Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2019
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ISBN Printausgabe 978-3-499-12743-4 (1. Auflage 1994)
ISBN E-Book 978-3-644-00435-1
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«Freiheits-Statue in der Sonne. Paß; Gepäck; Interview (‹Herald Tribune›), noch mehrere Gespräche. Old New York.» Als Klaus Mann am 25. September 1938 im Hafen eintrifft, kennt er bereits das Ritual: Er ist nicht das erste Mal in den Staaten. Diesmal jedoch ist sein Aufenthalt unbefristet – Amerika wird zur nächsten Station seines Exils. Die Jahre, in denen die in diesem Band gesammelten Essays und Reden entstanden, sind gekennzeichnet von dem verzweifelten Versuch, eine neue Heimat zu finden.
«Unsere Bewährungspflicht», mit diesem programmatischen Artikel für eine Exilzeitung wird der Band eröffnet. Der Antifaschist Klaus Mann, der in Reden und Schriften zum Kampf gegen die Nazis aufruft, wirbt zugleich im Ausland für das andere, das bessere Deutschland. Er setzt seine Arbeit als Vermittler fort: Den Lesern der «Washington Post» stellt er wichtige Autoren und Werke der deutschen Exilliteratur vor, und den Emigranten gibt er Tips, wie sie am besten im fremden Land heimisch werden: «Es ist ratsam, sich in ein amerikanisches Mädchen zu verlieben. Es ist notwendig, die Bedeutung der großen Football-Spiele und der endlosen Comic-Serien zu begreifen.» Dieser lockere, feuilletonistische Tonfall ist eher selten; die Zeiten sind zu ernst für harmlose Plaudereien. Die politischen Ereignisse überschlagen sich: Am Tag seiner Ankunft in New York eilt Klaus Mann nachmittags zu einer Großkundgebung in den Madison Square Garden. Die Situation ist zum Zerreißen gespannt: «Between Peace and War», notiert er in seinem Tagebuch. Zwei Tage später stürzt ihn das Münchner Abkommen in die «tiefste politische Depression». Hitler triumphiert, die Demokratien versagen; weitere Niederlagen und Enttäuschungen folgen, bis mit dem Kriegsbeginn im September 1939 sich endlich die Fronten klären.
«Wie kann die deutsche Kultur das Exil überleben?» fragt Klaus Mann im Mai 1939 vor dem PEN-Kongreß. «Wir haben uns der kulturellen Atmosphäre unserer Gastländer dankbar anzupassen und dürfen doch den innigen Kontakt zur tragischen Heimat nicht verlieren.» Nach sechs, sieben Jahren fällt dies immer schwerer. Die Hoffnung, in absehbarer Zeit zurückkehren zu können, hat sich als trügerisch herausgestellt; die Emigranten müssen sich in der Fremde einrichten, wo ihnen oft Mißtrauen, manchmal Feindschaft entgegenschlägt, ihrer literarischen Arbeit jedenfalls wenig Interesse entgegengebracht wird. Isoliert und ohne Resonanz, resignieren auch einstmals prominente Autoren und vermögen keinen Sinn mehr in ihrer Existenz zu sehen. Schriftsteller-Kollegen, darunter viele, die Klaus Mann nahestanden, scheiden aus dem Leben; besonders erschüttert ihn der Freitod Ernst Tollers. Der fruchtbare Kontext der Exilliteratur und –publizistik, in dem Klaus Mann in den vergangenen Jahren eine entscheidende Rolle gespielt hatte, löst sich zunehmend auf. Es fehlt zum einen die ökonomische Basis: In Europa, als noch nicht der «Anschluß» Österreichs erfolgt war, Hitlers Truppen noch nicht die Nachbarländer besetzt hatten, gab es einen – wenn auch eingeschränkten – Markt für deutsche Literatur, der jetzt nicht mehr vorhanden ist. Zum anderen werden die Gräben zwischen den politischen Lagern immer tiefer.
Während die Opposition in Deutschland als Untergrundbewegung operiert, weist Klaus Mann den Emigranten die Aufgabe zu, die Situation theoretisch abzuklären und die Grundlagen einer zukünftigen deutschen Demokratie zu formulieren. Der Kampf ist noch längst nicht entschieden, der Krieg erst im Anfangsstadium, da macht er sich bereits Gedanken, wie eine Republik nach dem Sturz Hitlers aussehen könnte. Tatsächlich existieren in den Emigrantenkreisen höchst unterschiedliche Vorstellungen über Deutschlands Zukunft, und anders als früher ist Klaus Mann nicht länger bereit, aus taktischen Gründen diese Differenzen zu verschweigen. Er kommt zu dem ernüchternden Fazit, daß ein politischer Konsens zwischen den verschiedenen Gruppierungen nicht besteht und die Volksfront «für die deutschen Exilierten niemals politische Realität» gewesen ist.
Der Nichtangriffspakt, den Hitler und Stalin am 23. August 1939 schließen, spaltet die Antifaschisten noch tiefer. Für viele Emigranten bricht eine Welt zusammen: Der «moralische Schock» dieser unheiligen Allianz wirkt, wie Klaus Mann in seinem Tagebuch vermerkt, «ideologisch niederschmetternd». Er selbst empfindet die sowjetische Politik als «riskantes und zynisches diplomatisches Spiel» des Kreml, weigert sich jedoch, vorschnell politische Statements abzugeben. Dieses Ausweichen vor einer eindeutigen Verurteilung Stalins wird ihm von der bürgerlichen Presse übelgenommen; während er sich immer stärker von den Kommunisten distanziert, sieht er sich zugleich bösen Verleumdungen als Stalin-Knecht ausgesetzt. Die öffentlichen Erklärungen, mit denen er sich zur Wehr setzt, sind in diesem Band nachzulesen. Wie sehr ihn diese Auseinandersetzungen auch privat beschäftigten, steht im Tagebuch: Mit den «peinigenden Zänkereien in der deutschen Emigration» will der engagierte Autor immer weniger zu tun haben, und manche Freundschaft aus alten Tagen geht über diese Fragen in die Brüche. «Am Schluß wird man mit sämtlichen alten Bekannten – oder doch mit allen Deutschen auseinander sein», notiert er in seinem Tagebuch und fügt trotzig hinzu: «Mir solls recht sein.»
Sind die Emigranten untereinander schon zerstritten, so läßt sich ein Kontakt zur Heimat kaum noch herstellen. Klaus Manns Aufruf «An die Schriftsteller im Dritten Reich» erreicht nicht seine Adressaten: Der Plan, diesen Text als Broschüre zu drucken, nach Deutschland einzuschmuggeln und den Kollegen innerhalb des Reiches zuzustellen, erweist sich als illusorisch. Klaus Mann hat für die Schublade geschrieben. 1939 erscheinen zwei Bücher von ihm: der Roman «Der Vulkan», publiziert im Amsterdamer Querido-Verlag, und das gemeinsam mit Erika Mann geschriebene Sachbuch «Escape to Life», verlegt bei Houghton Mifflin in Boston. Von dem einen Buch, zweifellos eines der bedeutendsten Werke der Exilliteratur, werden gerade mal 300 Exemplare verkauft, während von dem anderen, einer eher journalistischen Arbeit, gleich nach Erscheinen eine Neuauflage notwendig wird. Der Autor zieht die Konsequenzen, er verwirklicht den zweiten Teil seiner Forderung vor dem PEN-Kongreß: Anpassung an die kulturelle Atmosphäre des Gastlandes.
Weiterhin beschäftigt ihn die europäische Kultur, erneut widmet er sich dem Werk von Jean Cocteau und André Gide, von Franz Kafka und Stefan Zweig, doch neben die vertrauten Themen und Vorlieben tritt ein neues Interesse: die amerikanische Gegenwartsliteratur. Klaus Mann liest und rezensiert Gertrude Stein, Carson McCullers und Henry Miller. Er will sich assimilieren und faßt einen Entschluß, der Folgen für die eigene literarische Produktion hat: Nunmehr schreibt er englisch. (Anfangs hatte er seine Texte und Vorträge aus dem Deutschen übersetzen lassen oder sie zumindest deutsch konzipiert.) Die neuen Arbeiten sind – nicht nur, weil der Markt es verlangt – vornehmlich essayistischer Natur: Die fremde Sprache steht ihm noch nicht so zur Verfügung, daß er sich an größere erzählerische Versuche wagt. «Quälendes Gefühl der Unsicherheit. Plötzlich ist man wieder ein Anfänger: Jeder Satz bereitet Kopfzerbrechen», heißt es in der Autobiographie «Der Wendepunkt». Viele Tagebucheintragungen handeln vom «Kampf mit der englischen Sprache», und oft ist der Autor nahe daran zu verzweifeln. Politisch fühlt er sich isoliert, persönlich vereinsamt – «die Tatsache, daß ich englisch schreiben muß – fremde Sprache –, steigert noch dies unsägliche Gefühl … » Aber es gibt auch Erfolgserlebnisse. «Schreibe jetzt fast ausschließlich englisch, und es macht mir Vergnügen, wie es besser wird», bemerkt er mit Genugtuung Anfang Dezember 1939 und listet eine ganze Reihe von Artikeln auf, die ihm trotz der Sprachproblematik geglückt erscheinen. Und nennt im gleichen Atemzug ein neues Projekt: «Am meisten aber beschäftigt mit der Idee, oder schon mit den Vorbereitungen, zu der Monatsrevue.»
Klaus Mann gründet wieder eine Zeitschrift, doch anders als «Die Sammlung» plant er diesmal kein Forum der Emigranten: «Decision» ist eine literarisch-politische Monatsschrift, die dem amerikanischen Leser Leitartikel und Essays, Lyrik, Erzählungen und Gedichte, Film- und Theaterbesprechungen bietet. Der Start ist verheißungsvoll: Prominente Namen aus der internationalen Literaturszene wie Sherwood Anderson, Wystan H. Auden, Julien Green, Somerset Maugham, Stefan Zweig und Thomas Mann zieren das «Board of Editorial Advisors»; zu den Mitarbeitern der ersten Hefte zählen Aldous Huxley, Bruno Walter, Upton Sinclair, Erich von Stroheim und Heinrich Mann. Die Zeitschrift stößt auf Resonanz in den Medien: Columbia Broadcasting gibt dem Herausgeber Gelegenheit, «Decision» im Rundfunk vorzustellen, während im Nachrichtenmagazin«Time» die Geburt des neuen Periodikums als «Begräbnis» tituliert wird: Die erste Nummer bestehe «hauptsächlich aus traurigen Erinnerungen, gequälten Versen und wirren Selbstzweifeln». Zu Recht ärgert sich Klaus Mann über die boshafte Annotation, doch deutet sich hier schon an: Das hohe intellektuelle Niveau des Blattes wird von den amerikanischen Lesern nicht honoriert, sondern wirkt eher abschreckend.
Die Druckauflage beträgt 5000 Exemplare, davon gehen 2000 an Abonnenten, 1000 Stück werden am Kiosk verkauft. Zuwenig: Eine tragfähige Basis ist dies nicht. Klaus Mann hat sich in ein Abenteuer gestürzt, das von Anfang an auf schwachen Füßen steht. Schon das dritte Heft der Monatsrevue läßt sich kaum noch finanzieren: Der Herausgeber muß Schulden machen. Weit anstrengender als die redaktionelle Arbeit ist der Besuch von Cocktail-Parties, auf denen sich Klaus Mann um Geldgeber für seine Zeitschrift bemüht: demütigende Gespräche, peinliche Szenen, oft nicht einmal von Erfolg gekrönt. Er schreibt Bettelbriefe, läßt sich mit einem «dummen Geldsack» ein – vergebens. Er schnorrt das Geld für die Druckerei-Rechnungen bei Freunden zusammen, doch solche Rettungsaktionen bringen höchstens etwas Aufschub: Die Existenz der Zeitschrift ist gefährdeter denn je. In seiner Not wendet er sich an den Vater, der sich 1500 Dollar abringen läßt – «für die letzte Nummer oder zur Liquidierung». Lange Zeit will Klaus Mann sich nicht eingestehen, daß sein Unternehmen ein Fiasko ist. Die Hefte erscheinen immer später oder müssen als Doppelnummer ausgegeben werden. Mit dem ersten Heft des zweiten Jahrgangs kommt zugleich das Ende von «Decision».
In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Scheitern des Projekts «Decision» steht der erste Selbstmordversuch Klaus Manns. «The Last Decision» ist ein undatiertes Typoskript überschrieben: eine Art Presseerklärung, zu veröffentlichen nach dem Tod des Verfassers. (Das erschütternde Dokument wurde hier aufgenommen, weil es sich nicht um einen privaten Abschiedsbrief handelt: Der Text war für die Öffentlichkeit bestimmt.) Es ist ein niederschmetterndes Fazit, das der Autor nach seinen Erfahrungen zieht: Die Utopie Amerika, die einst der Dichter Walt Whitman besang, Klaus Mann kann an diese Vision nicht mehr glauben. «Was ich sehe, sind Überheblichkeit und Ignoranz, Habgier und Eitelkeit», und zwar in beiden politischen Lagern. Die Intellektuellen stehen auf verlorenem Posten. «Wenn ich mich zwischen den finsteren Prophezeiungen von Dr. Paul Joseph Goebbels und Henry Luces verwegenem Traum eines ‹amerikanischen Jahrhunderts› entscheiden muß, begehe ich lieber Selbstmord.» Klaus Mann machte Ernst – diesmal rettete ihn noch sein Redakteur Christopher Lazare, doch die Krankheit zum Tode hatte sich längst eingenistet.
An Deutschland denkt er, wie er im Tagebuch gesteht, nur noch mit «Abscheu». Zwar schreibt er, zusammen mit Schwester Erika, das Sachbuch «The Other Germany», doch wirklich überzeugt von dem besseren Deutschland ist er nicht mehr. Von marxistischen Heilslehren hat er längst Abschied genommen: Die Politik der Sowjetunion, so wichtig das Land auch als Bündnispartner im Kampf gegen Hitler sein mag, ist ihm seit dem Nichtangriffspakt und dem Überfall der Roten Armee auf Finnland suspekt. Die Faszination Amerika – einst hatte er ausgerufen: «Ich liebe dieses Land» – hält der Realität nicht stand. Der engagierte Zeitgenosse Klaus Mann, der mit Leidenschaft und Verve für seine Überzeugungen eintrat, ist desillusioniert und orientierungslos. Er steht vor dem Nichts – und rettet sich aus der Depression durch Arbeit: Fast parallel entstehen «The Turning Point», die erste Fassung der Autobiographie «Der Wendepunkt», sowie die Monographie über André Gide.
«Aus einem Tagebuch» ist das elfte Kapitel vom «Wendepunkt» überschrieben, doch dies ist eine literarische Fiktion: In Klaus Manns erhalten gebliebenen Tagebüchern klafft zwischen Februar 1941 und März 1942 ein großes Loch, die entsprechenden Texte für den «Wendepunkt» wurden offenbar später formuliert. So wird in der Autobiographie die Leidensgeschichte von «Decision» souveräner und abgeklärter geschildert, als der betroffene Zeitschriftengründer sie damals erlebt hat. Vom Selbstmordversuch findet sich nicht einmal eine Andeutung – und das Ende der Zeitschrift wird mit Bedauern, aber gefaßt unter dem Datum 31. Januar 1942 notiert. Die Eintragung schließt: «Ich will in die Armee. Ich will Uniform tragen wie die anderen. Ich will kein Außenseiter, keine Ausnahme mehr sein.»
Dies erscheint ihm nachträglich als der Wendepunkt in seinem Leben: nicht länger lediglich «Kommentator, Warner, Propagandist und Kritiker» sein, sondern sich direkt und unmittelbar am Krieg gegen Hitler beteiligen. Eigentlich Pazifist, hat er diese Möglichkeit schon vor Jahren in Betracht gezogen – und für sich verworfen. Daß er sich nun geradezu nach dem Dienst mit der Waffe sehnt, ist auch Ausdruck seiner Verlassenheit: Nichts wünscht er mehr, als in einer großen Gemeinschaft geborgen zu sein. Aus seinen privaten und finanziellen Schwierigkeiten flüchtet er in die Armee. Der Mutter schreibt er, daß er sich «lieber von den Sergeanten als von den Redakteuren und meinen Gläubigern schikanieren lassen will». Der Krieg sei leichter zu ertragen, wenn man sich dem «Apparat» zur Verfügung stelle. «Es war wohl immer eine Illusion von uns, zu glauben, daß wir, als wir selber – nämlich als Erzeuger oder Übermittler kulturellen Gutes – uns in einem so stumpfsinnigen und brutalen Unternehmen nützlich machen könnten.» Die Bilanz Klaus Manns ist bitter: Derzeit dürfte es wohl kaum viel Verwendung geben für das, was er als «Message» zu verkaufen habe. «Darum bin ich so pleite.»
Fast ein Jahr muß der Antragsteller warten. Sein Einbürgerungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen, bei der militärärztlichen Untersuchung fällt er zunächst durch. Es sind vorgeschobene Gründe – die Behörden zögern seinen Fall bewußt lange hinaus. Das FBI bespitzelt den Schriftsteller, der als Kommunistenfreund und perverser Schwuler in den Geheimdienstakten geführt wird. Klaus Mann, der davon nichts ahnt, setzt alle Hebel in Bewegung, wird abermals abgewiesen, gibt trotzdem nicht auf und hat schließlich Erfolg: Am 14. Dezember 1942 erhält er den Einberufungsbescheid, drei Wochen später trägt er die Uniform der US Army. Ein neues Leben beginnt.
Hamburg/Frankfurt, im November 1993
Uwe Naumann/Michael Töteberg
Soll die Entscheidung durch schwere Artillerie und Bombenflugzeuge herbeigeführt werden, der Geist aber wäre ausgeschaltet? – Keineswegs, und sehr im Gegenteil! Je mehr die Situation sich zuspitzt, je dramatischer und näher der finalen Katastrophe sie ist, desto bedeutungsvoller wird die Funktion des antifaschistischen Schriftstellers, und des deutschen antifaschistischen Schriftstellers im besonderen. Gerade jetzt, und mehr denn je, tut es not, der Welt und unserem Volk zu beweisen, daß es ein «anderes Deutschland» gibt – und daß es sich tätig bemüht. Da unsere Kameraden im Reiche zu dieser Stunde noch stumm bleiben müssen oder nur im Verborgenen reden dürfen, liegt bei uns, den deutschen Intellektuellen im Exil, die ungeheure Verantwortung, die große Verpflichtung. Wir haben uns zu bewähren, vor unserem Volke wie auch vor der Welt.
Fast sechs Jahre hatten wir nun schon Zeit dazu. Wir dürfen feststellen, daß sie nicht ganz schlecht genutzt worden sind. Natürlich sind nicht nur Meisterwerke entstanden ; nicht alle deutschen Schriftsteller im Exil sind Genies – so viele Genies gibt es ja gar nicht. Aber mancherlei Schönes wurde hervorgebracht, unter welch abnorm erschwerten Bedingungen! Darunter auch einige Schöpfungen ersten Ranges. Eine große Diskussion wurde, wenn auch nicht zu Ende geführt, so doch eingeleitet. Auch Fehler sind vorgekommen, Mißverständnisse blieben nicht aus. Manche erlahmten; andere gaben gerade während dieser schweren Jahre ihr Bestes.
Alles in allem: müssen wir uns schämen vor unserem Volke oder vor der Welt? Ich glaube kaum, daß hierzu Anlaß ist. Andererseits wäre Stolz ebenso dumm wie gefährlich. Wir halten uns nur, wenn wir uns täglich sagen: «Genug ist nie genug!» – Spannen wir unsere Kräfte! Geben wir das Äußerste – es ist nicht der Augenblick, um mit sich zu sparen.
Denn die Auseinandersetzung, in deren Mitte wir uns schon befinden, ist vor allem eine Auseinandersetzung der Geister. Wir sind an ihr beteiligt – nicht nur als Zuschauer; nicht nur, vielleicht, als Opfer; sondern als Handelnde, sondern als Kämpfer. Unser Wort ist Beitrag – mag es auch scheinbar von entlegenen Dingen handeln. Eines Tages wird alles geprüft und gewogen werden, was wir heute schreiben, von unserem Volke und von der Welt. Unser Ehrgeiz sei, daß künftige Geschlechter von uns sagen sollen: Als es ums Ganze ging und alles drauf ankam – da haben auch sie, die deutschen Schriftsteller im Exil, ihre Pflicht getan.
Ein Literaturbericht für amerikanische Leser
Man kann der deutschen Literatur im Exil allerlei Unfreundliches nachsagen – und in der Tat gibt es kaum eine Beschimpfung, die von den Goebbels-Journalisten des Dritten Reiches nicht gegen sie vorgebracht worden wäre –; aber man kann nicht von ihr behaupten, daß sie monoton, gleichförmig, nicht abwechslungsreich genug sei. Sie bringt sicher nicht immer nur das Vollkommene; aber sie ist lebendig, und, wie alles wahrhaft Lebendige, hört sie nicht auf, Überraschungen zu bereiten.
Eine solche Überraschung ist der erste Roman von Ödön von Horváth – eines noch jungen Autors ungarischer Abstammung –, «Jugend ohne Gott» (Verlag Allert de Lange, Amsterdam). Horváth war dem deutschen literarischen Publikum bis jetzt nur als Dramatiker bekannt: für eines seiner Stücke – «Geschichten aus dem Wienerwald» –, das im Berliner Deutschen Theater gespielt wurde, war er mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet worden. Seine erste größere Prosa-Arbeit hat alle geheimnisvollen Eigenschaften und Reize der wirklichen Dichtung. Die gottlose Jugend, die der tragische Kollektiv-Held seines Buches ist, hat keine Ideale, keinen Glauben mehr – ein materialistisches Zeitalter hat ihr die Ideale, den Glauben genommen –, und der Faschismus hat ihr keinen Ersatz für die verlorene Religiosität gegeben, sondern nur die Gewaltanbetung und die Brutalität als Prinzip. Die Jugend ohne Gott ist sowohl traurig als auch böse; sie ist grausam und melancholisch. Diese jungen Menschen haben kein Vertrauen: weder zueinander noch zu den Älteren. Die trostlose und gefährliche Jugend, die Horváth meint und beschreibt, ist die faschistische Jugend, die Jugend des Dritten Reiches. Aber das Politische selber kommt in dieser Erzählung – die durchaus Poesie und durchaus nicht Reportage ist – nur indirekt vor. Die politische Tendenz des Buches – die Anklage gegen den Faschismus – ist nur zwischen den Zeilen zu lesen. Der sehr einfache, persönlich geprägte, suggestive Stil des Buches hat Elemente des Märchenhaften, Legendären. Auch eine erregende Kriminalgeschichte, die die äußere Handlung beherrscht – die Mordtat eines Knaben und alle Verwicklungen, die sich aus ihr ergeben – hat, bei aller Plastik der Darstellung, etwas merkwürdig Gespenstisches, Traumhaftes. Das tiefe Grauen, das Horváth im Leser zu erzeugen weiß, ist dem verwandt, das manche Erzählungen deutscher Romantiker, etwa von E.T.A. Hoffmann oder Tieck, für immer in uns zurücklassen. Die Wirkung der zeitkritischen, ja, politisch-polemischen Elemente, die Horváths originelle Prosa-Dichtung enthält, wird durch diese intensive Lyrik des Vortrages nicht abgeschwächt, sondern bedeutend erhöht.
Während Horváth das Gegenwärtige in eine Sphäre des Traumhaften entrückt, unternimmt es ein anderer hochbegabter junger deutscher Romancier, Hermann Kesten, die Historie mit den Mitteln einer modernen Psychologie neu zu beleben und feierlich erstarrte, fast schon legendär gewordene Figuren und Situationen so darzustellen, als handele es sich um Gegenwärtiges, Heutiges. Hermann Kesten – der unter allen jungen deutschen Erzählern vielleicht die brillanteste, pointierteste, geistvollste Prosa schreibt – hatte seinen Witz und sein moralisches Pathos (denn er ist ein witziger Moralist) zunächst an modernen Stoffen bewährt: etwa in den Romanen «Joseph sucht die Freiheit» und «Der Scharlatan». Erst in der Emigration wandte er sich den historischen Themen zu: Vielleicht weil ihm die Gegenwart zu traurig schien, um angesichts ihrer witzig zu sein, und zu gemein, als daß moralische Entrüstung über irgendwelche Details noch sinnvoll gewesen wäre. Einem großen Roman «Ferdinand und Isabella» läßt er nun – in der bizarren und grausamen, feierlichen und grotesken Sphäre spanischer Geschichte bleibend – ein dickes Buch, «König Philipp II. von Spanien» (Verlag Allert de Lange, Amsterdam), folgen. Die Aufgabe, die er sich diesmal gestellt hat, ist eine enorme – um es nur gleich zu sagen, es ist eine übermäßig gewaltige. Es ist gar zu viel: Kesten scheint zuweilen ersticken zu müssen an der Riesenfülle des Stoffes, den erzählerisch zu gestalten er sich vorgenommen. Die Abdankung und das seltsame Klosterleben Karls V.; Philipps verschiedene Ehen – darunter die mit der Königin von England, der Vorgängerin und Schwester der Elisabeth –, seine großen Liebesaffären, seine großen Intrigen, seine Kriege, Siege, Niederlagen; die Tragödie des Infanten Don Carlos; die Tragödie des Grafen Egmont, das Heldentum des Wilhelm von Oranien, die Inquisition, der Abfall der Niederlande: das ist nur eine zufällige, unvollständige Auswahl aus dem ungeheuren Themen-Komplex, der die epische Materie dieses Romans ist – und jedes einzelne dieser Themen würde doch als Gegenstand für eine historische Erzählung großen Formats vollauf genügen. In der phantastischen, verwirrenden, atemberaubenden Fülle der Geschehnisse und Figuren, die Kesten beschwört, will er immer nur eines aufzeigen: das allgemein Menschliche; das tausendfach abscheulich triumphierende Böse – und das zuweilen schüchtern sich hervorwagende, manchmal heroisch sich bewährende Gute. Das Gute kommt seltener vor als das Böse, welches sich in unzähligen bunten und schrecklichen, finsteren und grotesken Formen präsentiert. Der Erzähler – scheinbar kalt, ironisch, unbeteiligt; oft sogar mit einem etwas diabolischen Grinsen – scheint sagen zu wollen: «Seht ihr, so sind die Menschen – so blutdürstig und so dumm, so ehrgeizig, so fanatisch und so verlogen –: so waren sie immer, und so werden sie bleiben. Im besten Fall sind sie komisch, meistens aber auch noch ekelhaft.» Es gibt aber in seinem kühnen und beinah großartigen Werk eine andere, heimliche, verschwiegene Melodie; einen Unterton von Schmerz, Erbarmen und Hoffnung; von Begreifen, Verzeihen – und Bessern–Wollen:und dieses keusch verhaltene, innige Pathos von Güte und echter Humanität ist es wohl, was dem geistvollen, stellenweise bewunderungswürdigen literarischen Experiment Hermann Kestens seine eigentliche Würde verleiht und was aus der großen, bunten, abenteuerlichen Chronik das menschlich rührende Dokument – die Dichtung macht.
Von dem Geist einer echten, klugen, wissenden und geistig reifen Humanität sind auch zwei andere, jetzt erschienene Bücher erfüllt – die insofern eine gewisse Verwandtschaft miteinander haben, als beide kürzere, bis jetzt nur in verstreuter Form publizierte Arbeiten ihrer bedeutenden Autoren aus vielen Jahren repräsentativ zusammenfassen. «Aus vielen Jahren» nennt Bruno Frank – Dramatiker, Lyriker und Romancier – eine Kollektion seiner besten Novellen und Verse (Querido-Verlag, Amsterdam); «Begegnungen mit Menschen, Büchern und Landschaften» ist der Titel, den Stefan Zweig einem gewichtigen Sammelband gibt, in dem er eine Auswahl all seiner kürzeren, in drei Jahrzehnten entstandenen Essays dem Publikum vorlegt (Reichner-Verlag, Wien). Beide Werke geben von den Möglichkeiten, dem geistigen Reichtum ihrer Autoren den schönsten, klarsten Begriff, weil beide nur das wahrhaft Gültige, Dauerhafte, sittlich und formal durchaus Reine aus dem Lebenswerk dieser Schriftsteller enthalten. Es erscheint mir auch als gut und bedeutungsvoll, daß Bruno Frank und Stefan Zweig – beide, für den Augenblick, in ihrer deutschen Heimat mißachtet, beschimpft, verboten – gerade jetzt mit diesen zwei wahrhaft repräsentativen Bänden die Legitimität und Stärke ihres Künstlertums und ihrer Gesinnung eindrucksvoll beweisen.
Auf dem Gebiet der Novelle hat Bruno Frank schon als junger Mensch exzelliert, und es führt eine deutliche, reine Linie von seiner früh geschriebenen, rührenden und artistisch vollkommenen Erzählung «Der Goldene» über die drei berühmten Geschichten um die Figur Friedrichs des Großen von Preußen – «Die Tage des Königs» – bis zu der letzten, meisterhaft knappen Arbeit «Die Monduhr», die von dem gleichen Geist erfüllt ist, der seit eh und je die Bücher Franks charakterisiert: dem Geist einer echten Sympathie für alles Menschliche – oder, um es präziser zu sagen: für alles Lebendige –, der jedoch nie in Gefahr kommt, die Sphäre des vulgär Sentimentalen auch nur zu streifen: Denn hier handelt es sich nicht nur um einen liebenden Geist, sondern auch um einen skeptischen; um eine voltaireianische Natur eher als um eine franziskanische.
Mit der ganzen inneren Struktur und besonderen Prägung der geistigen Persönlichkeit von Stefan Zweig hängt es zusammen, daß er immer dann am meisten «er selber» ist, wenn er von anderen – und gerade auch, wenn er von anderen Künstlern spricht. Die außerordentliche Fähigkeit zur Einfühlung in fremde Schicksale und Naturen, die ihm eigen ist, hat ihn zu einem der erfolgreichsten Biographen der Epoche gemacht; die angeborene und geübte Sensibilität, mit der er den Gedanken und die Form anderer Schriftsteller begreift und deutet, macht ihn zum literarischen Essayisten und Kritiker ersten Ranges. Sein großes, wunderbar plastisches und klares Portrait des belgischen Dichters Verhaeren, etwa, das der Band enthält, ist ein klassisches Stück deutender Prosa. Dasselbe gilt von den Versuchen über Arthur Rimbaud, Sainte-Beuve, Balzac oder Henri Barbusse. Übrigens bewährt sich diese kostbare Gabe der geistigen Aufgeschlossenheit und Bereitschaft keineswegs nur an literarischen Gegenständen, sondern auch, wenn es sich um sehr andere Themen, etwa um den Rhythmus der Stadt New York oder um das musikalische Genie Toscaninis handelt. Von der schier unerschöpflichen Vielfalt der Phänomene, an denen der empfängliche, tolerante, im schönsten Sinn des Wortes gebildete Geist dieses Österreichers sich entzückt, gibt der reiche Essay-Band – die Ernte aus drei Jahrzehnten – einen Begriff.
Die Formel «vertrauender Humanismus» bedeutet: daß man den guten Glauben an die Menschheit und an ihre Zukunft nicht verlieren soll, nicht verlieren darf- trotz aller Skepsis, trotz allem bitteren Wissen um Schlechtigkeit und Torheit der Menschennatur. Das Bekenntnis zum «vertrauenden Humanismus» findet sich auf einer der letzten Seiten des neuen, äußerst interessanten, lesenswerten Buches von Konrad Heiden «Europäisches Schicksal» (Querido-Verlag, Amsterdam). Heiden, der erst in den letzten Jahren – also erst während der Jahre des Exils – durch seine «Geschichte des Nationalsozialismus» und seine beiden Bücher über Hitler berühmt geworden ist, beschäftigt sich diesmal nicht, wie in seinen früheren Arbeiten, mit irgendwelchen historischen oder tagespolitischen Details; vielmehr mit «dem Menschen», und zwar mit dem Menschen von heute – mit seiner problematischen Gegenwart und seiner problematischen Zukunft, mit den Gefahren, die ihm drohen, und mit den riesenhaften Möglichkeiten, die ihm, immer noch, offenbleiben. Im Zentrum der Betrachtung steht eigentlich nicht so sehr das isolierte «europäische Schicksal» – wie der Titel glauben lassen könnte –, sondern das Schicksal und das Problem der planetarischen Masse, die Heiden durchaus als ein unteilbares, auf Gedeih und Verderben miteinander verbundenes Ganzes erkennt. Gerade an dieser Psychologie und Soziologie des modernen Massen-Menschen zeigt sich – wie übrigens auch noch an anderen Stellen –, daß Konrad Heiden – seiner primären Anlage nach wohl eher ein historisches und politisches als rein spekulatives, philosophisches Talent – das berühmte Werk des Spaniers Ortega y Gasset «Der Aufstand der Massen» nicht ohne Gewinn gelesen hat. Indessen findet sich in der Vielfalt seiner moralischen, soziologischen, politischen oder psychologischen Betrachtungen doch auch mancherlei, was neu ist – oder doch in diesem Zusammenhang, in solchem Lichte neu – und was eine gute, nützlich klärende Wirkung üben könnte. Am glücklichsten und eindrucksvollsten werden Heidens Formulierungen immer dort, wo von dem so sehr aktuellen Themen-Komplex Freiheit und Zwang, Persönlichkeit und Anarchie die Rede ist. Die Frage nach der Beziehung des einzelnen zur Gesellschaft – und der Gesellschaft zur Natur – beschäftigt den Autor fortwährend: er führt sie wie ein Leitmotiv durch die intellektuelle Komposition seines Buches.
Sein soziologisch-philosophisches Traktat – auf dessen mannigfache Einzelheiten ich mich hier, weder zustimmend noch polemisierend, einlassen kann – ist ein redlicher, gescheiter und wertvoller Beitrag zu der großen Diskussion, die nie aufhört und die in Jahren der Entscheidung, der welthistorischen Krise sich intensiviert: ein Beitrag, meine ich, zu der ewig aktuellen Diskussion um die Bestimmung des Menschenwesens auf dieser Erde. Die moralische Lehre, die den Kern der Betrachtung ausmacht, lautet: Das Schicksal des Menschen ist nicht abhängig von unentrinnbaren, «ehernen» historischen Kausalitätsgesetzen. Der Mensch muß seine bessere Zukunft wollen- und er wird sie haben. Dem Buch vorangestellt ist ein schönes Wort von Spinoza:
«Der Frieden ist nicht nur ein Unterlassen des Krieges; er ist eine Tugend, die aus der Kraft der Seele stammt.»
In meinem ersten Bericht für die «Washington Post» habe ich auf den jungen deutsch-ungarischen Romancier und Dramatiker Ödön von Horváth hingewiesen; ich rühmte Reiz und Bedeutung seines Romans «Jugend ohne Gott», der inzwischen in viele Sprachen übersetzt worden ist und über dessen Verfilmung verhandelt wird. Ödön von Horváth aber lebt nicht mehr. Er ist eines schrecklichen und sonderbaren Todes gestorben. Ein Baum auf den Pariser Champs Élysées hat ihn erschlagen. Die Nachricht klang so grauenvoll und phantastisch, daß wir – seine Freunde – sie erst nicht glauben wollten. Und doch verhielt es sich so: Der Dichter war in einer stürmischen Nacht auf den Champs Élysées spaziert; der schwere Ast eines stürzenden Baumes hatte ihn ins Genick getroffen. Bei allem Entsetzen und aller Traurigkeit spürten wir, daß dies makabre Ende auf eine unheimliche und genaue Art zu Horváth paßte. Ein Baum wird zum Mörder: Dieser schreckliche Einfall könnte von Horváth sein; er hätte das Genie und er hätte den Mut zu ihm gehabt. In seinen Büchern und in seinen Theaterstücken sind die ausgefallenen, grotesken und tödlichen Katastrophen solcher Art häufig zu finden. Ist es nicht so, daß die Dichter oft am Ende wirklich erleben und am eigenen Leibe erleiden müssen, was sie – diese spielerischen Götter – zuerst nur ausgedacht und über ihre erfundenen Geschöpfe grausam-willkürlich verhängt hatten? Es gibt strenge und mysteriöse Gesetze der Identität zwischen Person und Werk …
Ein letztes Werk hatte Horváth gerade noch abgeschlossen, ehe der Baum ihn traf. Der kurze Roman «Ein Kind unserer Zeit» (Verlag Allert de Lange, Amsterdam) bildet die innere – nicht die äußerliche – Fortsetzung der Erzählung «Jugend ohne Gott». Das vorige Mal wurden uns die Kinder im «totalen Staat»gezeigt, die den Glauben an Gott verloren haben und nichts für ihn eintauschten als den kalten Glauben an die Gewalt. Der Held des neuen Romans ist ein Teil des «totalen Staates» selber, ein aktiver Repräsentant seiner Macht: ein Soldat.
Der Soldat denkt nicht; er gehorcht. Er glaubt und er tut, was die Vorgesetzten ihm sagen und von ihm verlangen. Er ist, ohne darüber nachzudenken, davon überzeugt, daß «die Nation» wichtiger sei als der Mensch; daß die Begriffe «Recht, Freiheit und Wahrheit» veraltet und sinnlos geworden sind; daß nur die Gewalt es ist, die noch gilt. Er läßt sich vom «totalen Staat» in einen Krieg schicken, ohne nachzudenken. Millionen empfinden und handeln wie er; einigen aber kommen Zweifel, und aus dem Zweifel wächst der moralische Widerstand. Zum moralischen Widerstand entschließt sich ein Offizier, ein Hauptmann, der zunächst, als Charakter und Geist, von seinem Soldaten wohl kaum sehr verschieden war. Im Laufe jenes Krieges aber – der eigentlich nichts als ein ruchloser Raubzug ist – erlebt der Offizier die geistige Verwandlung. Er erkennt das Unrecht um sich herum; seine Erschütterung ist so groß, daß er nun nicht mehr leben kann; er muß sterben. Damit beginnen auch für den einfachen Soldaten – der diesen Hauptmann bewundert hat – die inneren Abenteuer. Äußere Verwicklungen, Begegnungen, Veränderungen kommen hinzu. Der einfache Soldat erkennt: Ich habe falsch gelebt; bis jetzt und heute habe ich in Irrtum und Sünde gelebt. Ich war im Begriffe, innerlich zu erfrieren. Denn das eigentliche Charakteristikum dieser unserer Zeit, deren Kind zu sein ich so stolz war, ist die Kälte. Wir erfrieren; denn wir haben keine Seele mehr, die uns wärmen könnte.
Der einfache Soldat ist nicht stark genug, um allein zu glühen, da er sich von so viel eisiger Kälte umgeben spürt. Aber da er sich der furchtbaren Kälte um sich herum erst bewußt geworden ist, hält er sie nicht mehr aus. Nun erfriert er wirklich und verwandelt sich in einen Schneemann – solcherart stumm protestierend gegen die kalte Zeit, deren Kind und Opfer er war.
Dem Buch ist eine schöne Einleitung von Franz Werfel vorangestellt. Als Ausklang findet sich die Rede, die Carl Zuckmayer am Grabe Horváths in Paris gesprochen hat. Die Erzählung schließt mit der Totenklage auf ihren Helden; ihr folgt der Abschiedsgruß an den Autor: Ruhe sanft, Ödön von Horváth – Kind und Opfer dieser Zeit, auch du!
Ein großer deutscher Schriftsteller, der im Ausland zuwenig Ruhm hat, ist Alfred Döblin. Mit seinem Roman «Berlin Alexanderplatz» – einer Art von genialer Variation auf «Manhattan Transfer» von Dos Passos – hatte er einen internationalen Erfolg. Seine anderen Bücher sind außerhalb des deutschen Sprachgebietes nicht bekannt genug. Er gehört indessen zu den originellsten, kraftvollsten Figuren unserer Literatur. Er ist immer eigenwillig, oft abseitig; seine Phantasie ist enorm, wuchernd, gar zu üppig; er assoziiert, erfindet, häuft Bilder, Gedanken, Schicksale, kommt vom Hundertsten ins Tausendste; er ist wie ein barocker Maler, der auf seinem Kolossalgemälde alles unterbringen möchte: Engel und Menschen, Himmel und Hölle und die Erde inmitten, Fratzen, Wälder, Berge, Meere und Giganten.
Sämtliche Reize und Gefahren dieses fulminanten Talentes finden sich eindrucksvoll resümiert in Döblins neuestem Roman «Der blaue Tiger» (Querido-Verlag, Amsterdam). Das Buch macht den zweiten abschließenden Teil einer großen und kühnen epischen Komposition aus, die mit einem ersten Roman, «Die Fahrt ins Land ohne Tod», begann. Der riesige Hintergrund ist Südamerika, dessen magische Völker von den seefahrenden Europäern entdeckt, überwältigt, zivilisiert und in großes Elend gebracht wurden. Unter den Weißen aber finden sich auch solche, die wirklich, mit allem Ernst, aller Konsequenz, allem Opfermut «Erlöser», Heilbringer sein wollen. Dies sind die Streitscharen des neugegründeten Ordens des Ignaz von Loyola – die Jesuiten. Mit den dunklen Männern gemeinsam errichten sie in gewaltiger Arbeit jene blühende Republik Paraguay – friedliche Enklave inmitten der allgemeinen Verwüstung. Auch dieser wahrhaft christliche Staat, dem Urwald abgerungen, kann sich nicht halten. Die neue Zeit, die merkantile Epoche, in der das Geld und die Technik regieren, hat neue, unbarmherzige Gesetze. Sie duldet nicht das Ethos der Nächstenliebe; sie ist selber Urwald – den auszurotten sie so kühn unternahm. Dies wird erregend deutlich in den letzten Kapiteln des Buches, die in der Gegenwart spielen. Sie sind überschrieben: «Der neue Urwald».
«Sie wuchsen auf und traten in die Urwälder ein», heißt es von den Menschen unserer Zeit. «Denn dies war Europa.» Die letzten, modernen Abschnitte des großen Buches scheinen mir seine stärksten zu sein; jedenfalls sind sie es, die uns am nächsten angehen. Aus der unermeßlichen Fülle heutiger Schicksale werden einige herausgegriffen: zwei junge Deutsche; ein paar Frauen; ein abenteuerlicher junger Pole; einige französische Strafgefangene, die aus dem Bagno in Cayenne fliehen und schließlich vom Urwald buchstäblich verschlungen werden. Am Schluß ist wieder der Urwald da, der am Anfang war. Er ist der eigentliche Held, das geheimnisvolle Zentrum des Buches. Die Zivilisation geht vorüber; all ihre Errungenschaften und alle ihre Sünden werden vergessen sein. Der Urwald bleibt. Die Opfer der Zivilisation – die Verbrecher, die Abenteurer – sinken in ihn zurück …
Döblin gehört ohne Frage zu den sprachgewaltigsten deutschen Erzählern der Gegenwart. Eine künftige Literaturgeschichte wird ihn vielleicht einmal mit James Joyce zusammen nennen. Trotzdem bleibt verständlich, daß seine starke, wilde, verzweifelte Rede kein Echo findet; daß er einsam ist. Vielleicht gibt es in ihm selber zuviel Urwald; zuviel anarchische Elemente. In seinem Werk herrscht Dunkelheit und Wirrnis. Wir vermissen die Luzidität, die Klarheit, die Anmut. Dieser deutsch-jüdische Dichter – dessen Werke in Deutschland natürlich verboten sind – ist gar zu deutsch. Nicht zu Unrecht hat ein kluger Kritiker ihn unlängst mit Jean Paul, dem Romantiker, verglichen. Er hat die deutsche Neigung zum Grenzenlosen. Grenzenlos ist seine Verzweiflung, unendlich auch seine wilde, etwas barbarische Freude an allen Dingen der Schöpfung. Er ist berauscht von Bildern und von Ideen. Er kann nicht auswählen. Er will alles einbeziehen. Seine Werke sind so abwechslungsreich, daß sie monoton werden. Sein Genie hat den Charakter des Monströsen – wie das Genie von James Joyce. Er fasziniert, aber er tröstet nicht. Er bezaubert, aber es ist ein gefährlicher Zauber, eine schwarze Magie.
Daß ich selber Bücher schreibe, tut nichts zur Sache. Ich rede hier nicht als ein «Autor», sondern als irgendein junger Deutscher aus bürgerlich-intellektuellem Hause – und es scheint mir von Interesse zu sein, bis zu welchem Grade und durch welche Medien französische Werte auf meine geistige Entwicklung eingewirkt haben. Dabei muß zunächst zweierlei betont werden: Erstens, daß zwar meine Kindheit während des Krieges von den Lehrern im nationalistischen Sinne beeinflußt wurde; daß ich aber, vom ersten Moment an, da ich selbständig denken und empfinden lernte, jedem nationalistischen Pathos abgeneigt war – ja, daß aller Nationalismus mich anwiderte und ich mich, wohl schon aus Opposition gegen die Schule, zu Frankreich mit einer besonderen Sympathie hingezogen fühlte; zweitens, daß mein Vater niemals und in keinem Moment irgendeinen aktiven Einfluß auf meine intellektuelle Entwicklung genommen hat. Wenn er auf mich einwirkte, so nur durch sein Werk und als Vorbild; niemals als eine pädagogische Autorität. Gerade was den ganzen Komplex meiner inneren Beziehung zur französischen Geistigkeit betrifft, so glaube ich sagen zu dürfen, daß hier der Einfluß meines Vaters geringer ist als in irgendeiner anderen geistigen Domäne. Ich habe Frankreich nicht durch ihn lieben gelernt, und ich habe ein anderes Frankreich lieben gelernt als das, welches ihm vertraut ist. Selbst der Einfluß Heinrich Manns, meines Onkels, ist, in diesem bestimmten Zusammenhang, geringer, als man wohl annehmen möchte. Ohne Frage verhält es sich so, daß seine französische Orientierung ihre Wirkung auf mich gehabt hat. Die großen Figuren aber, die im Zentrum seiner Neigung und seines analysierenden Interesses standen – Zola und Flaubert –, sind nicht jene, die auf mich den nachhaltigen Zauber übten, die mich wesentlich bereicherten und meine intellektuelle Substanz veränderten.
Auf den jungen Menschen wirken zuerst die großen Gestalten der eigenen Literatur – anders wäre es unnatürlich. Der junge Deutsche, aus dem ein guter deutscher Europäer werden soll, wird ergriffen von Schiller und Heine, etwas später von Nietzsche, noch etwas später von Goethe, gleichzeitig aber entzückt er sich auch an den Romantikern, an der deutschen Shakespeare-Ausgabe; begeistert sich für Georg Büchner und Frank Wedekind, für die frühen Dramen von Gerhart Hauptmann; diesen wird er hinter sich lassen, wenn er zu Rilke, Stefan George und Hofmannsthal gelangt, Büchner und Wedekind aber wird er die Treue halten. Gleichzeitig liebt er auch schon Verlaine.
Als ich George liebte, liebte ich auch Verlaine, und beiden Lieben bin ich treu geblieben. Von dem zugleich schon mythischen und uns so nahen Paar, Verlaine und Rimbaud, ging für mich der rührende Zauber aus, der nie mehr aufhören sollte zu wirken. Diese beiden Figuren standen am Eingang meines geistigen Lebens: der christliche Sünder, der alle Laster so verführerisch besingt, um sie dann alle so bitterlich zu bereuen; der Gepeinigte, der aus den Tiefen des Schmerzes den einfachsten Ton findet – den klagenden und kindlich frommen Rhythmus, der mir aus der deutschen Romantik und aus gewissen kleinen Liebesliedern Stefan Georges schon so vertraut war –; und der Heros, der die Literatur sprengt wie eine Fessel; der des Wortes überdrüssig wird, nachdem er das Gebiet des Wortes wie ein Eroberer erweitert hat; der mit enormen Energien geladene Knabe, dem das Wort nichts gilt, weil er alles, schlechthin alles mit ihm anfangen könnte, und der aufbricht ins Abenteuer, aufbricht ins Leben, tragischer Deserteur der Literatur – beinah ein Feind des Geistes, ein Feind der Literatur – aber was für ein Feind, da er ja erst schöpferisch weitertrieb, was er dann verächtlich hinter sich warf! Wie nah verwandt war doch die deutsche Jugend nach dem Kriege der französischen zur gleichen Zeit: Die Zwanzigjährigen in Berlin, München oder Heidelberg liebten Rimbaud wie die Zwanzigjährigen in Paris. «Le Bateau Ivre» konnte ich auswendig, und der erste Artikel, den ich in einer Berliner Revue publizieren ließ, handelte von der Schönheit Rimbauds: wirklich von seiner physischen Schönheit, in der die Gewalt seines Genies sich mir ebenso deutlich zu manifestieren schien wie in der Schönheit seiner Gedichte.
Auffallend, und übrigens bedenklich ist, daß ich gleichzeitig in die Kraft Rimbauds verliebt war und in die Verfeinerungen Huysmans'. Ich will aufrichtig sein: Huysmans hat auf mich früher, stärker und nachhaltiger gewirkt als Stendhal, Flaubert oder Maupassant. In Huysmans liebte ich Oscar Wilde mit: der eine gab gleichsam die Theorie zur Tragödie des anderen. – Cocteau spricht (mir scheint, in seinem Buch über Chirico) über das Mysterium der Persönlichkeit. Huysmans besitzt durchaus nicht diese geheimnisvolle Qualität, die Wilde in so hohem Grade eigen gewesen sein muß. Er verschwindet, er ist als Person gar nicht da. Aber in seinem Werk ist der Extrakt der décadence, ist das konzentrierte Fin de siècle. Wir waren Nietzsche-Schüler genug, um die décadence halb zu hassen, halb zu adorieren. «Abgesehen davon, daß ich ein décadent bin, bin ich auch das Gegenteil davon»: dieser Nietzsche-Satz hatte unsere Stellung zu dem Stimmungs-Komplex «décadence» bestimmt. Von «A Rebours» und «Là Bas» war alles an mir fasziniert, was dem Ende zugeneigt, hoffnungslos und verfeinert war.
Als ich achtzehn Jahre alt war, reiste ich zum ersten Mal nach Frankreich, und ich muß neunzehn oder zwanzig Jahre alt gewesen sein, als ich zuerst dem Phänomen André Gide begegnete: etwa gleichzeitig der Person und dem Werk.
IndividualistURSS