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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2016

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63156-6 (Taschenbuch, 1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-05341-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-05341-0

Nein. Niemand.

Der Schnee wird tauen, das grüne ukrainische Gras wird heranwachsen und die Erde bedecken, die Saaten werden üppig aufgehen, darüber werden Hitzewellen flimmern, und kein Blut wird zu sehen sein.

 

Michail Bulgakow, «Die Weiße Garde», 1924

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

In den zweieinhalb Jahren, die vergangen sind, seit ich dieses Buch geschrieben habe, ist in der Ukraine vieles beim Alten geblieben.

Der Krieg etwa, dessen Zeuge ich wurde, als ich im Herbst 2015 durch den Donbass reiste, herrscht noch immer. Bis heute steht die ukrainische Armee im Osten des Landes separatistischen Aufständischen und ihren russischen Unterstützern gegenüber. Bis heute kommt es dort regelmäßig zu Feuergefechten, bei denen bis heute Menschen sterben, auch wenn nur noch selten darüber berichtet wird, weil der Ausnahmezustand im Osten Europas zur Normalität geworden ist. Insgesamt knapp 11000 Kriegstote registrierten die UN bis Dezember 2017, davon fast 3000 Zivilisten, mehr als eine Million Menschen sind aus den umkämpften Gebieten geflüchtet. Die Friedensverhandlungen kommen nur schleppend voran, und alles deutet darauf hin, dass der östliche Donbass auf absehbare Zeit eine instabile Region mit ungeklärtem Status bleiben wird.

Wenig geändert hat sich auch für die Krim. Nach wie vor betrachtet die Regierung in Kiew die Halbinsel im Schwarzen Meer als ukrainisches Territorium, nach wie vor hält die Regierung in Moskau sie für russisches Staatsgebiet, nach wie vor sind die Sanktionen in Kraft, die der Westen nach der Annexion gegen Russland verhängt hat. Tausende von Ukrainern und Krimtataren haben die Halbinsel verlassen, der verbliebene Teil der tatarischen Minderheit ist weiterhin jenen Repressionen ausgesetzt, über die meine Gesprächspartner auf der Krim im Herbst 2015 klagten. Ähnlich wie im Donbass ist nicht zu erkennen, dass es zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen in naher Zukunft zu einer Einigung über den Status der Krim kommen wird.

Auch im Inneren ist die Ukraine bis heute von den Konflikten geprägt, mit denen ich während meiner Reise in Berührung kam. Das neue Kiewer Regime hat die hohen Erwartungen seiner Unterstützer in vielen Punkten nicht erfüllen können. Zwar gelang es in den Verhandlungen mit der EU, ein zentrales Anliegen der Maidan-Bewegung umzusetzen: Seit Juni 2017 können Ukrainer für bis zu 90 Tage ohne Visum in den Schengen-Raum reisen. Nach wie vor aber gehört das Land zu den korruptesten und ärmsten in Europa, und von einer EU- oder Nato-Mitgliedschaft ist es wegen seiner Territorialkonflikte heute de facto weiter entfernt als vor der Maidan-Revolution. Teile der Gesellschaft reagieren auf diese Enttäuschungen mit Resignation, andere radikalisieren sich. Diverse politische Morde haben in den vergangenen Jahren das Land erschüttert, immer wieder kam es zudem zu beunruhigenden Machtdemonstrationen rechtsextremer Gruppierungen. Dass deren realer Einfluss nicht im Ansatz so groß ist, wie es die russische Propaganda ausmalt, steht auf einem anderen Blatt.

So lauten in Kurzform die Nachrichten. Schwerer zusammenzufassen ist, was sich jenseits dieser Schlagzeilen abgespielt hat. Die Lebensgeschichten, von denen ich in meinem Buch erzähle, sind weitergegangen – bei einigen kenne ich die Fortsetzung, bei den meisten nicht. Manche der Menschen, die mir begegnet sind, dürften Kinder bekommen haben, andere sind vielleicht gestorben. Die einen leben noch da, wo ich sie getroffen habe, andere könnten umgezogen sein. Manche werden sich verliebt haben, andere zerstritten, die einen werden glücklicher sein als damals, die anderen nicht. Bei allen Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichten aber, die ich in den Mittelpunkt meines Buchs gestellt habe, hoffe ich, dass sie die Ukraine als Land auch dann noch begreiflich machen können, wenn die Schlagzeilen längst andere sind.

Berlin, März 2018

Ein fragender Blick am Busbahnhof von Przemyśl, begleitet von Worten, deren Sinn ich nur erraten kann, ich spreche kein Polnisch.

Auf Russisch und mit ostwärts deutenden Gesten antworte ich: Rüber, über die Grenze, in die Ukraine.

Der Mann, der beschäftigungslos neben dem Bus steht, nickt, mit wissendem Gesichtsausdruck, als begreife er mehr, als ich gesagt habe. Er ist fett und verschwitzt und nicht mehr jung, seine Augen verschwimmen hinter schlierigen Brillengläsern, es ist ein glühend heißer Spätsommertag. Was er von mir will, weiß ich nicht, ich habe ihn erst für den Busfahrer gehalten, aber die Fahrkarte, die ich ihm hinhalte, interessiert ihn nicht. Offenbar will er einfach nur reden, und dass ich seine Sprache nicht spreche, scheint mich paradoxerweise zum geeignetsten Zuhörer zu machen. Wer nichts versteht, dem muss man alles erklären.

Meinen Rucksack habe ich schon im Bus abgestellt, bis zur Abfahrt in die Ukraine bleiben wenige Minuten. Der Mann füllt sie mit einem Monolog, in dem ich nur polnische Zischlaute und historische Schlagwörter ausmachen kann: Franz-Josef … Hitler … Stalin … Kosaken … Ukraine … Zar … Napoleon … Moskau … Kreml … Lemberg … katholisch … orthodox …

Während er spricht, durchlöchert sein Zeigefinger die Luft

Als der Bus schließlich losfährt, bleibt der Mann am Bahnhof zurück, so beschäftigungslos wie vorher. Während ich seine füllige Silhouette langsam schrumpfen sehe, frage ich mich, woher die Besessenheit rührt, mit der manche Menschen an der Vergangenheit hängen. Und ob ich solche Menschen anziehe, weil sie spüren, dass ich Geschichte, dass ich Geschichten suche.

Baumärkte, Gartencenter, Ersatzteil- und Reifenhändler ziehen an den Busfenstern vorbei, zwischen Zweckbauten und Parkplätzen endet Polen. Dahinter, nicht mehr weit entfernt, liegt der Westen eines Landes, in dessen Osten Krieg herrscht. Ein Krieg, der um die Vergangenheit geführt wird, so jedenfalls kam es mir vor, während ich in den vergangenen Monaten den Gang der Ereignisse verfolgt habe. Oft klang das beiderseitige Kampfgeschrei in meinen Ohren ähnlich wie der Monolog des Mannes am Busbahnhof, ein geschichtsbesessenes Crescendo aus slawischen Zischlauten und historischen Vorwürfen: Lenin! … Bandera! … Holodomor! … Holocaust! … Gulag! … Galizien! … Kommunisten! … Faschisten! … Imperialisten! …

Das Gefühl, aus der Ferne nicht viel zu verstehen, hat mich auf den Weg gebracht.

 

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal von der Ukraine hörte. Es muss ein erstes Mal gegeben haben, wie bei jedem anderen Land, aber ich habe es vergessen, und nun, wo sich mein Bus der Grenze nähert, kommt mir diese Erinnerungslücke bezeichnend vor.

Als die Sowjetunion von der Landkarte verschwand, blieb Russland übrig, nicht wesentlich kleiner als vorher, noch immer machte es sich auf dem Globus breiter als mancher Kontinent. Der Rest der untergegangenen Sowjetunion verschwand im Schatten dieses Riesenrusslands. All die anderen unabhängigen Staaten, die plötzlich auf der Landkarte aufgetaucht waren, nahm ich als Teenager kaum wahr, auch weil sie im Erdkundeunterricht meiner Kindheit nicht vorgekommen waren, nicht einmal als Republiken der Sowjetunion. Von viel weiter entfernten Ländern, über die ich ansonsten nichts wusste, waren mir immerhin klingende Hauptstädte wie Kuala Lumpur oder Ouagadougou im Gedächtnis geblieben, andere hatten sich mir eingeprägt, weil ihre Flaggen gelungen oder missglückt aussahen, mit wieder anderen verband ich Flüsse, Schriftsteller, Automarken oder das vage Gefühl, dass die Menschen dort mehr Abenteuer erlebten.

Zu den neuen Ländern an Russlands Rändern fiel mir nichts von all dem ein. Genau genommen sogar weniger als nichts, denn unbewusst verschob ich nach dem Verschwinden der Sowjetunion alles, was ich früher in ihren Grenzen verortet hatte, auf meiner inneren Landkarte nach Russland: Tschernobyl, Gogol, Breschnew, Borschtsch, die Krim – alles russisch, dachte ich.

Alles ukrainisch, lernte ich später.

Aber selbst bei meinem ersten Besuch in Kiew, ein gutes Jahrzehnt vor meiner jetzigen Reise, hatte ich die Ukraine noch als eine Art russischen Randbezirk wahrgenommen, auch wenn ich schnell begriff, dass ihre Bewohner so nicht wahrgenommen werden wollten. Von Moskau aus, wo ich damals als Journalist arbeitete, hatte

Die ersten ukrainischen Sätze, die ich bewusst wahrnahm, hörte ich erst fünf Jahre später, auf dem Darnizer Markt, einer Ansammlung von Fleisch- und Gemüseständen in einem Kiewer Plattenbauviertel. An den Rändern des Marktgeländes flankierten alte Frauen die Bürgersteige, die karierte Wachstaschen mit selbst geerntetem Datscha-Obst aus dem Umland nach Kiew transportierten, um es den Hauptstädtern zu verkaufen. Wenn ich auf Russisch Gespräche mit ihnen anfing, wechselten sie meist nach den ersten zwei Antwortsätzen ins Ukrainische, offenbar ohne es selbst zu merken. Fragte ich nach, weil ich zwar das meiste, aber nicht jedes Wort der ähnlich klingenden Sprache verstanden hatte, schwenkten sie sofort zurück ins Russische, um nach den nächsten zwei Sätzen wieder unbewusst ins Ukrainische abzugleiten. «Sonnenscheinchen, es ist alles das Gleiche für uns», sagten sie entschuldigend, wenn ich erneut nachfragte.

«Die sprechen Surschik», sagten meine Kiewer Freunde über die Marktfrauen. Sie rümpften die Nase über dieses russisch-ukrainische Sprachgemisch, das man nie aus dem Mund gebildeter Hauptstädter hörte. Mich dagegen faszinierte die Vorstellung, dass zwei Sprachen nicht klar gegeneinander abgegrenzt sein mussten, sondern stufenlos miteinander verschmelzen konnten. Es war eine Art von Zweisprachigkeit, wie ich sie aus keinem anderen Land kannte.

Für ein halbes Jahr lebte ich zu jener Zeit in Kiew, in einer Plattenbauwohnung in der Nähe des Darnizer Markts. Wurde ich

 

All das änderte sich schlagartig, als ich im März 2014 in journalistischer Eilmission ans Schwarze Meer reiste, um über eine hastig anberaumte Volksabstimmung zu berichten. Unter meinen Füßen verschob sich eine Grenze. Die Krim, die ukrainisch war, als ich sie betrat, war russisch, als ich sie wieder verließ.

So plötzlich, so unerwartet kam diese Verschiebung, dass dem halben Kontinent davon schwindlig wurde. Politiker wirkten ratlos, Experten ahnungslos, niemand schien mehr zu wissen, wo man stand. Ich auch nicht. Unzählige Male war ich inzwischen in der Ukraine gewesen. Nichts, gar nichts hatte ich kommen sehen.

Ein knappes Jahr später fuhr ich durch den Donbass, wo sich Grenzen in Fronten verwandelt hatten. Unterwegs erzählte mir mein Taxifahrer von seiner Leidenschaft: der ukrainischen Schwarzerde, dem fruchtbarsten Ackerboden der Welt. Er war kein Bauer, sondern Münzsammler. Mit einem Metalldetektor zog er an den Wochenenden über die Felder, und sein Herz schlug höher, wenn er österreichische, polnische, russische, griechische, deutsche Geldstücke aus vergangenen Zeiten barg.

«Und ukrainische?», fragte ich.

Es war der Moment, in dem ich verstand, dass ich die Ukraine nicht verstanden hatte. Tausend Jahre lang hatten die Menschen hier ihre schwarze Erde beackert, ohne dass ein ukrainisches Geldstück den Weg in den Boden gefunden hatte. Tausend Jahre lang waren fremde Münzen durch ihre Hände gegangen, tausend Jahre lang hatten die Ukrainer zwischen Grenzen gelebt, die sich unter ihren Füßen stetig verschoben. Und die nun wieder in Bewegung geraten waren.

Zurück in Berlin wurde ich das unklare Gefühl nicht los, dass sich meine innere Landkarte nicht mit der Welt deckte. Ich begann zu lesen, was ich über die Ukraine finden konnte, aber das Gefühl blieb. Ein paar Monate später packte ich meinen Rucksack und fuhr los. Die polnische Grenze war der Anfangspunkt meiner Reise, die russische ihr Ziel. Was dazwischen lag, wollte ich herausfinden.

 

«Für dich sieht hier alles gleich aus, oder?»

Ein junger Tourist aus Warschau sitzt im Bus zur ukrainischen Grenze neben mir, er fährt mit seinem Wanderrucksack in die Karpaten. Ich verstehe nicht sofort, was er meint. Er tippt mit dem Zeigefinger an die Fensterscheibe, um meinen verständnislosen Blick auf die Straße zu lenken.

«Überall die gleichen alten Autos aus Deutschland. Polen oder Ukraine, du siehst da keinen Unterschied.»

«Klar sehe ich …»

«Aber es gibt einen!»

Er ist Programmierer. Zu Hause in Warschau verbringt er lange Arbeitstage vor dem Computer. Hat er frei, packt er das Nötigste ein, fährt über die Grenze und sucht nach Abenteuern, die er daheim nicht findet.

Der Überdruss in seiner Stimme verschwindet erst, als er mir von seinen Touren durch die abgeschiedenen Dörfer der Karpaten erzählt, von Begegnungen mit Menschen, wie es sie in Polen nicht mehr gebe.

«Die Ukraine ist anders.» Er seufzt. «Noch.»

Ich nicke still, während mir all die Ukrainer einfallen, die mir in den vergangenen Jahren erzählt haben, wie gerne sie in die reiche Bürowelt Westeuropas auswandern würden.

Die Ukraine ist anders. Russland ist anders. Der Osten ist anders. Die da drüben sind anders. Wie oft habe ich Abwandlungen solcher Sätze gelesen, seit ich angefangen habe, mich auf meine Reise vorzubereiten? Wie oft ist mir der Versuch begegnet, eine Grenze quer durch Europa zu ziehen, hinter der die eigene Welt aufhört und eine fremde, gefährlichere beginnt? In der Region, auf die unser Bus zusteuert, haben solche Abgrenzungsversuche eine lange, eine sehr lange Tradition.

Ängstlich blickten einst die Griechen auf die nördliche Schwarzmeerküste, hinter der in ihren Augen die zivilisierte Welt endete. Nomaden zogen dort durch die Steppe, die statt Griechisch nur Gekrächze von sich gaben – es klang wie «bar bar», weshalb die Griechen von «Barbaren» sprachen. Die Barbaren selbst nannten sich Skythen, und sie gehörten zu den ersten jener Reitervölker, deren geisterhaftes Auftauchen aus den Weiten Asiens über Jahrhunderte hinweg die sesshaften Bewohner Europas in Angst versetzte.

Die Skythen, die an der Schwarzmeerküste schließlich selbst sesshaft wurden, dürften wiederum die Sarmaten für Barbaren gehalten haben, als dieser nächste Nomadenstamm über ihr Reich herfiel. Das Spiel wiederholte sich, als den Sarmaten Hunnen,

Noch später sollte sie Christen von Christen trennen. Unter dem Banner der Orthodoxie erhoben sich im siebzehnten Jahrhundert ukrainische Kosaken gegen den polnischen Adel, weil ihnen der wachsende Einfluss des katholischen Papstes stank. Dass sich die Kosaken für ihren Kampf mit dem Moskauer Zarenreich verbündeten, nimmt ihnen mancher Ukrainer bis heute übel, weil es den größeren Teil ihrer Heimatregion an Russland band – und damit, wieder ein paar Jahrhunderte später, dem Einfluss einer neuen Glaubensrichtung auslieferte: des Kommunismus. Quer durch die Ukraine, entlang der alten Trennlinie zwischen österreichischem und russischem Kaiserreich, verlief nach Lenins Oktoberrevolution die Grenze des internationalen Klassenkampfs.

Millionen seid ihr, ohne Zahl sind wir

Versucht doch, uns die Stirn zu bieten!

Geschlitzt sind unsere Augen, voller Gier

Ja, wir sind Asiaten, Skythen!

Der russische Dichter Alexander Blok schrieb diese Zeilen 1918, wenige Monate nach der Revolution. Gerichtet waren sie an Europa. Den erschlafften, verweichlichten Westen warnte Blok mit seinem

Ob Hitler das Gedicht kannte, ist ungewiss. Sicher aber kannte er Herodots Beschreibung jener Schlacht, in der die Skythen ihre Feinde, die Perser, tief in ihr eigenes Territorium locken, um sie auf verbrannter Erde auszuhungern. Hitler dürfte an die Skythen gedacht haben, als seine Truppen in der Ukraine erfroren. Vielleicht bereute er sogar plötzlich, dass er seine Propagandazeichner angewiesen hatte, den slawischen Untermenschen mit asiatischen Schlitzaugen zu porträtieren.

Heute, wo in der Ukraine erneut Krieg geführt wird, greifen beide Seiten wieder auf die alten Abgrenzungsmythen zurück. Die russische Propaganda erklärt die Gefechte im Donbass zur Fortsetzung des Kampfes gegen den Faschismus, die ukrainische Konterpropaganda warnt vor einem östlichen Despotentum, das ganz Europa bedrohe. Einig sind sich beide in der Behauptung, dass nördlich des Schwarzen Meers eine Trennlinie verläuft, die zwei unvereinbare Kulturen scheidet.

Ich sehe aus dem Busfenster. Alte Autos aus Deutschland ziehen auf der Gegenspur vorbei, dazwischen ein paar noch ältere aus der Sowjetunion. Gelbes, müdes Gras bedeckt die Felder, verdorrt in der Septemberhitze. Im Schatten einer Pappel sitzen drei Arbeiter in Blaumännern, die Rücken an den Stamm gelehnt, die Beine sternförmig nach außen gespreizt, in den Händen Bierflaschen. Nichts an dieser sommermatten Landschaft wirkt, als habe es die Kraft, sich in absehbarer Entfernung zu einer Zivilisationsgrenze zu verdichten.

Gibt es sie überhaupt, frage ich mich, diese sagenumwobene europäische Kulturscheide, die im Lauf der Jahrhunderte so unterschiedlich, so widersprüchlich interpretiert wurde, auf deren anderer, aber nie auf der eigenen Seite, man stets die Barbaren wähnte?

Ich muss an Freunde und Kollegen aus Berlin denken, von denen manche nicht begreifen, was mich immer wieder in diese Weltgegend zieht.

«Viel Spaß mit den Russen», hat mir einer zum Abschied gewünscht.

«Den Ukrainern», antwortete ich.

Er verdrehte die Augen, wie man es bei einem Pedanten tut, der im Gespräch mit Freunden nebensächliche Grammatikfehler korrigiert.

«Wie auch immer», sagte er. «Viel Spaß mit – diesen Leuten da.»

Hätte ich ihn gebeten, mir auf einer Landkarte die Grenze zwischen Europa und «diesen Leuten da» zu zeigen, er hätte sie sicher nicht nördlich des Schwarzen Meers gesucht, sondern weiter westlich. Vermutlich wäre sein Finger ratlos hin und her gewandert, bis ihm die erstbeste brauchbare Markierung untergekommen wäre: die Außengrenze der EU.

Genau dort endet meine Busfahrt.

Es war noch nicht Mittag, als ich im polnischen Grenzort Medyka aus dem Bus stieg, aber schon jetzt hatte die schrägstehende Septembersonne die Luft auf über dreißig Grad erhitzt. Mein Rucksack wirbelte eine gelbe Staubwolke auf, als ich ihn auf dem Asphalt absetzte. Ein lückenlos blauer Himmel zog sich straff wie ein Spannbettlaken von Horizont zu Horizont, darunter schliefen die Hügel Galiziens. Die vertrockneten Wiesen sahen aus, als hätten sie seit Jahren keinen Regen abbekommen.

Eine alte Frau kam auf mich zugelaufen. Sie hielt mir zwei Zigarettenschachteln unter die Nase, beschriftet mit ukrainischen Warnhinweisen. Auf der einen erkannte ich das Foto einer offenen Raucherlunge, auf der anderen die stilisierte Zeichnung eines erschlafften Penis.

«Kaufen Sie meine Zigaretten!», sagte sie, auf Ukrainisch.

Ich kramte ein paar Złoty-Münzen aus der Tasche und deutete auf die Raucherlunge.

«Kaufen Sie beide, damit ich nach Hause gehen kann!»

Während ich noch überlegte, was das bedeuten sollte, umringten mich vier weitere Frauen. Alle hatten Zigarettenschachteln in der Hand, manche hielten in der anderen eine Flasche Schnaps.

Ich warf einen gespielt ratlosen Blick in die Runde. Die Frauen kicherten, dann begannen sie zu erklären.

Auf der polnischen Seite reihen sich die Ukrainer an der Landstraße auf, die das polnische Dorf Medyka mit dem ukrainischen Ort Schehyni verbindet. Sie warten auf Kunden. Nähert sich ein polnisches Auto, wird es von ukrainischen Händlern umringt. Schon an der Körpersprache lässt sich bei solchen Begegnungen das Kräfteverhältnis zwischen beiden Seiten der Grenze ablesen. Die Polen lassen sich Flaschen und Schachteln durchs Fenster reichen, wenden sie kritisch in den Händen, geben sie kopfschüttelnd zurück. Die Ukrainer pressen sich von außen an die Fensterscheiben, nicken dankbar, kramen eilig nach Wechselgeld.

Sind die Händler ihre Ware losgeworden, laufen sie zurück: Korridor, Container, Korridor, Container, Korridor, Kiosk, zwei Schachteln, eine Flasche. An schlechten Tagen schaffen sie drei

Bevor ich mich von den Frauen verabschiedete, kaufte ich ihnen, um ihren Arbeitstag zu beschleunigen, noch eine Raucherlunge, zwei Kehlkopfgeschwüre und ein Geschwader nikotingeschädigter Spermien ab.

Sie erkundigten sich, wohin ich unterwegs sei. Ich deutete nach Osten, auf die andere Seite der Grenze. Verständnislos starrten sie mich an. Welcher Trottel, sagten ihre Blicke, kauft zu polnischen Preisen Zigaretten, wenn er in die Ukraine fährt?

Rund um den Eingang des Fußgängerkorridors hockten Kleinhändler vor ausgebreiteten Bettlaken, auf denen sich gebrauchte Elektrobohrer und Schleifmaschinen türmten, Autoradios, Mikrowellen, Föhne, Toaster – ausrangierter Wohlstandsschrott, im Westen nicht mehr neu, im Osten noch nicht alt. Frauen durchwühlten Stapel aus getragenen Kinderklamotten. Dazwischen parkten Kleinbusse, bis zur Oberkante beladen mit Äpfeln, Birnen, Kartoffeln. Auf der Ladefläche eines LKWs dösten zwei Männer mit nackten Oberkörpern zwischen eingeschweißten Würsten.

Ich kam mit einem alten polnischen Parkplatzwächter ins Gespräch, der seinen bierfassförmigen Bauch durch die

In Medyka beginnt, was im Grenzjargon «die Ameisenstraße» heißt. Polnische LKWs, deren Fracht für die andere Seite bestimmt ist, entladen hier ihre Waren, um sie an die «Ameisen» zu verteilen – ukrainische Grenzgänger auf dem Rückweg von ihren Zigaretten- und Schnapsgeschäften. Die Ameisen packen die Waren auf ihre Handkarren und transportieren sie Stück für Stück über die Grenze, jeder so viel, wie es die Zollbestimmungen für den Eigengebrauch zulassen: einen Kühlschrank, drei Kinderjacken, einen Stapel Dachschindeln, zwei Kilo Fleisch. Auf der ukrainischen Seite warten andere LKWs. Die Ameisen liefern ihre Last ab und bekommen ein paar Złoty als Provision. Stück für Stück füllen sich so die Laderäume, bis die gesamte Fracht im Ameisenverfahren die Seite gewechselt hat.

Ich ließ meinen Blick über den Parkplatz wandern. Am hintersten Ende standen zwei Männer auf der Ladefläche eines Pick-ups und warfen Autoreifen in den Staub, ansonsten war kaum ein Fahrzeug zu sehen.

«Nicht viel los heute?»

Tadyk schob die linke Hand unter sein T-Shirt und kratzte seinen Bierfassbauch.

«Hier ist seit Monaten nichts mehr los. In der Ukraine ist Krieg. Niemand arbeitet, nichts funktioniert, das Geschäft ist tot.»

Als ich in den Fußgängerkorridor einbog, lief ich an einem großen Werbeplakat vorbei. Ein lächelnder Arbeiter in einem Blaumann sah auf die vorbeiziehende Ameisenstraße herab. Daneben stand auf Ukrainisch: «Sie suchen Arbeit in Polen? Logistik und Produktion, keine Vermittlungsgebühr.»

«Soll ich was tragen?»

Die beiden sahen mich irritiert an. Dann zeigte eine grinsend auf einen großen Pappkarton. Er sah schwer aus. Ich ging in die Knie und packte zu. Beim Hochheben fiel ich fast hintenüber – die Kiste war federleicht. Die beiden Frauen lachten. Ich sah ratlos den Karton an, aus dem ein merkwürdiges Piepsen kam. Erst als ich die Luftlöcher im Deckel sah, begriff ich, dass ich Hühnerküken trug.

«Sind die in Polen billiger?»

Die Frauen schüttelten die Köpfe. «Besser. Werden fetter als unsere.»

Wir kamen schnell durch die polnische Passkontrolle. Vor dem ukrainischen Zollcontainer mussten wir eine Weile anstehen. Nur ein Metallzaun trennte uns von den Wartenden, die im Parallelgang des Korridors in umgekehrter Laufrichtung unterwegs waren. Die Schlange vor dem polnischen Zollcontainer war deutlich länger. Während wir warteten, drängelten sich auf der anderen Seite des Zauns drei Männer in Anzügen durch die Menge. Als eine alte Frau protestierte, schwenkten die Anzugträger stumm ihre polnischen EU-Pässe und liefen weiter.

«Sind die besser als wir?», hörte ich jemanden in der Schlange auf Ukrainisch fragen.

«Europäischer», sagte ein anderer.

«Reicher.»

«Weil wir unser Geld in ihren Läden lassen.»

«Habt ihr gehört, dass die uns nur verkaufen, was sie selbst nicht mehr essen? Das haben sie im Fernsehen gesagt. In der EU würde man solches Zeug nicht mal Tieren vorsetzen!»

«Wo hat man solches Fleisch gesehen? Zerfällt in der Suppe, bevor die Kartoffeln gar sind!»

Als wir den ukrainischen Zollcontainer betraten, warf ein Uniformierter einen strengen Blick auf die vollgepackten Handkarren der beiden Frauen. Er deutete auf einen Metalltisch, wo einer seiner Kollegen gerade den Koffer eines alten Mannes durchwühlte. Ich stellte den Kükenkarton ab und wollte meinen Rucksack öffnen, aber der Uniformierte winkte mich ungeduldig weiter, als er meinen deutschen Pass sah.

Unschlüssig sah ich die beiden Frauen an.

Sie lachten. «Hau ab, so schwer sind die Hühner nicht.»

 

Schehyni, das ukrainische Dorf auf der anderen Seite, unterschied sich auf den ersten Blick kaum vom polnischen Medyka. Auf den zweiten Blick fiel mir auf, dass die Kirchenkreuze hier einen orthodoxen Doppelquerbalken hatten, der den katholischen Kreuzen in Medyka fehlte. Auf den dritten Blick sah ich in den Gärten von Schehyni mehr Gemüse als Blumen wachsen – in den polnischen Gärten war es umgekehrt gewesen. Mein vierter Blick fiel auf die Uhr: Die Ukraine war Polen eine Stunde voraus.

Die Unterschiede sind klein, weil die Grenze, die hier verläuft, so jung ist. Galizien hieß der gesamte Landstrich, als er noch nicht geteilt war. Manche sprechen bis heute von Galizien, aber es ist kein Ort mehr, nur noch ein Wort, das man auf Landkarten vergeblich sucht. Gut vier Jahrhunderte lang, von 1340 bis 1772, gehörte Galizien zu Polen – bis Polen selbst ein Wort wurde, das auf Landkarten nicht mehr vorkam. Formal übernahm danach Österreich die Herrschaft über die ethnisch gemischte Region, in der Praxis aber blieb

Als in Europa nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Runde der Grenzverschiebungen begann, wurden in den Kaffeehäusern Galiziens feurige Reden für die Gründung eines eigenen ukrainischen Staates gehalten. Doch in den Verhandlungssälen der Siegermächte hatte man auch ohne die Ukrainer genug Probleme. Die internationalen Völkerverschieber brüteten über ihren Landkarten, und als sie den Kontinent mit frischen Grenzen durchzogen hatten, kam ein Staat namens Ukraine darin nicht vor. Galizien wurde stattdessen dem wiederhergestellten Polen zugeschlagen.

Die neuen, alten Herren taten wenig, um den enttäuschten Ukrainern ihre Lage schmackhaft zu machen. Sie ersetzten die liberale Nationalitätenpolitik Österreichs durch ein straffes Polonisierungsprogramm. Ukrainische Schulen wurden in polnische umgewandelt, orthodoxe Kirchen zerstört oder von Katholiken übernommen, ukrainische Zeitungen abgeschafft und zensiert, polnische Bauern in ukrainischen Gebieten angesiedelt.

In den galizischen Kaffeehäusern kippte bald die Stimmung. Wenn ein ukrainischer Staat auf politischem Wege nicht zu erreichen sei, argumentierten nun die Patrioten, dann bleibe nur der Weg der Gewalt. Die «Organisation Ukrainischer Nationalisten» formierte sich, ein Terrorbündnis, dessen Mitglieder sich auf den «Dekalog der OUN» vereidigen ließen, ein martialisches Zehn-Punkte-Programm, das mit folgendem Grundsatz beginnt: «Du

Die OUN brach einen blutigen Terrorfeldzug gegen die polnische Obrigkeit vom Zaun, der fast zwanzig Jahre währen sollte und mit dem Zweiten Weltkrieg nicht endete. Als 1939 die Rote Armee in Galizien einmarschierte, eröffneten die Nationalisten eine zweite Front: Von nun an richtete sich ihr Unabhängigkeitskampf gegen Polen und Russen gleichermaßen. Zeitweise paktierten sie gar mit den Nazis, die ihnen Hoffnung auf einen ukrainischen Staat machten. Selbst als Stalin und Hitler die gesamte Region mit Blut tränkten, rissen die innergalizischen Feindseligkeiten nicht ab.

Nach dem Krieg verschoben sich erneut die Grenzen. Wieder sprang keine unabhängige Ukraine dabei heraus, weshalb die OUN ihren Kampf fortsetzte, bis schließlich die Sowjetunion, die sich inzwischen den galizischen Osten einverleibt hatte, und Polen, dem der Westteil zugefallen war, die neue Grenzziehung auch ethnisch vollstreckten. Gewaltsam wurde Galiziens Bevölkerung entmischt: Polen vertrieb eine halbe Million Ukrainer in die Sowjetunion, die Sowjetunion setzte achthundertfünfzigtausend Polen vor die Tür.

So begann die Geschichte jener künstlichen Trennlinie, die sechzig Jahre später zur Außengrenze der Europäischen Union werden sollte: mit Blut, Hass und Vertreibungen. Dass Europa heute ausgerechnet hier in zwei Teile zerfällt, ein Drinnen und ein Draußen, ist ein nachtschwarzer Witz, über den Hitler und Stalin Tränen gelacht hätten.

 

Von Schehyni aus nahm ich einen Bus nach Lwiw. Auf dem Armaturenbrett des Fahrers klebte eine kleine Marienstatue aus Plastik. Sie hatte den gleichen schmerzduldenden Gesichtsausdruck wie die Marienstatuen, die in regelmäßigen Abständen draußen an den Fenstern vorbeizogen. Sie standen in jedem Dorf, vor jeder Kirche,

Ich bin falsch hier, dachte ich plötzlich – es war ein Fehler, die Reise hier zu beginnen, in dieser untypischen Landesecke, die dem Rest der Ukraine so wenig ähnelt, wo selbst die Orthodoxie katholische Züge hat. Dann fiel mir ein, dass jeder andere Ausgangspunkt entlang der Landesgrenzen genauso untypisch gewesen wäre – und dass genau diese Uneinheitlichkeit die Ukraine ausmacht.

Es dämmerte schon, als ich Lwiw erreichte, das alte österreichische Lemberg, Hauptstadt und Herz Galiziens. Vom Busbahnhof aus nahm ich eine Straßenbahn ins Zentrum. Während der Fahrt sah ich links der Gleise im Halbdunkeln ein Denkmal an den Fenstern vorbeiziehen, die überlebensgroße Statue eines Mannes.

Ich erkannte Stepan Bandera, den ermordeten Führer der ukrainischen Nationalisten.

Am Stadtrand von Ostberlin, in einem abgelegenen Waldstück in der Nähe des Müggelsees, spielt sich an einem Spätsommertag des Jahres 1957 eine merkwürdige Szene ab. Drei unauffällig gekleidete Männer betreten den Wald. Ein angeleinter Hund läuft neben ihnen her, ein kleiner Mischling. Als die Gruppe den tiefsten Teil des Waldes erreicht hat, bindet einer der Männer den Hund an einem Baum fest. Der zweite zieht ein kleines Metallrohr aus der Tasche, etwa daumendick und zwanzig Zentimeter lang, mit einem Handgriff an der Unterseite. Neugierig beschnuppert der Hund das Gerät, als der dritte Mann es ihm vor die Schnauze hält. Ein kurzes, zischendes Geräusch ist zu hören. Sofort sacken dem Hund die Beine weg, lautlos bricht er auf dem Waldboden zusammen. Etwa zwei bis drei Minuten lang gehen krampfartige Zuckungen durch seinen Körper, dann rührt er sich nicht mehr. Die Männer nicken zufrieden, packen das Metallrohr ein und gehen ihrer Wege. Den toten Hund lassen sie liegen.

Da niemand die Szene beobachtet hat, bringt sie auch niemand mit der Leiche in Verbindung, die etwa einen Monat später, im Oktober 1957, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs entdeckt wird, im Treppenaufgang eines Münchener Wohnhauses. Der Verstorbene ist ein knapp fünfzigjähriger Mann namens Lew Rebet, ein Ukrainer, der dem exilierten Teil der

Zwei Jahre später, im Oktober 1959, wird im Hausflur eines anderen Münchener Wohnhauses erneut eine Leiche gefunden. Wieder sieht alles nach einem Herzinfarkt aus. Doch da auch dieser Tote dem ukrainischen Exilwiderstand angehörte, zudem in prominenter Funktion, sieht die Staatsanwaltschaft genauer hin. Bei der Obduktion wird eine Blausäurevergiftung festgestellt. Die Gerichtsmediziner tippen auf Selbstmord, können sich aber nicht erklären, woher die winzigen Glassplitter stammen, die sie im Gesicht des Leichnams entdecken.

Der Tote wird auf dem Münchener Waldfriedhof beigesetzt, wo sein Grab bis heute national gesinnten Ukrainern als Pilgerstätte dient. In kyrillischen und lateinischen Buchstaben ziert sein Name den hellgrauen Grabstein: Stepan Bandera, 1. Januar 1909–15. Oktober 1959.

Die Angehörigen und Weggefährten, die 1959 bei Banderas Beerdigung zusammenkommen, halten wenig von der Diagnose der bayerischen Staatsanwaltschaft. Mehr Wut als Trauer klingt aus ihren Grabreden. Sie sind überzeugt, dass die Lebensgeschichte des Widerstandskämpfers und Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera mit einem Mord geendet hat.

Dass sie richtigliegen, erfahren sie zwei Jahre später.

Im August 1961 betritt in Westberlin ein junger, nicht großer, aber athletisch gebauter Mann das Gebäude des Polizeipräsidiums am Tempelhofer Damm. Sein Name, sagt er, sei Bohdan Staschynskyj, er stamme aus dem ukrainischen Teil der Sowjetunion, und er wolle ein Geständnis ablegen. Als die Polizisten begreifen, worum es geht, verständigen sie umgehend den US-Militärgeheimdienst.

Die Ermittler sind skeptisch. KGB-Morde, Wunderwaffen, Versuchstiere, Gegengiftkapseln – die Geschichte klingt phantastisch, konstruiert, ausgedacht. Es entspinnt sich ein Verhör mit verkehrter Rollenverteilung: Der Mörder versucht, den Ermittlern seine Taten zu beweisen. Doch je länger Staschynskyj redet, desto glaubhafter wirkt seine Erzählung. An keiner Stelle verwickelt sich der Ukrainer in Widersprüche, er kennt Details, die nur der Mörder kennen konnte, zudem legt er Dokumente vor, die seine Geschichte bestätigen, etwa Kopien der codierten Telegramme, die er nach den Morden an seine Führungsoffiziere in Ostberlin schickte: «In einer mir bekannten Stadt habe ich mich mit dem mir bekannten Objekt getroffen und es begrüßt. Ich bin sicher, dass die Begrüßung gut ausgefallen ist.» Auch die KGB-Urkunde, die seine «Mitwirkung bei der Bearbeitung eines wichtigen Problems» hervorhebt, zeigt Staschynskyj den Ermittlern – gemeint ist der Mord an Bandera, für den man ihm den «Orden des Roten Banners» verlieh, eine der höchsten sowjetischen Militärauszeichnungen.

Die Antwort des Mörders ist simpel: Er ist verliebt.

Die junge Frau, die Staschynskyj im April 1957 bei einer Tanzveranstaltung im Ostberliner Friedrichstadtpalast kennenlernt, heißt Inge Pohl. Sie ist zwanzig, fünf Jahre jünger als der KGB-Agent, sie arbeitet als Friseuse im Westteil der Stadt. Als der Ukrainer sie anspricht, stellt er sich unter seinem Decknamen Joseph Lehmann vor – es ist das Pseudonym, das ihm der Geheimdienst verliehen hat, Staschynskyj gibt sich in Berlin als polnischer Dolmetscher mit deutschen Wurzeln aus. Seine wahre Identität hält er Inge gegenüber geheim, nicht jedoch seine kommunistischen Überzeugungen. Die junge Frau lacht ihn deswegen aus – sie selbst hält nicht viel von den Neue-Welt-Versprechen der sowjetischen Machthaber im Ostteil der Stadt. Die beiden sind zu verliebt, um sich an ihren weltanschaulichen Differenzen zu stören. Im April 1959, zwei Jahre nach der Begegnung im Friedrichstadtpalast, verloben sich Inge und Bohdan.

Seinen ersten Auftragsmord hat Staschynskyj zu diesem Zeitpunkt schon begangen. Und langsam, so erzählt er es den Ermittlern, beginnt sein Doppelleben ihn zu belasten. Er holt jetzt weiter aus, spricht von seiner Kindheit, seinem Heimatdorf in der Westukraine, auch von seiner Schulzeit, in der ständig die Unterrichtssprache wechselte – erst von Ukrainisch zu Polnisch, später von Polnisch zu Russisch, kurz darauf zu Deutsch, dann wieder zurück zu Russisch, den Eroberungswellen in Galizien folgend. Als Kind, erzählt Staschynskyj, habe er miterlebt, wie sich in seinem Heimatdorf Ukrainer und Polen an die Gurgel gingen, wie später die Juden ermordet wurden, wie sich schließlich Deutsche und Russen

Als seine Ostberliner Vorgesetzten von der Verlobung erfahren, bedrängen sie Staschynskyj, die Verbindung zu lösen – ein KGB