Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron

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An einem Tag ein Jahr nach Tschernobyl wurde ich auf einer Wiese geboren. Geschrien haben muss ich lang, und dunkel war meine Stimme schon bei der Geburt, sagte man mir. Auf die Wiese hat mein Vater eine Dreizimmerwohnung gebaut und meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne. Die Gegenstände stellten wir auf Grashalme und Moos, und das Wetter tat sein Übriges: Ausgebleicht waren alle von der Witterung, vor allem die aus Holz. Die Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal. Egal war aber nicht, der Herd kam zu spät, es war schon Dezember, erst dann konnte die Milch, die nicht von meiner Mutter stammte, in einem kleinen roten Töpfchen erhitzt werden. Das schmeckte mir, dann grinste ich, und mein Vater steckte mir einen Grashalm in den zahnlosen Mund, und meine Mutter drückte auf den Polaroidknopf, und fertig war unsere Dreizimmerwohnung im Park.

 

Heute finde ich das Bild und pinne es mit einer Nadel in die Raufasertapete, die mein Mann Ex-Mann in Ochsenblut gestrichen hat. Ja, an die Wände hat er das geschmiert, es sieht aus wie in einem Ochsenschlachthaus. Ich glaube,

 

Jedenfalls war unsere Dreizimmerwohnung im Sommer am schönsten, natürlich, denn es war ja Sommer. Ich hatte ein eigenes Zimmer, das Hannelore Kohl, unsere Nachbarin, die damals mit ihrem dicken Mann neben uns einzog, als das schönste Kinderzimmer bezeichnete, das sie jemals gesehen habe. Nein, nein, nein, hatte ich daraufhin geschrien, es fehlt die Schaukel, und außerdem hätte ich gerne einen Sonnenaufgang auf der Tapete!  Farbe, sagte meine Mutter, kostet, und mein Vater nickte, und kurz darauf sägte er einen Walnussbaum ab. Und er hatte diese Kreissäge, die sich laut im Kreis drehte, und ich weiß noch, ich sollte ihn zum Abendessen rufen, meine Mutter hatte wieder diesen Wiesensalat aus Wiesenblumen und Spinat gemacht, und ich wollte nicht, weil ich nicht wollte, weil ich faul war, wartete ich und wartete und wartete. Ich wartete also so lang, bis ein Schrei kam, vermutlich von dem Baum mit nur einem Blatt, denn dort fanden die Sägungen statt. Und

An diesem Abend gab es keinen Salat, aber einen Schuldigen, und das war ich. Ich hatte nun meinen Vater auf dem Gewissen, und man weiß ja, wie schwer so ein Vater ist. Er wog ja damals schon an die drei-, vierhundert Kilo, das muss man sich mal vorstellen, er war so schwer, dass die Wiese sich konkav ins Erdreich bog, und wie viel Blut so ein schwerer Mann verliert, das kann man sich sicher auch vorstellen.

Dass mein Vater an dieser Krankheit litt, hat in unserer Familie zu einer – ich sage mal – Schieflage geführt. Mit ihm konnte man fast nichts machen, was mit einer Schwerkraft zu tun hatte. Mein Mann Ex-Mann hat mal gesagt, dass er Angst vor meiner Volljährigkeit habe, weil er sich vor dicken Frauen fürchte und weil mein Vater, das habe ich ihm dummerweise gesteckt, an seinem achtzehnten Geburtstag, den er in der Stadt feierte, wo Erdoğan mal

Wie viele Gegenstände, wie viele Gegenstände, wie viele Gegenstände sollen noch aus dem Fenster fliegen?, haben wir alle im Chor geschrien.

Die ersten Brüste wachsen, langsamer als die Achselhaare, ja, aber immerhin, es ändert sich was. Wir stoßen an mit Cassis, weil er da und lila ist, und spucken Hähnchenknochen in den Eimer, die fliegen nur so durch den Raum. Und die Zweite hatte mal wieder am meisten, obwohl Stelzenbeine, Kinderkörper, insgesamt sind wir ja fünf, aber die Schenkel reichen nie, weil sie, da sind wir uns alle einig, egal, jedenfalls wählt die Erste nulleinhundertneunzig – Nur zwei Mark pro Minute! – und stöhnt auf ein Band, und ein echter Mann am anderen Ende stöhnt zurück jetzt, Ah, ah, ah, macht er in das Kinderzimmer rein. Ein Mann – nur Stimme, kein Körper – fragt nach ihrer, also meiner Nummer, weil günstiger. Klar, sagt die Erste, null-sechs-elf, und so weiter, legt auf, und es klingelt, und wir kichern, lachen, wollen ernst sein, und er fragt: Wie riecht deine Muschi denn? Alle Fragezeichen in den Augen, keine hat ja schon eine echte Muschi. Äh, ja, sie ist klein. – Und eng, fragt er, feucht? – Ja, ja, ja, stöhnt die Erste, alle

Und meine Mutter ist 25 Mitte dreißig, krumm von der Arbeit als Spätzünderin, kommt nach Hause, hat das Erdgeschoss im Eingang getroffen, stapft mitten in die Lache rein, kombiniert, und aus Sorgenfalten werden Zornesfalten. Schimpfen, speicheln, schnauben, schreien tut der Mund, und die Beine ab ins Kinderzimmer, und da landet schon auf meinem Lieblingsteppich der Eimer mit den Knochen. Nein, mein schöner Teppich, nein! Und da fliegt als Erstes aus dem Fenster jetzt der Gettoblaster mit den Spice Girls

swing it

shake it

move it

make it

who do you think you are?

trust it

use it

prove it

groove it

show me how good you are

wird immer leiser und ist weg. Und die Kerzen, die ich mühsam bei Karstadt geklaut habe, und unser Foto, wir fünf auf Fehmarn, stolz und mit Zahnspangen, fliegen raus, und dann der gelbe Wonderbra und der Tigertanga und meine Hausaufgaben, die Bücher, Mathe, Bio, Englisch, raus, der Erlkönig auch, die Lampe, das Tagebuch, die

Ich sitze auf dem Teppich, einziges Überbleibsel, BMI 21, und spucke Hähnchenknochen, die fliegen nur so durch den Raum, um mich herum nur Pute und Pommes, Twix und Nutella. Zusammen sind wir fünf.

Da steht ein zwei Meter großer Mann vor mir und zieht sich aus. Seine Stimme ist Bariton und sein Körper eine Statue aus Griechenland. Sein Hund ist eine Bestie, die mich ankläfft und ausgesperrt wird. Ich lutsche seinen Kalkschwanz und denke an Pamukkale. Denke daran, dass mein Dede jetzt unter der Erde ist und wir beide nie verstanden haben, was der andere sagte. Wir saßen nebeneinander, und er rülpste: Çok güzel, und ich nickte nur, und er zog an seiner Pfeife, und der Qualm kam wieder heraus aus seinem Loch im Hals. Ich weine und eine Träne tropft auf den Penis und perlt ab. Die Statue stöhnt dunkel und kommt salzig in mir, es schmeckt nach dem ganz alten Beyaz Peynir.

 

Es gab eine Wäscheleine, die sich durch die ganze Wohnung zog. Daran hingen alte Hemden eines alten Menschen, der das Wasser nie aus der Leitung trinkt. Bakterien und Keime, erklärte meine Mutter mir frühmorgens und gähnte. Und Dede nahm mich mit zum Bäcker und kaufte mir einen Simit, weil ich so geweint hatte, als meine Mutter noch mal eingeschlafen war. Und weil alle Sesamkörner von meinem

Unten im Hof lag etwas und stank, der Geruch verfolgte uns bis in die Wohnung, er stank bis in die Küche, und ich weigerte mich, den Simit zu essen. Vielleicht weil er schwach oder krank war, vielleicht ging es um Territorialbesitz. Streunende Hunde machen das so. Bei den Temperaturen stinkt eine Leiche sehr schnell.

 

Der Bariton schnarcht, ich schleiche ins Bad, der Hund verfolgt mich und knurrt. Ich gehe schneller, ziehe die Tür zu, er kratzt an ihr und bellt. Ich höre ihn jaulen, dann schnüffeln und hecheln, dann wird es plötzlich still.

 

Dede aß Simit, und die Sesamkörner fielen aus dem Loch in seinem Hals heraus. Er nahm eine Tüte und schimpfte: Köpek … plastik … korkak … Er schüttelte den Kopf, und meine Mutter begann zu weinen, und ich fragte: Warum weinst du denn jetzt? Und was heißt das? Was sagt Dede da? – Das kann man nicht übersetzen, schmatzte mein Vater und trank einen Schluck aus der Leitung.

Ich kotze ins Wasser und sehe kleine Spermien darin schwimmen. Ich werfe eine Aspirin ins Wasser, und sie schäumt auf wie zum Beispiel milde rote Paprika, wenn man sie in Butter brät, oder wie die Strudel im Fluss, an dem wir jetzt spazieren gehen. Dede schmeißt eine Tüte ins Wasser,

Manchmal besucht uns ein braunes Kätzchen. Auf dem Sims leckt es sein Pfötchen und dreht das Köpfchen nach links rechts links. Wir wollen es streicheln, aber schon huscht es davon. Weil ich weine, weil ich es hierbehalten will, legen Mama und ich uns auf die Lauer und warten. Und als es endlich einmal in Strömen regnet, schneidet Mama schnell einen Emmentaler und wir warten, bis das Kätzchen anbeißt. Stunden später sitzt es auf dem Perserteppich, und Mama föhnt sein Fell. Es gibt immer was zu tun, lacht sie und föhnt auch noch den Schwanz.

 

Die Katze kommt öfter, bald gehört sie uns. Wir nennen sie Köfte.

 

Einmal schweißt Papa draußen einen Gegenstand so laut, dass ich Köfte die Ohren zuhalte. Weil ihr das nicht gefällt, kratzt sie mir fünf Streifen Strafe auf die Arme. Deswegen hab ich sie in die Waschtrommel gesteckt und von außen gewunken und dabei laut Ich wasch dich jetzt! gesungen. Ich habe die Waschmaschine imitiert und selbst gepiept. Miau, macht Köfte, Miau. Nachdem ich den

Ich ziehe am Henkel, ich reiße am Plastik, klopfe gegen die Scheibe, doch sie geht nicht auf. Miau, macht Köfte, Miau. Luft, denke ich, hat sie dadrin überhaupt Luft?, und renne mit einer großen, übergroßen, riesigen Portion Angst zu Papa. Der steht da wie jeden Morgen, in voller Montur, und schüttelt den Kopf, der heute in einem Schweißerhelm steckt. Also renne ich zurück in die Küche und schau in die Trommel. Miau, macht Köfte, Miau.

 

Nur in dringenden Fällen, hat Mama am Morgen gesagt, denn schließlich ist es in der Klinik ihr erster Tag, also wähle ich die Zwei. Miau, macht Köfte, Miau. Am Telefon fragt eine Frau eine Frau, die eine Frau fragt, die eine Frau fragt, die eine Frau fragt, wo Mama ist. Als Mama endlich rangeht, wird sie ganz rot am anderen Ende der Leitung, ich weiß es, denn ihre Scham oder Rage rast durch das Kabel, und unser Hörer, der bis eben noch beige war, verfärbt sich wutrot.

 

Miau, macht Köfte, Miau. Ewig rede ich ihr durch die Scheibe gut zu, und als Mama endlich nach Hause kommt, wird sie sofort zehn Jahre älter. Das finde ich gar nicht gut,

Jetzt sitzt Köfte auf dem Untersuchungsstuhl, der mein Kinderstuhl ist. Für Reflexe klopft Mama auf ihre Pfoten, den Rest von Köfte hört sie ab. Aber sie schaut nur in die Ohren richtig rein, dabei könnte sie doch alles kontrollieren. Es ist schon gut, aber das glaube ich ihr nicht nach der halbherzigen Untersuchung, die nicht mal vollständig war. Also hebe ich vorsichtshalber Köftes Schwanz und steck meinen Finger in ihren Po. Köfte quietscht und flutscht wie Seife davon.

 

Sie ist jetzt schon seit Tagen verschwunden. Jeden Tag warte ich auf der Wiese und rufe: Köfte. Dann, an einem Morgen, an dem der Tau endlich kitzelt, kommt Mama mit dem Großeinkauf nach Hause, denn in der Tierklinik ist die Arbeit seit heute wieder vorbei für sie. Kein Wunder, denke ich, schließlich habe ich ja die oberflächliche Krankheitsanalyse von Köfte hautnah miterlebt, und vielleicht sollte sie sich lieber den unbelebten Dingen zuwenden.

Trotzdem freue ich mich natürlich über sie, denn sie hat einen Block Käse mitgebracht. Sofort schneiden wir ihn

 

Jetzt sitzt Köfte wieder auf dem Tisch und schnurrt. Ihr Lenorfell pufft, dafür sind die Pfoten jetzt schwarz – was für ein komisches Tier. Um die Dreckspfötchen kümmere ich mich morgen, denke ich und: Mama hat recht: Es gibt wirklich immer was zu tun.

Wir sitzen beim Döner, Omi und Opi sind zu Besuch, irgendwann muss man ja mal die Kultur des anderen kennenlernen. Ich bin acht und trage sehr weite Kleider, aber man ahnt, was darunter so wächst. Und Papa bestellt zweimal alles plus Pommes, weil er weiß, dass seine frisch geschiedene Lieblingstochter die liebt. Lamm mit Rosinen und Platten voll Gemüse und eiskaltes Cacık und dampfender Grieß. Der Ausländer gibt sich die größte Mühe seit ein paar Jahrzehnten in unserem Land, sagt die Omi und rutscht so komisch auf dem Stuhl hin und her. Dass sie mal aufs Klo muss, verrät sie uns erst, als Opi ins letzte Baklava beißt. Und Mama jetzt peinlich, wie toll alles war, Gemüse, das kennt bei uns keiner. Zum Beispiel Okraschoten, oder kennst du die, Mami? Die Omi findet die schleimig, sonst nichts. Wie die Geschäfte so laufen, will der Opi jetzt noch wissen, meine Mutter sagt schnell nur: Es muss ja, es muss. Ich verdrehe die Augen und kaue Pommes und schütte noch mehr von der Mayo dazu. Dass ich mit der Figur aufpassen soll, sagt der Opi leise zu mir, während die anderen sich streiten, wer nun bezahlt. Dass die Speckbrüstchen nur ein Anfang wären, dass der Speck sich im Gegensatz zu mir richtig

Ich lege die Pommes zurück, lange schauen wir uns an. Plötzlich sehe ich ihn bei uns Sturm klingeln, ich sehe ihn Papa beschimpfen, ich sehe den Weihnachtsbaum, der auf ihm landet, ich sehe ihn als Jungen mit geschorenem Haar, ich sehe ihn einen Schnurrbart rasieren, ich sehe ihn durch den Schnee stapfen, ich sehe ihn unter der eisigen Dusche krampfen, ich sehe ihn Omi befruchten, ich sehe ihn in einer Ecke weinen, sehe ihn büffeln und die Uni bestehen, ich sehe ihn kleine Kätzchen quälen, ich sehe ihn einen Hirsch erschießen, ich sehe ihn mit Mama überm Knie, sehe ihn mit den vier anderen Schwestern überm Knie, ich sehe ihn scheißen, ich sehe ihn ein Poster der Beatles zerreißen, ich sehe ihn wichsen, ich sehe ihn nach ein paar Kurzen hicksen, ich sehe ihn mit mir ein Vogelhäuschen bauen und als Junge zehn Eier beim Nachbarn klauen, ich sehe ihn eine uralte Frau pflegen und danach den Hirsch zersägen. Und dann plötzlich sehe ich, wie die Pommes frites vom Teller abheben, ich sehe, wie sie sich suchen und finden, wie sie sich in der Luft ineinander verschlingen, wie sie nun eins sind und wie dieses Ding mit geballter Kraft als Kalorienbombe an seinen Schädel dranklatscht. Aua!, schreit jetzt der Ernährungsberater, was fällt dir ein?!, und schaut hilflos durch den Dönerimbiss, denn ich bin die Einzige, die noch am Tisch sitzt. Der Rest der Familie steht vor den Leuchtschildern, wo Mama stolz erklärt, wie die verschiedenen Gerichte so schmecken. Nur Papa schaut kurz zu

Die Tage nach Papas Tod sind kalt. Abends rufen wir Gute Nacht, gute Nacht, aber hören können wir uns kaum, so laut ist der Regen, hallt er durch den Raum. Wir haben die Fenster immer offen, auch in der arktischsten Nacht bleibt das Fenster auf halb acht, so nennt das meine Mutter, wenn sie die Fenster kippt. Warum, haben Papa und ich bis vorgestern täglich gefragt, müssen wir immer alle Fenster offen stehen lassen? Wir frieren uns doch hier noch einen Ast! Darauf sagte sie immer bloß: Wegen der Beatles, der Beatles, und wir sagten: Ja, das haben wir schon verstanden, aber verstanden haben wir das nicht!, woraufhin sie nur wieder zu den Fenstern rannte und eins nach dem anderen kippte.

Während ich also jetzt in meinem Zimmer liege, liegt meine Mutter in ihrem unter einer Decke, die bis heute zwei gewärmt hat, aber mein Vater liegt jetzt nicht mehr neben ihr, sondern unter der Erde am Ende der Wiese auf einem kleinen Berg mit Kopf in Richtung Südost. Ich stelle mir vor, wie Würmer in seinen Mund kriechen, Spinnen Netze in seine Achsel weben, das Leinentuch sich vollsaugt mit Regen und Schmutz. Ich stelle mir vor, wie die

Ein, zwei Stunden nach seinem Tod hatte meine Mutter die Kreissäge abgestellt und irgendwo angerufen. Kurz darauf war ein Mann gekommen, der die Wiese großräumig abriegelte. Dann war ein Arzt gekommen, der ihn für tot befand. Dann war noch ein Mann gekommen, der ihn fotografierte. Kaum hatte er meinen Vater abgelichtet, war noch ein Mann gekommen, der merkwürdige Schilder aufstellte. Danach war noch ein Mann gekommen, dessen Job es sein musste, durch das Gras zu waten, und noch einer, der sich die Beine in den Bauch stand. Danach war noch ein Mann mit Fotoapparat gekommen, der aber von einem Mann, der im selben Moment aus einem Auto gestiegen war, vertrieben wurde. Dann war noch ein Mann im Astronautenanzug gekommen und dann noch ein Mann, der mit dem Mann ins Gespräch kam, der aus dem Auto gestiegen war und sich inzwischen über meinem Vater beugte. Dann war noch ein Mann gekommen, der sich ebenfalls über meinen Vater beugte. Dann war noch ein Mann gekommen, der in den Himmel sah, meine Mutter zu sich winkte, doch die hat da eh nur noch den Kopf geschüttelt. Dann war noch ein Mann gekommen, der alle Anwesenden verscheuchte.

Der letzte Mann begann, meinen Vater auszuziehen, mit ihm zu reden, manchmal sang er, manchmal fragte er ihn auch etwas, wobei sich seine Stimme gegen Ende der Frage überschlug und wie ein Muezzin mit Bronchitis klang. In sich verändernden Abständen zog er bronchialen Schleim

Als all das Blut endlich abgewaschen war – an manchen

*

Die Waschung dauerte Stunden. Man hätte den Gartenschlauch nehmen sollen, sagte meine Mutter. Sie kannte die Dimensionen seines Körpers nur zu gut, und Effizienz war immer eine ihrer Tugenden gewesen. Die hatte sie gelernt, würde mein Psychologe später sagen, erst durch Schläge, dann Gehorsam, und schließlich verselbstständigte sich diese Effektivität, die ihr Vater auch Verlustarmut nannte, bis zu diesem Tag, an dem sie etwas Gewaltiges verlor und nichts dagegen tun konnte, außer –

Meine Mutter stromerte durch die Wohnung und überlegte laut, was sie mit all den Habseligkeiten ihres Mannes anstellen wollte, wie viel Quadratmeter mehr ihr nun in unserer Wohnung zur Verfügung stünden und dass sie endlich mal wieder was mit Kalorien kochen könne. Als sie den Akkuschrauber in den Mülleimer schmiss, schrie ich: Du kannst doch jetzt, da liegt er doch noch, da kannst du doch nicht so über meinen Vater reden! – Das, das ist nicht mehr dein Vater, schrie sie zurück, da liegt ein walzenförmiger Körper in Leinen eingehüllt. Natürlich kann ich das! Und

 

In diesen Tagen geht auch die Wiese ein. Alle Blümchen lassen die Köpfe hängen, dann fallen sie ab, fliegen die Bienchen davon, und die anderen Tiere verziehen sich auf saftigeren Boden, denn unserer ist traurig und trocken geworden.

In diesen Tagen gibt es auch keine Spitzen mehr. Und allmählich verliert man das Bedürfnis, Dinge zu kontrollieren. Man verschreibt sich ohne Konsequenzen, man lässt Sätze einfach falsch da stehen. Man klaut Stifte und in Supermärkten und zeigt stolz die Ausbeute herum. Man verlässt nachts das Gefängnis und kommt morgens mit einer Lüge zum Frühstück, sich streckend, als wäre man gut ausgeruht. Man steckt die Nase in den Kühlschrank und zieht sie wieder raus. Man ruft bei alten Männern an. Man imitiert die Trends und zupft sich die Brauen streichholzdünn. Man hört auf zu essen und träumt von Pommes frites. Man spaziert schon vor Sonnenaufgang auf der Wiese herum, um nach Sonnenuntergang doch nicht am Grab gewesen zu sein. Man schreibt Dinge auf, die man vermisst. Man gibt eine Vermisstenanzeige auf:

 

Seit dem Tod meines Vaters fehlen mir schrecklich Ackerwitwenblumen, Echter Baldrian und Beinwell, Dost-Oregano, Duftveilchen, Gemeiner Efeu und Persischer Ehrenpreis, Echter Eibisch, Vierblättrige Einbeere, Eisenkraut und Hör endlich auf, oh bitte hör auf!,

Als die Wiese abgestorben war, hatten Walzen dampfenden Asphalt gebracht. Jetzt parken Autos darauf und Menschen laufen hin und wieder vorbei, als wäre es das Normalste auf der Welt. Früher hatten wir die Wiese für uns, nur die Nachbarn luden wir zu Geburtstagen ein, für die Hannelore immer gigantische Käsekuchen buk.

Die meisten Gegenstände hieven wir gemeinsam aus dem Fenster. Unten liegen sie dann auf der Straße herum, also schieben wir sie gegen die Hauswand, gehen wieder in die Wohnung und werfen die nächsten Gegenstände aus dem Fenster. So leeren wir unsere gesamte Dreizimmerwohnung in kürzester Zeit oder bekommen Hilfe von einem Unternehmen. Danach klopfen wir uns gegenseitig auf die Schultern, was komisch ist, wir haben uns lang nicht berührt.