau begreiflich machen, wie sie sich damals gefühlt hatte, wie erleichtert sie gewesen war zu erfahren, dass sie die Wutanfälle und die Stimmungsschwankungen ihres Sohnes nicht selbst verschuldet hatte. Darin zumindest hatte ihre Mutter sich getäuscht. Luke war eben einfach etwas Besonderes. Er war anders, immer schon anders, und es hatte nie in ihrer Macht gestanden, etwas daran zu ändern. Und die Polizistin schien zu verstehen, wie wichtig das für Julie gewesen war, denn schließlich sagte sie doch etwas.

«Dann waren Sie also nicht allein.»

«Sie können sich gar nicht vorstellen», sagte Julie, «wie gut mir das getan hat.»

Die Frau nickte verständnisvoll. Aber wie sollte sie das begreifen können, wo sie doch selbst keine Kinder hatte? Wie konnte das überhaupt jemand begreifen, der selbst kein Kind mit Lernschwierigkeiten hatte?

«Es war aber sicher nicht leicht», sagte die Polizistin.

«Nein», gab Julie zu. «Aber es ging schon. Mit Luke gab es erst wieder Ärger, als er die Schule wechseln musste. Die anderen Kinder haben schnell spitzgekriegt, was mit ihm los ist, und keine Gelegenheit ausgelassen, ihn zu hänseln. Ständig haben sie ihn zu irgendwelchen Streichen angestiftet. Und er wurde natürlich immer erwischt. Da hatte er schnell einen Ruf weg. Sie kennen so was bestimmt, das erlebt man doch immer wieder. Einmal kam sogar die Polizei und hat ihn beim Klauen auf einer Baustelle erwischt. Irgendwelche Plastikrohre. Weiß der Himmel, was er damit wollte. Jemand hatte ihm etwas Geld dafür versprochen,

Verständlich, dachte Julie. Sie wüsste ja selbst nicht, was sie ohne ihre Freundinnen anfangen sollte. Sie hatte sie angerufen, wenn es Ärger mit Geoff gab. Sie hatte ihre Sorgen um Luke mit ihnen geteilt, als er im Krankenhaus war. Und jedes Mal waren sie gleich mit einer Flasche Wein vorbeigekommen. Klar waren sie vor allem auf neuen Klatsch und Tratsch aus – aber sie waren trotzdem für sie da.

«Einen guten Freund hatte er sogar», erzählte sie weiter. «Er hieß Thomas. Sie hatten sich kennengelernt, als Luke auf die neue Schule kam. Thomas war so ein richtiger kleiner Gauner. Er hatte immer Ärger mit der Polizei, aber wenn man seine Geschichte kannte, verstand man auch, warum. Sein Vater saß eigentlich ständig im Knast, und seine Mutter hat sich auch nicht viel um den Jungen gekümmert.

Ich hätte mir Thomas ja nicht als Freund für Luke ausgesucht, aber er war im Grunde kein schlechter Kerl. Und es schien ihm bei uns zu gefallen. Irgendwann wohnte er praktisch hier. Aber er war keine große Belastung. Die zwei saßen eigentlich immer oben in Lukes Zimmer, schauten Videos oder machten Computerspiele, und in der Zeit klauten sie zumindest nicht oder nahmen Drogen, wie ihre anderen Kumpels. Und sie haben sich richtig gut verstanden. Manchmal hörte ich sie über irgendeinen blöden Witz lachen, und dann war ich einfach froh, dass Luke endlich einen Freund hat.

Dann ist Thomas ums Leben gekommen. Er ist ertrunken. Ein paar von den Jungs haben in North Shields am Kai rumgeblödelt, und Thomas ist ins Wasser gefallen. Er konnte nicht schwimmen. Luke war auch dabei, er ist

Julie hielt inne. Draußen fuhr ein Traktor mit einem heuballenbeladenen Anhänger vorbei. «Luke wollte nicht darüber reden. Er hat sich einfach stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen. Ich dachte, er braucht vielleicht nur Zeit, um die Geschichte zu verarbeiten. Zeit zum Trauern, wissen Sie? Er ging nicht mehr zur Schule, aber er war ja schon fünfzehn, und einen richtigen Abschluss würde er sowieso nicht machen, deshalb habe ich ihn irgendwann einfach gelassen. Ich habe mit meiner Chefin im Altersheim gesprochen, und sie meinte, sobald er sechzehn ist, kann er vielleicht dort arbeiten, in der Küche aushelfen. Ein paarmal hat er mich zur Arbeit begleitet, und die alten Leutchen mochten ihn auf Anhieb. Ich hätte natürlich merken müssen, dass er Hilfe braucht. Es war einfach nicht normal, wie er sich verhielt. Aber unser Luke war noch nie normal. Wie hätte ich da etwas ahnen können?

Irgendwann hat er sich nicht mehr gewaschen, nichts mehr gegessen. Er war die ganze Nacht wach. Manchmal hörte ich seine Stimme, als würde er mit jemandem reden, der gar nicht da ist. Da habe ich dann doch den Arzt gerufen, und der hat ihn ins St. George’s überwiesen, Sie wissen schon, die psychiatrische Klinik. Es hieß, er hätte eine schwere Depression. Posttraumatische Belastungsstörungen. Ich fand es schrecklich, ihn dort zu besuchen, aber es war schon eine Erleichterung, ihn nicht mehr zu Hause zu haben. Ich hatte natürlich ein furchtbar schlechtes Gewissen, das zu denken, aber so war es einfach.»

«Wann ist er wieder nach Hause gekommen?», fragte die dicke Frau. Ihre erste Frage überhaupt.

«Vor drei Wochen. Es schien ihm besserzugehen. Sehr viel besser. Er war natürlich immer noch traurig wegen

Die Frau beugte sich vor und ergriff Julies Hand, umschloss sie mit ihrer großen Pranke.

«Es war nicht Ihre Schuld», sagte sie. «Luke hat sich nicht umgebracht.» Sie sah Julie ins Gesicht, um sicher zu sein, dass sie auch zuhörte, dass sie verstand, was sie ihr sagte. «Er war schon tot, bevor er in die Badewanne gelegt wurde. Er wurde ermordet.»

Kapitel Vier

Sie saßen beim Frühstück am Küchentisch. Draußen schien bereits die Sonne, das gelbe Geschirr auf der Anrichte spiegelte die Strahlen und warf sie zur Decke hinauf. Peter bestrich seinen Toast mit Butter und redete dabei ununterbrochen; er beklagte sich darüber, dass sein Bericht an die Seltenheitskommission, das British Birds Rarity Committee, erneut abgewiesen worden war. Felicity gab sich interessiert, ohne sich groß auf das zu konzentrieren, was er sagte. Darin hatte sie Übung. Als junger Mann hatte Peter sich zu Höherem berufen gefühlt; er hatte als einer der besten Nachwuchswissenschaftler gegolten. Jetzt jedoch, kurz vor der Rente, musste er feststellen, dass die einschlägigen naturgeschichtlichen Institutionen seine

«Wann kommen die anderen?» Seine Frage riss sie aus ihren Gedanken. Er schien sich zu freuen. Die schlechte Laune war anscheinend schon fast wieder verflogen. Manchmal hatte Felicity das Gefühl, dass er sich auf seine Freunde viel mehr freute als auf sie. So aufgeregt war er ihretwegen schon lange nicht mehr gewesen.

Sie hatte gerade an Lily Marsh gedacht, die junge Referendarin, und sich gefragt, ob sie das Mietangebot wohl annehmen würde. Im Nachhinein erst war ihr aufgefallen, dass sie gar nicht über Geld geredet hatten. Vielleicht war Lily ja deswegen so überstürzt verschwunden. Vielleicht

Peters Geburtstagsessen: ein Ritual. Jedes Jahr wurden dieselben drei Freunde dazu eingeladen. «Ich habe ihnen gesagt, dass wir um acht essen und vorher noch zum Leuchtturm gehen können.» Der Spaziergang zum Leuchtturm war ebenfalls Teil des Rituals.

Felicity hörte den Postwagen draußen, und gleich darauf fielen ein paar Umschläge durch den Briefschlitz auf den Dielenboden. Sie überließ Peter seinem Toast und stand auf, um die Post zu holen. Alle Briefe waren für ihn. Auf dreien der Umschläge erkannte sie die Schrift ihrer Kinder. Sie legte ihm die Briefe auf den Küchentisch, und er schob sie ungeöffnet in seine Aktentasche. Das machte er immer so: Seine Post öffnete er grundsätzlich erst im Büro. Früher hatte Felicity sich manchmal gefragt, ob er wohl etwas zu verheimlichen habe, hatte sich eine zweite Ehefrau ausgemalt, eine heimliche zweite Familie. Doch es war einfach nur Gewohnheit. Er dachte gar nicht weiter darüber nach.

Jetzt schloss er die Aktentasche und stand auf. Peter hatte James versprochen, ihn bis zur Bushaltestelle vorn an der Straße mitzunehmen, und rief die Treppe hoch, er solle sich beeilen. Es gab etliche Taschen zu verstauen, und in der ganzen Aufregung wurde fast noch das Pausenbrot vergessen. Und Felicity hatte nun doch keinen Brief mehr an Lily Marsh geschrieben. Fast hätte sie James, der bereits zum Auto trottete, hinterhergerufen: Sag Miss Marsh, sie soll

Felicity machte sich noch einen Kaffee und schrieb ihre Einkaufsliste für den Bauernladen. Sie hatte die Mahlzeiten für das Wochenende bereits ganz genau geplant. Selbstverständlich gab es einen Kuchen, der bereits gebacken und glasiert war. Ein Jammer, dass die drei älteren Kinder alle zu weit weg wohnten und nichts davon haben würden. Für den heutigen Abend hatte sie eigentlich ein provençalisches Rindsragout vorbereitet, dunkel und üppig, mit Oliven und Rotwein geschmort. Es stand bereits in der Speisekammer und brauchte nur noch einmal erwärmt zu werden. Doch jetzt hatte sie eine andere Idee. Der Tag war viel zu warm für Rindfleisch. Falls Neil, der Metzger, zwei frische Hühner hatte, würde sie dieses spanische Gericht zubereiten, mit Zitronenscheiben, Rosmarin und Knoblauch. Das war sehr viel leichter und dazu noch wunderbar aromatisch und mediterran. Samuel würde begeistert sein. Sie würde den langen Tisch auf der überdachten Terrasse decken, Reis und einen großen grünen Salat dazu servieren, und dann wäre es fast so, als säßen sie draußen zwischen Orangenbäumen und Olivenhainen.

Manchmal, wenn sie sich mit den anderen Müttern unterhielt, die ständig bei ihr vor der Tür standen, um ihre Söhne abzuliefern oder Felicitys Sohn irgendwohin mitzunehmen, fragte sie sich, ob sie nicht doch etwas verpasste, weil sie nicht arbeitete. Die anderen Frauen waren

Im Bauernladen war es kühl, die Tür zum Hof stand offen, es roch nach Kühen und nach Gras. Felicity war die erste Kundin des Tages. Neil war noch damit beschäftigt, sein Kühlregal einzuräumen. Das schwere Holzbrett, das Hackbeil und die langen, scharfen Messer waren noch sauber und unbenutzt. Er wog die Hühner aus und verstaute sie in Felicitys Einkaufstasche.