Wenn alte Damen schießen

Inhaltsverzeichnis

Maman

die Mutter aller großen und kleinen Malaussènes, ständig verliebt oder schwanger

Benjamin

der ewige Sündenbock; Familienoberhaupt des Stammes und Verlagslektor; unsterblich verliebt in

Julie Corrençon

hoch moralische Journalistin in tödlicher Gefahr

Clara

Benjamins Lieblingsschwester, eine begnadete Fotografin und Köchin

Thérèse

die spindeldürre Schwester mit Seherblick

Jérémy

der jüngere Bruder mit Herz und nervensägenden Fragen

Louna

die große Schwester

Le Petit

der kleine Bruder mit rosa Brille

Verdun

frischgeborener Schreihals

Julius der Hund

nicht immer appetitlich riechender Epileptiker

Stojilković

Freund der Familie, Vergil-Übersetzer und Schachspieler; befreundet mit der

Witwe Dolgoruki

die mit anderen Witwen aktiven Widerstand gegen die Ewigkeit leistet

Rognon, Risson, Merlan, Verdun, Semelles

Armand le Capelier

Staatssekretär für Senioren, Träger eines astreinen Mittelscheitels

die Reine Zabo

autoritäre Chefin der Editions du Talion

Ponthard-Delmaire

Stararchitekt mit Hang zum Zerstörerischen

Edith Ponthard-Delmaire

seine unglückliche Tochter

Commissaire divisionnaire Cercaire

beinharter Kriminalkommissar und Widersacher von

Commissaire divisionnaire Coudrier

napoleonisch angehauchter Kriminalkommissar mit Hang zu starkem Kaffee

Vanini

Polizeiinspektor, dem nur ein kurzer Auftritt vergönnt ist

Pastor

junger Polizeiinspektor mit zarter Seele und genialen Verhörfähigkeiten

Van Thian

alter Polizeiinspektor und Verkleidungskünstler

Amar und Hadouch

berühmt für das Couscous in ihrem Restaurant

und noch viele mehr

nämlich Bürger Belvilles, Polizisten, Ärzte, Krankenschwestern, Kinder und Jugendliche, sowie ein Staatsrat und seine Frau …

 

Für Igor, für André Vers, Nicole

Schneegans, Alain Léger

und Jean-François Carrez-Corral.

Und jedes Wort ein Andenken

an Jean und Germaine.

durch das Schwert. Mir und

dem Hund brachte es Abwechslung.«

Robert Soulat
(L’Avant-Printemps)

»Ach, alt werden!«, sagte mein Vater.

»Aber mir ist nichts Besseres

eingefallen, um nicht jung zu sterben.«

Die Stadt, eines Nachts

Die Stadt ist das Lieblingsfutter der Hunde.

Es herrschte Winter über Belleville, und auf der Straßenkreuzung befanden sich fünf Personen. Sechs, wenn man die spiegelglatte Eisfläche dazurechnet. Sogar sieben mit dem Hund, der le Petit zum Bäcker begleitet hatte. Ein epileptischer Hund, dem die Zunge seitlich aus dem Maul hing.

Die Eisfläche glich einer Landkarte von Afrika und nahm die ganze Kreuzung ein, die zu überqueren die alte Dame sich unterfangen hatte. Ja, auf der Eisfläche bewegte sich, sehr alt und wacklig, eine Frau. Mit millimetergenauer Vorsicht schob sie Hausschuh vor Hausschuh. Sie trug in der Hand einen Einkaufskorb, aus dem eine aufgeklaubte Stange Porree ragte, um die Schultern ein altes Umschlagtuch und in der Kuhle hinterm Ohr ein Hörgerät. In beharrlichem Kriechgang hatten ihre Filzschuhe sie auf der afrikaförmigen Fläche bis, sagen wir, in die tiefste Sahara gebracht. Sie musste noch den gesamten Süden absolvieren, die Länder mit den Apartheidsregimen und so. Es sei denn, sie würde über Eritrea oder Somalia abkürzen, aber im Rinnstein das Rote Meer war grauslich zugefroren. Diese Überlegungen rumorten unter dem Bürstenschnitt des Blondschopfs im grünen Loden, der die alte Frau vom Trottoir aus beobachtete. Und sich dabei allerlei sehr Hübsches ausmalte. Plötzlich breitete sich das Umschlagtuch der alten Frau aus wie die Segel einer Fledermaus, und alles erstarrte. Sie hatte das Gleichgewicht verloren; sie fing sich wieder. Enttäuscht stieß der Blondschopf einen Fluch durch die Zähne. Er fand es immer amüsant zu sehen, wie jemand hinschlug. Das gehörte zur Unordnung in seinem blonden Schädel. Obwohl: von außen betrachtet picobello, der Schädel. Nicht ein Haar, das in der dichten Bürste über die anderen hinausragte. Aber alte Leute, die mochte er nicht sonderlich. Er hielt sie irgendwie

Kurz, die alte Frau, die afrikaförmige Eisfläche, die beiden Araber auf dem Trottoir vis-à-vis, le Petit mit seinem epileptischen Hund und der seine Überlegungen anstellende Blondschopf … Er hieß Vanini, war Inspektor bei der Polizei, und was ihn am meisten plagte, war das Sicherheitsproblem. Deshalb stand er hier und waren weitere Inspektoren in Zivil über ganz Belleville verstreut. Deshalb baumelten über seiner rechten Hinterbacke verchromte Handschellen. Deshalb trug er im Holster unter der Achsel eine Dienstwaffe. Deshalb auch

Gewalt …

Ja, verdammt, Gewalt …

Der Blondschopf Vanini streifte die Araber nachdenklich mit einem Blick. Man konnte doch nicht hinnehmen, dass sie unsere alten Weiber wie Hammel ausbluten ließen? Plötzlich ergriffen den Blondschopf echte Rettergefühle; da waren auf dem Trottoir vis-à-vis diese beiden Araber, die wie Unschuldslämmer in ihrem Kauderwelsch palaverten, und auf dem Trottoir hier er, Inspektor Vanini, ganz blond vom Kopfe her und im Herzen dieses köstliche Gefühl, wie es einen durchströmt, wenn man der verzweifelt winkenden Hand in die Seine nachspringt. Die Alte vor den beiden Arabern erreichen. Präventivschlag. Sofort eingeleitet. Schon setzt der junge Inspektor seinen Fuß auf den afrikanischen Kontinent. (Wenn man ihm gesagt hätte, dass er eines Tages eine solche Reise unternehmen würde …) Mit großen sicheren Schritten steuert er der Alten nach. Er schlittert nicht auf dem Eis, er trägt seine stollenbewehrten Knobelbecher, die er seit der vormilitärischen Ausbildung nicht mehr abgelegt hat. Er nähert sich also Hilfe bringend der Alten beziehungsweise der älteren Seniorin, ohne die Araber da drüben aus dem Auge zu lassen. Gütig. Alles an ihm ist jetzt gütig. Denn die zierlichen Schultern der alten Dame erinnern ihn mit einem Mal an die seiner Großmutter, die er, Vanini, so geliebt hat. Leider erst nach ihrem Tod! Ja, die Alten sterben oftmals zu rasch; sie warten nicht, bis wir mit unserer Liebe

Sie drückte ab.

Sämtliche Gedanken des Blondschopfs zerstäubten. Und ließen am Winterhimmel von Belleville eine hübsche Blume sprießen. Noch ehe das erste Blütenblatt zu Boden fiel, hatte die alte Dame ihre Waffe wieder im Einkaufskorb verstaut und ihren Weg fortgesetzt. Der Rückstoß hatte sie im Übrigen einen guten Meter auf der Eisfläche vorangebracht.

Ein Mord also und drei Zeugen. Nur, wenn Araber nichts sehen wollen, dann sehen sie nichts. Eine merkwürdige Angewohnheit. Das muss irgendwie mit ihrer Kultur zusammenhängen. Oder mit unserer, von der sie womöglich etwas allzu genau begriffen haben. Sie haben also nichts gesehen, die Araber. Vielleicht nicht einmal das Peng gehört.

Bleiben der Junge und der Hund. Aber das Einzige, was le Petit durch seine rosagerandete Brille gesehen hat, ist diese Metamorphose eines blonden Kopfes in eine Himmelsblume. Und das hat ihn so beeindruckt, dass er, die Beine unter dem Arm, nach Hause gerannt ist, um es uns zu erzählen, mir, Benjamin Malaussène, sowie meinen Brüdern und Schwestern, den vier Großvätern, meiner Mutter und meinem alten Freund Stojilković, der mir eben beim Schach einheizt.

Die Tür des ehemaligen Haushaltswarenladens, der uns als Wohnung dient, fliegt auf, und le Petit trötet:

»Horcht mal her! Ich hab ’ne Fee gesehen!«

Deshalb hört das Haus noch lange nicht zu schwirren auf. Einzig meine Schwester Clara, die eine Lammschulter à la Montalbán zubereitet, bemerkt mit ihrer samtenen Stimme:

»Ach ja, Kleiner?! Das musst du uns erzählen …«

Julius der Hund geht stracks seinen Fressnapf inspizieren.

»Eine echte Fee, steinalt und richtig lieb!«

Mein Bruder Jérémy lotet sofort aus, ob ihm das neue Perspektiven eröffnet, sich vor seiner Arbeit zu drücken:

»Hat sie dir die Hausaufgaben gemacht?«

»Nein«, antwortet le Petit, »sie hat einen Mann in eine Blume verwandelt!«

Da niemand auch nur mit der Wimper zuckt, kommt le Petit zu Stojilković und mir.

»Es ist wahr, Onkel Stojil, ich habe eine Fee gesehen, und sie hat einen Mann in eine Blume verwandelt.«

»Warum?«

»Weil, wenn die Feen erst einmal Blumen in Männer verwandeln, das flache Land ungenießbar wird.«

Stojils Stimme klingt wie Big Ben in einem nebeligen Film-London. So tief, dass man glauben könnte, um uns herum die Luft vibriere.

»Schach und matt, Benjamin, matt durch Abzugschach. Ich finde, du bist heute Abend ziemlich unkonzentriert …«

 

Ich bin nicht unkonzentriert, sondern besorgt. Mein Blick ruht nicht wirklich auf dem Schachbrett, mit einem Auge belauere ich die Großväter. Die Dämmerung ist eine üble Zeit für sie. Bei Einbruch der Nacht kriegen sie ihren Gieper auf Drogen. Ihr Hirn verlangt nach dem dreckigen Stoff. Sie brauchen ihren Schuss. Man darf sie unter keinen Umständen aus den Augen lassen. Die Kinder wissen das so gut wie ich, und jedes beschäftigt nach besten Kräften seinen persönlichen Großpapa. Clara befragt Opa Rognon (ehemals Schlächter in Tlemcen) nach immer mehr Einzelheiten zur Lammschulter à la Montalbán. Jérémy, der die sechste Klasse wiederholt, gibt vor, alles über Molière wissen zu wollen, und Großvater Risson, pensionierter Buchhändler, ergeht sich in biografischen Indiskretionen über den Dichter. Maman, die reglos in ihrem Schwangerensessel sitzt, lässt sich zum x-ten Male von Opa Merlan, Ex-Frisör, das Haar richten und wieder anders richten. Und le Petit bekniet Verdun (mit 92 Jahren der Doyen unserer vier Großväter), ihm bei seiner Schreibübung zu helfen.

Jeden Abend wiederholt sich dasselbe Ritual: Verduns Hand zittert wie Espenlaub, doch le Petits Hand, die er umfasst, stabilisiert sie von innen, sodass der Greis fest daran glaubt, er schreibe so gestochen schön wie vor 14-18. Trotzdem ist

Seit ich ihn bei uns verstecke, drückt er nicht mehr. Wenn die Vergangenheit ihn an der Gurgel packt, betrachtet er nur den Kleinen und murmelt mit verschwimmendem Blick: »Warum biste nur nicht meine kleine Camille?« Manchmal purzelt eine Träne auf das Schreibheft, dann sagt le Petit:

»Hast wieder einen Tintenklecks gemacht, Verdun …«

Das ist so herzergreifend, dass Stojilković, Ex-Seminarist, Ex-Revolutionär, Ex-Besieger der Wlassow-Armee wie der Nazi-Pest, dass Stojil, derzeit Busfahrer für Touristen aus dem Osten und samstags/sonntags für einsame alte Frauen, dass also mein Freund Stojil sich räuspern muss, ehe er knurrt:

»Ich hoffe, Gott hat eine anständige Entschuldigung parat, falls Er existiert.«

 

Die größte Arbeit jedoch vollbringt in dieser kritischen Abendstunde meine Schwester Thérèse.

Im Augenblick sitzt sie in ihrer Magierinnenecke und möbelt Opa Semelle die Stimmung auf. Der alte Semelle wohnt nicht bei uns. Er war der Schuhmacher unserer Straße,

Dennoch hat Semelle heute, am Vorabend des großen Tages, kalte Füße. Er befürchtet, während der Zeremonie einen Schnitzer zu begehen.

»Es wird alles gut laufen«, versichert Thérèse, in deren Hand die des Greises flach ruht.

»Bist du sicher, dass ich keinen Stuss verzapfe?«

»Aber ich sage es Ihnen doch. Habe ich mich jemals geirrt?«

Meine Schwester Thérèse ist ein spröder Knochen. Ihr Körper ist lang und eckig, ihre Haut trocken, und ihre Stimme gibt Bescheid, dass sie immer Bescheid weiß. Der Nullpunkt an Charme und Reiz. Sie ist im Magiegeschäft tätig, auf eine Weise, die ich missbillige, und doch kann ich mich nicht sattsehen, wenn sie ihr Handwerk ausübt. Sobald ein neuer Greis bei uns auf der Matte steht – innerlich ein Wrack, für

»Eine Frau! Bist du sicher?«, ruft der alte Semelle.

»Jung, brünett und mit blauen Augen«, präzisiert Thérèse.

Semelle dreht sich mit einem 3000-Watt-Lächeln zu uns um.

»Habt ihr gehört? Thérèse sagt, dass ich morgen bei der Ordensverleihung eine junge Frau kennenlerne, die mein Leben umkrempelt!«

»Nicht nur Ihres«, verbessert Thérèse, »sie wird das Leben von uns allen umkrempeln.«

 

Ich hätte gern der in Thérèses Stimme leise mitschwingenden Sorge nachgelauscht, doch da klingelt das Telefon, und am andern Ende der Leitung höre ich die Stimme von Louna, meiner dritten Schwester.

»Und?«

»Und?«

Ich werfe einen flüchtigen Blick auf Maman. Heiter und reglos thront sie über ihrem erfüllten Leib.

»Nichts.«

»Worauf wartet denn das Gör bloß, verdammt?«

»Du bist die ausgebildete Krankenschwester, Louna, nicht ich.«

»Aber es sind bald zehn Monate, Ben!«

Es stimmt, das siebente Kleine hält sich nicht an die Regeln, es überschreitet bei Weitem die Spielzeit.

»Vielleicht hat er einen eingebauten Fernseher und sieht die Welt, wie sie ist, und hat es deshalb nicht eilig mitzumischen.«

Herzhaftes Lachen von Louna. Dann fragt sie noch:

»Und die Großväter?«

»Auf dem Tiefstand.«

»Laurent sagt, du kannst notfalls das Valium verdoppeln.«

(Laurent ist der ärztliche Gatte meiner krankenschwestern- den Schwester. Sie rufen jeden Abend durch, um die Stimmungstemperatur zu messen.)

»Louna, ich hab schon Laurent gesagt, dass von jetzt an wir für die Alten das Valium sind.«

»Wie du willst, Ben, du bist der Kapitän.«

 

Kaum habe ich aufgelegt, da klingelt wie der Postmann (oder die Eisenbahn, ich weiß nicht mehr) der Quasselkasten ein zweites Mal.

»Wollen Sie mich zum Narren halten, Malaussène?«

Uh! Ich erkenne sie gleich, diese tobende Rätsche. Es ist die Reine Zabo, die Hohepriesterin der Editions du Talion, meine Chefin.

»Sie müssten seit zwei Tagen auf der Arbeit sein!«

»Gut, dass Sie anrufen, Majestät«, sage ich, »ich wollte Ihnen nämlich gerade vorschlagen, mich noch einen Monat zu entschuldigen.«

»Kommt nicht infrage, morgen früh Punkt acht erwarte ich Sie hier.«

»Morgen um acht Uhr in der Früh? Da stehen Sie aber zeitig auf, um mich in einem Monat zu erwarten!«

»Ich warte keinen Monat. Wenn Sie morgen um acht Uhr nicht hier sind, dann heißt das, dass Sie rausgeflogen sind.«

»Das werden Sie nicht tun.«

»Ach nein?! Halten Sie sich für so unentbehrlich, Malaussène?«

»Keineswegs. Sie sind die Einzige, Majestät, die in den Editions du Talion unersetzlich ist! Aber wenn Sie mich rausschmeißen, dann muss ich meine Schwestern auf den Strich schicken und meinen jüngsten Bruder auch, ein reizendes Kind mit rosa Brille. Ein solches moralisches Fehlverhalten würden Sie sich nie verzeihen.«

Sie schenkt mir ihr schallendes Gelächter. (Ein Gelächter, so bedrohlich wie austretendes Gas.) Dann, übergangslos:

»Malaussène, ich habe Sie als Sündenbock angestellt. Sie werden dafür bezahlt, dass Sie sich an meiner Stelle anschnauzen lassen. Sie fehlen mir schrecklich.«

(Sündenbock, ja, das ist mein Job. Offiziell bin ich »Verlagslektor«, in Wahrheit: Sündenbock.) Und barsch fragt sie:

»Weshalb wollen Sie noch länger zu Hause bleiben?«

Mit einem Blick umfasse ich Clara, die am Herd steht, le Petit, Hand in Hand mit Verdun, Jérémy, Thérèse und die Großväter, und Maman, die über allem thront, glatthäutig und leuchtend wie die gesättigten Jungfrauen der italienischen

»Sagen wir, dass meine Familie mich im Augenblick ganz besonders braucht.«

»Ihre Familie, Malaussène? Was für eine Art Familie ist das denn?«

Julius der Hund, der mit heraushängender Zunge zu Mamans Füßen liegt, verkörpert ganz gut den Ochsen wie den Esel, und die hübsch gerahmten Porträts der Großväter scheinen von der Zukunft alles zu erwarten: echte Weise aus dem Morgenland!

»Die Art ›Heilige Familie‹, Majestät …«

Kurzes Schweigen am anderen Ende, dann ihre schnarrende Stimme:

»Ich bewillige Ihnen zwei Wochen, keine Minute mehr.«

Längeres Schweigen.

»Aber lassen Sie sich eines gesagt sein, Malaussène: Glauben Sie nicht, dass Sie Ihre Sündenbockrolle los sind, nur weil Sie Urlaub haben! Sündenbock, das sind Sie bis ins Mark. Sollte zum Beispiel derzeit in Paris ein Schuldiger gesucht werden, der für irgendeine kapitale Dummheit den Kopf hinhalten muss, so steht es hundert zu eins, dass man Sie verantwortlich machen wird!«

Passenderweise suchte, versteinert über der Stadt in seinem Ledermantel stehend, den Blick auf Vaninis Leiche geheftet, bei nächtlichen zwölf Grad minus der Commissaire divisionnaire Cercaire gerade nach einem Schuldigen.

»Den Kerl, der das getan hat, den mach ich platt!«

Totenbleicher Schmerz umflorte seinen schwarzen Schnurrbart. Er war ganz die Sorte Flic, die solche Sätze in den Raum und anschließend auf den Kopf stellt:

»Den mach ich platt, den Kerl, der das getan hat!«

(Die Augen hielt er dabei auf das eigene Bild im düsteren Spiegel des Eises gerichtet.)

Vor seinen Füßen maulte der Polizist in Uniform, der auf der vereisten Kreuzung Vaninis Umrisse mit Kreide nachzog, wie ein kleines Kind:

»Verflixt, das rutscht ab, Cercaire!«

Cercaire war auch die Sorte Flic, die sich mit Namen anreden lässt. Kein »Chef«. Erst recht kein »Monsieur le divisionnaire«. Einfach nur: »Cercaire«. Er liebte seinen Namen: Zerkarie!

»Hier, nimm das.«

Er reichte dem Polizisten ein Springmesser, das dieser als Eispickel benützte, ehe er Vanini seinen Asphaltanzug aufmalte. Der Kopf des Blondschopfs glich tatsächlich einer frisch erblühten Blume: rotes Herz, gelbe Blütenblätter und an den Rändern noch ein gewisses zinnoberrotes Zerfließen. Der Polizist hielt einen Augenblick inne.

»Zieh den Strich möglichst dick«, befahl Cercaire.

Vom blauen Band der Polizeibeamten auf Abstand gehalten, verfolgten alle Augen des Viertels die Arbeit des Kreidezeichners, als würden gleich die Münzen fliegen.

»Und kein einziger Zeuge, richtig?«

Der Kommissar hatte die Frage mit sonorer Stimme gestellt.

Schweigen. Ein Häuflein Menschen, in die weiße Watte ihres Atems gehüllt. Gedrängt Wolle an Wolle; das rückte nur kurz für die Fernsehkamera einen Spaltbreit auseinander.

»Dieser Junge ist für Sie gestorben, Madame!«

Cercaire hatte das Wort an eine Vietnamesin in der ersten Reihe gerichtet, eine winzige Alte in gerade geschnittenem Thaikleid, grobwollenen Jesuitensocken und Holzpantinen. Die alte Frau sah ihn ungläubig an, und als ihr klar wurde, dass der Koloss sich wirklich an sie gewandt hatte, nickte sie ernst:

»Sehl jun!«

»Ja, wir nehmen die ganz Jungen, um Sie zu beschützen.«

Cercaire spürte, dass ihm das Zoom übers Gesicht schleckte, aber er war Polizist genug, um ein Kamerasurren zu ignorieren.

»Besüssen?«, fragte die alte Frau.

Noch eine viertel Stunde, und ihr schmales, skeptisches und aufmerksames Gesicht würde in den Abendnachrichten die verdienstvollsten unter den Fernsehzuschauern an das Gesicht von Ho Chi Minh erinnern.

»Genau, Sie beschützen! Alle alten Damen dieses Viertels ohne Ausnahme. Damit Sie in Sicherheit leben können. In SI-CHER-HEIT, verstehen Sie?«

Und plötzlich, satt im Objektiv, mit einem unterdrückten Schluchzer in der Stimme:

»Er war mein bester Mann.«

Und schon war der Kameramann in den Aufnahmewagen abgetaucht, der schleudernd und rutschend davonjagte. Auch die Menge verzog sich in die Häuser, und in den Straßen herrschte wieder die Einsamkeit der Polizisten. Nur die Vietnamesin hatte sich nicht vom Fleck gerührt, nachdenklich schaute sie zu, wie der Leichnam von Vanini in einen Krankenwagen geschoben wurde.

»Na«, fragte Cercaire, »wollen Sie sich nicht im Fernsehen

Sie schüttelte den Kopf.

»I geh luntel nah Palis!«

Wie die Alteingesessenen unterschied sie Belleville von Paris, in das man »runterging«.

»Die Wamilje!«, erläuterte sie und lächelte dabei durch sämtliche Zahnlücken.

Cercaire ließ so unvermittelt von ihr ab, wie er sich für sie interessiert hatte. Er schnippte mit den Fingern und verlangte sein Messer zurück, das der kleine Polizist in Uniform eingesteckt hatte, dann brüllte er:

»Bertholet! Du schaltest das 10., das 11. und das 20. Arrondissement ein. Sie sollen alle Ecken und Winkel durchkämmen und die Kundschaft komplett bei mir abliefern.«

Von der Höhe seiner eingefrorenen Knochen herab eröffnete sich für Inspektor Bertholet die Aussicht auf eine Nacht, die er damit verbringen würde, ein Heer schlafblinzelnder Verdächtiger zu wecken.

»Da dürfte ein hübscher Haufen zusammenkommen …«

Cercaire wischte den Einwand fort, indem er sein Messer wegsteckte.

»Bis man den Richtigen gefunden hat, ist der Haufen immer zu groß.«

Cercaire ließ das Blaulicht des Krankenwagens, der Vanini fortbrachte, nicht aus den Augen. Der große Bertholet blies sich auf die Finger.

»Wir müssen ja aber auch noch das Verhör von Chabralle unter Dach und Fach bringen …«

Reglos in seiner Lederkluft spielte Cercaire dort, wo Vanini gefallen war, die Rolle des Denkmals.

»Ich will den Hund, der das getan hat.«

Cercaire schluckte Tränen hinunter, die aus Stein waren. Er

»Verdammt, Cercaire, in acht Stunden läuft der Gewahrsam von Chabralle ab. Willst du, dass er sich verpisst?«

Die Stimme des großen Bertholet war einen halben Ton lauter geworden. Wenn er sich anschaute, wie lange sie schon hinter Chabralle her waren, war ihm zum Knochenkotzen bei dem Gedanken, der Kerl könne morgen früh irgendwo draußen unbehelligt sein Buttercroissant in einen dampfenden Milchkaffee tauchen. Nein!

»Chabralle führt uns seit knapp vierzig Stunden an der Nase herum«, sagte Cercaire, ohne sich umzudrehen, »und er wird auch nicht im letzten Augenblick auspacken. Wir können ihn genauso gut gleich nach Hause schicken.«

Da war nichts zu machen. Rache lag in der Luft. Bertholet kapitulierte. Trotzdem versuchte er noch einen Vorstoß.

»Und wenn wir Pastor bitten würden, Chabralle weichzuklopfen?«

»Den Pastor von Divisionnaire Coudrier?«

Diesmal hatte sich Cercaire mit einem Ruck umgedreht. Blitzartig hatte er sich das Duell Chabralle-Pastor vorgestellt. Chabralle, der Killer aller Killer, in seinem Kroko – und der Engel Pastor, dieser kleine Marquis von Kommissar Coudrier, in seinen viel zu weiten, mamagestrickten Pullovern, in denen er versank. Chabralle gegen Pastor! Großartig, der Vorschlag von Bertholet! Gut hinter seinem Schmerz verschanzt, amüsierte sich Cercaire köstlich. Seit einem vollen Jahr spielten Cercaire und Coudrier ihre beiden Schützlinge Pastor und Vanini gegeneinander aus. Vanini, das kleine Genie des Sondereinsatzkommandos, und Pastor, der Hochbegabte im Verhör … Wenn man Coudrier glauben wollte, würde Pastor sogar ein Mausoleum zum Sprechen bringen! Vanini war aus gehärtetem Stahl, und Vanini war tot. Es war Zeit, Coudriers Kleinen Prinzen aus dem Verkehr zu ziehen – zumindest symbolisch.

 

Dreihundert Meter weiter stadtabwärts, an der Ecke des Faubourg du Temple und der Avenue Parmentier, klimperte eine Vietnamesin auf der Klaviatur im Maul eines Geldautomaten. In Wollsocken und Holzpantinen hatte sie sich, winzig wie sie war, auf die Zehenspitzen gereckt. Es war 20 Uhr 15; ihr Konterfei flimmerte eben auf den Bildschirmen der Grande Nation, in jedem Haushalt stellte sie die in diesen Zeiten beunruhigende Frage:

»Besüssen?«

Sie selbst hingegen ließ in tiefster städtischer Nacht in aller Sorglosigkeit das Banknotenklavier ausspucken, was es hergab.

Sie hörte nicht, wie der große Schwarze und der kleine, farbecht kabylische Rotschopf näherkamen. Sie schnupperte nur den Zimtgeruch des einen und den Minzatem des anderen. Im Maul der Maschine löste dies einen heiteren Schwall aus. Die Luft war noch mit etwas Drittem gesättigt: mit einer kräftigen Brise jugendlicher Ungeduld. Schweißgeruch, trotz der Kälte. Die beiden waren gerannt. Die Vietnamesin drehte sich nicht um. Vor ihr stapelten sich allmählich die Scheine. Bei zwei acht entschuldigte sich die Maschine, dass sie nicht mehr bereitstellen könne. Die Vietnamesin raffte, was an Banknoten gekommen war, mit einer Hand zusammen und stopfte es durch den Schlitz unter ihr Thaikleid. Einer der Scheine nutzte die Gelegenheit, auf und davon zu segeln, direkt an der Nase des Rotschopfs vorbei. Aber der rechte Fuß des großen Schwarzen nagelte den Schein unbarmherzig am Boden fest. Ende einer Flucht. Unterdessen hatte die Alte ihre Kreditkarte zurückbekommen und sich zur Metro Goncourt aufgemacht. Sie hatte die jungen Kerle sanft beiseitegeschoben. An den Bauchmuskeln des Schwarzen wäre ein Hagel von

»Hey, du da!«

Der Schwarze hatte sie mit zwei Schritten eingeholt.

»Hastn Hunni verlorn, junge Frau!«

Es war ein großer Mossi aus Belleville, dritte Generation. Er wedelte ihr mit dem Hunderter vor dem Gesicht herum. Sie steckte den Schein ohne Hast ein, bedankte sich höflich und setzte ihren Weg fort.

»Sag ma, biste noch ganz gesund, in unsrer Ecke so ’ne Stange Geld zu ziehn?«

Jetzt lief auch der Rotschopf neben ihnen her. Zwei auseinanderstehende Schneidezähne verliehen ihm ein Lächeln, das breiter als er selber war.

»Lieste keine Zeitung? Haste nich mitgekriegt, was wir Junkies mit euch ollen Schachteln machen?«

Durch die beiden klaffenden Schneidezähne pfiff der Wind des Propheten.

»Ollnsastln?«, fragte die Alte. »Nig werstehn Ollnsasteln …«

»Alte Schabracken«, übersetzte der große Schwarze.

»Du weißt doch, was uns alles einfällt, um euch die Kohle abzunehmen?«

»Kalt machen wir euch. Allein drei im letzten Monat hier in Belleville!«

»Wir rösten euch den Hintern mit ein paar Marlboro, wir zwacken euch ritsch, ratsch die Titten ab und brechen euch jedes Fingerchen einzeln. Bis ihr euern hübschen kleinen Geheimcode ausspuckt. Und dann zerlegen wir euch hier an der Stelle in zwei Teile.«

Der dicke Daumen des Rotschopfs beschrieb auf Höhe seines Halses einen Halbkreis.

»Wir hamm da einen Fachmann«, erläuterte der große

Sie gingen jetzt die Stufen zur Metro hinunter.

»Fährst du nach Paris rein?«, fragte der Rotschopf.

»Su mein Swigeldoddel«, antwortete die alte Frau.

»Und du nimmst die Metro mit dem ganzen Zaster in der Tasche?«

Der rechte Arm des Rotschopfes hatte sich wie ein Umschlagtuch um die Schulter der Alten gelegt.

»Mein Swigeldoddel gleins Baby bon«, erklärte diese und strahlte plötzlich über und über vor Freude, »wiele Gesenk mahen!«

Als sie auf den Bahnsteig kamen, fuhr gerade ein Zug in die naturalistische Höhle der Brüder Goncourt ein.

»Wir fahrn mit dir mit«, entschied der große Mossi.

Er ließ den Hebel einer Waggontür hochklacken, und sie glitt zischend auf.

»Könnt ja sein, dass du eine unangenehme Begegnung hast.«

Der Wagen war leer. Die drei stiegen ein.