BUCH
Der Feldzug für eine gesunde Lebensweise, der Kult um den Körper, der Ruf nach der Gemeinschaft – so manches, was den Alltag im »Dritten Reich« prägte, erscheint uns heute erschreckend vertraut, wie Tillmann Bendikowski in diesem Buch zeigt. Aber konnte es damals überhaupt so etwas wie ein »normales« Leben abseits von Zwängen der Diktatur geben? Der Autor begibt sich auf eine erzählerische Zeitreise in die (auch zeitliche) Mitte der NS-Herrschaft, indem er das Alltagsleben der Deutschen während einer Spanne von zwölf Monaten erkundet: zwischen Dezember 1938 und November 1939, als schon der Zweite Weltkrieg tobte und auch das missglückte Attentat im Münchener Bürgerbräukeller das Regime nicht mehr stürzen konnte. Ein neuer, ungewöhnlicher Blick auf das Leben der Deutschen zwischen Alltag und Diktatur.
AUTOR
Dr. Tillmann Bendikowski, geb. 1965, Journalist und Historiker, promovierte 1999 bei Prof. Hans Mommsen an der Ruhr-Universität Bochum. Als Gründer und Leiter der Medienagentur Geschichte in Hamburg schreibt er Beiträge für Printmedien und Hörfunk und betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen. Seit 2020 ist er als historischer Kommentator im NDR Fernsehen zu sehen, wo er in der Reihe »Das! historisch« Geschichte zum Sprechen bringt. Bei C. Bertelsmann erschienen von ihm u. a. »Der Tag, an dem Deutschland entstand. Geschichte der Varusschlacht« (2008), »Friedrich der Große« (2011), »Sommer 1914« (2014), »Der deutsche Glaubenskrieg: Martin Luther, der Papst und die Folgen« (2016), »Ein Jahr im Mittelalter« (2019) und zuletzt »1870/71: Der Mythos von der deutschen Einheit« (2020).
TILLMANN BENDIKOWSKI
Hitler
wetter
Das ganz normale Leben in
der Diktatur: Die Deutschen und
das Dritte Reich 1938/39
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© 2022 C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Bildredaktion: Annette Baur
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-27548-8
V001
www.cbertelsmann.de
Inhalt
Einleitung: Ein gutes Leben?
1 Friede auf Erden
Weihnachten 1938: Ein Fest in banger Hoffnung
2 Begeisterung und Angst und Schrecken
30. Januar 1939: Adolf Hitler spricht vor dem Reichstag
3 Die Pflicht, gesund zu sein
17. Februar 1939: Das Heilpraktikergesetz
4 Woran die Deutschen glauben
25. März 1939: Die »Godesberger Erklärung«
5 Hitler feiert 50. Geburtstag
20. April 1939: Ein Tag Sonderurlaub für die Deutschen
6 Muttertag
21. Mai 1939: Frische Blumen und neue Kreuze
7 »Arbeit adelt«
19. Juni 1939: Aufruf zum »Ernteeinsatz« der »Hitler-Jugend«
8 Das Versprechen einer guten Zeit
21. Juli 1939: »Kraft durch Freude«-Reichstagung in Hamburg
9 Verzweiflung im Exil
14. August 1939: Schanghai schränkt die Einwanderung ein
10 Wieder in den Krieg
1. September 1939: Deutsche Soldaten überfallen Polen
11 Kluge Deutsche – dumme Deutsche
10. Oktober 1939: Sorge über den Rückgang der Bildung
12 Jeder Einzelne
8. November 1939: Das Attentat in München
Bilanz: Die eigene Geschichte
Anmerkungen
Literatur
Zeitungen, Zeitschriften und Periodika
Bildnachweis
Es ist typisch wenigstens für die ersten Jahre der Nazizeit, daß die ganze Façade des normalen Lebens kaum verändert stehen blieb: volle Kinos, Theater, Cafés, tanzende Paare in Gärten und Dielen, Spaziergänger harmlos flanierend auf den Straßen, junge Leute glücklich ausgestreckt an den Badestränden.
Sebastian Haffner in seinen 1939 verfassten Erinnerungen Geschichte eines Deutschen1
Einleitung: Ein gutes Leben?
Können die Menschen in einer Diktatur tatsächlich glücklich an einem Badestrand liegen? Frisch verliebt durch die Straßen schlendern, in ein Café oder ins Kino gehen? Können sie ausgelassen tanzen, lachen und zufrieden sein, Fußball spielen und in den Urlaub fahren, eine Familie gründen und ihre Zukunft planen? Solche Vorstellungen scheinen auf den ersten Blick nicht zu unserem Bild vom »Dritten Reich« zu passen. Denn diese zwölf Jahre sind schließlich das finsterste Kapitel der deutschen Geschichte, geprägt von unfassbaren Verbrechen. Konnte es in dieser Zeit so etwas wie ein »normales« Leben abseits von Mord und Totschlag geben, ein Leben mit seinen alltäglichen Freuden, Nöten und Hoffnungen?
Dieser Frage will das vorliegende Buch nachgehen und einen Blick auf den Alltag in der NS-Diktatur werfen – in Reaktion auf die eigentümlich zweigeteilte Erinnerung an die Diktatur, die bis heute das Geschichtsbild der meisten Deutschen prägt: Da gibt es einerseits die immer umfangreicher werdende wissenschaftliche Forschung über die Zeit zwischen 1933 und 1945, die ein beeindruckendes Wissen über die Strukturen und Ereignisse zutage gefördert hat. Und andererseits gab und gibt es eine lange Tradition der Familiengeschichten, in der die individuelle Erinnerung der Eltern- und Großelterngeneration vorherrscht. Das Erinnern und das Wissen standen und stehen sich dabei konkurrierend gegenüber: Ist das »Album der Familiengeschichte« vor allem mit den Themen Krieg und Heldentum, mit persönlichem Leiden, Verzicht und Opferbereitschaft gefüllt, finden sich im »Lexikon des Wissens« in vielen Details die Kapitel Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung. Dieses »Lexikon« bietet einen kognitiven Zugang zur NS-Zeit, das »Album« einen emotionalen.2
Ein Buch über das alltägliche Leben in der Diktatur kann einen Beitrag dazu liefern, diese Teilung der Erinnerung zu überwinden. Denn es verknüpft das Wissen um die Strukturen der Diktatur mit den Erlebnissen der Menschen in diesen Strukturen – Alltag und Verbrechen kommen hier gleichermaßen vor. So mag es gelingen, die Jahre zwischen 1933 und 1945 den Nachgeborenen ein wenig »näher« zu rücken und damit letztlich nachvollziehbarer zu machen, weshalb so viele Menschen in diesem Land mit der NS-Herrschaft sympathisiert und das »Dritte Reich« über so viele Jahre hinweg unterstützt haben – und andere nicht. Denn das ist bis heute die zentrale Frage in der Auseinandersetzung mit dieser Zeit: Weshalb konnte diese Diktatur funktionieren?
Damit hat das Buch zugleich ein denkbar aktuelles Motiv. Seit Jahren nehmen die Attacken auf die zivilisatorischen Errungenschaften unserer freiheitlichen Demokratie zu. Parlamentarier und Amtsträger werden diffamiert, der Staat oft genug verächtlich gemacht und seine Ansprüche an die Bürgerinnen und Bürger nicht erfüllt, Populisten erhalten für ihren Kampf gegen das Recht und die Freiheit erschreckend viel Applaus. Ist die Wertschätzung für das Leben in einer Demokratie noch groß genug? Wissen die Deutschen denn nicht mehr, wie sich ein Leben ohne Demokratie anfühlt? Die Erinnerung an die SED-Diktatur kann da augenscheinlich nicht helfen, denn längst hat eine als »Ostalgie« verniedlichte Haltung im Umgang mit der DDR-Geschichte im öffentlichen Raum die Behauptung möglich gemacht, damals sei »auch nicht alles schlecht gewesen«. Das mag als tröstende Verklärung für die eigene Biografie menschlich nachvollziehbar sein, aber für einen gesellschaftlichen Lernprozess angesichts der Katastrophen deutscher Diktaturen taugt so eine Aussage indes nicht. Kann es denn ein gutes Leben in einer Diktatur geben? Die nachwachsenden Generationen dürfen erwarten, auf diese Frage eine klare Antwort zu erhalten – und die Geschichtsschreibung trägt hier ihren Teil der politischen Verantwortung.
Wie ein Leben ohne Demokratie aussieht, davon berichtet dieses Buch, indem es eine erzählerische Reise in die NS-Diktatur unternimmt: Betrachtet wird ein Jahr im »Dritten Reich«, und zwar zwischen Dezember 1938 und November 1939. Diese Phase markiert – was die Menschen damals noch nicht wissen konnten – in zeitlicher Hinsicht zugleich die Mitte der NS-Herrschaft: 1939 dauert sie bereits sechs Jahre an, und sie hat noch sechs weitere Jahre vor sich. Während die ersten sechs Jahre von der Stabilisierung der Diktatur geprägt sind, werden die zweiten sechs Jahre mit Beginn des Zweiten Weltkriegs schließlich ganz im Zeichen des Niedergangs, des entfesselten Massenmords und der totalen Niederlage stehen.
In dem hier gewählten Zeitabschnitt von zwölf Monaten werden zwölf Themen unter die Lupe genommen, die jeweils mit einem konkreten Datum verknüpft sind: Vom Wunsch nach »Friede auf Erden« wird beispielsweise im ersten Kapitel über das Weihnachtsfest 1938 berichtet, von »Angst und Schrecken« hingegen anlässlich des 30. Januar 1939, als Adolf Hitler im Reichstag die »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« ankündigt. Andere Kapitel beschreiben, wie sich der Arbeitsalltag verändert hat, wie sehr die Intellektuellen verachtet werden, welche religiösen und spirituellen Angebote diese Zeit bereithält oder weshalb die Deutschen angehalten werden, auf ihre Gesundheit zu achten und beispielsweise auf Zigaretten und Alkohol zu verzichten. Auch wird daran erinnert, dass viele Menschen Urlaub machen und nicht nur in dieser Hinsicht dem offiziellen Versprechen auf eine »gute Zeit« vertrauen – dies zeigt beispielsweise der 21. Juli 1939, an dem Tausende zur »Kraft durch Freude«-Reichstagung nach Hamburg kommen. Dass es dann doch keine gute Zukunft gibt, wird spätestens mit dem 1. September 1939 klar, als wieder ein Krieg beginnt – gerade erst haben die Deutschen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs 25 Jahre zuvor gedacht …
Die Bedingungen für das alltägliche Leben dieser zwölf Monate stecken die Diktatur und ihre Strukturen ab. Was in der Schule gelehrt wird, warum Jugendliche freiwillig auf »Streife« gehen und politische Abweichler anzeigen, in welchem Maß die Deutschen Altpapier und sorgfältig gewaschene Knochen sammeln, warum ihnen hochoffiziell die Haltung von Angorakaninchen nahegelegt wird oder weshalb sich frisch verheiratete Frauen bei eigens errichteten »Gaubräuteschulen« zu Mütterkursen anmelden sollen – das geben Partei und Staat vor. Und die Menschen richten sich ein. Die historische Forschung hat längst herausgearbeitet, dass das vorherrschende Lebensgefühl der Deutschen zu dieser Zeit keineswegs die Angst vor persönlicher Verfolgung war. Ebenso wenig folgten sie einer wie auch immer gearteten Lust zur Unterwerfung unter eine Diktatur, die sie ablehnten. Vielmehr waren die meisten Deutschen mit der herrschenden Politik durchaus zufrieden, entweder in Gänze oder über weite Strecken, und sie trugen ihren Teil zum Funktionieren des Systems bei.3
Diese Gefolgschaft bedurfte weder permanenter Kontrolle noch der Manipulation durch die NS-Propaganda: Gerade in dem hier betrachteten Zeitabschnitt, sowohl in den letzten Monaten des Friedens als auch noch in den ersten Monaten des Weltkriegs, konnte die Diktatur in einem hohen Maß auf die Kooperation der Menschen im Land setzen. Die übergroße Mehrheit der Deutschen unterstützte weiterhin Adolf Hitler und machte ihn damit noch mächtiger. Das ist politisch von Bedeutung, denn auch ein Diktator ist auf Zustimmung angewiesen und wäre ohne Gefolgschaft letztlich ohnmächtig: »Wenn ich den Gesetzen eines Landes gehorche«, so hat mit Blick auf die NS-Zeit die Philosophin Hannah Arendt erklärt, dann »unterstütze ich in Wirklichkeit dessen Verfassung.« Wer also einer Diktatur seine Gefolgschaft verweigern wolle, dürfe nicht am öffentlichen Leben mitwirken und müsse deshalb auch all jene »Orte der Verantwortung« meiden, wo die Unterstützung des politischen Systems unter Berufung auf das Prinzip des Gehorsams gefordert wird.4
Dass es so wenigen Deutschen gelang, diese »Orte der Verantwortung« im Alltag auszumachen und ihnen in einem Akt des zivilen Ungehorsams fernzubleiben, ist heute nur allzu bekannt. Die Mehrheit der Deutschen organisierten während der Diktatur ihren Alltag, vermieden für sich und ihre Familien mögliche Nachteile, nutzten dafür aber nach Möglichkeit die sich bietenden Vorteile. Für die meisten von ihnen ging das Leben nach 1933 zunächst einmal in einem ganz praktischen Sinne weiter, wenngleich unter anderen politischen Vorzeichen: Es gab neue Organisationen und neue Verpflichtungen, jede Menge großer und kleiner »Führer«, und auf den Straßen begrüßten sich die Menschen mit »Heil Hitler«. Doch auch weiterhin fuhren die Straßenbahnen und Ferienzüge, die Kinder gingen zur Schule, die Väter zur Arbeit, die Mütter sorgten für den Haushalt und die Organisation des familiären Alltags. Vieles hatte sich unter den Nationalsozialisten verändert – das allermeiste im Leben der Deutschen blieb indes über lange Zeit gleich. Was war das für ein »normales Leben«, in dem längst auch das Verbrecherische zum Alltag gehörte? In dem zugleich Rechtlosigkeit und Willkür, Mord und Totschlag längst »normal« geworden waren? Lässt sich – ebenfalls in Anlehnung an Hannah Arendt – von einer bizarren »Normalität des Bösen« im Alltag sprechen, die dazu beitrug, dass das »Dritte Reich« funktionieren konnte?
Dieses vermeintlich »Normale« macht uns Nachgeborenen die NS-Zeit zugleich verstörend vertraut: So fremd ist dieses Leben dann vielleicht doch nicht, wie es auf den ersten Blick scheint – und wie wir es gerne hätten. Und so beginnt die erzählerische Zeitreise auch bewusst mit einem uns heute noch wohlvertrauten Fest: Weihnachten. Das Land liegt in diesem Dezember 1938 tief verschneit da, Glocken läuten, Kerzen brennen, Kinder schauen mit großen Augen auf ihre Geschenke …
Das alte, schöne Weihnachtslied »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« zieht uns in seinen Bann und läßt uns das Glück erkennen, wie wohlgeborgen wir im deutschen Vaterland sind unter einer Führung, um die uns die Welt beneidet.
Leitartikel der Dortmunder Zeitung am 24. Dezember 19385