Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2016
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Lektorat Sophie Härtling
Einband- und Innenillustrationen Edda Skibbe
Einbandgestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-499-21726-5 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-55651-5
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-55651-5
Warnung!
Dieses Buch ist nicht geeignet für Zweibeiner, die gerne «Das gibt’s ja gar nicht!» sagen oder «Das glaubt doch kein vernünftiger Mensch!». Diese Zweibeiner sollten ihre Nase möglicherweise lieber in ein anderes Buch stecken. Denn in dieser Geschichte ist tatsächlich einiges höchst ungewöhnlich. Das fängt schon damit an, dass sie von einem Hund erzählt wird, nämlich von mir.
Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Mein Name ist Eddy. Eddy, der Schnüffler! Ich bin größer als ein Meerschweinchen und kleiner als ein Rasenmäher. Selbstverständlich bin ich ein Rassehund! Sogar eine Mischung aus verschiedenen Hunderassen. Und von allen habe ich nur das Beste abgekriegt, vor allem die beste Spürnase der Welt! Im Gegensatz zu meinen vierbeinigen Kumpeln benutze ich meine Supernase nicht nur zum Aufspüren von runtergefallenen Wurstscheiben und Leckerchen im Park, sondern zum Aufdecken von Geheimnissen! Ich bin nämlich ein Eins-a-Schnüffler, also eine Art Detektiv! Allerdings warte ich immer noch auf meinen ersten richtigen Fall. Na ja, bis der mir vor die Pfoten kullert, versuche ich eben dazuzulernen.
Zum Glück guckt Karen, die Mama meines Lieblingszweibeiners Jo, leidenschaftlich gerne Fernsehkrimis. Und während ich mich auf dem Sofa von ihr kraulen lasse, passe ich immer genau auf, wie die TV-Kommissare ihre schwierigen Fälle lösen. Dabei haben die ja nicht mal so eine tolle Spürnase wie ich! Ehrlich, mir entgeht nicht die leiseste Spur! Aber das lasse ich mir nicht anmerken. Es ist gut, wenn man als Schnüffler unterschätzt wird. Dann werden die Leute unvorsichtig und gehen einem umso leichter in die Falle. Mein Großvater nannte das den «Columbo-Effekt». Aber das stammt aus einer anderen Zeit.
Meine Zweibeiner-Familie ist ziemlich überschaubar: Sie besteht aus meinem Jungchen Jo (meiner Meinung nach passt «Jungchen» viel besser zu Jo als «Herrchen»!) und seiner Mama Karen. Als Jos Papa ausgezogen ist, bin ich eingezogen! Ich glaube, ich sollte eine Art Trostpflaster für Jo sein. Also, weil sich seine Eltern getrennt haben. Aber das nehme ich nicht persönlich. In aller Bescheidenheit: Ich bin ein echt gutes Trostpflaster. Wir Vierbeiner – und ich im Besonderen – sind ja unglaublich einfühlsam!
Aber jetzt genug zu mir. Ich muss mich bereithalten, denn Jo kommt bald aus der Schule. Nicht, dass ich die Uhr lesen könnte. Das ist gar nicht nötig. Als aufmerksamer Schnüffler erkenne ich die Anzeichen für Jos bevorstehende Ankunft sofort und kombiniere, bis sich ein vollständiges Bild ergibt. Für mich ein Kinderspiel.
Erstes Indiz: Jos Mama klappt hektisch ihren Laptop zu und stürmt in die Küche.
Zweites Indiz: Sie durchwühlt Kühlschrank und Kühltruhe nach Zutaten, aus denen sie ein nahrhaftes Essen zaubern könnte. Zumeist erfolglos.
Drittes Indiz: Sie greift zum Telefon und ruft Charlies Pizza-Service an. Falls Jos Mama diesen Punkt überspringt und direkt ein paar Eier in die Pfanne haut, kann ich mich schon mal an der Tür positionieren, denn Jos Ankunft steht kurz bevor. Natürlich erkenne ich Jos Schritte auf hundert Meter Entfernung, aber schon lange vorher habe ich ihn gewittert. Denn nichts, wirklich gar nichts duftet so wunderbar wie Jo! Na ja, außer vielleicht Mettwürstchen.
Da geht die Tür auf, und Jo kommt hereingestürmt. Wie immer springe ich begeistert an ihm hoch, wedele wie verrückt mit dem Schwanz und belle ausgiebig. Ich finde, das ist eine Geste der Höflichkeit. Aber anscheinend nicht für jeden: In der Hundeschule, die Jo, Mama und ich während meiner Welpenzeit überflüssigerweise besucht haben, wollte die Trainerin mir das Hochspringen abgewöhnen. Völliger Unsinn natürlich! Ich möchte mal Jos Gesicht sehen, wenn ich ruhig liegen bleibe und gar nicht reagiere, wenn er nach Hause kommt. Da wäre er doch total enttäuscht, oder?
Jo wuschelt mir durchs Fell und strahlt mich an: «Hallo, Dicker!», sagt er. Jo sagt immer «Dicker» zu mir. Dabei bin ich gertenschlank und überaus sportlich. Aber dies nur am Rande.
«Hey, Eddy, willst du mich denn gar nicht begrüßen?»
Also wirklich! Flora, Jos beste Freundin, sollte langsam wissen, dass sie eben immer erst nach Jo dran ist. Auch wenn Flora zu meinen erklärten Lieblingszweibeinern zählt. Flora und ihre Eltern wohnen im Reihenhaus nebenan. Ich kenne ihren Tagesablauf fast so gut wie unseren, weil die Hauswände dünn sind wie Papier und ich nicht nur eine gute Spürnase habe, sondern auch ungewöhnlich scharfe Öhrchen.
Floras Eltern betreiben in der Stadtmitte eine kleine Saftbar. Da werden von früh bis spät Obst, Gemüse und alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist, ausgepresst und blitzschnell zu Saft verarbeitet. Ehrlich, diese komischen lauten Auspress-Geräte sind mir unheimlich! Von denen halte ich mich lieber fern! Nicht dass es irgendwann versehentlich Eddy-Saft gibt … (Scherz!)
Weil es keinen Spaß macht, alleine rumzuhängen, und Karen zu Hause arbeitet, ist Flora nachmittags oft bei uns.
«Na, was habt ihr zwei heute noch so vor?», fragt Jos Mama, während sie das Omelett auf drei Teller verteilt und eine aufgeschnittene Tomate dazulegt, damit das Ganze gesünder aussieht.
«Och, nichts Besonderes», sagt Jo und schiebt sich die erste Gabel voll Ei in den Mund. «Erst ein bisschen chillen und später auf die Inliner-Bahn.»
«Eddy können wir mitnehmen», ergänzt Flora mit vollem Mund. «Dann musst du nicht mit ihm raus, Karen!»
Also bitte, wie klingt das denn?! Als wäre es eine Zumutung, mit mir Gassi zu gehen! Frechheit! Ich stupse Flora mit der Nase ans Bein, um meiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Aber sie missversteht mich. «Nein, Eddy, ich gebe dir nichts ab! Du sollst nicht immer betteln.»
Pff, als wenn ich auf dieses labberige Eierzeug scharf wäre … Beleidigt verziehe ich mich unter den Tisch. Manchmal wird meine Position in dieser Familie eindeutig unterschätzt!
Jos Mama räuspert sich. «Dann sei aber bitte gegen sechs Uhr wieder zu Hause, Jo! – Wir … äh … bekommen heute Besuch zum Abendessen.»
Irgendwie klingt Karens Stimme anders als sonst, höher, leicht angespannt. Für so was hab ich gute Antennen!
Auch Jo guckt plötzlich misstrauisch. «Wieso? Wer kommt denn?»
Jos Mama füllt die Gläser auf. Wenn ich mich nicht täusche, nur ein plumper Versuch, Zeit zu gewinnen. «Ach, Christoph Steinke kommt», flötet sie dann betont locker. «Du weißt schon, Jo, mein netter Berater bei der Bank.»
Jo lässt seine Gabel auf den Teller fallen. «Und warum triffst du den hier und nicht in der Bank?»
«Himmel, Jo», Karen lacht unsicher, «weil es heute nicht darum geht, ein Sparkonto zu eröffnen, sondern …»
«Sondern?», fragt Jo.
«Na ja, weil es ein privater Besuch ist!», erklärt Jos Mama. Sie spricht jetzt sehr schnell und vermeidet dabei Jos Blick. «Ich wollte es dir schon länger erzählen, Jo. Also, ich war schon ein paarmal mit Christoph aus, und da dachte ich, es wird Zeit, dass du ihn auch mal kennenlernst. Und er dich.»
Jo zieht die Nase kraus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. «Du warst schon mit ihm aus?», fragt er gedehnt. «Wann denn?»
Karen zögert einen Moment. «Na ja, letzten Samstag zum Beispiel, da …»
«Ich dachte, da warst du mit meiner Mama im Kino», mischt sich jetzt auch Flora höchst interessiert ein.
«Äh … ja, also, äh … das haben wir kurzfristig umgelegt», druckst Karen. Ihre Wangen färben sich rot. «Ich war dann mit Christoph essen.»
Soso, Karen hat also geschwindelt. Aber das nehme ich ihr nicht übel. Warum soll Jos Mama nicht auch mal jemanden treffen, den sie gut riechen kann? Ich meine, ich treffe im Park ja auch ständig süße Vierbeinerinnen, allen voran Lotti, eine entzückende französische Bulldoggen-Dame. Wir zwei haben uns in der Hundeschule kennengelernt. Da hat Lotti immer von mir abgeguckt: Wenn ich diese überflüssigen Sitz- und Platz-Übungen nicht mitgemacht habe, ist sie auch einfach stehen geblieben. Und hinterher haben wir uns wie verrückt durch die Büsche gejagt. Unter uns: Lotti riecht fast noch besser als Mettwürstchen.
Jo scheint weitaus weniger Verständnis dafür zu haben, dass seine Mutter auch mal wieder mit jemandem durch die Büsche jagen möchte. Na ja, oder was Zweibeiner so miteinander anstellen, wenn sie sich gut riechen können. Er schiebt seinen Teller zurück und steht auf.
«Ich weiß gar nicht, was ich mit diesem Bank-Heini reden soll. Ich kenn den doch gar nicht», knurrt er.
«Deswegen sollst du ihn ja kennenlernen», erwidert Karen. «Du wirst sehen, Jo, Christoph ist sehr nett. Und er mag Kinder!»
Soso. Und was ist mit Hunden?
Karen wuschelt mir durchs Fell. «Ja, Eddy, keine Sorge, Hunde mag er bestimmt auch!»
Also, ich muss sagen: Obwohl wir unterschiedliche Sprachen sprechen, verstehen wir uns manchmal erstaunlich gut, meine Zweibeiner und ich.
Jo und Flora halten sich nicht lange beim «Chillen» in Jos Zimmer auf, sondern machen sich schon bald auf den Weg zur Inliner-Bahn. Ich trotte brav neben ihnen her, obwohl ich eigentlich lieber in den Park gegangen wäre. Da sind nämlich die Chancen, Lotti über den Weg zu laufen, weitaus größer. Um die Wahrheit zu sagen: Weder Lotti noch ihr Frauchen sind sonderlich sportlich. Die Inliner-Bahn würde sie jedenfalls beide überfordern. Aber das stört mich nicht. Ich mag jedes Speckröllchen an Lotti, besonders die dicken im Nacken.
Heute hätte ich mich sowieso nicht so intensiv wie sonst Lotti widmen können. Heute braucht mich Jo, das merke ich ganz genau. Daher verzichte ich sogar darauf, die zahlreichen spannenden Duftmarken am Wegesrand zu lesen, und weiche Jo nicht von der Seite. Auch Flora scheint zu spüren, dass Jo Zuspruch braucht. «Jetzt warte doch erst mal ab», sagt sie. «Vielleicht ist der Bank-Heini ja ganz nett!»
«Ist er nicht», meint Jo. «Ich hab den ja kennengelernt, als Mama mir ein Sparbuch eingerichtet hat. Das ist so ’n Lackaffe!»
«Nur weil er einen Anzug trägt?» Flora schüttelt den Kopf. «Also echt, Jo, die in der Bank müssen so was anziehen. Schließlich kann nicht jeder in einer grünen Latzhose mit ’ner Ananas auf dem Bauch rumlaufen wie meine Eltern im ‹Saftladen›!»
Warum eigentlich nicht? Ich finde, diese Latzhosen sehen sehr gemütlich aus. Und darin ist immer Platz für Leckerchen. Aber mich fragt ja keiner.
Die Zeit vergeht viel zu schnell. Ich habe das Gefühl, wir sind gerade erst angekommen, als sich Flora seufzend ins Gras plumpsen lässt und beginnt, ihre Inliner aufzuschnüren. «Wir müssen los, Jo! Der Bank-Heini wartet. – Und gib dem Typ eine Chance, ja? Es ist doch klar, dass deine Mutter nicht ewig allein bleiben möchte.»
Also bitte: Was heißt denn «allein»? Karen hat doch Jo und mich!
Tatsächlich schaffen wir es gerade noch, pünktlich zu Hause zu sein.
Jos Mama hat sich umgezogen. Sie trägt jetzt eine Bluse, die ihr ein bisschen zu klein ist. Jedenfalls guckt oben am Ausschnitt ein Teil vom Busen raus. Komisch! Na, wahrscheinlich gab’s das nicht größer. Außerdem trägt Karen Schmuck und himbeerfarbenen Lippenstift, und sie duftet leicht nach Rosen. Hmm …!
Karen wirft Jo einen kritischen Blick zu. «Du bist ja ganz verschwitzt, Jo! Zieh dir noch rasch ein frisches T-Shirt an, ja? Ich hab dir schon eins rausgelegt.»