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Fußnoten

Ein Klavierdraht (ausgerechnet), normalerweise in einem Schnürsenkel versteckt.

Mein Großvater wusste nur, dass der Mann, den er versehentlich am Kopf getroffen hatte, auf eine Anzeige verzichtete – glücklicherweise hatte der Apparat ihn nur gestreift. Die Daily News identifizierte das Opfer als Jirí Nosek, Leiter der tschechoslowakischen Delegation der erlauchten Körperschaft, an deren Charta Alger Hiss mitgearbeitet hatte. »Es ist das erste Mal, dass ein hochrangiger Roter von einem fliegenden Telefon getroffen wurde«, berichtete die News mit großem Ernst und fügte hinzu: »Nosek sagte, als guter Tscheche sei er verpflichtet, über alles zu lachen, was ihn nicht umbringe.«

Allem Anschein nach verdanken Lenormandkarten ihre Entstehung nicht Mademoiselle Marie Anne Lenormand, der größten, wenn nicht sogar der betrügerischsten Kartenlegerin des neunzehnten Jahrhunderts, sondern einem Würfelspiel namens »Spiel der Hoffnung«, eine Art Mischung aus Tarot und dem Leiterspiel, dessen sechsunddreißig Bildkarten in einem Muster von sechs mal sechs ausgelegt werden.

Später stellte ich fest, dass ein besonders Furcht einflößendes Fragment aus Tod Brownings Film Der Unbekannte geklaut war.

An der Uni erschrak ich, als ich die Quelle dieser Geschichte im John Collier Reader fand – das habe ich jedenfalls immer geglaubt, bis ich heute Nachmittag meine Ausgabe (Knopf, 1972) erst überflog, dann sorgfältig von vorne bis hinten und wieder zurück durchblätterte, ohne irgendeine Spur einer solchen Erzählung zu entdecken. Entweder bin ich den Zeilen meiner Großmutter in einer anderen Textsammlung oder bei einem andere Autor begegnet, oder es geschah im Traum, vielleicht ausgelöst durch meine Lektüre von Colliers »Bottle Party« mit dem herrlich bösartigen Dschinn und der unsterblichen letzten Zeile.

Er hatte sich das Studium an der Drexel finanziert, indem er von New York bis Baltimore und im Westen bis nach Pittsburgh spielte. »Ich hatte keine andere Wahl«, erklärte er mir. »Alles, was meine Eltern gespart hatten, ging für meinen Bruder drauf.«

Ich halte mich immer noch an ihre Rezepte für Coq au Vin, Kartoffelcremesuppe und Omelett, mit der Schreibmaschine auf blassblaue Karteikarten getippt. Ihre tadellos eingebrannte Omelettpfanne habe ich inmitten der Irrungen und Wirrungen meiner Scheidung verloren oder vergessen.

Und sie umbrachte; sie starb 1975 mit zweiundfünfzig Jahren an Gebärmutterkrebs.

Mein Großvater hielt mit seiner Verachtung für von Braun nie hinterm Berg und behauptete gerne, der Deutsche sei eins der Vorbilder von Kubrick und Southern für den verkappten Nazi Dr. Seltsam gewesen. Wenn er von Brauns Namen erwähnte oder etwas zitierte, was der Wissenschaftler laut Zeitung gesagt haben sollte, setzte er einen übertriebenen deutschen Akzent auf. MRX, die Firma meines Großvaters, war Hauptlieferant von Raketen- und Triebwerksentwürfen für Estes, Centuri, Chabon Scientific und den Großteil der weltweit führenden Unternehmen in der Blütezeit des Raketenmodellbaus. MRX entwarf Modelle, die sich an berühmten amerikanischen Raketen wie Vanguard, Thor und Titan orientierten, aber niemals in den Dutzend Jahren seiner Existenz an den Raketenfamilien Redstone, Jupiter oder Saturn – sämtlich durch von Braun entwickelt. Dieser schweigende Boykott zog sich bis in die Apollo-Ära, als plötzlich jeder eine Saturn V in den Orbit schießen wollte. Mein Großvater hatte meine Eltern verblüfft und mich vor ein Rätsel gestellt, als er sich am 20. Juli 1969 plötzlich weigerte, zusammen mit uns und praktisch der gesamten Weltbevölkerung dabei zuzusehen, wie Neil Armstrong jenen lebenslangen Traum in die Tat umsetzte, den auch von Braun und mein Großvater geteilt hatten. Dabei hatte ihn die bevorstehende bemannte Landung auf dem Mond monatelang fasziniert und immer aufgeregter gemacht. Nur meine Großmutter schien sich nicht zu wundern, als ihr Ehemann wortlos den Raum verließ. »Offensichtlich«, erinnere ich mich an ihre Worte, bei denen sie dem Fernseher zunickte, »haben sie es total falsch angefangen.«

Picknickende Figuren (ohne Decke und Transistorradio) aus dem englischen Modelleisenbahnsatz namens »Nachmittag im Park« in Nenngröße 00.

In ihrer neuen Heimat auf der Reisterstown Road in Pikesville. Ahavas Sholom war eine der ersten großen Synagogen der Stadt. Sie zog vom Vorkriegszentrum des jüdischen Baltimore am Park Circle um in die vorstädtische Wildnis hinter der Seven Mile Lane.

Ihr Gebiss war kunstvoll rekonstruiert, dank eines Zahnarztes aus Liberty Heights, der seinen Ruhestand in Florida verlebte, wo er zu einer Lesung auftauchte, die ich bei Books & Books in Coral Gables hielt. Anschließend erzählte er mir, dass er sich nie so recht von seinem Schreck beim Anblick der Ruinen erholt habe, die er im Mund meiner Großmutter fand.

Hauptsächlich von Militärfahrzeugen und Automobilen, im Ausverkauf oder mit Mengenrabatt erstanden.

1962 erwarb die Martin Company, heute Martin-Marietta und deutlich weiter in ihrer Entwicklung der Titan-Rakete, die Firma Patapsco von Milton Weinblatt, dem ehemaligen Geschäftspartner meines Großvaters, für, so seine Worte, »ungefähr das Zweihundertfache der Summe, mit der Weinblatt mich auszahlte«.

Er hatte eine besondere Schwäche für die mit einem Klecks Mohn gefüllten, deren Füllung wie ein Löffel kleiner schwarzer Perlen glänzend schimmerte.

Keine Metapher, es handelte sich tatsächlich um eine Bombe, die mit den Säugetieren gefüllt war.

Tatsächlich emigrierte Oberth, dem für außerordentliche Tapferkeit während und nach der Bombardierung von Peenemünde durch die Operation Hydra 1943 das Kriegsverdienstkreuz (»mit Schwertern«) verliehen worden war, nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten, wo er für die beiden Raketenprogramme Atlas und Saturn arbeitete und ein berühmter Ufologe wurde, bis er sich schließlich nach Deutschland zurückzog, wo er im Alter von fünfundneunzig Jahren starb und meinen Großvater damit um acht Monate überlebte.

»Das war nur ein Vorwand«, bemerkte meine Mutter mit trockenem Humor, der sehr an meinen Großvater erinnerte, als sie dieses Manuskript las. »Er hat sich von dem Tag an versteckt, als wir uns kennenlernten.«

Ich war damals schon länger Einwohner von Berkeley, Kalifornien.

Im späteren Leben stiftete Milton Weinblatt Lehrstühle für Luftfahrttechnik in Stanford, an der Cal Tech und an seiner Alma Mater, dem Stevens Institute.

Wenn im Frühjahr und Herbst die neuesten Muster der Konfektionsware aus Paris eintrafen, suchte meine Großmutter mit einem marmorierten Notizblock das Kaufhaus Hutzler’s heim und füllte ihn heimlich mit Skizzen, um die Kleider zu Hause nachzunähen.

Das war eine Kunst, die sie mit den Jahren perfektionierte, als Frau und als Mutter. »Oh nein, tu das nicht!«, höre ich meinen Vater noch rufen, wenn meine Mutter den Mantel der Abwesenheit über sich warf und ein neuer Streit unaufhaltsam in eine Tirade überging. »Guck mich an, verdammt noch mal!«

Sie hätte nicht nur das Kostüm gewechselt, erklärte ich meiner Mutter später, sie hätte auch so gründlich, wie es ihr möglich war, den Wunsch nach einem Pferd abgetötet. Abgesehen vielleicht von Diogenes oder dem wandernden Juden gibt es keinen berühmteren Fußgänger als Johnny Appleseed, den man nur barfuß kennt. Kurze Zeit später hatte meine Mutter ihre Pferdebücher, die geschnitzten Pferde und den Schädel weggepackt. Ich sagte ihr, so etwas nenne man in der Psychologie »magisches Denken«. Manche Kinder, die sich für das Unglück ihrer Eltern verantwortlich fühlten, glaubten, es abmildern zu können. Meine Mutter ließ sich das durch den Kopf gehen. Ich erwartete, dass sie mir zu meiner Erkenntnis gratulierte. »Und was ist daran magisch?«, fragte sie.

Mit Sicherheit war ihr das Leben und der Märtyrertod ihrer Karmelitinnenschwester Teresia Benedicta vom Kreuz bekannt, als Edith Stein in Breslau geboren, in Auschwitz vergast und 1998 von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen.

»Fast wäre ich meiner Zeit voraus gewesen«, bemerkte mein Großvater, als er mir diese Geschichte erzählte. Lösungen und heuristische Ansätze für andere Versionen des Botenproblems sind heute Gegenstand weiterentwickelter intelligenter Navigationsforschung.

Das Phänomen des »Phantomsendezeichens« von KLEE, das in Strangely Enough als Tatsache dargestellt wurde und Mitte der Fünfzigerjahre seinen Weg in Zeitungsberichte fand, entpuppte sich als Teil eines Juxes, als elektronische Variation des alten Schwindels mit der »Gelddruckmaschine«, verübt von einem einfallsreichen britischen Trickbetrüger.

Der Verein, zu dessen ersten Mitgliedern Willy Ley gehörte, der Lieblingsautor meines Großvaters, und der den reichen jungen Baron von Braun für eine Art Wunderkind hielt. Als lautstarker Gegner des Nationalsozialismus und der militärischen Nutzung der Raketentechnik floh Ley 1935 aus Deutschland in die USA.

Bis heute, mehr als vierzig Jahre nach ihrer letzten Mission, ist sie die einzige je gebaute Rakete, die in der Lage ist, Menschen über eine erdnahe Umlaufbahn hinaus zu transportieren.

Sämtliche Geheimverstecke von bösen Wissenschaftlern, versenkt in Vulkanen oder als Inseln getarnt, erreichbar über unterirdische Bahngleise oder versenkbare Schließmuskel, die wie Seen wirken, so wie sie später in James-Bond-Filmen und deren Kopien auftauchten – ganz zu schweigen von der real existierenden Anlage im Cheyenne Mountain, wo der NORAD und der Atombunker des Präsidenten untergebracht sind – gehen zurück auf das Mittelwerk in Nordhausen.

In der Zeit, in der die Raketen eingesetzt wurden, stürzten sie mit nervender Regelmäßigkeit direkt nach dem Abschuss ab, explodierten im Flug oder vor dem Aufschlag, drehten ab, scherten aus oder trudelten unkontrolliert durch die Luft, andere verschwanden spurlos im Nichts oder im Meer, ohne irgendeinen Schaden angerichtet zu haben. Manchmal schafften sie es nicht mal von der Abschussrampe, wie mein Großvater selbst bezeugen konnte.

Aber schrecklich ineffektiv: Die Sterblichkeit unter den Arbeitern in Nordhausen übertraf die in Antwerpen und London im Verhältnis von fast sechs zu eins.

Obwohl von Braun und die amerikanische Regierung es fast sein Leben lang geheim hielten – so wie die Erinnerung an Nordhausen selbst –, war er nach September ’43 noch viele Male am Kohnstein gewesen und scheint direkt in die Auswahl von Häftlingen mit technischen Fertigkeiten (hauptsächlich Franzosen) einbezogen gewesen zu sein, die von Buchenwald zum Mittelwerk überstellt wurden. (Siehe: Michael Neufeld, Wernher von Braun. Visionär des Weltraums – Ingenieur des Kriegs. Siedler, 2009)

Größtenteils ein Mischmasch aus Propaganda und Verzweiflung, zusammengebraut und serviert von Joseph Goebbels.

Mein Großvater erzählte meiner Mutter nie, was er mir zweiunddreißig Jahre später beichtete: dass er der Schütze gewesen war.

Aller Wahrscheinlichkeit nach war das Haus nicht mit echtem Stein verkleidet, sondern mit einem Kunststein namens Formstone, der damals bei Hausbesitzern in Baltimore populär war.

Nach Aussage meines Großvaters aus einem seidenen Slip gefertigt, den die Frau des Direktors gespendet hatte.

Nach dem einzigen Foto von Salinger zu urteilen, das ich kenne, gab es sogar eine äußerliche Ähnlichkeit: dicke schwarze Haare, pockennarbige Wangen, lange Nase, skeptisch hochgezogene Augenbrauen. Meinem Großvater für seinen Teil schien es immer zu gefallen, wenn ihm jemand sagte, er sähe aus wie der Schauspieler Robert Alda.

Nicht aber den Lesern des Buchs von Rudolf Erich Raspe (1736–1794), dessen eigentlicher Titel Gulliver Revived lautet und aus dem meine Großmutter (oder, wohl auch möglich, Mr Casamonaca) diese Episode auf dem Mond abgeschrieben zu haben scheint.

In seinen unveröffentlichten Memoiren namens »Notizen aus Greystone« (1979) berichtet Dr. Medved, dass diese Tapete mit ihrer veränderlichen Gestalt für viele Bewohner von Greystone Park Anlass für Beklemmungen und manchmal heftige Angstanfälle war. Zusammen mit einigen anderen Ärzten aus der Belegschaft setzte er sich dafür ein, dass die Tapete entfernt beziehungsweise überklebt wurde, doch die »Teufelsmasken« blieben bis 1972, als die Wände in einem »talgartigen grünen Farbton namens ›Avocado‹ gestrichen wurden, den viele von uns ebenso anstrengend fanden«.

»Die Wirkung war ziemlich dauerhaft«, bemerkte meine Mutter verbittert, als sie diese Memoiren zum ersten Mal las.

Patientin

Schizophrenie

Das war natürlich der Sinn der Aktivitäten, aber es steckte noch mehr dahinter. Von den vier wichtigsten Erwachsenen in meiner frühen Kindheit war meine Großmutter die Einzige, die mit meinem Kindsein gut zurechtkam. Problemlos und unbefangen schlüpfte sie in meine Fantasiewelt, ohne Übertreibung oder Herablassung. Anders als meine Eltern und mein Großvater ermunterte sie mich nie zu öffentlichen Demonstrationen meines Wissens, verlangte nie von mir, die fünfzig Bundesstaaten mit ihren Hauptstädten oder die amerikanischen Präsidenten von Washington bis Johnson aufzusagen. Wenn sie mich ihren »petit professeur« nannte, bedeutete das, dass ich mich aufgespielt oder sie belehrt, ihre Grammatik oder ihr unsicheres Verständnis von Fakten korrigiert hatte. Der Kosename hatte immer etwas leicht Spöttisches.

Diese heisere Stimme höre ich bis heute; ich höre eine ganze Hutschachtel voller Stimmen. Sie sprudeln aus einem Schlitz in meinem Hirn, düsteres Geflüster, Schreie und leise Vorwürfe, die haarscharf keinen Sinn ergeben. Sie bedrängen meine Gedanken fast immer, wenn ich allein in einem stillen Zimmer bin und an etwas arbeite, auf das ich mich konzentrieren muss – wenn ich male, koche, einen Stromkreis verlöte, ein Spielzeug zusammenbaue. Wenn ich schreibe, höre ich diese Hutschachtelstimmen nicht, sondern eine andere Stimme.

Einige Tage danach teilte mir mein Vater mit, dass er, weil so viele Menschen krank seien, im Krankenhaus wohnen müsse, wo er seit einiger Zeit arbeitete; es gäbe dort ein besonderes Schlafzimmer für viel beschäftigte Ärzte. Eine Woche später zog er aus. Es war die erste von drei Trennungen; eine Serie, die in der Scheidung meiner Eltern 1975 gipfelte. Neun Monate nach der ersten Rückkehr meines Vaters – ein Jahr nach der Fehlgeburt – wurde mein Bruder geboren.

Syrisch, ein eigenständiger Dialekt des Aramäischen, ist die heilige Sprache der syrischen Christen; ein anderer aramäischer Dialekt, das Assyrische, ist bis heute die Muttersprache von zweihunderttausend Menschen, die über Westasien zerstreut sind.

Es war Sandra Gladfelter. Siehe: Canaveral Council of Technical Societies, »1975 Twelfth Space Congress Program« (1975).

Nach Einschätzung meines Großvaters »der lustigste Jude, den es je gab«. Einer der wenigen Punkte, bei dem er mit meinem Vater einer Meinung war. »Er setzt sich auf einen Stuhl, und du musst lachen.«

Unterstützt von einer Charterfluggesellschaft namens Saturn Airways, die 1976 ihren Betrieb einstellte. Es wurde nur noch eine weitere Saturn-Medaille an den Schriftsteller Arthur C. Clarke verliehen.

Obwohl ihn die Sowjets natürlich nur zu gerne für ihr eigenes Raketenforschungsprogramm entführt hätten, wenn die USA ihnen nicht zuvorgekommen wären.

Onkel Ray war 1985 in Los Angeles an Herzversagen gestorben, wo er Arbeit als »Billardberater« bei Film und Fernsehen gefunden hatte. Trotz seiner Einäugigkeit gewann er hin und wieder ein Turnier und spielte gelegentlich eine illegale Partie. Als er starb, lebte ich in Paris und konnte nicht zur Beerdigung kommen.

Die Serie wurde – so schade! – nie fortgesetzt.

Wernher von Braun

 

Beim Schreiben dieser Memoiren habe ich mich an die Fakten gehalten, es sei denn, sie wollten sich einfach nicht der Erinnerung, dem dichterischen Willen oder der Wahrheit, wie ich sie gerne verstehe, beugen. Wo immer ich mir Freiheiten mit Namen, Daten, Orten, Ereignissen, Unterhaltungen oder den Identitäten, Motiven und Beziehungen von Familienmitgliedern und historischen Persönlichkeiten erlaubt habe, sei dem Leser versichert, dass es mit der entsprechenden Hemmungslosigkeit geschah.

Werbung, Esquire, Oktober 1958

 

Als Alger Hiss aus dem Gefängnis kam, hatte er Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden. Er hatte Jura in Harvard studiert, war Assistent des Bundesrichters Oliver Wendell Holmes gewesen und hatte am Entwurf der Charta der Vereinten Nationen mitgearbeitet, war aber wegen Meineids verurteilt und galt als Handlanger des internationalen Kommunismus. Hiss veröffentlichte eine Biografie, die allerdings so langweilig war, dass niemand sie lesen wollte. Seine Frau verließ ihn. Er war pleite und verzweifelt. Am Ende hatte einer seiner verbliebenen Freunde Mitleid mit dem armen Kerl und ließ seine Kontakte spielen. Daraufhin wurde Hiss von einer New Yorker Firma eingestellt, die extravagante Haarspangen aus Klaviersaiten herstellte und vertrieb. Feathercombs Inc. war erfolgreich gestartet, dann aber unter Druck geraten, als ein größerer Konkurrent die Idee abkupferte, gegen das Patent verstieß und den Preis unterbot. Die Verkaufszahlen gingen zurück. Die Gehälter waren gefährdet. Um Platz für Hiss zu schaffen, musste ein anderer Mitarbeiter vor die Tür gesetzt werden.

In der Daily News vom 25. Mai 1957 findet sich ein Bericht über die Verhaftung meines Großvaters, der von einem nicht namentlich genannten Kollegen als »ruhiger Typ« beschrieben wird. Für die anderen Vertreter von Feathercombs war er wie ein Herrenhut am Garderobenständer. Er war das am schwersten schuftende, aber erfolgloseste Mitglied der Verkaufsmannschaft von Feathercombs. In der Mittagspause zog er sich gerne mit einem Sandwich und der neuesten Ausgabe einer Fachzeitschrift für Astronomie oder Luftfahrt zurück. Es war bekannt, dass er einen Crosley fuhr, eine ausländische Frau und eine jugendliche Tochter hatte und mit ihnen irgendwo im tiefsten Bergen County im Osten

Um kurz nach neun am Morgen des 24. hörte der Direktor von Feathercombs einen Tumult in seinem Vorzimmer, wo ein junges Mädchen mit schneller Auffassungsgabe platziert worden war, um Gläubiger und Steuerprüfer abzuwimmeln. Eine Männerstimme redete dort mit einer Dringlichkeit, die rasch in Erregung umschlug. Die Sprechanlage auf dem Schreibtisch des Direktors summte in kurzen Abständen. Er hörte ein Klirren von splitterndem Glas. Es klang, als würde der Hörer aufs Telefon geknallt. Bevor sich der Direktor von seinem Sessel erheben konnte, um nachzusehen, was los war, stürmte mein Großvater in sein Büro. Er fuchtelte mit einem schwarzen Telefonhörer herum (damals ein klobiger Gegenstand), der an einem ein Meter langen, zerfransten Kabel hing.

In den späten Dreißigerjahren hatte mein Großvater, wenn er nicht gerade Billard spielte, vier Jahre Studium an der Drexel Tech finanziert, indem er für das Kaufhaus Wanamaker’s Klaviere auslieferte. Seine Schultern nahmen den gesamten Türrahmen ein. Die widerspenstigen Haare wippten, befreit von der täglichen Portion Pomade. Sein Gesicht war so rot, als hätte er einen Sonnenbrand.

Der Direktor von Feathercombs seinerseits war überrascht festzustellen, dass er die Kündigung eines Verrückten abgesegnet hatte. »Was ist hier los?«, fragte er.

Es war eine sinnlose Frage, mein Großvater würdigte sie keiner Antwort; er hielt nichts davon, Offensichtliches festzustellen. Die meisten Fragen hatten seiner Meinung nach lediglich den Zweck, toten Raum zu füllen, das Gegenüber zu maßregeln, dessen Energie und Aufmerksamkeit fehlzuleiten. Zwischen meinem Großvater und seinen Gefühlen herrschte sowieso quasi Funkstille. Er griff nach dem zerfransten Ende des Telefonkabels und wickelte es sich zweimal um die linke Hand.

Der Direktor wollte aufstehen, doch seine Knie verkanteten sich in der Beinöffnung des Schreibtischs. Der Stuhl schoss unter ihm hervor und kippte um, die Rollen klackerten. Er stieß einen Schrei aus. Es war ein weibischer Ton, fast schon ein Jodeln. Als sich mein Großvater auf seinen Chef stürzte, drehte der sich zum Fenster, das auf die East 57th Street ging. Er konnte gerade noch sehen, dass sich unten auf dem Bürgersteig Passanten sammelten.

Mein Großvater schlang das Kabel um den Hals des Direktors. Ihm blieben vielleicht zwei Minuten, ehe die Rakete seiner Wut ihren Treibstoff verbraucht haben und zurück auf die Erde fallen würde. Zeit satt. Im Zweiten Weltkrieg hatte er gelernt, wie man mit einer Garrotte [1] umgeht. Er wusste, dass Strangulation, fachmännisch ausgeführt, eine Angelegenheit von wenigen Sekunden war.

»O mein Gott«, stieß die Sekretärin Miss Mangel aus, die erst jetzt am Ort des Geschehens auftauchte.

Sie

»Dafür werden Sie bezahlen«, sagte Miss Mangel.

Als mein Großvater diese Geschichte zweiunddreißig Jahre später erzählte, setzte er ein bewunderndes Ausrufezeichen hinter Miss Mangels Namen, doch da die Rakete seiner Wut den höchsten Punkt ihrer Parabel noch nicht erreicht hatte, waren ihre Worte eine Provokation für ihn. Er warf die Sprechanlage aus dem Fenster von Miss Mangels Büro. Das Klirren, das der Direktor gehört hatte, entstand, als die Anlage durch ein Spinnengewebe aus Glas auf die Straße segelte.

Als Miss Mangel einen erzürnten Ruf von unten hörte, trat sie ans Fenster und schaute hinab. Auf dem Bürgersteig saß ein Mann in einem grauen Anzug und blickte zu ihr hoch. Auf dem linken Glas seiner runden Brille war Blut. Er lachte.[2] Passanten blieben stehen und kümmerten sich um ihn. Der Portier verkündete, er werde die Polizei rufen. In dem Moment hörte Miss Mangel ihren Chef schreien. Sie wandte sich vom Fenster ab und lief in sein Büro.

Auf den ersten Blick schien es leer zu sein. Dann hörte sie einen Schuh über den Linoleumboden scharren, ein zweites und ein drittes Mal. Der Kopf meines Großvaters tauchte hinter dem Schreibtisch

Miss Mangel schnappte sich einen Brieföffner vom Schreibtisch und stieß ihn meinem Großvater in die linke Schulter. Viele Jahre später bedachte er diese Tat noch mit einem zweiten wohlwollenden Ausrufezeichen.

Die Spitze des Brieföffners sank nur einen guten Zentimeter tief ins Fleisch, doch der Stich des Metalls blockierte einen Meridian der frei fließenden Wut meines Großvaters. Er grunzte. »Es war, als würde ich aufwachen«, sagte er, als er mir diese Geschichte in der letzten Woche seines Lebens zum ersten Mal erzählte. Er löste das Kabel vom Hals des Direktors und zog es aus den Furchen, die es in seine linke Hand geschnitten hatte. Polternd fiel der Hörer zu Boden. Mein Großvater setzte einen Fuß rechts und einen links neben den Direktor, stand auf und trat zurück. Der Direktor drehte sich auf den Rücken und setzte sich schwerfällig auf, dann rutschte er auf dem Hintern rückwärts in eine Nische zwischen zwei Aktenschränken. Er rang nach Luft. Als sein Gesicht auf den Boden geschlagen war, hatte er sich auf die Unterlippe gebissen. Nun waren seine Zähne rosa gefärbt.

Mein Großvater drehte sich zu Miss Mangel um, nahm ihr den Brieföffner aus der Hand und legte ihn auf den Schreibtisch des Direktors. Wenn ein Wutanfall bei ihm abebbte, sah man Reue wie Wasser in seine Augen schwappen. Er ließ die Hände sinken.

»Verzeihung«, sagte er zu den beiden. Ich vermute, dass er es auch zu meiner Mutter sagte, damals vierzehn, und zu meiner Großmutter, obwohl sie unter Umständen ebenso viel Schuld trug wie mein Großvater. Es bestand nicht viel Hoffnung, dass ihm

Am Lebensende verschrieb der Doktor meinem Großvater ein starkes Hydromorphon gegen die vom Knochenkrebs verursachten Schmerzen. Zu der damaligen Zeit waren viele Deutsche damit beschäftigt, Löcher in die Berliner Mauer zu schlagen, und ich tauchte just in dem Moment auf, um mich von meinem Großvater zu verabschieden, als das Opioid seinem gewohnheitsmäßigen Schweigen ebenfalls mit sanftem Hammer zuleibe rückte: Aus ihm sprudelte nur so eine Bilanz seiner Missgriffe, seines fragwürdigen Glücks, seiner Leistungen und Pleiten durch schlechtes Timing und versagende Nerven. Schon seit fast zwei Wochen lag er im Gästezimmer meiner Mutter, und als ich endlich in Oakland eintraf, bekam er annähernd zwanzig Milligramm am Tag. Er begann quasi in dem Moment zu reden, als ich mich auf den Stuhl neben seinem Bett setzte. Mir war, als hätte er auf meine Gesellschaft gewartet, aber heute denke ich, ihm war einfach bewusst, dass ihm die Zeit davonlief.

Seine Erinnerungen kamen ohne erkennbare Reihenfolge, abgesehen von der ersten, die auch die älteste war.

»Wusstest du«, sagte er und räkelte sich auf seiner palliativen Wolke, »dass ich einmal ein Kätzchen aus dem Fenster geworfen habe?«

Weder da noch bevor er für immer in dieser Wolke versank, sagte ich ihm, dass er mir nur sehr wenig von seinem Leben erzählt habe. Ich wusste noch nichts von seinem Angriff auf den Direktor von Feathercombs und konnte ihn daher auch nicht darauf hinweisen, dass sich in seiner Biografie das Motiv des Fenstersturzes abzuzeichnen begann. Als er mir später von Miss Mangel, der Gegensprechanlage und dem tschechischen Diplomaten erzählte, beschloss ich, die gewitzte Bemerkung für mich zu behalten.

»Ist

Ich aß seine Himbeer-Götterspeise. Nichts fand Gnade vor seinem Gaumen, außer ein oder zwei Löffel Hühnersuppe, die meine Mutter ihm nach dem Rezept meiner verstorbenen Großmutter – geboren und aufgewachsen in Frankreich – kochte und in die man, damit die Brühe etwas frischer schmeckte, ein wenig Zitronensaft pressen musste. Selbst die Götterspeise interessierte ihn nicht besonders. Es war jede Menge übrig.

»Das Fenster war im zweiten Stock«, sagte er und fügte hinzu, als sei sein Geburtsort bekannt für seine stahlharten Bürgersteige, »in Philadelphia.«

»Wie alt warst du da?«

»Drei oder vier.«

»Mein Gott. Warum hast du das getan?«

Er streckte die Zunge heraus, einmal, zweimal. Das machte er alle paar Minuten. Oft sah es aus, als fälle er ein clowneskes Urteil über etwas, das man ihm erzählte, in Wirklichkeit war es eine Nebenwirkung der Medikamente. Seine Zunge war blass und hatte die Struktur von Wildleder. Durch einige seltene kostbare Vorführungen in meiner Kindheit wusste ich, dass er mit der Zungenspitze die Nase berühren konnte. Vor dem Fenster des Gästezimmers war der Himmel der East Bay so grau wie der Heiligenschein aus Haaren um sein sonnengebräuntes Gesicht.

»Aus Neugier«, urteilte mein Großvater und streckte wieder die Zunge heraus.

Ich erwiderte, ich hätte schon gehört, dass Neugier tödlich sein könne, insbesondere für Katzen.

 

mein Großvater mit seinen Eltern, dem Vater seines Vaters und seinem kleinen Bruder Reynard – Mutters Onkel Ray – in drei Zimmern an der Ecke Tenth Street und Shunk Street in South Philadelphia.

Sein Vater, ein deutschsprachiger Einwanderer aus Pressburg (heute Bratislava), war in den Zwanziger- und Dreißigerjahren mit verschiedenen Kurzwarenhandlungen und Lebensmittelläden gescheitert. Danach begrub er seine Hoffnung auf langfristige Inhaberschaft und begnügte sich damit, Verkäufer in Spirituosengeschäften zu sein, wo er zusah, wie die Kassen anderer Geschäftsmänner ausgeraubt wurden. In der Erinnerung meines Großvaters war seine Mutter eine Frau mit Rückgrat und einem Herz aus Gold, eine »Heilige« im Frondienst ihres Mannes und ihrer Söhne. Auf Fotos sieht man sie kastenförmig, stahlgegürtet und beschuht mit kohlrabenschwarzen Klumpen, die Brust so gewaltig, als wären Turbinen darin untergebracht. Sie war durchaus in der Lage, Jiddisch und Englisch zu lesen, aber erlegte meinem Großvater und später Onkel Ray auf, ihr täglich aus der jiddischen Presse vorzulesen, damit sie über die jüngsten Katastrophen Bescheid wusste, die das Judentum heimsuchten. Es gelang ihr immer, vom wöchentlichen Haushaltsgeld ein oder zwei Dollar für die Puschke-Dose in der Synagoge abzuzweigen. Damit wurden Pogromwaisen gefüttert und Flüchtlinge in Schiffskojen in die Freiheit gebracht. Ganze Hänge in Palästina trugen die Apfelsinen ihrer Mildtätigkeit. »Im Winter fror die Wäsche draußen auf der Leine immer fest«, erinnerte sich mein Großvater. »Meine Mutter musste alles die vielen Treppen hochtragen.« Onkel Ray kannte ich aus den späten Sechzigern als Playboy in himmelblauem Rollkragenpulli und grauem Tweedblazer. Er fuhr einen Alfa

Im Sommer lief er von früh bis spät draußen herum, wagte sich bis zum stinkenden Delaware River im Osten vor und im Süden bis zum Navy Yard. Er beobachtete, wie eine obdachlose Familie auf dem Bürgersteig Tee trank, inmitten ihrer Betten, Lampen, dem Grammofon und einem Sittich im Kupferkäfig. Als er eine zusammengefaltete Zeitung auf einem Ascheeimer aufschlug, fand er darin den Augapfel einer Kuh. Er war Zeuge, wie Kinder und Tiere voller Inbrunst und Gewissenhaftigkeit verdroschen wurden. Er sah ein Nash-Cabrio, um das sich viele Menschen versammelt hatten, vor einer Kirche der Afrikanischen Methodisten; Marian Anderson stieg aus und erleuchtete noch sechzig Jahre später seine Erinnerung mit ihrem halbmondförmigen Lächeln.

South Philadelphia war damals voller Moonblatts und Newmans, jenen Cousins und Cousinen, die später die Hochzeiten und Beerdigungen meiner Kindheit und die meiner Mutter bevölkern sollten. Ihre Wohnungen dienten meinem Großvater als Zwischenstation. Mit der Planung seiner Routen von einer zur nächsten, vorbei an Häuserblocks, die von Iren oder Italienern kontrolliert wurden, legte mein Großvater die Grundlage für seine Arbeit während des Kriegs. Er pflegte geheime Kontakte zu italienischen Bäckern und Lebensmittelhändlern, machte Besorgungen für sie oder schwang den Besen für ein paar Pennys, ein Zitroneneis oder einen warmen Brotkringel. Er studierte die feinen Unterschiede in Sprechweise und Körperhaltung der Menschen. Wenn man einer Tracht Prügel auf der Christian Street aus dem Weg gehen wollte, änderte man seinen Gang und die Haltung des Kopfes so, dass es aussah, als gehöre man dorthin. Wenn das nicht klappte – oder wenn man, wie mein Großvater, einer Rauferei

Seine Herumtreiberei und die Verletzungen verstörten seine Eltern, und sie bemühten sich, sie einzudämmen. Grenzen wurden gesetzt, Gebiete abgesteckt; mein Großvater unterlief sie. Störrisch in seiner Weigerung, Auskunft zu geben oder Namen zu nennen, unempfindlich gegenüber körperlicher Züchtigung, gewillt hinzunehmen, welchen Vorteils auch immer er beraubt wurde, zermürbte er seine Eltern. Irgendwann gaben sie auf.

»Nichts kann man tun bei einem Bub, der Katzen wirft aus dem Fenster«, sagte der alte Abraham, der Großvater meines Großvaters, in seinem Pressburger Deutsch. Abraham herrschte von einer Ecke des Wohnzimmers aus, das gleichzeitig Esszimmer war. Umgeben von Thorakommentaren thronte er auf einem donutförmigen Hämorrhoidenkissen. Es war fast dunkel, einer der letzten freien Abende des Sommers.

»Aber was ist, wenn er sich verlaufen hat?«, fragte meine Urgroßmutter zum tausendsten oder millionsten Mal.

»Er verläuft sich nicht«, fasste Onkel Ray die Erkenntnis in Worte, die sich im Familientalmud durchgesetzt hatte. »Er weiß, wo er ist.«

Mein Großvater saß unter einem Waggon in der Falle, einem von sechs hölzernen Güterwagen auf einem Abstellgleis weit hinten auf dem Bahndepot am Fluss. Das letzte Mal waren sie eingesetzt

Mein Großvater versteckte sich vor einem bulligen Mitarbeiter der Eisenbahngesellschaft, einem Hünen namens Creasey, dessen linkes Auge von einem Film überzogen war und der karottenrote Haarbüschel an Stellen im Gesicht hatte, wo sie nicht hingehörten. Im Laufe jenes Sommers hatte Creasey meinen Großvater schon mehrmals gehörig verprügelt. Beim ersten Mal hatte er ihm den Arm so heftig auf den Rücken gedreht, dass die Knochen summten. Beim zweiten Mal zerrte er meinen Großvater am Ohrläppchen über das gesamte Gelände bis zum Haupttor, wo sein Stiefelabsatz Bekanntschaft mit dem Hosenboden meines Großvaters machte; der bis zum Ende seines Lebens behauptete, sein Ohrläppchen trüge den Abdruck von Creaseys Daumen. Als der Bahnaufseher meinen Großvater zum dritten Mal beim unerlaubten Betreten des Geländes erwischte, versohlte er ihn gründlich mit dem Ledergurt seiner Uniform. Daher hatte mein Großvater beschlossen, so lange unter dem Waggon zu warten, bis Creasey verschwand oder tot umfiel.

Doch Creasey blieb, rauchte Zigaretten und stampfte auf dem Unkraut zwischen dem Abstellgleis und dem Rest des Depots hin und her. Mein Großvater lag flach auf dem Boden und beobachtete durch eine Kulisse von Löwenzahn und Agaven die staubigen Stiefel des Eisenbahners. Scharren, stopp, wenden, zurück. Alle paar Minuten fiel mit leisem Flüstern eine Zigarette auf den Schotter und wurde unter Creaseys rechtem Stiefel zermalmt. Mein Großvater hörte, wie eine Flasche aufgeschraubt wurde, Flüssigkeit schwappte, ein Rülpser. Er hatte den Eindruck, als warte Creasey auf jemanden, schlage Zeit tot, sammle vielleicht seinen Mut.

Das machte ihn stutzig. Eigentlich musste Creasey in Bewegung bleiben und das Gelände nach Landstreichern, Herumtreibern und Plünderern wie meinem Großvater durchforsten, die in jenem Sommer

Schließlich zertrat Creasey seine fünfte Zigarette, trank noch einen Schluck und entfernte sich. Mein Großvater zählte bis dreißig und schlüpfte unter dem Güterwagen hervor. Er bürstete den Dreck vom Bauch, die Haut prickelte. Dann entdeckte er Creasey. Mit einem Ranzen in der Hand ging er auf eines der kleinen verputzten Häuschen zu, die auf dem Gelände verteilt standen. Bei seinen ersten Vorstößen auf den Greenwich Yard war mein Großvater entzückt von der Vorstellung gewesen, dass Eisenbahner zwischen den von ihnen gehüteten Zügen in kleinen Cottages wohnten, wie Hirten. Bald stellte er jedoch fest, dass die Häuschen leer waren. Vor den geschwärzten Fenstern waren Drahtgitter, und wenn man das Ohr an die Tür hielt, konnte man von innen das Summen von Elektrizität hören, manchmal auch ein dumpfes Geräusch wie das Räderwerk eines Banktresors. Bisher hatte mein Großvater niemanden hineingehen oder herauskommen sehen.

Creasey fischte einen Schlüsselring aus seiner Tasche und sperrte auf. Leise schloss sich die Tür hinter ihm.

Mein Großvater wusste, dass er eigentlich nach Hause musste, wo ihn ein warmes Essen und eine Operette von Vorwürfen erwarteten. Er hatte Hunger und war geübt im Taubstellen und Entschuldigen. Doch heute war er hergekommen, um sich ein letztes Mal oben auf eine bestimmte Signalbrücke zu stellen, die als seine eigene zu betrachten er sich angewöhnt hatte, und sich von einem weiteren Sommer zu verabschieden.

Er

Er wandte das Gesicht nach Osten. Wie eine Gewitterwolke türmte sich die Dunkelheit über New Jersey auf. Hinter dem Fluss lag Camden, hinter Camden das Ufer von Jersey, dahinter der Atlantische Ozean, und in weiter Ferne Paris und Frankreich. Der Bruder seiner Mutter, ein Veteran der Argonnenoffensive, hatte meinem Großvater erzählt, dass ein Mann in den Freudenhäusern jener Stadt noch eine weitere Grenze überschreiten könne: wo Seidenstrümpfe auf weiße Oberschenkel trafen. Mein Großvater umarmte die Signalleuchte. Er drückte seine Hüften gegen ihr glattes Gehäuse und schaute in den Abendhimmel empor. Der Vollmond ging auf. Durch den Winkel, in dem er zur Erdatmosphäre stand, hatte er die Farbe von Aprikosenfleisch. Mein Großvater hatte den Großteil des letzten Freitags in jenem Sommer mit der Lektüre einer Zeitschrift namens Astounding Stories of Super-Science verbracht, die er zwischen anderen unverkauften Magazinen im Hinterzimmer des väterlichen Ladens gefunden hatte. Die letzte Geschichte handelte von einem wagemutigen Erdbewohner, der in einer Atomrakete auf die dunkle Seite des Mondes flog, wo es reichlich Luft und Wasser gab, er gegen blutrünstige Seleniten kämpfte und sich in eine blasse, willige Mondprinzessin verliebte. Auf dem Mond ging es hart zu; immer wieder musste der Erdling die Prinzessin retten.

Mein Großvater betrachtete den Mond. Er dachte an das adelige

Eine Tür schlug zu, Creasey verließ das kleine Haus und nahm seine abendliche Runde wieder auf. Den Ranzen hatte er nicht mehr dabei. Mit leicht steifem Schritt überquerte er mehrere Gleise und verschwand zwischen den Waggons.

Mein Großvater kletterte von der Signalbrücke. Sein Heimweg führte ihn nicht an dem Häuschen vorbei. Aber der alte Abraham in seiner Ecke des Wohnzimmers hatte richtig geurteilt: Nichts konnte man tun bei einem Bub, der eine kleine Katze in Philadelphia aus dem Fenster warf, nur um zu sehen, was mit ihr geschah.

Mein Großvater näherte sich dem Häuschen mit den vergitterten schwarzen Fenstern. Eine geschlagene Minute stand er davor und betrachtete es. Er legte das Ohr an die Tür. Neben dem elektrischen Summen hörte er ein menschliches Geräusch: ein ersticktes Geräusch, Gelächter oder Schluchzen.

Er klopfte. Das Geräusch verstummte. Das geheimnisvolle Uhrwerk des Hauses tickte. Vom Rangierbahnhof scholl das Signal angekuppelter Lokomotiven herüber, bereit, ihre lange Ladung westwärts zu ziehen. Er klopfte erneut.

»Wer ist da?«

Mein Großvater nannte seinen Vor- und Nachnamen. Nach kurzer Überlegung fügte er seine Adresse hinzu. Auf der anderen Seite der Tür folgte ein längerer Anfall, unverkennbar Husten. Als er vorbei war, hörte er eine Bewegung, das Quietschen eines Betts oder Stuhls.

Ein Mädchen spähte heraus. Sie versteckte die rechte Hälfte ihres Gesichts hinter der Tür, die sie mit beiden Händen festhielt, als sei sie bereit, sie jeden Moment wieder zuzuschlagen. Die sichtbare Hälfte ihres Kopfes war ein Filz wasserstoffblondierter Locken. Um das linke Auge herum, unter einer zierlichen Braue, klebten

»Und?«, sagte das Mädchen. »Was führt dich hierher, Shunk Street?«

»Ich habe gesehen, dass er hier reingegangen ist«, erwiderte mein Großvater. »Dieses Arschloch Creasey.«

Es war ein Wort, das man nicht in Hörweite von Erwachsenen benutzen durfte, schon gar nicht von Frauen, doch in diesem Moment fühlte es sich passend an. Das Gesicht des Mädchens kam hinter der Tür hervor wie der Mond hinter einer Fabrikmauer. Sie musterte ihn genauer.

»Er ist ein Arschloch«, bestätigte sie. »Da hast du recht.«

Mein Großvater sah, dass das Haar auf der rechten Seite ihres Scheitels so kurz wie seins geschnitten war, als sollte jene Hälfte von Läusen befreit werden. Auf der rechten Seite ihrer Oberlippe hatte sie so viele Barthaare, dass sie einen ordentlichen Schnäuzer bildeten. Das rechte Auge unter einer dichten schwarzen Braue war ungeschminkt. Abgesehen vom Bartschatten auf beiden Seiten des Kinns schien ein unsichtbares Gesetz Männliches und Weibliches in ihrem Gesicht gleichmäßig verteilt zu haben. Auf der Straße hatte mein Großvater Berichte von Jahrmarkt-Hermaphroditen, Katzenfrauen, Affenmädchen, vierbeinigen Weibern gehört, die wie Tische bestiegen werden mussten, aber nie ein Wort

»Einmal gucken kostet einen Nickel, Shunk Street«, sagte das Mädchen. »Ich würde sagen, du schuldest mir zehn Cent.«

Mein Großvater senkte den Blick auf seine Schuhe. Sie waren kein schöner Anblick. »Komm«, sagte er und griff nach ihrem Arm. Selbst durch den Flanellstoff des Ärmels fühlte er das Fieber auf ihrer Haut.

Mit einem Ruck riss sie sich los.

»Es dauert was, bis er wieder vorbeikommt. Wir müssen uns beeilen!«, drängte mein Großvater. Seine eigenen Tanten hatten Barthaare am Kinn – na und? Ihn hatte ein Wunsch hergeführt, den er an den Abendstern geschickt hatte. »Komm!«

»Du bist ja komisch«, sagte das Mädchen und spähte vor die Tür, nach rechts und links. Gespielt verschwörerisch senkte sie die Stimme. »Kommst her und willst mich retten.«

Aus ihrem Mund klang es wie die hirnloseste Idee, die je einer gehabt hatte. Sie ließ die Tür offen und ging hinein, setzte sich auf ein Feldbett und zog eine harte Decke um sich. Im Licht einer flackernden Kerze, die auf einem umgedrehten Deckel stand, glänzte eine Tafel mit schwarzen Schaltern und Instrumenten. Creaseys Ranzen lag vernachlässigt auf dem Boden.

»Willst du mich deinen Eltern vorstellen?«, sagte sie mit einer Stimme, die vorübergehend dafür sorgte, dass er sie nicht mochte. »Eine drogenkranke Hure mit TB

»Ich kann dich ins Krankenhaus bringen.«

»Du bist ja komisch«, wiederholte sie, diesmal liebevoller. »Du hast doch gesehen, dass ich diese Tür von innen aufschließen kann, Süßer. Ich bin hier nicht gefangen.«