Carola Stern
Isadora Duncan und Sergej Jessenin
Der Dichter und die Tänzerin
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Carola Stern starb im Januar 2006 kurz nach ihrem 80. Geburtstag. Sie war eine der bedeutendsten politischen Publizistinnen der Bundesrepublik, hat von 1960 bis 1970 das politische Lektorat beim Verlag Kiepenheuer & Witsch geleitet und danach als Redakteurin und Kommentatorin beim WDR gearbeitet. Sie hat eine Reihe sehr erfolgreicher Biographien geschrieben, u.a. über Dorothea Schlegel, Rahel Varnhagen, Fritzi Massary und Johanna Schopenhauer sowie ihre Autobiographien »In den Netzen der Erinnerung« und »Doppelleben«. Darüber hinaus erschien: »Auf den Wassern des Lebens. Gustaf Gründgens und Marianne Hoppe«.
Isadora Duncan revolutionierte den künstlerischen Tanz, füllte Salons von Berlin über Paris bis New York und zog mit ihrem körperbetonten Stil der Bewegung die Zuschauer in ihren Bann. Sergej Jessenin ist einer der bedeutendsten Poeten Russlands. 1922 begegnen sich beide, verlieben sich, heiraten – zwei Welten treffen aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Dabei verbindet das ungleiche Paar vor allem eines: die Lust an der Provokation.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41226-0
Die Jessenin-Verse in diesem Buch sind Nachdichtungen von Friedrich Bolger (S. 135), Annemarie Bostroem (S. 58), Paul Celan (S. 34, aus: Paul Celan, Übertragungen aus dem Russischen. Alexander Blok, Ossip Mandelstam, Frankfurt a.M. [S. Fischer Verlag 1986]), Walter Fischer (S. 38, 142), Rainer Kirsch (S. 7, 92, 112, 139), Richard Pietraß (S. 44), Eugen Ruge (S. 48, 154). Der Abdruck dieser Nachdichtungen erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Frau Pauline Bolger, dem S. Fischer Verlag, Frankfurt, dem Verlag Volk und Welt Berlin und dem Reclam Verlag Leipzig.
Jener Held war ein Aufschneider und Vagant –
Doch von der besten
Und erlesensten Marke
Elegant war er,
Zudem ein Poet,
Nicht sehr stark,
Doch mit festen kundigen Händen,
Und irgendeine Frau
Von vierzig und mehr
Nannte er Liebste
Und schlimmes Mädchen.
Sergej Jessenin, Der Mann in Schwarz
Begegnung in Moskau
Madame läßt auf sich warten; die Gäste werden ungeduldig. Jakulow, der Maler, hat ihnen für den heutigen Abend eine Attraktion versprochen, manch einen damit angelockt, er könne auf diesem Atelierfest die berühmte, unlängst in Moskau eingetroffene Isadora Duncan kennenlernen. Ilja Schneider, ihr Manager, hat Jakulow fest zugesagt, daß er die Tänzerin zu diesem Abend mitbringen werde; sie besuche gerne solche Feste. Und nun kommt sie nicht. Dem Gastgeber ist das peinlich.
Lohnt es sich wirklich, noch zu warten? fragen sich einige Gäste; was gibt’s da schon zu sehen?
Eine Weltberühmtheit, behauptet Jakulow. Eine Frau, die vor dem französischen Präsidenten im Élysée-Palast und vor Teddy Roosevelt im Weißen Haus getanzt hat, in den großen Opernhäusern der Welt und vor fünfzehntausend Menschen in Paris!
Vor fünfzehn Jahren! wirft einer spöttisch ein.
Jakulow bleibt unbeirrt. Als ob nicht bekannt sei, daß die Duncan den modernen Solotanz nach klassischer Musik begründet habe, ohne festgelegte Choreographie, ohne genaue Schrittfolgen und in den Bewegungen nur der Intuition des Augenblicks folgend!
Doch scheint es, als hätten die meisten Gäste bald vergessen, daß ein Ehrengast erwartet wird. In dem Atelier mit dem gedämpften Licht und Jakulows neuesten Bühnenbildentwürfen für Moskaus Kammertheater an den Wänden sitzen sie wie so oft in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution auch in dieser Herbstnacht 1921 in kleinen Gruppen heftig debattierend beieinander: Maler und Musiker, Regisseure, Schauspieler und Schriftsteller, die sich als Wortführer der neuen russischen Kunst verstehen und, verliebt in Experimente und in Pläne, Manifeste formulieren und Programme, über Begriffe, Schulen, Richtungen streiten, neue Klangfolgen und neue Farben entwerfen, neue Städte und ein neues Theater und endlos darüber streiten, was das bedeute: revolutionäre Kunst.
Gegen ein Uhr morgens entsteht Bewegung an der Tür, und jemand ruft den Gastgeber herbei: Die Duncan, schnell doch, Jakulow, die Duncan!
Für einen Augenblick stocken die Gespräche, alles blickt auf die Amerikanerin. Eine Tänzerin stellen sich die Gäste schlank vor, mit schmaler Taille und mit feinen Gliedern. Das kann man von dieser hier nicht sagen. Ein roter, von den kräftigen Schultern weichfallender Chiton verdeckt eine wohlgerundete, zur Üppigkeit neigende Gestalt. Das Gesicht wirkt ebenmäßig, feingeschnitten. Das Haar ist kupferrot gefärbt. Schöngeschwungene Augenbrauen begrenzen die breite, klare Stirn. Etwas Freundliches und Warmherziges geht von dieser Isadora Duncan aus. Sie wirkt nicht extravagant, eher einfach und doch damenhaft, gar nicht eingebildet, doch sich ihres Rufes, ihres Ruhmes wohl bewußt und bei alledem sehr feminin.
Bereut sie schon, zu so später Stunde dem Vorschlag des Managers gefolgt zu sein? Die Tänzerin ist müde, abgespannt. Gelangweilt schweifen ihre Blicke über die ihr näher Stehenden hinweg und durch das Atelier. Plötzlich lächelt sie, wirkt wach und neugierig. Irgend etwas oder irgend jemand muß ihre Aufmerksamkeit geweckt haben. Jakulow kann es nicht sein; dessen Begrüßung läßt sie eher gleichgültig über sich ergehen, wendet sich schnell ab und eilt zu einer für sie geräumten Chaiselongue, streckt sich darauf aus und winkt freundlich-gebieterisch einen jungen Mann heran, der sich gehorsam lächelnd zu ihren Füßen niederläßt. Wie er heißt, ist nicht so wichtig, aber wie er aussieht! Verzückt blickt sie ihn an.
Isadora Duncan und Sergej Jessenin, 1923
Er hält den Kopf leicht gesenkt, so daß das sparsame Licht auf seine vollen blonden Haare fällt. Die hellen blauen Augen erinnern an Vergißmeinnicht. Jetzt sagt er etwas, die Stimme klingt leicht rauh und paßt so gar nicht zu den weichen Zügen des Gesichts. Eben noch erinnerte es an das Antlitz eines Cherubs, doch jetzt verändert sich die Mimik – so sehen Jungen vom Dorfe aus.
Trägt er das feine weiße Seidenhemd mit dem gestickten Kragen? Wie ist er gekleidet? Guckt ihm eines dieser großen Taschentücher aus der Tasche, die ihm die Schwestern extra für die Stadt mit breiten blauen Borten umhäkelt haben? Die Augenzeugen haben nur berichtet, was Isadora Duncan trug und was sie tat, als er da bei ihr saß. Der Schriftsteller Anatoli Marienhof erzählt:
«Sie tauchte die Hand in seine Locken und sagte:
‹Goldener Kopf!›
Es überraschte, daß sie, die keine zwölf russischen Wörter kannte, diese zwei wußte. Dann küßte sie ihn auf die Lippen.
Und wieder formte ihr Mund, der klein und rot war wie die Einschußwunde von einer Pistolenkugel, gebrochene russische Laute:
‹Engel!›
Sie küßte ihn wieder und sagte:
‹Teufel!›»
So ist die Duncan! Gefällt ihr ein Mann, gibt sie unzweideutig zu verstehen, daß sie ihn haben will, nimmt ihn sich, wenn er sich nehmen läßt. Dem legendären russischen Tänzer Waslaw Nijinsky, erzählen sich ihre französischen Freunde, hat sie kurz nach dem Kennenlernen erklärt, sie hätte gern ein Kind von ihm.
Widerstand gegen solch besitzergreifendes Werben ist zwar schwer, doch möglich. Den berühmten Direktor des Moskauer Künstlertheaters Konstantin Stanislawski hatte die Duncan während eines früheren Aufenthaltes in der Stadt zum Abendessen in ihr Hotelappartement geladen und, vom Champagner angeregt, so mit Liebkosungen traktiert, daß dem «Gott», wie sie ihn nannte, angst und bange wurde und er, um ihre Küsse abzuwehren, fest die Lippen aufeinander preßte. Das tut dieser Junge nicht.
Der in dieser Nacht Auserkorene lächelt geschmeichelt; er wirkt bescheiden, höflich, doch keineswegs gehemmt. Sie spürt, daß er gefallen will; selbstverliebt streicht er sich eine blonde Locke in die Stirn. Ach, diese Frische, dieses Jungenhafte, wie es sie belebt! Eben noch hat er sie lange mit seinen sanften Blumenaugen angeblickt, bewundernd, ja fast ehrerbietig. Jetzt wirft er den Kopf zurück, und etwas Herausforderndes, ein dreister Charme liegt in seinem Blick. Ein betörender Mann.
Und dazu ein Dichter! Längst ist ihr zugeflüstert worden, wer zu ihren Füßen sitzt: Sergej Jessenin. Man sagt, daß er ein zweiter Puschkin sei, vergleicht ihn mit Rimbaud, nennt ihn ein Genie. Trotz seiner Jugend ist Serjosha, wie ihn seine Freunde nennen, in Moskau schon recht populär. Leute, die ihn erkennen, grüßen im Vorübergehen, und selbst der Schuhmacher fühlt sich geehrt, daß der Dichter seine Schuhe bei ihm besohlen läßt.
Sergej streichelt über Isadoras schönen Arm, gibt ihr zu verstehen, daß er sie begehrt; ein Lächeln und ein Augenaufschlag, verheißungsvolle Blicke müssen hier für Worte stehen.
Für Genies im allgemeinen und für Dichter im besonderen hat die Duncan eine Schwäche. Genies hat sie in ihrer Männersammlung, ein Dichter fehlt ihr noch. Ist dieser Sergej Jessenin nicht geradezu dafür geschaffen, ihr jugendlicher Liebhaber zu werden? Aber will er das?
Dem Eitlen schmeichelt, der Auserwählte dieser Nacht zu sein. Eine so verführerische Frau ist ihm noch nicht begegnet. Dem Ruhmsüchtigen gefällt es, zu Füßen des Gestalt gewordenen Ruhms zu sitzen. Seit Monaten, seit er von ihrer Ankunft weiß, sucht er die Bekanntschaft der berühmten Frau. Einmal, im Moskauer Sommertheater, hatte ihn Jakulow gefragt, ob er die Duncan kennenlernen wolle. Da war er erregt aufgesprungen, hatte den Freund am Arm gepackt: «Wo ist sie? Führ mich zu ihr hin!» Dann waren die beiden durch das ganze Areal gelaufen, wo der Maler sie gesehen zu haben schwor, hatten überall gesucht, doch die Begehrte nicht gefunden. Enttäuscht und wütend war Serjosha weggegangen.
Worauf ist Jessenin aus? Vorerst treibt ihn das Gefallen an einer einzigen, in seinem Kopf zum Bild gewordenen Idee: Bleibt stehen! Blickt euch um! Kommt näher und seht her! Die berühmte Tänzerin und der berühmte Dichter – Arm in Arm!
Gegen vier Uhr morgens verabschiedet sich das Paar und fährt zu Isadoras Haus. So beginnt das Liebesdrama.
Isadoras Träume
Am 1. Juli 1921 waren die drei Frauen von Paris nach London aufgebrochen: Isadora, die berühmte Tänzerin, Irma, eine von ihr adoptierte Lieblingsschülerin aus Deutschland sowie die Französin Jeanne, Mädchen für alles und seit fünfzehn Jahren unentbehrlich. Knapp zwei Wochen später verließen sie an Bord der «S.S. Baltanic» Westeuropa, um über Reval nach Moskau zu reisen.
Freunde hatten die Tänzerin gewarnt: Seien Sie vernünftig, Isadora! Geben Sie diesen aberwitzigen Plan auf, ausgerechnet jetzt in Rußland leben zu wollen! Alle, die die Duncan schon seit längerem kannten, fürchteten, die Freundin, ohne Sinn für Realitäten, stürze sich schon wieder unbedacht in eines jener Abenteuer, die, wie ein längerer Aufenthalt in Griechenland mit Mutter und Geschwistern, schließlich mit erheblichen finanziellen Verlusten abgebrochen worden waren.
Um Gottes willen, Madame! Sie wollen freiwillig zu den Barbaren? Bekannte, die wußten, was in Rußland vor sich ging, versuchten Isadora Duncan die Augen zu öffnen. Sie berichteten von Dürre und Hungersnot, von zu Skeletten Abgemagerten, die sich von Baumrinde, Kuhmist, Mäusen und Gras ernährten, und beriefen sich auf den norwegischen Philanthropen Fridtjof Nansen, der das Land bereist und entsetzt über Kannibalismus dort berichtet habe.
Die Abenteurerin blieb unbeirrt. Entweder glaubte sie die Schreckensmeldungen nicht, oder sie meinte, daß sie, die auf Wunsch der sowjetischen Regierung nach Moskau reiste, den Hunger nicht zu fürchten habe. Gewiß war ihr bewußt, wieviel den vom Ausland isolierten Bolschewiki daran lag, prominente Künstler und Intellektuelle aus dem Westen ins neue Rußland einzuladen. Mut hatte sie, das muß man Isadora Duncan lassen. Sie war zu Hause in New York und in Berlin, in Frankreich wie in Großbritannien, hatte in Buenos Aires, Budapest, Bayreuth – ja, wo denn nicht? – gastiert, machte Ferien in Ägypten, um der Kälte zu entgehen, oder auf einer Luxusyacht im Mittelmeer, erholte sich von einer anstrengenden Tournee am Lido von Venedig, auf Kuba oder in Florida. Was um alles in der Welt trieb diese Frau, ein solches Leben aufzugeben und sich ins kommunistische Rußland aufzumachen? Exzentrik oder Abenteuerlust allein konnten es nicht sein.
Sie kannte das Land von mehreren Gastspielen während der Zarenzeit. War es ihr damals ähnlich gegangen wie dem jungen Dichter Rilke, der im gleichen Jahr, als Isadora Duncan mit ihrer Familie nach Europa kam, 1899, zum erstenmal nach Rußland reiste und dort die «Heimat seiner Seele» fand, «ein Erdreich, in dem ich Wurzeln schlagen kann»? «Alles Menschliche ist nah und wach, und so fühlt man sich unbeschreiblich zu Hause in der Güte dieser Menschen.» Auf der Suche nach einer Zuflucht vor der menschenverschleißenden großstädtischen Zivilisation glaubte Rilke, im einfachen Dasein der russischen Bauern «die richtigen Taktmaße» auch für das eigene Leben zu finden, eine «an Gott grenzende» menschenwürdige Welt, in der der Gegensatz zwischen dem freien Ich und dem durch Gemeinschaften gebundenen Wir, zwischen Kunst und Leben aufgehoben sei.
In den Erinnerungen der Duncan an ihre früheren Rußlandreisen fehlt solch schwärmerischer Ton, zumal man ihre Art des Tanzes in den Hochburgen des klassischen Balletts, St. Petersburg und Moskau, zwiespältig aufgenommen hatte. Mit nüchternem Blick kommt man ihren Motiven vielleicht eher auf die Spur.
Isadora Duncan, London 1899, der letzte Auftritt der Duncan in Ballettschuhen
Zu Beginn des Jahrhunderts hatte die junge Amerikanerin Europa wie im Sturm erobert. In Ungarn beispielsweise stand an jedem ihrer Auftrittsorte ein mit weißen Blumen geschmückter, von Schimmeln gezogener Galawagen bereit; die ganz in Weiß gekleidete, von der Bevölkerung jubelnd gefeierte schöne Tänzerin fuhr einer Göttin gleich durch die Städte. Jetzt saßen längst Jüngere in weißgeschmückten Galawagen. Mit dem Ruhm der Isadora Duncan ging es bergab.
Sie habe das nicht wahrhaben wollen, behauptet Sergejs Freund, der Schriftsteller Marienhof. Die Ruhmsüchtige sei nur deshalb in den Sowjetstaat gekommen, weil sie, gewöhnlicher Theaterräume überdrüssig, es darauf abgesehen habe, in Kathedralen zu tanzen, im berühmten Christi-Erlöser-Tempel aufzutreten. Das sei ihr auch versprochen worden. «Sie wollte keinen Kulissenstaub, sondern süßen Weihrauch atmen» und eine pseudoreligiöse Tanzgemeinde um sich scharen.
Aber wenn Marienhof sich über Isadora äußert, spricht meist die Eifersucht ein Wörtchen mit; zuweilen ist er ungerecht.
Die Tänzerin jedenfalls nennt ganz andere Motive: Sie habe genug von der kommerziell bestimmten Kunst, ließ sie Anatoli Lunatscharski, den Volkskommissar für das Bildungswesen und die Künste, wissen: «Es ist traurig, daß ich meine Arbeit nie den Menschen geben konnte, für die sie geschaffen war. Statt dessen war ich gezwungen, meine Kunst für fünf Dollar pro Sitzplatz zu verkaufen … Ich möchte für die Massen tanzen, für die arbeitenden Menschen, die meine Kunst brauchen und nie das Geld hatten, mich zu sehen, und für sie will ich umsonst tanzen.»
Auch wenn soviel Altruismus mißtrauisch werden läßt, so ist doch Isadoras Vorstellung verständlich, daß es für sie, die Begründerin des modernen Tanzes, eine besondere Aufgabe in einem Lande geben müsse, in dem nicht nur Politik und Wirtschaft revolutionär verändert wurden, sondern, wie sie meinte, auch die Kunst.
Im kaiserlichen Rußland hatte das klassische Ballett seine Vollendung erreicht. Die Amerikanerin hoffte, den Tanz in genau diesem Land aus seinen aristokratischen, lebensfremden Formen zu befreien, aus seiner Erstarrung zu lösen. Sie wollte eine zeitgemäße Tanzkunst zeigen und unterrichten, ihren «Tanz der Zukunft», der die Ketten der Förmlichkeit abgestreift hatte, auf Ballettschule und Theaterbühne verzichten konnte und an die Plätze des öffentlichen Lebens ging. Isadora Duncan war davon überzeugt, mit ihren vierundvierzig Jahren eine neue große Aufgabe gefunden zu haben, die Erfüllung ihres künstlerischen Lebenstraums.
«Kommen Sie zu uns!» hatte man ihr telegrafiert, «wir richten eine Tanzschule mit tausend Kindern für Sie ein!» Eine Tanzschule! «Ich sah im Geiste eine ungeheure Schar harmonisch bewegter Gestalten, die nach den grandiosen Klängen der Neunten Symphonie von Beethoven tanzten. Tag und Nacht war ich von diesem Phantasiegebilde erfüllt. Auf meinen Ruf sollten Myriaden leicht beschwingter Wesen vom Himmel herabsteigen und sich unter meinem Zepter vereinigen.»
Was hatte Isadora Duncan bisher schon alles unternommen, um eigene Schulen nicht nur zu gründen, sondern auch am Leben zu erhalten. Reiche Amerikaner und russische Großfürsten, einflußreiche, den Regierungen nahestehende Deutsche und Franzosen darum gebeten, die notwendigen Gelder aufzubringen. Alle hatten sie im Stich gelassen. Versuche in Berlin und in Paris, in der Schweiz und Griechenland, solche Unternehmen mit privaten Geldern dauerhaft zu etablieren, waren mehr oder weniger fehlgeschlagen; Isadora hatte viel Geld dabei verloren. Und nun sollte sie endlich die erhoffte Unterstützung für eine Tanzschule und vielleicht später sogar für ein eigenes Theater mit einem eigenen Orchester erhalten. Irgendwelche vertraglichen Vereinbarungen waren nicht getroffen worden. Solche konventionellen Absicherungen hielt Isadora im vom Geld bestimmten Westen, aber doch nicht hier vonnöten. Sie vertraute ihren neuen Mäzenen.
Das Wichtigste war zunächst, eine Tanzschule für etwa fünf- bis sechsjährige Kinder einzurichten. Nicht nur, weil sie kleine Kinder liebte, sondern auch, weil Tanz für sie die Verbindung von Mensch und Natur bedeutete, von Schönheit und Bewegung, auch Harmonie von Geist und Körper, und es ihr deshalb nötig schien, die künftige Tänzerin von Kind auf in ihrem, dem Duncanschen Sinne, zu erziehen. Die Tänzerin wohlgemerkt – der Tänzer spielte in ihren Vorstellungen keine Rolle. Mädchen, junge Russinnen, sollten fortführen, was die Amerikanerin begonnen hatte, Schule machen, der modernen Tanzkunst und der damit verbundenen Lebensauffassung überall Anerkennung und eine eigene Tradition verschaffen.
Waren sich die Kommunisten eigentlich darüber klar, daß sie nicht nur eine Tänzerin, sondern auch eine Missionarin eingeladen hatten? Und wenn ja, glaubten sie, daß die missionarischen Vorstellungen von Gast und Gastgebern vereinbar waren? Isadora war sich dessen sicher.
Aber auf den Schiffen, die in umgekehrter Richtung, von Ost nach West, die Route der «Baltanic» fuhren, verließen noch immer Flüchtlinge den Sowjetstaat, jetzt, vier Jahre nach der Revolution, auch solche, die sie zunächst begrüßt hatten. Ein paar Monate zuvor, im Februar und März 1921, hatten sich die roten Matrosen von Kronstadt, Trotzkis «Pracht und Stolz der Russischen Revolution», gegen den Sowjetstaat erhoben, «weil das Leben unter dem Joch der kommunistischen Diktatur schrecklicher ist als der Tod». Sie protestierten gegen überall im Land gekürzte Brotrationen und ausgebliebene Mitbestimmung für jene Arbeiter und Soldaten, die, wie sie selbst, 1917 entscheidend zum Sieg der Bolschewiki beigetragen hatten. Doch Lenin ließ den Aufstand blutig niederschlagen. Der Terror richtete sich nicht mehr allein gegen wirkliche und vermeintliche Gegner, auch einstige Kampfgefährten fielen ihm nun zum Opfer.
«Alle Macht den Sowjets, keine der Partei!» Mit diesem Protestruf traten die roten Matrosen von Kronstadt im Februar/März 1921 in den Aufstand. Die Besatzung des Schiffes «Petropawlowsk» forderte Rede- und Pressefreiheit, freie Gewerkschaften und die Freilassung der politischen Gefangenen.
John Reed vor dem Propagandazug «Oktoberrevolution», der von den Bolschewiki mit Schauspielern und Rednern durch die Sowjetunion geschickt wurde, um die Bevölkerung mit Flugblättern, Transparenten und Theaterstücken zu agitieren.
Es ist unbekannt, ob Isadora Duncan den Kronstädter Aufstand überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Als sie sich in das Rußland-Abenteuer stürzte, war ihr daran gelegen, nach Übereinstimmung mit ihren neuen Mäzenen zu suchen.
Von Marx und Lenin hatte sie nichts gelesen, aber sicherlich war auch ihr der dramatische Bericht des Amerikaners John Reed bekannt, der unter dem Titel Ten Days That Shook the World («Zehn Tage, die die Welt erschütterten») 1919 in den USA und bald darauf auch in Europa erschienen war. Der Reporter Reed hatte darin die Ereignisse in der Nacht zum 26. Oktober 1917 beschrieben: Bewaffnete Rote Garden und revolutionäre Matrosen erstürmten das Winterpalais in Petrograd, den Sitz der nach dem Sturz des Zaren im vergangenen Februar eingesetzten Provisorischen Regierung, nahmen ihre Minister gefangen und besetzten alle strategisch wichtigen Punkte in der Stadt. Mit diesem Staatsstreich gelangten die von Wladimir Iljitsch Lenin geführten Bolschewiki an die Macht.
Gleich danach hatten sie den sofortigen Frieden mit Deutschland und damit den Austritt aus dem Weltkrieg proklamiert, die entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer eingeleitet und unter Lenins Vorsitz einen Rat der Volkskommissare gegründet. Im März 1918 wurde Moskau neuer Regierungssitz.
Den blutigen Bürgerkrieg der «Weißen», von Soldaten und Offizieren des gestürzten Zaren sowie Mitgliedern einer Kosakenarmee, die, unterstützt von England, Frankreich und den USA, gegen die neuen Herren im Kreml zu Felde zogen, konnte die Rote Armee unter Führung Leo Trotzkis 1920 schließlich für sich entscheiden.
Ein Jahrhundertereignis hatte stattgefunden, und Isadora, die ihren Landsmann, den Dichter Walt Whitman, sehr verehrte, übertrug dessen amerikanische Visionen auf den neuen Sowjetstaat:
Nun aber breiten sich eilends aus
Elemente, Rassen, Einrichtungen ungestüm, rasch und kühn,
Eine Frühwelt wiederum, immer neue und weitere Ausblicke der Herrlichkeit,
Ein neues Geschlecht, alle vorigen übertreffend und vielmals größer als sie, mit neuen Kämpfen,
Neuer Staatskunst, neuen Literaturen und Religionen, neuen Erfindungen, Künsten.
Dies verkündet meine Stimme – ich schlafe nicht mehr, ich stehe auf,
Ihr Ozeane, die in mir ruhten! Wie ich euch fühle, bodenlos, schwellend, noch nie gesehene Wogen und Stürme brauend!
Schon als Kind hatte Isadora mit ihrer Mutter und den drei Geschwistern in einer Welt antibürgerlichen Protests gelebt, in der man jenen Bohèmiens und Geistern huldigte, die um die Jahrhundertwende das Ende des bürgerlichen Zeitalters mit seinen Vorurteilen, Konventionen und verlogenen Moralvorstellungen prophezeiten und sich nach einem anderen, besseren sehnten.
Auf der Suche nach dem wahren Leben waren die Duncans ausgezogen, die griechischen Götter anzubeten, in die Welt von Zeus, Apollo und der Aphrodite einzukehren und die verlorenen Schätze der Antike in die Gegenwart zu holen. Man sah sie, gekleidet in altgriechische Gewänder, mit Stirnbändern, nackten Beinen und Sandalen – Anhänger einer Lebensreformbewegung, für die das antike Schönheitsideal als Maßstab galt.