Dieses Buch ist den Vereinigten Staaten von Amerika gewidmet. Dem Land der Freien, der Heimat der Tapferen und der Umgebung der Sesamstraße.

 

Vor allem aber diesen liebevollen, toleranten und gastfreundlichen Einheimischen:

 

Brenda Cecil, Hillery Gallasch, Liz Halloran, Alan Levin, Sharahn Thomas, Jackie Northam, Muthoni Muturi, Nell Payne, Andreas Eichin, Don Wright, NGA und aus tiefstem Herzen GA.

 

This book is inspired by Lawrence L. Pearce and Rudi Genewsky.

Washington DC
Whole Foods Supermarkt
15th P Street
10.45 Uhr Ortszeit

Glück ist machbar.

Sechs Richtige natürlich nicht. Pferdewetten, Roulette, alles Zufall. Aber das schönste Glück muss niemand dem Schicksal überlassen: Das Glück bei Frauen ist planbar. Georg würde sich niemals als Glückspilz bezeichnen. Ihm fiel nichts einfach so zu. Er machte seine Sache einfach gut.

Wie jetzt. Bei dieser Lis. Mindestens ein Glücksversprechen. So viel stand schon fest. Als sie das Auto in der Tiefgarage parkten, hatte sie Georg geküsst. Ohne Eile. Minutenlang. Alles an ihr duftete. Ihre Bluse nach Waschmittel. Seife hatte Georg gerochen. Das Parfum am Hals. Keine atemberaubende Wolke. Nur ein Hauch. Wie eben Frauen mit Seife, Waschmittel und Parfum umgehen, wenn sie genug Lebenszeit hinter sich haben, um die richtige Dosis für sich herauszufinden.

Gestern Vormittag hatte sie in seinem Laden gestanden und gekichert. Nach zwölf Jahren unter Amerikanern wusste Georg, wie großzügig hier Heiterkeit verschenkt wurde. Während sich der durchschnittliche Deutsche jedes Lächeln so gründlich überlegte, als solle er einem Fremden eine Niere spenden, freuten sich hier viele mitunter völlig grundlos. Wie Lis. Denn die wollte sich plötzlich doch nicht mehr die Haare machen lassen. Bestimmt seinen Preis wert, aber weit über ihrem Budget, hatte sie gesagt und wieder gekichert. Spätestens in diesem Moment war Georg nach Glück zumute gewesen.

Er entschied sich für die Varianten »Kopf« und »Bauch«.

»Ich mache auch Hausbesuche. Ist günstiger«, sagte er und versuchte, es mit ihrem Lächeln aufzunehmen.

»Dann muss es einen schlimmen Haken geben«, erwiderte sie glucksend.

»Stimmt«, sagte er.

Sie überlegte. »Gut«, Lis entließ die Anstrengung des Abwägens aus ihrem Gesicht und machte einem Strahlen Platz. Mit Zähnen, die von dem vielen Fluor im Leitungswasser eben viel weißer waren als die der kalbszähnigen Europäer.

Sie war um vier zum Laden gekommen. Auch wenn sie nicht wissen konnte, wie sehr Georg mit der Abzahlung hinterherhinkte, musste der Mercedes wenigstens einen kleinen guten Eindruck hinterlassen haben. Jetzt standen sie an der Kasse dieses Supermarkts. Hier kauften Menschen ein, die nicht auf Preise guckten. Sondern auf die Produkthinweise. Die in diesem Geschäft nur frohe Botschaften verkündeten. Jedes Stück Käse war zumindest gut gemeint.

Georg würde Lis die Haare machen. Nie zuvor würde ihr jemand so die Haare gewaschen haben. Die richtige Wassertemperatur, das sanfte, aber konsequente Massieren des Kopfes, während sie nicht unbequem in einem Stuhl hing. Sondern komplett lag. Hatte Georg zum ersten Mal in Singapur erlebt und sich gefragt, warum überhaupt noch jemand während der Haarwäsche sitzen musste. Georg konnte keine Blumen mit Namen benennen. Selbst vertrautesten klassischen Musikstücken konnte er nicht den richtigen Komponisten zuordnen. Wenn sein Auto nicht mehr fuhr, war es für ihn so lange kaputt, bis jemand, der niemals er selbst hätte sein können, daran Hand anlegte. Aber Georg konnte Haare schneiden. Er liebte es, selbst das chaotischste Gestrüpp mit geordnet abgesteckten Passés in den Griff zu bekommen. Noch viel mehr liebte er es, wenn sich seine Kundinnen zuerst ungläubig und dann immer erfreuter im Spiegel betrachteten. Weil die Haare plötzlich da waren, wo sie hingehörten. Wenn Georg sie geschnitten hatte, bauschte sich selbst dünnes Haar. Als könnten Haare keck sein, fielen sie nicht mehr matt von oben nach unten. Es sah aus, als würden sie sich in Wellen bewegen oder in Formationen tanzen.

Mit frisch geschnittenem, noch feuchtem Haar sollte Lis an seinem Tisch sitzen, um durch die »Bauch«-Phase in eine abenteuerliche Stimmung zu geraten. Sein Schweinebraten mit Zitronengras war schon so oft ein Erfolg gewesen. Georg war einmal der Gedanke gekommen, aus Dankbarkeit die Patenschaft für ein Schwein auf irgendeinem Bauernhof zu übernehmen. Zitronengras, dekorative Frühlingszwiebeln. Die teure Sojasauce. Also nicht die, die in einem vietnamesischen Dioxinfass angerührt, sondern eher von buddhistischen Mönchen mit irgendwelchen Mantras über Jahre besummt wurde.

Der Kassierer ratschte alles über den Scanner. Mit einer apathischen Langsamkeit, mit der er früher durch die flirrende Hitze seiner äthiopischen Heimat zur Schule gegangen war. Außer gegen den Fraß, den er schon einmal in einem Washingtoner Vorort in einem äthiopischen Restaurant erduldet hatte, hatte Georg nichts gegen Äthiopier. Aber dieser behäbige junge Mann nervte ihn. Ein beflissener Kassierer aus Island hätte ihn in dieser Minute aber genauso genervt. Denn alles lief auf eine Entscheidung zu. Vielleicht würde Lis später am Abend mit nackten Füßen über Georgs Küchenparkett patschen, wieder kichern und dann schon nach ihm riechen. Vielleicht aber auch nicht. Das Schicksal ihrer Begegnung wurde gerade zwischen Maschinen verhandelt. Der Kassencomputer setzte sich mit dem Zentralrechner in Verbindung, der darüber entschied, ob die 113 Dollar, die der Einkauf kosten sollte, zu verantworten waren. Georg wartete auf das »Approved«-Signal, also den virtuellen Segen für den Einkauf und damit die kommende Nacht.

Er wusste, dass er genau 23 Dollar in bar bei sich trug. Er wollte Glück erzeugen, aber Georg musste jetzt leider doch auf den Zufall hoffen.

Nationalfriedhof Arlington
13 Uhr Ortszeit

»Die Kreditkarte. Diese verdammte Kreditkarte. Ständig schicken sie dir Post. Golfturnier hier, Luxushotel da. Kommen Sie doch, machen Sie doch. Ein bisschen abbuchen, aber ganz viel Spaß haben. Kennst du ja. Und dann verweigern sie dir einen Hunderter. Im Supermarkt, na klasse.«

Georg sah sich um. Er wollte nicht, dass ihn die Leute in der Nähe hörten. Etwa zehn Schritte entfernt stand eine dicke Frau. Höchstens Ende zwanzig. Sie griff unvermittelt nach der Hand des betreten guckenden Mädchens, das neben ihr stand.

Georg murmelte eher, als dass er sprach.

Aber Steve würde ihn trotzdem verstehen. Der verstand ihn immer.

»Immerhin hat sie sich noch zu einem Kaffee einladen lassen«, sagte Georg. Aber gekichert hat sie nicht mehr, dachte er. Stattdessen hat sie in die Dating-Trickkiste gegriffen. So souverän, wie das jede kluge Amerikanerin über dreißig selbstverständlich tat. Sie müsse noch etwas arbeiten. Er solle wirklich nicht böse sein, und er könne jederzeit anrufen. War einfach zu viel Irritation. Dieser Friseur mit dem deutschen Akzent, der Hausbesuche machte. Der zwar schön küsste, aber einem Supermarkt-Kassierer drei verschiedene Kreditkarten reichte, von denen keine akzeptiert wurde. Und der dann noch das Angebot ausschlug, die zehn Schritte zum Geldautomaten zu gehen, um ausreichend Bargeld für Schweinefleisch und Zitronengras zu ziehen. Wahrscheinlich hatte es überhaupt nichts mit Geld zu tun. Die Wandlung ihres Begleiters würde die schöne Lis verschreckt haben. Als auch bei der zweiten Kreditkarte die heuchlerische Bitte auf dem Display erschien: »Bitte setzen Sie sich mit Ihrer Bank in Verbindung«. Da hatte Georg gespürt, wie ihm der feinperlige Schweiß auf der Oberlippe ausgebrochen war. Wahrscheinlich hatte er auch Deutsch gesprochen. Schlimm genug, dass er sich nicht erinnern konnte.

 

»Ich muss bei meinem Onkel in Deutschland anrufen«, sagte Georg, um es auszusprechen. Erst wenn er es ausgesprochen hatte, war es für ihn auch ein Beschluss. Sein Onkel würde schon wissen, warum der Neffe anrief, da musste er nur Georgs Namen hören. Denn als es zu Weihnachten und zu Onkels Geburtstag einen anderen Anlass gegeben hätte, war kein Anruf von Georg gekommen. Er würde den Ausdruck »kleine Finanzspritze« gebrauchen und hasste sich schon jetzt dafür.

Sein Onkel würde wieder ganz oft »Jajaja« sagen. Als sei der Sohn seines Bruders nur eine seiner Kundinnen. Also eine klassische Wilmersdorfer Witwe. Oder eine Unternehmensberaterin aus einem Büro in Mitte. Irgendeine dieser Frauen eben, die nicht auf Geld achten mussten und sich deswegen bei »Schauerte« frisieren ließen. Kein schriller Prominentenladen. Sondern ein nüchterner, gepflegter Salon am Kurfürstendamm, in dem Profis arbeiteten, die sich durchaus Kunsthandwerker nennen konnten. Und ihren Chef durch die gepfefferten Preise zu einem wohlhabenden Mann gemacht hatten. 39000 Euro hatte sich Georg in den vergangenen zwei Jahren bei diesem Chef, seinem Onkel, zusammengeliehen.

Mittlerweile fragte ihn sein Onkel nicht mehr, ob er nicht doch nach Deutschland zurückkommen wolle.

 

»Es sieht alles überhaupt nicht so schlimm aus«, sagte Georg, weil er wusste, Steve würde ihm die Lüge nicht um die Ohren hauen. Eine überschaubare Miete für den Stuhl in diesem Laden in Georgetown. Die Familie Kennedy besaß hier immer noch ein Haus. In dem John F. mit wer-weiß-wie-vielen Frauen geschlafen hatte. Die Clintons, Henry Kissinger und unzählige Multimillionäre brauchten eine Adresse in Georgetown. Den wohl mächtigsten drei Quadratkilometern der Welt. Mit dem Fahrrad dauerte es zehn Minuten bis zum Weißen Haus. Auch wenn niemand, der dort zu tun hatte, tatsächlich mit dem Rad hinfuhr. Sondern mit einer Autokolonne, die durch die Gegend raste, als säßen mit ganz ungünstigen Steroiden gedopte BMW-Fahrer am Steuer. Georg konnte hier bedenkenlos teuer sein und hatte eine treue Stammkundschaft. Er wusste, dass er in manchen Monaten mehr verdiente als einer der Lufthansa-Kapitäne, die den deutschen Schwatz bei einem Washingtoner Friseur zu schätzen wussten. Trotzdem kam er nicht hin. Genau genommen war er schon seit mindestens zwei Monaten pleite. Mit der Miete im Rückstand, das Mobiltelefon konnte nur noch Anrufe empfangen.

Die Champagnernächte. Dieses irrwitzige Boot in Virginia Beach. Oder Georgs Wohnung. Zwei Etagen. Das Panoramafenster an der Vorderfront ging über beide Stockwerke und gab die Aussicht auf das Washington Monument frei. Den weltberühmten Obelisken, den jeder kennt, weil er in so vielen Filmen überflogen wurde.

»Denen ist auch während des Baus das Geld ausgegangen«, sagte Georg laut. Deutsche Gäste freuten sich immer, wenn er erzählen konnte, wie dieses Ding, zu Ehren George Washingtons begonnen, noch zwölf Jahre nach Baubeginn 1848 halbhoch in der Gegend rumstand.

Seinem Onkel hatte er die Geschichte auch erzählt. Als der vor ein paar Jahren das letzte Mal hier gewesen war. Nach Wölfchens Tod und nach dem Herzinfarkt. »Ich muss kürzer treten, mein Junge, ich komm’ dich besuchen«, sagte er damals. Um anschließend gleich weiterzuschuften. Damals fiel ihm auf, wie sehr er seinen Onkel mochte. Vor dem deutschen Beamtenwort »Erziehungsberechtigter« gruselte sich Onkel Jupp. Obwohl er für Georg die komplette Verantwortung übernommen hatte. Er war Vater und Mutter und die sonstige Verwandtschaft für Georg, seit dieser zwölf Jahre alt war. Aber auch gleichzeitig nichts von alldem. »Wir leben jetzt zusammen«, hatte Jupp gesagt, »das Wichtigste daran ist, dass uns das Leben Spaß macht. Ich glaube nämlich, wir haben nur eins.« Auch wenn das für den 12-jährigen Georg erst einmal nur Erwachsenensprache war, begann es sehr bald Spaß zu machen. Selbst seine von Jupp zu »nicht lustig« erklärten Zeugnisse sorgten nur für überschaubaren Verdruss. Gemeinsam mit Wölfchen fuhren sie auf dem Nil und zu Skiurlauben ins Salzburger Land. Die komisch guckenden Leute in allen möglichen Frühstücksräumen waren für sie »die Klemmis«. Georg half für eine fürstliche Entlohnung im Laden. Dort wurde ihm unter anderem von der unvergesslichen Martina nach Feierabend enorm weitergeholfen. An dem Tag, als Georg seine Führerscheinprüfung bestand, überreichte ihm Jupp eine Schirmmütze und weiße Handschuhe. »Ich habe mich immer auf den Tag gefreut, wenn die Taxifahrerei ein Ende haben würde. Vielleicht möchte der Herr Georg sein Dienstfahrzeug in Augenschein nehmen?«

Herr Georg mochte den schneeweißen 190er-Mercedes auf Anhieb. »Was für ein Pornoauto«, meckerte Wölfchen. Zeigte aber im Stil eines englischen Aristokraten selbst dann keine Regung, als Georg in Gegenrichtung auf die Berliner Stadtautobahn fuhr. Zum Glück mitten in der Nacht.

 

Als Georg seinen Onkel in Washington fragte, wie er es hinbekäme, in seinem löchrigen Schulenglisch überall ein Schwätzchen zu halten, kam zur Antwort: »Junge, ich bin Friseur. Wenn ich eins kann, dann mit Leuten.« Beide respektierten des anderen Tabu. Georg fragte seinen Onkel nicht, wie sehr er Wölfchen vermisste. Sein Onkel wollte nicht über Georgs »Sache« sprechen. War schließlich Vergangenheit. Die japanische Friseurschere, die sein Onkel ihm damals mitbrachte, glänzte heute noch wie am ersten Tag. Mindestens 500 Euro wert. Jedes Haar, das mit dieser Schere gekürzt wurde, glaubte Georg juchzen zu hören.

 

Jetzt nahm er den einzigen Gegenstand aus der Tasche, den er ebenso akkurat in Ehren hielt. Seit 17 Jahren. Ein Zippo-Benzinfeuerzeug. Mit dem Emblem des 75. Regiments der US-Armee, den US-Rangers.

Georg zündete sich die Zigarette an. Er rauchte nur, wenn er Steve besuchte.

»Jetzt eine Zigarette, und alles wäre gut«, hatte Steve damals gesagt. Georg genoss jeden einzelnen Zug mit der Ruhe dieses oft erprobten Rituals. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher hinter Steves Grabstein aus. Jedes Jahr am 4. Oktober leerte Georg den Aschenbecher. Dann verbrannte er die Zigaretten in dem Grill auf seiner Terrasse. Dazu hämmerten die Spin Doctors ihren größten Hit »Two Princes«. Die Nachbarn mussten den Eindruck haben, Georg kehrte immer am 4. Oktober für exakt vier Minuten und 17 Sekunden in die Aufsässigkeit seiner Pubertät zurück. Dabei checkte er mit dem Song in seinen Albtraum ein.

 

Wie immer sprach Georg zum Abschied monoton ein ›Vaterunser‹ vor sich hin. Dabei blickte er auf die Inschrift des Grabsteins: »Steve Zeibert, Sergeant, US Army Rangers, 1968–1993«.

Botschaft der
Bundesrepublik Deutschland
Washington DC
17 Uhr Ortszeit

»Das war wunderschön«, der Mann war Sofia nach draußen gefolgt. Sie rauchte eine Zigarette. Um sie herum standen Männer in Anzügen und Frauen in Kostümen. Alle lächelten ihr zu, wenn Sofia einem kurzen Blickkontakt mit ihnen ausgesetzt war. Dabei machten sie ein wissendes Gesicht. »Aha, die Sängerin raucht also, bestimmt nicht gut für die Stimme«, so was überlegten sie wahrscheinlich.

Der Mann stand immer noch vor ihr. So, so, dachte Sofia, wunderschön. Sie erwartete beinahe, dass er im nächsten Moment zu hecheln oder zu jaulen anfing. Weil er doch was Gutes, nämlich ein Kompliment gemacht hatte. Dafür gab es doch eine Belohnung.

»Was meinen Sie mit wunderschön? Mit welchen wunderschönen Momenten, die Sie schon erlebt haben, würden Sie es vergleichen?« Sofia lächelte ihn an. Ihr Lächeln war die Belohnung für die Belohnung. Sie überließ nichts dem Zufall. Generell nicht. Die Lippen leicht öffnen, die Mundwinkel ein klitzekleines Stückchen hochziehen, die komplette Gesichtsmuskulatur entspannen, so hatte sie es vor dem Spiegel geübt.

Der Mann war aber offenbar auch kein Anfänger.

Er verschränkte die Arme vor der Brust und kratzte sich mit dem Daumen an seinem starken Kinn. Seine sehr muskulösen Oberarme spannten den Stoff des Anzugs.

»So wunderschön wie das erste Mal auf dem Surfbrett stehen zu bleiben und den Wind in den Segeln zu spüren, ohne gleich wieder zu kentern. So wunderschön. Oder ist Ihnen das zu schnöde?«, fragte er.

Sofia schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte sie, »das ist vielmehr … wunderschön.«

Beide lachten.

»Sie treiben viel Sport, oder?«, fragte Sofia und zeigte auf seine Arme.

»Ich rudere. Hier auf dem Fluss. Fünfmal die Woche. Um sechs Uhr morgens. Sie wissen doch, die Amerikaner machen keine halben Sachen.«

»Stimmt«, nickte Sofia und versuchte, zwischen den unzähligen Kippen im großen Aschenbecher eine Stelle zu finden, wo sie ihre Zigarette ausdrücken konnte, »650000 Tote im Irak sind keine halbe Sache.«

»Die Amerikaner sagen, wir Deutschen seien ›blunt‹. Also manchmal zu geradeheraus. Eine weniger schmeichelhafte Übersetzung von ›blunt‹ ist stumpf«, antwortete der Mann in einem deutlich anderen Ton.

»Natürlich«, Sofia ärgerte sich unmittelbar über ihre Unkontrolliertheit, »und Ihre wunderschönen Surferlebnisse haben Sie auch hier?«

Der Mann erzählte von einem Ort an der Küste, der Sofia nicht interessierte. Garantiert ein Karrierediplomat. Die rahmengenähten Schuhe, selbstverständlich dezent. Der teuer fallende, anthrazitfarbene Anzug, das perfekt sitzende weiße Hemd, die für jeden Anlass taugliche dunkelblaue Krawatte, alles angemessen, unauffällig,

»Happy End«, hätte ihre Mutter ausgerufen, wenn sie Sofia jetzt hätte sehen können. Ihre Tochter neben »einem Bild von einem Mann«. Das wäre die Vokabel ihrer Mutter für Männer wie diesen Ruderer gewesen.

Selbst ihre Tochter hätte ihr ausnahmsweise keinen Anlass zum Nörgeln gegeben. Das Kleid umschmeichelte Sofias Silhouette. Die silbrig schimmernden Pailletten hatten Sofias sparsame Bewegungen auf der Bühne wie etwas unwirklich Quecksilbriges aussehen lassen. Selbst ihr Haar, nach Meinung ihrer neidischen Mutter »ein Gottesgeschenk«, war in Bestform gebracht worden. Der Botschafter, um einen generös-professionellen Eindruck bemüht, hatte einen deutschen Friseur kommen lassen. Offenbar ein Ortsansässiger, der Sofia mit routiniert abgespulten Komplimenten überzogen und dabei merkwürdig abwesend gewirkt hatte.

Alles war perfekt gelaufen. Für diese Leute. In dieser Umgebung. Mitten drin, im Feindesland. Genau wie sie es geplant hatten. Eine Sängerin, fernab der A-Liga, sang deutsche Lieder für eine Gemeinde von Auslandsdeutschen, die Langeweile gewohnt waren. Sofia hatte durchaus bemerkt, wie Frauenhände nach den Händen ihrer Männer griffen, als sie »Kein schöner Land« sang. Deren Reflexe eben. Rührten sich an sich selbst. Weil sie weit weg einem Land einen Luxusdienst erwiesen, das sie nicht kannten. Und nicht kennen wollten. Sonst hätten sie sich nicht das Auswärtige Amt als Arbeitgeber ausgesucht. Sondern wären wenigstens im Auftrag einer humanitären Organisation unterwegs. Um die richtige Welt zu sehen. Nicht immer Botschaftsgärten. Sondern immer wieder die Vorhölle, im Süden, Westen oder Osten.

Auch wenn Sofia auf Schwierigkeiten vorbereitet war, sollte es am liebsten so weitergehen. Die Ausreise morgen war eine echte Hürde. In Wien waren sie sich einig gewesen; selbst wenn es die Amis gerne anders sahen, funktionierte ihre Grenzkontrolle kaum wie die perfekte Orwell’sche Überwachung.

Sie war ruhig. Würde aber wieder nicht gut schlafen können. Der Druck. Die Anspannung hatte sie schon seit Wochen nicht mehr verlassen. Die Verantwortung für die ganze Sache. Die sie nicht ›Operation‹ nennen konnte, weil das die Kindskopfsprache ihres Bruders war.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir noch etwas bei ›Kein schöner Land‹ bleiben?«, fragte er.

Lieber nicht, dachte Sofia. Es gab für Sofia wirklich gute Gründe, dieses Land zu hassen, das sie vorhin so souverän besungen hatte. Dieses geldgeile, waffenhandelnde, Menschen verschleißende Deutschland. Dieser Diplomat war aber für eine wirkliche Analyse der denkbar falsche Gesprächspartner.

»Sie sprechen in Rätseln«, antwortete sie und ermunterte ihn wieder mit diesem Lächeln, auf das er so zuverlässig reagierte.

»Heißt es nicht: ›Wo wir uns finden, wohl unter Linden, zur Abendzeit‹?«, fragte er.

»Ja, und?«

»Ich kenne in der Nähe ein Restaurant. Neben der Terrasse steht ein Baum. Leider bin ich ein botanischer Laie. Aber wenn Sie jetzt mitfahren, können wir uns dort finden«, er zog die Hemdmanschetten aus den Anzugärmeln hervor. Er ist dann so weit, dachte Sofia.

Er ist von der anderen Seite. Er ist ein Lakai. Er sitzt hier, oder woanders, und denkt lieber nichts. Zweifelt nicht, fragt nicht. Über Kleiderordnungen macht er sich wahrscheinlich Gedanken. Über dezente Schuhe und über den nächsten klitzekleinen Kriecher in seiner erbärmlichen Karriere, die er wahrscheinlich als echte Vorwärtsbewegung wahrnimmt.

Aber ihr gefielen seine Arme. Er war vordergründig sympathisch. Wenn sie sich in Acht nahm, also ausreichend verkleidet blieb, konnte sie in seiner Gesellschaft kaum einen Fehler machen.

»Wir tun einfach so«, sagte sie.

»Wir tun wie?«, fragte er.

»Als wäre der Baum eine Linde«, antwortete Sofia.

Deutschlandfunk
Informationen am Morgen
7.20 Uhr

Moderator: In Berlin sitzen seit gestern Menschen beieinander, die vor allem nachdenken. Oder die über das sprechen, worüber sie in der vergangenen Zeit nachgedacht haben. Philosophen von europäischen Universitäten, aber auch nur philosophisch und politisch Interessierte treffen sich in den Räumen der Volksbühne. Die passenderweise am Rosa-Luxemburg-Platz beheimatet ist. Es geht um eine Denkrichtung, eine Weltanschauung, die sich eigentlich selbst undenkbar gemacht hat, es geht um den Kommunismus. »Idee des Kommunismus. Philosophie und Kunst« heißt die dreitägige Veranstaltung.

Mit dabei ist auch Privatdozent Dr. Joachim Langfranz, Historiker, mit dem Schwerpunkt Geschichte der Arbeiterbewegung. Er war unter anderem wissenschaftlicher Berater bei der Entwicklung des Programms der Linkspartei. Mit ihm bin ich jetzt verbunden.

Guten Morgen, Herr Langfranz.

 

Langfranz: Guten Morgen, Herr Heinlein.

 

Moderator: Ein unter dem Jubel der Welt untergegangenes System. Dreißig Millionen Tote durch Stalinismus, Maoismus oder auch Steinzeitkommunismus der Roten Khmer in Kambodscha. Kann es sein, dass der Kommunismus so etwas wie der Dracula der Ideologien ist? Er steht also immer wieder auf, wenn es dunkel wird?

 

Langfranz: Ach, wissen Sie, das ist dieser Populismus. Es fehlt ja nicht an Vereinfachungen, um Alternativen zu unserem herrschenden System zu diskreditieren. Deswegen bin ich froh, dass wir uns in Berlin mit Leuten treffen, denen Denkverbote schlicht zu trist sind.

 

Moderator: Aber hat sich der Kommunismus, oder seine Vorstufe, also der real existierende Sozialimus, nicht selbst diskreditiert? Braucht es, bei den eindeutigen Zahlen, wirklich noch eine Vereinfachung?

 

Langfranz: Sie können es auch andersherum lesen: Was hat denn gesiegt? Wer gibt denn den Ton an? Möchten Sie wirklich das hohe Lied der parlamentarischen Demokratie singen, wenn diese süße Melodie doch ständig von den Medusenklängen der internationalen Finanzwirtschaft übertönt wird? Verelendung. Perverse Anhäufung von Kapital, nur um der Anhäufung willen. Nennen Sie mir doch ein aktuelles Phänomen der kapitalistischen Wirklichkeit, das Marx vor 150 Jahren nicht völlig richtig prognostiziert hätte. Reicht denn Ihre Fantasie nicht aus, um sich vorzustellen, wie Hedgefonds-Manager Ludwig Erhard auslachen?

 

Moderator: Aber die Fantasie von Karl Marx hat nicht ausgereicht, um sich ein staatliches Gebilde vorzustellen, das 400 Milliarden Euro aufbringt, um diejenigen zu unterstützen, die vom Wettbewerb ausgeschlossen sind. Oder habe ich das Kapitel über soziale Marktwirtschaft im »Kapital« überlesen?

 

Langfranz: Sie kommen doch nicht drum rum, Sie müssen doch die Realitäten anerkennen. Millionen Kinder leben unter der Armutsgrenze. Während andere in diesem Land, oder in der gesamten westlichen Welt, einen Reichtum verwalten, dessen Ziffer Sie nur mit Mühe korrekt hinschreiben könnten. Gleichzeitig werden Kriege geführt, die im Irak, aber auch in Afghanistan, Verteilungskämpfe sind. Unterschichtsangehörige, die von jedem relevanten gesellschaftlichen Aufstieg qua Geburt abgeschnitten sind, sterben auf kahlen afghanischen Hügeln für die perversen Privilegien einer dekadenten US-Elite. So sieht es doch aus. Das ist der amerikanische Albtraum, den wir mindestens in Teilen mitträumen.

 

Moderator: Das alles besprechen Sie in der Berliner Volksbühne, also keine zehn Minuten vom ehemaligen Todesstreifen entfernt. Oder hat es den auch nicht gegeben?

 

Langfranz: Es ist doch ganz klar, dass es niemanden gibt, der die DDR wiederhaben will. Aber diese plumpen Horrorgeschichten nutzen doch auch niemandem. Sie stützen nur Denkverbote.

Ist es nur Fortschritt, wenn wir bald mit Algen heizen und Flugzeuge mit Solarenergie fliegen? Oder bedeutet Fortschritt nicht vor allem, dass man mit dem Status quo niemals nur zufrieden sein kann? Selbst Demokratieenthusiasten sprechen doch häufig vom kleineren Übel. Wer sagt, dass sich das Übel nicht wenigstens verkleinern lässt?

 

Moderator: Wer entscheidet denn, wann das kleinere Übel gefunden ist? Und wird es dann, in sozialistischer Tradition, von einer ungewählten Minderheit als neues Staatsprinzip angeordnet?

 

Langfranz: Wissen Sie, das ist Polemik. Daran beteilige ich mich als Wissenschaftler nur höchst ungern. Die Gedanken sind zum Glück frei, und Pol Pot ist tot. Das müsste sich doch auch bis zum Deutschlandfunk rumgesprochen haben.

 

Moderator: Dann können wir uns als Fazit dieses Gesprächs auf die bekannte christliche Losung einigen: Der Mensch denkt, Gott lenkt?

 

Langfranz: Damit können Sie sich beruhigen, wenn Ihnen danach ist. Ich denke, und ich denke gern. Dabei ist mir als Atheist jeder Aberglaube schlicht hinderlich. Aber ich darf Sie vielleicht mit einem bestens bekannten Marx-Zitat durchrütteln: Radikal sein, heißt, die Sache an der Wurzel packen. Das versuchen wir in den nächsten drei in diesem Sinne radikalen Tagen. Mindestens in Gedanken und vor allem im Austausch.

 

Moderator: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Berlin
Vor dem Obi-Baumarkt in Niederschönhausen
12.30 Uhr

Fünf Minuten. Eher weniger. In höchstens fünf Minuten musste Carlo die Sache klarmachen.

Seine Chefin, diese schlimme, schlimme Frau, hatte eine halbe Stunde Mittagspause genehmigt. Sie rechnete damit, dass er und sein Kollege Hauke in der Nähe ein Brötchen kaufen würden.

Stattdessen hatte die Fahrt zu diesem Baumarkt durch die halbe Stadt 35 Minuten gedauert. »Siehst du das, siehst du das? Die frisst uns auf. Ohne Betäubung frisst die uns auf«, hatte Hauke gerufen, während sie an den Baustellen vorbeigefahren waren, vor denen sich der Verkehr in die Gegenrichtung staute. Genau in diese Richtung würden sie gleich zurückfahren müssen.

Noch einmal mindestens 40 Minuten. Sie würden viel zu spät im Theater des Westens ankommen. Es gab dort für sie nichts zu tun.

Ihre Einsatzpläne standen fest. Lange bevor die ersten Gäste dieses Fernsehpreises eintrafen, würden sie die Kollegen, also die Schutzmänner im ›grünen Ehrenkleid‹, auf ihre Positionen geschickt haben. Die zivil gekleideten Kriminalbeamten der Abteilung Staatsschutz, Hauke Wendel und Carlo Sand, würden sich dann in die Einsatzleitung setzen und dem Ende der Veranstaltung entgegendämmern. Insbesondere der Kriminalbeamte Carlo Sand würde sich so unauffällig wie möglich verhalten. Denn der letzte Ausraster seiner Chefin lag keine zwölf Stunden zurück. Carlo hatte beim Ausparken einen Sprengstoffhund der Kollegen angefahren. Er sei nicht nur der König der Idioten, er sei eine Schande für die Berliner Polizei. Ein Volltrottel. Ein Beweis dafür, wie wenig Zeit der Auswahlkommission für die Einstellung von Kommissaranwärtern heutzutage bleibt. Marie Tillmann war für ihre endlosen Schimpfkaskaden bekannt. Wegen ihres extremistischen Temperaments wurde sie in Anlehnung an den Talibanführer Mullah Omar intern Oma Mullah genannt. Seit Hauke bei einem sterbenslangweiligen Vortrag genau an der Stelle aufgewacht war, als der referierende BND-Heini ein Foto von Mullah Omar gezeigt hatte.

Der Spitzname war aber für den sehr, sehr internen Gebrauch bestimmt. Denn genau wie den Taliban war der Polizeirätin Tillmann jeder Anflug von Humor fremd.

Viel mehr als das Geschrei seiner Chefin war Carlo aber das Jaulen des verletzten Hundes an die Nieren gegangen. Er hatte sich bei dem Staffelführer danach erkundigt, was das Tier gerne fraß. Heute Morgen hatte Carlo schon um kurz nach sieben mit anderthalb Kilo Rinderfilet an der Halle gestanden, in der die Elitehunde logierten. Ramses würde es schon wieder recht gut gehen, hatte der Kollege von der Hundestaffel versichert.

Hauke stoppte das Auto in der Nähe des Eingangs auf einem Behindertenparkplatz. In Berlin Polizist zu sein bedeutete zwar ein Armutsgelübde, aber eben auch freie Parkplatzwahl auf jedem Quadratmeter des Stadtgebiets.

Hauke sah geradeaus, nestelte eine Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie an und drehte dann den Kopf zu Carlo:

»Wir haben echt wenig Zeit, aber du sollst es auch nicht versauen. Was machst du jetzt gleich nicht, Carlo?«

»Ich presse nicht die Lippen aufeinander, wenn ich vor ihr stehe.«

»Richtig«, Hauke pustete Rauch aus, »weiter?«

»Ich stelle mich nicht mit Nachnamen vor und sage schon gar nicht, was ich immer sage, wenn ich meinen Nachnamen nenne. Weil es nicht lustig ist.«

Hauke nickte.

»Sondern ich sage … ich sage zu ihr …«, Carlo haute mit seiner großen Faust auf das Armaturenbrett. Dann nahm er einen Zettel aus der Tasche und las vor.

»Ich bin Carlo und ich habe am Sonnabend zwei Karten für die ›Schöne Party‹ von Radio Eins. Möchten Sie mich vielleicht begleiten?«

Hauke legte die Stirn auf das Lenkrad.

»Du holst nicht den Zettel raus. Du holst unter keinen Umständen den Zettel raus, verstehst du? Und warum möchtest du die Frau siezen?«

»Weil ich sie nicht kenne.«

»Aber du hast doch mit ihr gesprochen, als du die neue Toilette gekauft hast.«

»Na ja, was heißt gesprochen«, murmelte Carlo.

»Gesprochen heißt reden. Ihr habt geredet und gelächelt und geredet und dann wieder gelächelt. Hoffe ich. Hoffe ich sogar sehr. Deswegen sitzen wir jetzt hier, verlieren deswegen unseren Job und arbeiten dann bald für fast drei Euro die Stunde bei einem Wachdienst. Statt schon für deine jämmerliche Zukunft zu sparen, hast du aber gerade eben noch 50 Euro für diesen Blumenstrauß ausgegeben.«

»Soll ich mit einem Stiefmütterchen bei ihr aufkreuzen?«

»Geh da jetzt rein, Carlo.« Hauke klang gereizt.

»Vielleicht ist es doch keine so gute Idee.«

»Geh da jetzt rein, verdammt noch mal«, schrie Hauke.

»Schrei mich nicht an«, schrie Carlo zurück.

»Gut, dann heule ich jetzt einfach«, antwortete Hauke tonlos und warf die Zigarette aus dem Auto. Eine ältere Frau missbilligte das offenbar. Hauke bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sie möge einfach weitergehen.

Carlo zog die Krawatte noch enger um den Hals. Auch wenn es ein teurer und sorgfältig ausgewählter Schlips war, wirkte er um Carlos massiven Hals wie ein Schnürsenkel.

»Wie sehe ich aus?«, fragte er. Die ungesunde Färbung seines Gesichts konnte selbst der Wohlmeinendste nicht als leichte Röte beschreiben.

»Unterdurchschnittlich«, sagte Hauke, während er ihn ansah und nickte, »aber deine inneren Werte sind liebenswert. Carlo, sei mir nicht böse, wenn ich auf deinen Gefühlen herumtrample. Aber meinst du nicht, du solltest jetzt einfach losgehen? Ich habe nämlich das Gefühl, ich spüre schon die Kälte der Elektroden, die Oma Mullah an meinem Sack befestigt.«

Carlo griff den Blumenstrauß vom Rücksitz, öffnete die Tür, stieg aus dem Auto aus. Wie immer in einer Art Zeitlupe. Als er sich zu seiner vollen Größe von 1,99 Meter aufgerichtet hatte, zog er das Jackett straff, schloss die Autotür und winkte Hauke noch einmal zu. Der wiederholte die Handbewegung, mit der er schon die Passantin zur Eile getrieben hatte. Nur noch eindringlicher.

Als er durch die Lichtschrankentür des Baumarktes getreten war, blieb Carlo kurz stehen und atmete tief durch. Er wählte eins, das er sich für die schlimmsten Situationen aufbewahrt hatte:

Der Sänger auf die Bühne trat,

Schlicht, ohne sich zu rühmen.

Ein Hauch von Bier und Fleischsalat

Verlor sich in Parfümen.

Der Sänger sang das hohe C,

Der Beifall wuchs und tobte.

Die Dame in der Loge B

Stand auf und garderobte.

Schon besser. Schade, dass er sich bei Ringelnatz nicht mehr bedanken konnte. Mit Frau Baute, die ihn gegen das Stottern auf die Gedichte gebracht hatte, traf er sich spätestens in der Vorweihnachtszeit immer zum Essen. Frau Baute würde aber heute auch nicht helfen.

Carlo stellte sich an die Theke, die ein großes Schild als ›Information‹ ausgab. Hinter dem Tresen lehnte ein junger Mann, der ignorierte, dass jemand ein Anliegen hatte. Was wahrscheinlich alle Baumarkt-Mitarbeiter auf der Welt während ihrer Ausbildung lernten.

»Hallo«, rief Carlo etwas zu laut.

Jetzt sah ihn der junge Mann an. Er trug ein Nasenpiercing, und aus dem Kragen des Polohemds mit dem Logo des Baumarkts lugte eine offenbar großflächige Tätowierung hervor.

»Ja?«, fragte er. Carlo wusste, dass man ihm die Jahre im Boxsport an dem äußerst ungerade verlaufenden Nasenbein und den kleinen Narben unter den Augen ansah. Er hatte sich schon oft das glatte Gesicht anderer 32-Jähriger gewünscht. Heute könnte seine Visage aber die ganze Angelegenheit vielleicht beschleunigen.

»Ich möchte Frau Patscher sprechen«, sagte Carlo etwas schrill.

»Was hat die denn verbrochen?«, fragte der Mann.

»Ruf sie durch.« Carlo zeigte auf das Mikrofon.

»Wieso?«, fragte der Mann.

»Weil ich es dir sage«, kaum war es ausgesprochen, ärgerte sich Carlo bereits über seine Unbeherrschtheit.

Nachdem der Mann Katinka ausgerufen hatte, wendete er sich sofort von Carlo ab. Griff zu einem Aktenordner, aus dem er gewiss nichts Neues erfahren konnte.

Carlo sah sich um. Einen Kachelofen sollte er kaufen. Legte ihm jedenfalls das übergroße Angebotsschild nahe. Mit einem durchgestrichenen Preis und dem kleinkindhohen »Nur 999 Euro« genau in Sichthöhe. Niemals. Kommt gar nicht in Frage, dachte Carlo. Er erinnerte sich an die Schmerzen in den Armen, als ihm kürzlich beim Umzug einer Kollegin die Aufgabe zugefallen war, den altertümlichen Herd aus dem vierten Stock herunterzutragen.

Jetzt sah Carlo, wie sich aus dem Hintergrund eine Frau näherte. Sie war es. Kein Zweifel. Der gerade Gang, die tolle Figur, die selbst in dem orangefarbenen Kurzkittel zu erkennen war. Ich könnte die Blumen einfach hinlegen und abhauen, dachte Carlo. Ich hau einfach ab. Aber dann sieht sie mich fliehen. Und ich sitze Samstagabend wieder nur vor dem Computer.

Katinka war jetzt am Tresen angekommen und sah den Gepiercten fragend an. Der erwiderte ihren Blick nur kurz, zeigte auf Carlo und las dann weiter in dem WichtigWichtig-Aktenordner.

Katinka nickte Carlo zu und sagte: »Guten Tag.« Kein Anzeichen, dass sie ihn wiedererkannte.

»Guten Tag«, echote Carlo, hielt den Blumenstrauß so ungünstig hoch, dass er ihn sich beinahe ins Gesicht drückte.

»Mein Name ist Sand. Sand wie Eimer«, hörte sich Carlo sagen. Die Nicht-Formulierung.

Unmittelbar überkam ihn dieses K.-o.-Gefühl. Wie damals. Als er bei der Bezirksmeisterschaft auf seine Deckung aufpassen sollte und dieser drahtige Serbe schon mit seiner ersten Links-Rechts-Links-Kombination durchgekommen war.

»Mist, Mist, Mist!«, entfuhr es Carlo. Er presste die Lippen zusammen und schloss die Augen.

Damit war es ihm unmöglich zu sehen, wie Katinka Patscher lächelte.

Berlin
Theater des Westens
16 Uhr

Natürlich war es kein glücklicher Tag im eigentlichen Sinn.

Kein Tag, an dem Hanna von der Sonne geweckt wurde – und da war dann auch schon der Mann, der eigentlich im Werbefernsehen lebt, mit dem Milchkaffee in der Hand.

Es war so ein ›Korken-Tag‹. Dieser Tag müsste sich lösen, damit Champagner floss. Im Wortsinn. Denn am ganz späten Abend dieses Tages würde Hanna mit ihren Kolleginnen Nadia und Isa sehr viel Prickelwasser trinken. Aber durch einen Mann, den sie sich übrigens überhaupt nicht mit einer Champagnerflöte in der Hand vorstellen konnte, würde auch spätestens der morgige Tag etwas Feinperliges bekommen.

Vorhin hatte sie Fabian kurz gesehen. Er hatte etwas nervös gewirkt. Aber sie kannten sich auch erst knapp zwei Wochen. War für Hanna ein Kompliment, wenn ein Mann ihretwegen so aufgeregt war.

Momentan saß der Korken noch reichlich fest, in diesem Dienstag.

Nadia und Isa überlegten, wie sie die Leiche von Friedrich von Hogenwarth entsorgen würden. Dabei saßen sie, bereits im kleinen Schwarzen, aber noch mit Turnschuhen, rauchend vor dem Theater.

In drei Stunden würde hier die »Bruno«-Preisverleihung beginnen. Ein großer Fernsehsender und ein ebenfalls großer Zeitungsverlag vergaben diesen Preis. Ohne Nadia, Isa und vor allem Hanna würde sich aber keine große Preis-Show, sondern ein Fiasko ereignen. Die drei wussten jedes Detail über diesen Abend. Welcher Chefredakteur beim Dinner nach der Verleihung neben welcher Schauspielerin sitzen musste. Welches Fabrikat die Limousine haben musste, die Mariah Carey vom Flughafen abholte. Und von welcher Seite der Wagen auf dem Vorfeld an den Privatjet heranfahren durfte. Nadia, Isa und Hanna arbeiteten bereits zum dritten Mal für diesen Preis. Vier Monate lang, üppig bezahlt, mit einem etwa 1,75 großen Nachteil: Friedrich von Hogenwarth, ihrem Chef. Er bekam ein Vermögen von den Veranstaltern, damit er den »Bruno« als größtmögliche Funkel-Preisverleihung aufmotzte. Niemand mochte ihn. Bei der Party nach der Verleihung im vergangenen Jahr hatte ein Sportreporter Hanna ins Ohr geraunt: »Auf den würde ich nicht mal pissen, wenn er brennt.«

Von Hogenwarth war generell zu laut, egomanisch und vulgär.

Also wie geschaffen für den Teil der Medienbranche, in dem er bisher gearbeitet hatte. Als sogenannter Krisenreporter für RTL, ohne von den ihn umgebenden Konflikten einen Schimmer zu haben. Als »Witwenschüttler« belästigte er die Angehörigen von Unglücksopfern. Wurde mit seinen schmierigen Filmchen einem Millionenpublikum bekannt. Seine große Stunde schlug dann bei einem Prominenten-Magazin des Senders. Denn von Hogenwarth konnte es immer so aussehen lassen, als sei er mit jedem möglichen Hollywood-Star bestens befreundet. Zumindest die RTL-Zuschauer kauften ihm diese Geschichten ab. Von seinen unzähligen Begegnungen war ein spektakuläres Adressbuch übrig geblieben. Das nutzte ihm heute, da er nicht mehr für das Fernsehen, sondern als »Event-Manager« arbeitete. Für dieses Buch zahlten die »Bruno«-Veranstalter. Nicht weil ihnen in den vergangenen drei Jahren eine einzige liebenswerte Eigenschaft an Hogenwarth aufgefallen wäre.

»Soll ich dir ein Brötchen holen?«, fragte Isa. Sie verarbeitete Stress durch Essen und suchte einen Vorwand, um sich selbst mindestens zwei weitere Brötchen kaufen zu gehen.

Hanna überlegte. Musste sich mit der Entscheidung aber nicht weiter Mühe geben. Denn Hogenwarth stach durch die Tür, die auf den Hinterhof führte. Stolperte über ein Kabel und schnauzte dem am Boden knienden Bühnentechniker, der es gerade zu befestigen versuchte, ein »Dummes Arschloch« zu.

In der Woche vor der Veranstaltung nannte Hanna ihn eigentlich nur noch »den Patienten«. Sein Zustand war offensichtlich besorgniserregend. Blass, beinahe fahl. Hektische Flecken, gelbsüchtig leuchtende Augen und diese Speichelkrusten an den Mundwinkeln. Er fuchtelte mit der zittrigen Hand und zeigte auf jede von ihnen.

»Was hab ich euch gesagt?«, brüllte er schon los, als er noch mindestens fünf Schritte entfernt stand.

»Ich habe euch gesagt, dass ich diesen Fahrer nicht will. Diesen kahlrasierten Porno-Ossi mit seinem Fotzenbärtchen. Der holt mir nicht die Ami-Presswurst vom Flughafen ab. Die dreht doch durch, die Alte. Die setzt sich gleich wieder in ihren Scheiß-Flieger, und wer gibt mir dann die 95000 Euro, wer denn? Ihr etwa?«

Ungeschickt versuchte er sich mit zittrigen Fingern einen weiteren Zigarillo aus der Box zu nesteln. Hanna half ihm und steckte ihn ihm in den Mund. Hogenwarth roch bereits säuerlich.

Nadia, die ihn eine Handbreit überragte, hatte ihr Gesicht bereits zur Faust geballt. Der »Porno-Ossi« war ihr Cousin aus Stuttgart, dem sie diesen Job besorgt hatte. Weil Hanna vermeiden wollte, dass Nadia auf den letzten Metern noch einen schlimmen Fehler machte, wechselte sie schnell das Thema.

»Mir ist eine Lösung für das Nina-Hagen-Problem eingefallen«, vor allem in Hogenwarths Gegenwart bemühte sie sich, leise und ruhig zu sprechen. Denn die kleinste Schrillheit oder erkennbare Aufgeregtheit ihrerseits würde ihn unmittelbar aus der Schiene springen lassen.

Nina Hagen war ihm, wie alle anderen Künstler, völlig egal. Aber Hogenwarth wusste, welche Schwierigkeiten diese Frau machen konnte. Besonders wenn sie mit Menschen zu tun bekam, die sie als Nicht-Künstler, also Dienstboten, wahrnahm.

»Wer Nina Hagen zu ihrer Garderobe führt und diesen schwierigen Tee aufbrüht, nach dem sie ausdrücklichst verlangt, der darf Sascha betreuen«, Hanna grinste. Fabian erinnerte sie durchaus an Sascha. Braune Augen, sportliche Figur, ein mitreißendes Lachen, List im Blick. War nur etwas größer und selbstverständlich schüchterner als ein seit Jahren erfolgreicher Musiker.

Hogenwarth winkte ab, warf den Zigarillo auf den Boden. Sein Versuch, das Ding mit einem Tritt zu löschen, misslang. Im Weggehen schnauzte er, es seien nur noch drei Stunden und sie sollten sich alle, verdammt noch mal, konzentrieren.

Erst als er durch die Tür verschwand, entspannten sich Nadias Gesichtszüge.

»Ich hasse diesen Typen«, sagte sie, »und ich hasse diesen Tag.«

Washington DC
Dulles Airport
12 Uhr Ortszeit

Der Flug würde erst in mehr als vier Stunden starten. Viel zu früh, dachte Sofia. Viel zu früh aufgewacht und viel zu früh am Flughafen.

Der Diplomat hatte selbstverständlich einen guten Wein ausgesucht. Anschließend einen noch besseren. Wenn diese Jungs über den wirklichen Zustand der Welt schon nichts lernen, dann aber doch wenigstens, wo die besten Genüsse wuchsen. Schon nach ein paar Minuten in diesem Lokal bot er ihr das Du und seinen Vornamen an. Jakob. Es gab weit und breit keinen Baum, auch keine Linde. Allerdings einen beachtlichen Ausblick auf den Fluss.

 

Noch drei Passagiere, dann würde Sofia bei der Vorkontrolle ihren Reisepass und das Ticket vorzeigen müssen.

Das war die kleinste Hürde. Denn ihre Dokumente waren echt. Bis Sonntag würde es sie noch als Sofia Pahl geben. Wenn bis dahin alles klappte. Keine Minute länger hätte sie im Bett bleiben können. Die Gedanken daran, was bei ihrer Ausreise schieflaufen konnte oder was, während sie im Flugzeug saß, vielleicht in Berlin misslang, legten sich wie ein Stein auf ihre Brust.

»Wie geht es uns denn heute? Wollen Sie uns wirklich schon verlassen, schöne Frau?« Der Mann in dem weißen Uniformhemd mit den wuchtigen Aufnähern, die ihn als Mitarbeiter des Amtes für Homeland Security auswiesen, hätte ihr Großvater sein können. Wenn Sofias Großvater Pakistani oder Inder gewesen wäre.

»Leider«, anwortete Sofia und stellte ihm die obligatorische Gegenfrage, wie es ihm gehe.