Die Charité

und in Liebe für meinen Mann

Peter Speemann

Gnadenlos brannte die heiße Augustsonne 1831 auf Berlin herab. Sie spiegelte sich in der braunen Flut des träge hin und her schwappenden Spreekanals, dessen übler Geruch sich heute wie eine Wolke ausbreitete, die vertäuten Lastkähne einhüllte und durch die Häuser am Ufer waberte. Johannes Christian Mater stand an der Reling seines Kahns und kniff die Augen zusammen. Ein Stück weiter näherte sich eine Frau dem Kanal und leerte schwungvoll den stinkenden Inhalt eines Abtrittseimers ins Wasser. Sie hob grüßend die Hand, ehe sie wieder unter der niederen Tür des Hauses verschwand, in dem sie mit wer weiß wie vielen Kindern, Verwandten und fremden Schlafgängern hauste.

Hans stöhnte und wischte sich mit seinem schmutzigen Ärmel den Schweiß von der Stirn. Er war bereits vor einer Woche mit seiner Fracht aus Nienburg an der Saale eingetroffen und hatte fünfhundert Zentner Salz am Schiffbauerdamm abgeladen, doch seine Fracht war noch nicht bereit gewesen. Jetzt endlich war Kahn M92 mit Kiefernholz beladen, konnte aber immer noch nicht auslaufen. Ein betrunkener Schiffer hatte am Morgen mit seinem Torfkahn eines der Schleusentore aus den Angeln gerissen. Das konnte dauern! Es blieb Hans nichts anderes übrig, als sich einen Platz am Ufer nahe der Jungfernbrücke zu suchen und abzuwarten.

Der Tag verrann. Seine Mutter tauchte aus der Kajüte auf und goss Waschwasser aus einer Schüssel in den Kanal.

«Ich habe Durst», sagte Hans. «Ich geh mal rüber in den Nussbaum.»

Hans steckte einen kleinen Beutel mit Münzen in die Hosentasche und machte sich auf den Weg. Auf der Gasse stieß er fast mit einer Frau zusammen, die es sichtlich eilig hatte. Hans sprang zur Seite.

«Entschuldigung», murmelte er.

Der Frau rutschte ihre schwere Tasche aus der Hand, sodass sie auf die mit Unrat bedeckte Straße fiel. Hans bückte sich und hob die längliche, abgewetzte Ledertasche auf. Nun erst erkannte er die Frau.

«Gott zum Gruß, Martha.» Er reichte ihr die Tasche. «Lass mich raten: Bald gibt es hier noch ein hungriges Maul mehr zu stopfen.»

Die Hebamme nickte. «Du sagst es. Aber wolltest du nicht schon längst auf dem Weg nach Nienburg sein?»

Hans zog eine Grimasse. «Die Schleuse ist kaputt. Ich liege fest.»

Martha sagte einige mitfühlende Worte, doch es war klar, dass sie mit ihren Gedanken bereits woanders war. Sie hob grüßend die Hand und schritt auf eines der Häuser zu, das wie betrunken an seinem Nachbarn lehnte.

Es gab kaum einen Ort in Berlin, an dem die Häuser so eng beieinanderstanden und so viele Menschen in winzigen Räumen miteinander hausten wie hier am Spreekanal. Aller Unrat wurde in den Kanal geleert, da die Senkgruben schon seit langem überfüllt waren. Fliegenschwärme kreisten in der flimmernden Luft.

Hans setzte seinen Weg fort. Er trank in der nächsten Kneipe ein Bier, das den brennenden Durst ein wenig stillen sollte, bis er sein eigentliches Ziel erreicht haben würde. In seinem Bauch rumorte es, als er weiterging.

«Gottfried, ich brauch einen Kräuterschnaps», rief er dem Wirt des Nussbaums zu und ließ sich auf einen Hocker fallen.

«Juppheidi, juppheida, Schnaps ist gut für die Cholera», sang er laut.

Der Wirt stöhnte. «Is ja gut!», schimpfte er. «Hör endlich auf damit, du vertreibst mir noch meine Gäste.»

«Du wirst keine Gäste mehr haben, wenn sich die Cholera alle geholt hat», lallte der Säufer.

Hans und Gottfried tauschten Blicke. «Ich kann’s nicht mehr hören», sagte der Wirt leise. «Jeder redet nur noch von der Cholera, und auch die Zeitungen sind voll davon. Mein Gott, der flotte Otto bringt einen gestandenen Mann nicht gleich um!»

Hans wiegte den Kopf. «Die Cholera, die da aus dem Osten kommt, scheint was anderes zu sein. Ich hab gelesen, in Indien sind neuntausend Mann einer Garnison einfach so innerhalb von ein paar Tagen abgekratzt.»

Der Wirt hatte auch davon gehört, weigerte sich aber, es den Schwarzsehern gleichzutun. «Berlin ist sicher», behauptete er. «Wir haben unseren Gesundheitsdirektor Rust, der die Cholera schon an der Grenze zu Preußen aufhält.»

Hans lachte. Die Schnäpse wallten warm in seinem Bauch auf und ab. «Du meinst, die Cholera bittet an der Grenze höflich um ein Visum?»

Gottfried fiel in sein Lachen ein. «Quatsch, das nicht, aber die Grenze nach Osten ist seit Wochen gesperrt. Die Armee lässt keine Maus durch, und jeder Mann muss erst mal zwanzig Tage in Quarantäne, ehe er nach Preußen einreisen darf. Jeder Brief wird in Chlor geräuchert, es kommen weder Getreide noch Obst, noch Pelze mehr von Russland zu uns rein.»

«Und dennoch ist die Cholera in Danzig ausgebrochen, hab ich gehört», wagte Hans zu widersprechen.

Hans erhob sich. In seinem Kopf drehte es sich, und er musste sich erst einige Augenblicke festhalten, ehe er unsicher auf die Tür zuschwankte. «Wir seh’n uns, Gottfried. Halt die Ohren steif!», rief er dem Wirt zum Abschied zu, ehe er auf die Straße hinaustrat.

Die stinkende, schwüle Luft drohte, ihm den Magen umzudrehen. Hans atmete tief durch, straffte den Rücken und ging weiter, doch in seinen Eingeweiden wühlte es so wild, als würden hundert Schlangen einen Tanz aufführen. Hans presste sich die Hände gegen den Leib. Er hatte die Jungfernbrücke fast erreicht, da versagten seine Kräfte. Er sank auf die Knie. In schmerzhaften Wellen schoss es aus ihm heraus: Schnaps, Bier, Kartoffeln und was er sonst noch an diesem Tag zu sich genommen hatte. Alles schien gleichzeitig aus allen Körperöffnungen nach draußen zu drängen. Bebend kauerte er vor der Brücke, seine Sinne drohten ihm zu schwinden. Da drang eine Stimme wie durch einen Nebel in sein Bewusstsein.

«Hans, beim Herrn im Himmel, was ist mit dir?»

Trübe hob er den Blick. Noch immer von Krämpfen geschüttelt, sah er die Hebamme an. «Der Schnaps hat nicht geholfen.»

«Du hast zu viel getrunken. Das hat man dann halt», behauptete Martha, doch selbst Hans hörte die Skepsis in ihrer Stimme.

Die resolute Frau packte den Schiffer unter dem Arm und schleifte ihn zum Liegeplatz seines Kahns. Hans’ Mutter kam ihnen schon entgegen und half, den Sohn in die Kajüte zu schleppen.

«Was sollen wir tun?», fragte Frau Mater ängstlich. «So was habe ich noch nie erlebt.»

Martha schüttelte ratlos den Kopf. «Ich auch nicht. Ich denke, es ist besser, einen richtigen Arzt zu holen. Ich beeile mich!», versprach sie und kletterte die engen Stufen zum Deck hinauf.

Cholera

Martha eilte durch die Stadt. An zwei Türen klopfte sie vergeblich, die Ärzte waren nicht daheim. Wohin sollte sie sich wenden? Vielleicht würde sich der junge Dr. Calow des armen Schiffers annehmen. Sie war sich nicht sicher, aber sie würde es versuchen. Im Laufschritt bog sie in die Charlottenstraße ein und eilte am Gendarmenmarkt mit den beiden prächtigen Kirchen vorbei. Vor dem Haus mit der Nummer 12 standen zwei Männer. Der eine war noch sehr jung, schlank und groß gewachsen, doch sein dünnes blondes Haar wirkte schütter, und sein Rock war abgetragen.

Der andere war etwas kleiner. Ein äußerst gutaussehender Mann, vielleicht Ende dreißig mit kräftigem Haar und dunklen Brauen. Sein Blick war aufmerksam und kraftvoll. Der grüne Frack mit den goldenen Knöpfen saß ausgezeichnet und war von guter Qualität. Martha kannte sich aus. Sie half nicht nur den Frauen in den Quartieren am Spreekanal bei der Geburt ihrer Kinder. Als Stadthebamme hatte sie sich den Ruf erworben, auch bei schwierigen Lagen Rat zu wissen, und wurde daher nicht selten in die prächtigen Häuser der Friedrichstadt gerufen.

Der Unterschied konnte nicht größer sein. Sie dachte an die hohen, hellen Räume, die von einem Heer von Bediensteten sauber gehalten wurden. Die schwangere Bürgersfrau bekam eine für ihren Zustand ausgewählte Diät serviert und bekam ganz sicher keine vorzeitigen Wehen, nur weil sie zu schwere Wassereimer geschleppt oder Feuerholz gehackt hatte. Ihr Kind wurde mit

Martha stand immer wieder fassungslos vor dem Elend. Warum nur war die Welt so ungerecht? Gab es denn gar keine Möglichkeit, das zu ändern? Hatten die armen Menschen nicht auch ein Recht zu leben?

Ihre Gedanken kehrten zu dem kranken Schiffer zurück. Sie fixierte die beiden Männer. Der jüngere war Dr. Hans Calow, den anderen erkannte sie nur an dem feurigen Gespann vor seiner Kutsche, das ein Diener im Zaum hielt. Über diese beiden Rappen sprach ganz Berlin – und über ihren Herrn, den zweiten dirigierenden Chirurgen der Charité, Dr. Johann Friedrich Dieffenbach.

«Dr. Calow», brach Martha jetzt in das Gespräch der beiden Männer ein. «Bitte, entschuldigen Sie, aber es handelt sich um einen Notfall.»

Die beiden Ärzte wandten sich ihr zu. Sie schienen ihr für die rüde Unterbrechung ihrer Unterhaltung nicht zu zürnen. Im Gegenteil, Dieffenbach betrachtete sie aufmerksam.

«Das ist Madame Vogelsang, unsere hervorragende Stadthebamme», stellte Calow Martha vor. «Was gibt es denn? Eine schwierige Geburt, nehme ich an.»

Sie schüttelte den Kopf und begann, von Hans Mater zu berichten.

«Ich denke, mit Kohlepulver und Opiumtropfen sollte das schnell behoben sein», schlug Calow vor. «Wir haben diesen Sommer ungewöhnlich viele Fälle von Brechdurchfall.»

Martha schüttelte den Kopf. «Ich glaube, dieser Fall ist anders.»

Auf der anderen Straßenseite sprangen zwei Jungen in kurzen

Martha spürte, wie sie erschauderte. Dr. Dieffenbach hob die dichten Brauen.

«Glauben Sie, es ist die Cholera? Ich wurde in den vergangenen Tagen zu vielen Patienten gerufen, die glaubten, an dieser Krankheit zu leiden, doch es war stets harmlos.»

Martha hob die Schultern. «Ich weiß nicht, aber eines kann ich Ihnen versichern, ich habe in meinem Leben schon viele Menschen mit Durchfall und Erbrechen erlebt, aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Bitte, Dr. Calow, kommen Sie mit mir. Ich habe es der Mutter versprochen.»

«Wenn es so dringend ist, dann sollten wir besser meinen Wagen nehmen», schlug Dieffenbach vor.

Martha sah ihn erstaunt an. «Danke», stieß sie aus, ehe sie hinter Dr. Calow in die Kutsche kletterte. Dieffenbach stieg selbst auf den Kutschbock und schwang die Peitsche. Die Rappen zogen mit einem Ruck an. Der Diener, der die stürmischen Rösser offensichtlich gewohnt war, sprang rechtzeitig zur Seite und dann mit einem riesigen Satz auf den Wagen.

***

Es war brütend heiß an diesem Nachtmittag, als Elisabeth das Haus ihrer Schwester erreichte. Es war ein altes, schmales Gebäude, das jedoch in besserem Zustand war als die Häuser gegenüber, die mit der Rückseite an den Kanal grenzten. Doch selbst wenn Maria und ihr Mann den Luxus einer eigenen kleinen Wohnung genossen, war die Gegend alles andere als das, was man sich für das gesunde Gedeihen einer jungen Familie vorstellte. Elisabeths und Marias Eltern waren, wie so viele Leute vom Land, nach Berlin gezogen,

Berlin brachte der Familie kein Glück. Ihre Mutter brach sich das Genick auf einer Kellertreppe, der jüngere Bruder starb an Typhus und der Vater im vergangenen Jahr an der Seuche der Schwindsucht, die die Lungen der Fabrikarbeiter verzehrte, bis sie Blut husteten und unter Qualen starben.

Elisabeth schob die Haustür auf, stieg die enge Treppe einen Stock höher und blieb vor der geschlossenen Wohnungstür stehen. Es war dunkel und heiß im Treppenhaus, und es roch nach Zwiebeln und ungeleerten Nachttöpfen.

Sie zögerte. Warum war sie gekommen? Das letzte Mal, als sie ihre um vier Jahre ältere Schwester gesehen hatte, waren sie im Streit auseinandergegangen. Elisabeth hatte ihren Schwager von Anfang an nicht gemocht, doch Maria hatte nicht auf sie hören wollen und sich mit diesem liederlichen Kerl eingelassen, der sie ins Unglück stürzte, davon war die Jüngere überzeugt. Hubert hatte sein Glück zuerst bei Elisabeth versucht und dann, als er bei ihr keinen Erfolg hatte, sich der Schwester zugewandt, die seinen plumpen Annäherungsversuchen allzu bereitwillig nachgegeben hatte. Das Ergebnis konnte man seit Monaten deutlich unter ihrem Busen wachsen sehen!

Elisabeth schnaubte voller Abscheu, als Huberts Bild vor ihr aufstieg. Er sah nicht schlecht aus, das musste sie ihm lassen, doch sie hielt ihn für verschlagen, er war schwach von Charakter und leider auch voller Jähzorn, vor allem, wenn er dem Ruf des Branntweins nachgab. Sie hatte sich mehr als ein Mal erbittert mit ihm gestritten, doch ihre Forderung, Maria mit mehr Respekt und

«Pah!»

Niemals würde Elisabeth in diese Falle tappen und sich von einem Mann beherrschen lassen, das schwor sie sich. Sie war jetzt neunzehn, und der Vater hatte vor seinem Tod noch versucht, sie mit einem der Nachbarburschen zu verheiraten, doch sie hatte sich standhaft geweigert.

Nun aber war sie hier, um nach Maria zu sehen und Frieden mit ihr zu schließen. Sie hatten nur noch einander. Wenigstens die beiden Schwestern mussten zusammenhalten. Und sie musste ihrer Schwester etwas sagen. Etwas, das Elisabeth sehr wichtig war.

Sie holte tief Luft, klopfte und trat ein. Die Wohnung war klein und bestand aus einer winzigen Küche, die sich zum Hauptraum öffnete, mit einem Tisch, drei Stühlen und einem Canapé in verblichen graugrüner Farbe, das unter dem einzigen Fenster stand. Ein geschlossener Vorhang verbarg die Nische mit dem Bett. Die Schwangere saß auf dem Sofa, die Arme um ihren hervorquellenden Bauch gelegt.

«Du kommst spät», begrüßte Maria ihre Schwester unwirsch.

Elisabeth stemmte die Arme in die Taille und runzelte die Stirn. Sie fühlte Unmut in sich aufsteigen. Nein, sie würde sich nicht entschuldigen. Sie hatte versprochen, heute zu kommen, und hier war sie. «War Martha schon da?», erkundigte sie sich stattdessen.

«Ja», stieß Maria hervor.

«Und? Ist alles in Ordnung?»

«Ja», sagte Maria noch einmal, «in ein paar Tagen ist es so weit.»

Doch dann stürzten ihr Tränen in die Augen und rannen über ihre Wangen. Sie wischte sie nicht ab, sondern ließ sie ungehindert in den ergrauten Kragen ihres Kleides tropfen. Elisabeths Unmut schmolz. Sie eilte zu ihr, ließ sich neben Maria auf das durchgesessene Polster sinken und legte den Arm um sie.

Maria schluchzte, dann griff sie nach dem Saum ihres Kleides und wischte sich energisch über das Gesicht.

«Er ist es nicht wert, dass ich um ihn heule.»

«Wer? Hubert?», erkundigte sich Elisabeth vorsichtig.

«Ja, Hubert!», stieß Maria erbost aus. «Wie viele Ehemänner habe ich denn? Hatte ich», endete sie lahm.

«Hatte? Er hat dich doch nicht etwa sitzenlassen jetzt vor der Geburt eures Kindes?» Schon wieder ballte sich der Groll in ihr zusammen. Das sähe diesem Nichtsnutz ähnlich!

«In gewisser Weise schon», antwortete Maria, und ihr standen schon wieder Tränen in den Augen. «Früher haben sich die Soldaten von Napoleons Männern totschießen lassen. Mein Mann braucht dazu keinen Feind. Er schafft es ganz alleine, sich in die Luft zu sprengen.»

Sie zog einen zerknitterten Brief aus ihrer Rocktasche und reichte ihn Elisabeth. Es war ein Schreiben aus dem Kriegsministerium, in dem der Unfall, der zum Tod des braven Soldaten geführt habe, bedauert wurde.

«Was soll denn jetzt aus uns werden?», klagte Maria. «Mit dem Wurm kann ich keine Arbeit finden, und ich muss doch die Miete bezahlen, sonst landen wir auf der Straße.»

«Sie werden dir keine Rente bezahlen», vermutete Elisabeth. «Er hätte als einfacher Rekrut nicht heiraten dürfen.»

Maria nickte, dann sah sie ihre Schwester plötzlich eindringlich an. «Du könntest zu uns ziehen», schlug sie vor. «Das Bett ist breit genug. Ja! Wir suchen uns eine Arbeit und teilen uns die Zeit mit dem Kleinen, dann reicht es für uns alle.»

Elisabeth erhob sich vom Sofa und strich ihr einfaches graues Kleid glatt. «Das geht leider nicht», sagte sie. «Ich habe eine Entscheidung getroffen.»

«Was für eine Entscheidung?», erkundigte sich Maria, aber

Sie richtete sich auf und reckte herausfordernd das Kinn. «Ich habe eine Arbeit angenommen», sagte sie. «Ich werde nicht viel Zeit haben, um mich um dich und das Kind zu kümmern. Es tut mir leid, aber ich verspreche dir, jeden Taler, den ich übrig habe, für euch aufzuheben.»

Maria sah sie erstaunt an. «Was für eine Arbeit?»

«Ich bin jetzt Krankenwärterin in der Charité», antwortete Elisabeth.

«Wärterin?», echote Maria. «Was verdienst du da denn?»

«Zwölf Taler», sagte Elisabeth leise und senkte beschämt den Kopf.

«Zwölf Taler?», wiederholte Maria und lachte schrill. «Ich nehme an, nicht im Monat, oder?»

Elisabeth schüttelte stumm den Kopf.

«Zwölf Taler im Jahr», höhnte Maria. «Das ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.»

«Ich wohne dort umsonst und bekomme freie Kost», fügte Elisabeth rasch hinzu, wobei sie verschwieg, dass dies kein Abendbrot beinhaltete.

«Wärterin!», wiederholte Maria fassungslos. «Wenn das unsere Eltern wüssten. Sie hätten sich was Besseres für dich gewünscht.»

«Was denn? Einen Säufer und Schläger als Ehemann, der mich schwanger zurücklässt?»

Maria schluchzte wieder. «Das ist gemein. Er ist ja nicht absichtlich gestorben.»

«Das nicht, aber selbst wenn er noch leben würde, wollte ich nicht mit dir tauschen. Besser, ich gebe meine Kraft kranken Menschen, die meine Hilfe brauchen, als so einem Mann!»

Maria lief rot an. «Er war kein Heiliger», war alles, was sie über ihren verstorbenen Mann zu sagen wusste.

«Dein Entschluss steht also fest?», versuchte Maria es noch einmal. «Du willst es dir nicht noch einmal überlegen und lieber bei mir – bei uns – bleiben?»

«Nein, ich habe einen Vertrag unterschrieben, und den werde ich erfüllen!», sagte sie fest, obgleich sie innerlich schwankte. Sie war mit dem festen Vorsatz gekommen, ihr Leben in eine andere Richtung zu lenken und von nun an den Kranken zu widmen, doch auf einmal kam sie sich stur und lieblos vor.

«Was denkst du denn, was für eine Arbeit wir finden könnten?» Elisabeth hielt dem bohrenden Blick ihrer Schwester stand.

Maria senkte als Erste den Blick. Sie wuchtete sich vom Sofa hoch und watschelte auf ihren geschwollenen Füßen zu dem Bord, das an der Wand über dem alten, eisernen Ofen hing.

«Ich habe noch Kräuterschnaps», sagte sie. «Willst du einen mit mir trinken?»

Elisabeth trat zu ihr und nahm zwei Gläser. «Ja, gern. Ich denke, in der Charité werde ich nicht so schnell wieder einen bekommen», sagte sie versöhnlich und setzte sich auf einen der Hocker. Maria gesellte sich zu ihr und schenkte die Gläser randvoll.

«Auf das Leben, was es auch noch bringen mag», sagte sie und leerte ihr Glas mit einem Zug.

«Ich komme dich besuchen, wann immer ich ein paar Stunden frei habe», versprach Elisabeth.

«Das wird nicht allzu oft sein», vermutete Maria.

«Nein», stimmte ihr Elisabeth zu und schenkte noch einmal nach. «Aber Martha wird da sein, wenn es losgeht, um sich um dich und das Kind zu kümmern.»

Sie leerte ihren Beutel und ließ einige Taler auf den Tisch fallen. «Das ist der Rest von Vaters Ersparnissen. Ich bringe dir mehr, sobald ich mein erstes Geld erhalte.»

Maria brummte nur und legte ihre Hand auf die der Schwester.

Elisabeth lachte verächtlich. «Ganz bestimmt nicht, denn ich habe nicht vor, mich heiraten zu lassen. Ich werde mein Leben selbst bestimmen und mich mit meiner eigenen Hände Arbeit ernähren, das schwöre ich dir.»

Maria schüttelte nur stumm den Kopf.

***

Es dämmerte bereits, als die Kutsche mit den beiden Rappen am Kanalufer hielt. Martha sprang als Erste aus dem Wagen, die beiden Ärzte folgten ihr über die Planke auf das Schiff. Frau Mater kam ihnen entgegen. Sie war blass. Martha griff nach ihrem Arm, doch sie sagte nichts. Ihr fielen keine tröstenden Worte ein.

«Es geht ihm gar nicht gut», sagte Hans’ Mutter mit einem Schluchzen in der Stimme und führte die Ärzte und Martha unter Deck. Die dunklen Schiffsplanken glänzten feucht, doch obgleich Frau Mater gründlich gewischt hatte, stank es durchdringend nach Erbrochenem und Durchfall.

«Leidet er noch immer unter diesen starken Krämpfen?», erkundigte sich Dr. Dieffenbach.

Hans’ Mutter verneinte und zeigte auf den Leidenden, der völlig ruhig in seiner Koje lag.

Dr. Calow bückte sich, um unter der niederen Kajütendecke ans Bett treten zu können. Er schlug die Wolldecke beiseite. «Können wir mehr Licht haben?», bat er.

Martha nahm die Lampe vom Tisch und hielt sie so, dass der Lichtschein über das Gesicht des Kranken huschte. Es war ihr, als blickte sie in das Gesicht eines Toten. Das konnte kein normaler Brechdurchfall sein! Was auch immer im Körper des Schiffers wütete, es war seinen zerstörerischen Weg schon weit gegangen.

Der Arzt zog ein Notizbuch hervor und begann zu schreiben: Gesichtsfarbe des Patienten fahles Aschgrün, Hände noch blasser, Augäpfel tief in die Höhlen eingesunken. Hornhaut getrübt, der Blick ist starr. Das Gesicht wirkt ausgezehrt.

Calow ergriff die schlaffe Hand. «Der Puls ist kaum zu spüren. Er ist ein wenig eilig.» Er öffnete den verschmierten Kittel des Schiffers und blickte auf die Brust, die sich kaum merklich hob und senkte. Dieffenbach notierte weiter.

«Ist das ein Krankheitsbild, das Ihnen vertraut ist?», wollte Calow wissen.

Der zweite dirigierende Chirurg der Charité schüttelte den Kopf. «Ich fürchte, wir müssen das Schlimmste annehmen.»

Es war Martha, die das schreckliche Wort aussprach: «Cholera.»

Die beiden Ärzte widersprachen nicht.

«Was können wir tun?», wollte Calow wissen.

«Sie kennen sicher Geheimrat Rusts Sechzehn-Punkte-Plan für Cholerafälle, den er vorsorglich erlassen hat», sagte Dr. Dieffenbach und rollte gleichzeitig mit den Augen.

«Danach müssten wir ihn jetzt zur Ader lassen. Mindestens ein Pfund Blut sollten wir ihm abzapfen», erwiderte Calow. «Halten Sie das in seinem Zustand für sinnvoll?»

«Sie vielleicht?», konterte Dieffenbach. «Es scheint, als habe dieser Mann jetzt schon kein Blut mehr in seinen Adern. Und er braucht auch nichts mehr, um den Magen oder Darm zu beruhigen.»

«Es scheint mir eher, als müsse man den ganzen Körper zum Leben anregen», stimmte ihm Calow zu.

Dr. Dieffenbach nickte. «Sie sagen es. Frau Mater, eine Scheuerbürste!»

Die Schifferfrau eilte davon, während der Arzt eine Flasche

Sie half, den Schiffer zu entkleiden, der nur noch apathisch vor sich hinstarrte und sich nicht rührte. Dann rieb Dr. Calow seinen Körper mit dem Spiritus ein und bearbeitete die marmorblasse Haut mit der Scheuerbürste. Hans reagierte nicht.

«Hier!»

Frau Mater reichte der Hebamme eine zweite Bürste, und Martha tat es dem Arzt gleich. Sie konnte nicht sagen, ob ihm die Behandlung guttat oder ihn quälte. Die Haut blieb trotz der Borsten blass, doch schien er ein wenig kräftiger zu atmen.

«Frau Mater, wir brauchen heißes und kaltes Wasser!», rief Dieffenbach und nahm ihr die Bürste ab.

Martha ging mit der Schifferin und brachte Eimer um Eimer Wasser, während die Männer den Kranken abwechselnd mit kalten und heißen Tüchern abrieben.

«Ich habe keinen Zweifel», sagte Dieffenbach leise. «Der Fall muss gemeldet werden. Machen Sie hier weiter. Madame Vogelsang, würden Sie dem Kollegen Calow bitte helfen?»

Martha nickte. «Und wenn es die ganze Nacht dauert!», versprach sie.

«Gut, dann fahre ich zu Professor Rust. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hat es die Cholera nach Berlin geschafft. Der Fall muss General von Thile gemeldet werden. Er wird den Ausnahmezustand ausrufen.»

Martha schloss die Augen. Sie fürchtete sich vor der Erkenntnis, was dies für sie und alle anderen Berliner bedeuten würde.

Quarantäne, Ausnahmezustand, ein stetig anschwellendes Heer von Kranken, denen keiner helfen konnte, und dann von

Eine Welle aus Elend, Schmerzen und Tod war im Begriff, über Berlin hinwegzurollen, und sie würde nichts tun können, außer das Schicksal zu beklagen.

***

Dieffenbach trieb seine Rappen durch die abendlichen Straßen, bis er das Haus in der Wilhelmstraße erreichte, in dem der Geheime Obermedizinalrat Professor Johann Nepomuk Rust wohnte, seines Zeichens nicht nur medizinischer Direktor der Charité und damit Dieffenbachs Vorgesetzter. Er war außerdem Direktor des Gesundheitswesens und somit für die Vorsichtsmaßnahmen verantwortlich, die an den östlichen Grenzen Preußens und rund um die Stadt getroffen worden waren.

Das Haus war hell erleuchtet, und Dieffenbach vernahm Musik. Der Direktor hatte Gäste, doch der Fall war zu wichtig, um darauf Rücksicht nehmen zu können.

Der Kontrast zu dem alten Kahn und seinen Bewohnern, von wo er gerade kam, hätte kaum größer sein können. Vor allem die Luft war hier in der Friedrichstadt viel besser und ließ die Erinnerung an den schrecklichen Gestank in der engen, niederen Kajüte verblassen. Er rief sich dennoch alle Einzelheiten der Erkrankung in Erinnerung. War er zum richtigen Schluss gekommen? War es wirklich die gefährliche asiatische Cholera, die den Schiffer niedergeworfen hatte?

Dies war nicht die erste Seuche, die er erlebte. Dieffenbach dachte mit Grauen an das, was ihnen allen bevorstand. Und doch war das Leid auch eine Herausforderung an seine Fähigkeiten als

Wann?

Nach wie vielen Opfern?

Er wusste keine Antwort. Zweifel quälten ihn. Hatten nicht schon klügere Köpfe alles versucht und waren gescheitert? Waren die Ärzte den Ursachen der vielen verschiedenen Seuchen und ihrer Heilung in den vergangenen Jahrzehnten auch nur einen Schritt näher gekommen?

«Folgen Sie mir bitte, Herr Dr. Dieffenbach», forderte ihn ein Bediensteter höflich auf, nachdem der Arzt den Türklopfer betätigt hatte.

Dieffenbach ließ sich ins Haus führen. Gewaltige Akkorde, die aus einem Konzertflügel aufstiegen, hüllten ihn ein. Er ließ den Blick über die Zuhörer schweifen, bis er den Hausherrn entdeckte. Rust saß in einem Sessel, in dem seine kleine, korpulente Gestalt fast versank, und nickte mit dem Kopf im Takt. Sein Blick war irgendwo gegen die Decke gerichtet. Der Obermedizinalrat liebte die Musik. So manch aufsteigender Komponist hatte schon an diesem Flügel gesessen, und selbst Paganini hatte diesen Salon mit seiner Geigenmusik erfüllt. Hier trafen Wissenschaftler und Musiker zusammen und natürlich diejenigen, die in der Politik und beim Militär etwas zu sagen hatten.

Für solch einen Abend würde seine Frau Johanna vermutlich ihr Seelenheil geben, kam es Dieffenbach in den Sinn, ehe er Johanna ebenso wie die herrliche Musik rüde aus seinen Gedanken verbannte. Er war nicht zum Vergnügen hier!

Er zögerte, dann trat er an den Sessel, beugte sich vor und flüsterte dem Geheimrat die schreckliche Botschaft ins Ohr.

Rust zuckte zusammen, griff nach der Brille mit den dicken

«Sind Sie ganz sicher?», fragte er leise.

Dieffenbach nickte.

Rust erhob sich und verließ leicht hinkend hinter Dieffenbach den Salon. Er schloss mit der Tür die brausenden Klavierklänge aus. «Lebt der Mann noch?»

«Als ich ihn verlassen habe, ja, doch er glich eher einem Toten.»

Rust legte grübelnd die Stirn in Falten. Einige Momente schwieg er. Dieffenbach konnte sich vorstellen, wie er die möglichen Folgen abwog. Die trüben Augen richteten sich auf seinen zweiten dirigierenden Arzt.

«Fahren Sie zurück und sehen Sie zu, dass der Mann überlebt!»

«Und was werden Sie tun?», wagte der Jüngere zu fragen.

«Ich werde abwarten. Heute Nacht können wir nichts mehr machen.»

Dieffenbach versuchte, sich seinen Unmut nicht anmerken zu lassen. «Verzeihen Sie, Professor Rust, aber sollten wir nicht Sorge dafür tragen, dass keine anderen Personen angesteckt werden?»

Rust kniff die Augen zusammen. «Ah, Sie glauben also auch, dass die Seuche von Mensch zu Mensch übertragen wird und nicht die Folge eines Miasmas ist, das mit seinen giftigen Dämpfen aus dem Kanal aufsteigt, wie viele sagen.»

Dieffenbach stimmte ihm zu. «Gerade deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen, die in den vergangenen Stunden mit dem Schiffer Kontakt hatten, von anderen Menschen ferngehalten werden», drängte er.

«Wir müssen erst einmal sicher sein, dass es sich wirklich um diese asiatische Cholera handelt, ehe wir die Pferde scheu machen und ganz Berlin in Aufruhr versetzen. Was, wenn es ein falscher Alarm ist? Was soll ich dann dem König sagen?»

«Wollen Sie ihm stattdessen erklären, wie sich die Seuche

«Fahren Sie zurück und bringen Sie den Schiffer, ganz gleich, ob er noch lebt oder tot ist, ins Pockenhaus der Charité. Wer sich auf dem Schiff befindet, wird dortbleiben oder ebenfalls mit ins Pockenhaus kommen. Ich schicke einen Schutzmann, der den Kahn bewacht. Und nun muss ich mich wieder um meine Gäste kümmern. Gute Nacht!»

Dieffenbach verbeugte sich kühl vor seinem Vorgesetzten und ließ sich seine Empörung nicht anmerken. Man musste jetzt handeln! Jede Verzögerung konnte sich fatal für die ganze Stadt auswirken, doch es war nicht an ihm, das zu entscheiden. Zornig sah er Rust nach, dann wandte er sich auf dem Absatz um und machte sich auf die Rückfahrt zum Kanal.

Kahn M92 lag dunkel und still im trägen Wasser. Keiner konnte ahnen, welch Drama sich unter Deck abspielte.

***

Martha und Dr. Calow waren schweißgebadet, doch es wollte ihnen nicht gelingen, die Lebensgeister des kranken Schiffers wieder zu wecken. Seine Haut war von der Farbe und Kälte wie Marmor, sein Atem eisig, der Puls wurde immer schwächer.

Calow gab Frau Mater die Schüssel mit dem kalt gewordenen Wasser.

«Das ist das letzte Stadium», sagte er zu Martha, als die Mutter des Kranken außer Hörweite war. «Ich habe darüber gelesen. Wenn der Puls erlischt, gibt es keine Rettung mehr.»

Martha betrachtete den jungen Schiffer voller Mitgefühl. Sie war kein Arzt, doch auch ohne Medizin studiert zu haben, sah sie, dass der Tod nach dem Elenden griff.

Ehe sie ihm den Becher mit Kamillentee reichen konnte, schwang er die Beine über den Rand des Bettes und erhob sich schwankend.

«Ein Wunder!», flüsterte Martha. Sie spürte, wie ihr Herz freudig klopfte. Konnte es wirklich wahr sein? Bestand noch Hoffnung?

Doch da fiel der Schiffer dem Arzt in die Arme, der ihn in sein Bett zurückschob. Draußen waren schnelle Schritte zu hören. Die Tür schwang auf, und mit wehend grünem Frack trat Dr. Dieffenbach über die Schwelle.

«Wie sieht es aus?»

Er betrachtete den Kranken, der nun auf der Seite lag. Seine Beine zuckten immer wieder, seine Finger bewegten sich. Calow legte ihm die Hand auf den Leib.

«Er scheint nicht mehr ganz so kalt zu sein.»

«Dann ist er gerettet?», wollte Martha wissen.

Einige Minuten betrachteten sie den zuckenden Körper. Dieffenbach runzelte die Stirn, dann kniete er sich neben die Koje und legte seine Finger an Hans Maters Hals.

«Nichts!», sagte er. Sein Ohr näherte sich Mund und Nase. Er schüttelte den Kopf. «Kein Atem, kein Puls. Er ist tot!»

«Wie kann das sein?», rief Martha. «Sehen Sie nicht seine Hände? Sie bewegen sich doch!»

Die Ärzte nickten, dennoch blieben sie bei ihrer Einschätzung. «Die Cholera ist eine tückische Krankheit. Die Lebenden sehen aus wie Tote, und die Toten scheinen zu leben.»

«Nein!», schrie Frau Mater, die gerade mit einer Schüssel voll heißem Wasser hereinkam. Die Schüssel fiel zu Boden, das Wasser spritzte über die Bohlen. Sie wollte zu ihrem toten Sohn, doch Dieffenbach stellte sich ihr in den Weg.

Calow stieß ein abwehrendes Geräusch aus. «Lassen Sie eine trauernde Mutter Abschied nehmen! Das ist doch absurd. Das Choleragift verbreitet sich durch üble Miasmen, die sich hier irgendwo am Kanal sammeln.»

Das klang einleuchtend und wäre eine Erklärung, warum Seuchen ausgerechnet hier am Kanal in den Häusern der Armen immer am stärksten wüteten, dachte Martha.

Dieffenbach blieb hart. «Das glauben Sie? Und diese Miasmen sind einfach so von Indien nach Russland und dann nach Berlin gewabert?»

Die beiden Ärzte starrten einander an.

Dieffenbach wandte den Blick als Erster ab. «Wir müssen Ihren Sohn mitnehmen», sagte er sanft. «Er wird in der Charité seziert.»

«Lassen Sie mich zu meinem Sohn», bat Frau Mater. «Ich muss bei ihm bleiben und ihn für sein Grab richten. Er muss nach Hause gebracht werden.»

Das Leid der Mutter dauerte sie. Martha trat neben die Schifferin und umarmte sie. «Frau Mater, das ist nicht möglich. Aber ich verspreche Ihnen, ich werde bei Hans bleiben, bis er seine letzte Ruhe in der Erde finden kann.» Dann wandte sie ihren Blick trotzig in Dieffenbachs Richtung, fest entschlossen, ihr Versprechen zu halten und sich nicht wegschicken zu lassen.

«Na gut», gab dieser schließlich nach. «Frau Vogelsang kommt mit und wird der Sektion beiwohnen.»

Unter Tränen dankte Frau Mater der Hebamme und sah zu, wie die Männer ihren toten Sohn in seine Decke wickelten und von Bord trugen. Sie umarmte Martha an seiner statt und blieb verloren an der Reling stehen, während die Kutsche mit dem Toten, den Ärzten und der Hebamme davonrollte.