Wer wir sein könnten

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»Es ist nur die Frage«, sagte Humpty Dumpty, »wer hier das Sagen hat.«

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Sprache schafft die Welt. Sie ist nie nur Abbildung von ihr, sondern bringt sie immer auch hervor. Das gilt grundsätzlich. Und das gilt erst recht für die aktuelle politische Debatte in Deutschland, die in den letzten Monaten von Sprachverrohung und Stigmatisierung geprägt war. Nach einer langen Zeit der politischen Sprachlosigkeit ist eine des politischen Brüllens und Niedermachens angebrochen. Kränkungen lösen Argumente ab, Beleidigungen werden probates Mittel der gesellschaftlichen Diskussion. Statt sich zu widerlegen, beginnt man, sich gegenseitig zu bezichtigen. Die Konsequenz ist, dass sich Milieus und Gruppen immer fester zusammenschließen und immun machen für Argumente und Interessen, die nicht ihre sind. Denn wenn man nur lange genug abgewertet und missachtet wird, erlahmen irgendwann Toleranz, Verständnis, Anteilnahme. Sich auf einen Kompromiss einzulassen, gemeinsame Ziele, mindestens eine gemeinsame Problemstellung, zu formulieren, wird dann immer schwieriger.

Wie diese sprachliche Grenzverschiebung der letzten Zeit funktioniert, der immer auch eine politische folgt – ja folgen muss, wenn Sprache Welt ist –, und was der Unterschied ist zwischen fundamentalistischem und demokratischem Sprechen, möchte ich in diesem kleinen Buch skizzieren. Und ich möchte der Frage nachgehen, wie wir eine offene, dem Menschen zugewandte, kritische und kritikfähige, streitbare und kompromissfähige Gesellschaft sein können – überzeugt davon, dass den Anfang dafür die Sprache schafft.

Im Sommer 2018 konnte man in Chemnitz beobachten, was passiert, wenn sprachliche Verrohung wirkliche wird, wenn aus politischer Jagd Jagd auf Menschen wird. Und wenn der Rechtsstaat sein Gewaltmonopol nicht mehr durchsetzen kann, dafür sich aber rohe Gewalt auf der Straße durchsetzt. Dass Innenminister Horst

Das Buch bleibt auf der Ebene der politischen Sprache. Das ist seine Grenze. Aber zu sagen, es handele nur von politischer Sprache, würde diese Grenze zu eng ziehen. Denn wie wir sprechen, entscheidet darüber, wer wir sind. Und wer wir sein könnten. Nur was wir sagen können, können wir denken. Was wir aussprechen, wird Wirklichkeit. Lobe einen Menschen, und seine Freude darüber macht ihn selbstbewusster, kritisiere ihn, und er zweifelt an sich. Erst als wir Worte für sie hatten, gab es sie: die romantische Liebe.

 

Ich benutze das Beispiel der romantischen Liebe manchmal bei Podiumsdiskussionen, wenn es um die Frage geht, ob auch liberale, progressive, linke Politikerinnen und Politiker verhunzte oder mindestens beschwerte Begriffe wie »Heimat«, »Gemeinwohl«, »Gemeinschaft«, »Patriotismus« oder sogar »Deutschland«

Ich will damit nicht leugnen, dass es ein Gefühl wie Liebe auch vor dem Zeitalter der romantischen Liebe schon gegeben hat. Und ich will auch nicht sagen, dass Liebe ein rein sprachliches Erzeugnis ist. Dieses Gefühl, füreinander bestimmt zu sein, aufeinander zu achten und achtgeben zu müssen, Innigkeit, Vertrautheit – all das hatte schon immer eine fundamentale Bedeutung für Menschen. Aber die romantische Liebe, wie wir sie kennen, gab es nicht immer. Vor allem die Literatur und Kunst – angefangen bei Shakespeares »Romeo und Julia« bis Goethes »Leiden des jungen Werthers«, von Petrarca bis Friedrich Schlegels »Lucinde« – schuf das Konzept der romantischen Liebe. Sie ist eine soziale Erfindung, eine Errungenschaft. Kein Gefühl, sondern eine »Gefühlsdeutung«, wie der Soziologe Niklas

Die neue Form der Freiheit brauchte eine neue Kategorie der Ordnung, eine Rechtfertigung, relevant zu sein, obwohl Eltern, Fürst, Gesellschaft sie noch als Verirrung einstuften. Und so wurde die romantische Liebe erfunden. Sie sortierte das Chaos. Sie stiftete Sinn. Und zwar, indem sie den geliebten Menschen überhöhte. Das Wesen der Person, seine Seele, sein Menschsein – all das war es nun, was die Liebenden füreinander einnahm und bis heute einnimmt – mit Haut und Haar. Wer er oder sie war, was sie verdiente, an wen er glaubte – das wollte

Die romantische Liebe ist ein Konzept, das stabilisiert. Allerdings nicht mehr auf der Basis eines objektiven Teilaspekts wie eines guten Elternhauses, einer reichen Mitgift, der Interessen von Familien, sondern aufgrund der Erscheinung der ganzen Person. Im Ideal der romantischen Liebe lieben wir einen Menschen, so wie er oder sie ist, mit all seinen Fehlern und Schwächen. Ja, gerade Fehler und Schwächen werden in dieser Liebe zu verehrungswürdigen Eigenheiten übersteigert. Die Übertreibung schafft die Faszination. In dem Sinn ist romantische Liebe immer total. Wir kennen den Menschen, den wir lieben, ja eigentlich gar nicht, wenn wir uns in ihn oder sie verlieben. Aber wir projizieren alles, was noch kommen mag – die gesamte Zukunft –, in das geliebte Gegenüber bzw. machen uns die Einstellungen des anderen zu eigen.

Im Spätkapitalismus leben ganze Branchen von diesem Konzept der Liebe. Popsongs behaupten, »all you need is love«; Hollywood hat eine ganze Industrie auf der filmischen Vermarktung von Liebesbeziehungen aufgebaut, kein Agentenfilm ohne Küsse, kein Kriegsdrama ohne Schmachten, kein Schmerz ohne Herz; Kosmetika und Parfüms haben eine ganz eigene Bildsprache, um Verlangen darzustellen und Duftmarken des Individuellen zu prägen.

Das gilt erst recht für die Sprache der Politik. Unsere Welt ist eben nicht einfach da, und wir Politiker müssten nur angemessen oder besser erzogen über sie reden, wie der FDP-Vorsitzende Christian Lindner meint, wenn er eine »verprollte, vertrumpte Sprache« beklagt. Auch diejenigen verfehlen den Punkt, die behaupten, die CSU habe in den Sommermonaten 2018 in der politischen Auseinandersetzung mit der CDU in der Sache

In der Politik ist Sprache das eigentliche Handeln. Ganz buchstäblich. Indem Eide geschworen oder Verfassungen und Gesetze beschlossen werden, tritt eine neue Wirklichkeit in Kraft. »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben«, hebt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland an. Mit dem Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung »Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit« waren diese Wahrheiten in den Vereinigten Staaten ausgemacht. Und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bekamen sie universalen Anspruch: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind

Auch in der konkreten Auseinandersetzung eines verunsicherten Deutschlands ist Sprache Politik und Politik Sprache. Mehr noch: Die letzten drei Jahre – und vor allem der Sommer 2018 – machten die Sprache selbst zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung.

Lange schien vergessen, was wir eigentlich alle wissen: dass Sprache in der Politik keine Stilfigur ist und ihre Analyse nicht nur etwas für Linguisten und Politikwissenschaftler, sondern dass sie selbst den Inhalt von Politik ausmacht. Der politische Rechtsruck macht sich zuallererst an der Sprache fest. AfD-Radikale wie der Brandenburger Parteivorsitzende Andreas Kalbitz beschrieben beim sogenannten Kyffhäusertreffen 2018 die AfD als »Totengräber der fauligen Reste dieser 68er-Zersetzung« und sprachen von einem »am Boden liegenden, entmerkelten Rest einer Nation«. Für die stellvertretende AfD-Chefin Beatrix von Storch ist Angela Merkel die »größte Rechtsbrecherin der deutschen Nachkriegsgeschichte«. Alice Weidel, die Fraktionsvorsitzende der AfD, twittert von »Zensurgesetzen« und der »Unterwerfung unserer Behörden vor den importierten, marodierenden, grapschenden, prügelnden, Messer stechenden Migrantenmobs, an die wir uns gefälligst gewöhnen sollen«. AfD-Landesvorsitzende

Auch ohne genauere Analyse bemerkt man, dass dies eine andere Sprache ist, als sie bisher im demokratischen Streit gesprochen wurde. Und ich möchte mit diesem Buch einen Beitrag dazu leisten, zu verstehen, was genau an dieser Sprache anders ist und wie sich durch sie die Politik selbst verändert.

Ja, auch die Sprache linker Politik ist bei Weitem nicht immer nüchtern und ausgewogen. Sie ist oft bevormundend und manchmal ausgrenzend. Noch häufiger ist sie schlicht gedankenlos und blutleer. Im schlimmsten Fall übernimmt sie einfach rechte Sprachbilder. Und das schließt mich selbst ein. Wenn man den ganzen Tag reden muss und im Innenkosmos der Politik ist, unterlaufen einem Fehler, Gedankenlosigkeiten. Man wird hingerissen, selbst ab und zu mal deftig sprachlich auszuteilen. Ich werde auch dieser linken Sprachschwäche nachgehen und versuchen nachzuzeichnen, welchen Anteil sie am Erstarken des Rechtspopulismus und der Neuen Rechten hat. Am Ende jedoch geht es mir darum, eine Perspektive aufzuzeigen, eine sprachliche, eine politische. Deshalb dieses Buch. Deshalb dieses Buch jetzt.

Politik steht nie still. Immer gibt es etwas zu tun, etwas zu ändern, etwas zu debattieren. Erst wenn Menschen sich nicht mehr ändern würden, die Zeit stillstünde, es keine Veränderungen und keinen Fortschritt mehr gäbe, müssten wir uns nicht mehr vergewissern, wer wir sind, wer wir sein könnten und wer wir sein wollen. Das ist weder erstrebenswert noch wäre es besonders lustig. Die Verheißung des Paradieses auf Erden ist eigentlich ein Fluch. Goethe hat das erkannt. Wenn Faust zum Augenblick sagen kann: »Verweile doch, du bist so schön«, gehört seine Seele dem Teufel. Der Himmel ist nur für Engel da. Und die sind geschlechtslos.

Also ist Politik Auseinandersetzung und Meinungsringen um die gesellschaftliche Wirklichkeit. In der Politik ist Sprache kein politisches Instrument neben anderen. Es gibt faktisch keine Politik vor und jenseits der Sprache. Wie in der Politik etwas gesagt wird, entscheidet, was in der Politik gedacht und was gemacht wird.