rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2017
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Redaktion Regina Carstensen
Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier
Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther
Umschlagfoto Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth (Gruppenbild mit Kindern und Hunden. Oben von links: Blandine von Bülow, Heinrich von Stein, Cosima und Richard Wagner, Paul von Joukowsky. Unten: Isolde Wagner, Daniela von Bülow, Eva und Siegfried Wagner, 1881)
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ISBN Printausgabe 978-3-499-50658-1 (3. Auflage 2014)
ISBN E-Book 978-3-644-57512-7
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-57512-7
Richard Wagner wird am 22. Mai 1813 als neuntes Kind einer Leipziger Großfamilie geboren. Sein Vater Friedrich Wagner ist Jurist und Polizeiaktuar am Stadtgericht mit der Anwartschaft auf die Stelle des Polizeidirektors – und sehr für Poesie und Theater eingenommen. Das Geburtshaus zum «Roten und Weißen Löwen» (Brühl Nr. 3) liegt neben dem Ranstädter Tor, ganz nah beim Polizeiamt.
Bereits auf der ersten Seite von Mein Leben – und quasi im selben Atemzug – betont der Sohn über den Vater: Er soll selbst nicht frei von galanter Leidenschaftlichkeit für Künstlerinnen des Theaters gewesen sein. Meine Mutter beklagte sich scherzend, daß sie öfters sehr lange mit dem Mittagessen auf ihn habe warten müssen, während er bei einer damals berühmten Schauspielerin begeisterte Besuche abstattete; von ihr gescholten, behauptete er durch Aktengeschäfte zurückgehalten worden zu sein, und wies zur Bestätigung auf seine angeblich mit Tinte befleckten Finger, welche bei erzwungener näherer Besichtigung sich als vollkommen sauber auswiesen.
Von der Neigung für das Theater habe außerdem die Wahl eines innig vertrauten Hausfreundes gezeugt, des Schauspielers Ludwig Geyer. Dieser habe sich auf das angestrengteste der Erhaltung und Erziehung dieser Familie gewidmet: Schon während der Polizeiaktuar seine Abende im Theater verbrachte, vertrat der treffliche Schauspieler meist seine Stelle im Schoße seiner Familie, und es scheint, daß er oft die mit Recht oder Unrecht über Flatterhaftigkeit ihres Gatten klagende Hausmutter zu beschwichtigen hatte. (ML 9f.)
Einerseits ein galanter Polizeibeamter, dessen Leidenschaft den dramatischen Künstlerinnen gilt, und andererseits ein Schauspieler als vertrauter Hausfreund: Das deutet auf extravagante Familienverhältnisse.
Richard ist sechs Monate alt, als sein dreiundvierzigjähriger Vater am 23. November 1813 an einem epidemischen Nervenfieber stirbt, das sich von den Verwundeten der Völkerschlacht bei Leipzig auf die Zivilbevölkerung ausbreitete. Auch Wagners ältester Bruder Albert erkrankt, überlebt aber.
Der innig vertraute Hausfreund Ludwig Geyer, Maler, Schauspieler und Theaterdichter in Dresden, steht der Witwe bei, hilft finanziell und nimmt sogar drei Wagnerkinder zu sich: die zehnjährige Rosalie, den neunjährigen Julius und die knapp achtjährige Luise.
Geyers Briefe zeugen von einer innigen Beziehung zu den Wagners. So bittet er zu Weihnachten 1813 Johanna Rosine, dem kleinen Richard, dem «Cosaken», einen schönen Baum anzuzünden: Ich möchte den Buben gern ein wenig auf meinem Sopha herumkollern. (Kapp/Jachmann 15) Und: Den Cosaken (sic) seine Wildheit kann nicht anders seyn als göttlich, fürs erste Fenster das er einwirft bekommt er eine silberne Medaille. (Burrell 587)
Neun Monate nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratet die bereits wieder schwangere, knapp vierzigjährige Johanna Wagner den um vier Jahre jüngeren Geyer, der gerade den Titel «Hofschauspieler» erhalten hat. Die Familie übersiedelt zu ihm nach Dresden, wo am 26. Februar 1815 Richards Halbschwester Cäcilie geboren wird. Um die große Familie durchzubringen, arbeitet Geyer auch als Porträtmaler.
Richard ist von schwächlicher Konstitution und als Kleinkind so schwer krank, daß die Mutter, da ich unrettbar schien, fast meinen Tod gewünscht. Aber er überlebt und rühmt seinen Stiefvater, welcher, nie verzweifelnd trotz der Sorgen und Beschwerden des starken Familienbestandes, geduldig blieb, und nie die Hoffnung, mich durchgebracht zu sehen, aufgab. (ML 11) Richard ist so empfindsam, dass die Geschwister ihn Amtsmann Rührei nennen. (CT 11.1.1870) Er hat eine starke Phantasie, ein hitziges Temperament und fürchtet sich vor Gespenstern. Sein Leben lang leidet er unter immer wieder aufflammenden Hautausschlägen, die nicht zu kurieren sind.
Im Hause Geyer geht es munter und gesellig zu. Es gibt viele Feste mit Kostümierungen, Puppentheater, gemeinsamem Singen und Lesungen selbstgedichteter Texte. Auch Kapellmeister Carl Maria von Weber, die Berühmtheit der Stadt, kommt gern zu Besuch und nimmt namentlich bei geselligen Ausflügen in die Umgegend, gemütlich heiter teil. (ML 235)
Die Geyers wohnen ganz nahe beim Alten Theater, wo die Kinder stets Zugang haben und Rosalie und Luise bereits in Kinderrollen auftreten. Wagner später: Der größte Einfluß der Mutter war der seltsame Eifer, in welchem sie vom Großen und Schönen in der Kunst mit fast pathetischem Tone sprach. Mir gegenüber wollte sie aber hierunter niemals die theatralische Kunst gemeint haben, sondern nur Dichtkunst, Musik und Malerei, wogegen sie mir häufig fast mit ihrem Fluche drohte, wenn auch ich jemals zum Theater gehen wollte. (ML 17) Aber bereits der Achtjährige zeigt beim eifrigen Spielen mit dem Puppentheater einen starken Hang zum Theatralischen.
Der Umgangston der Mutter ist eher rau. So habe sie ungeheuer laut, heftig, rasch lange Debatten mit dem Ausruf Halt’s Maul! beendet. Noch wenige Monate vor seinem Tod schreckt Wagner mit ebendiesem Satz die erstaunte Cosima, erklärt ihr aber dann den Zusammenhang. (CT 8.7.1882) Und er löst ein unverwüstliches Gelächter seiner Kinder aus mit der Erzählung, daß seine Mutter eine Torte von ihrem Manne Geyer bekam, worauf ein Männchen stand, der einen Dukaten von sich gab. (CT 9.11.1882) Das Wort «Dukatenscheißer» bringt die vornehme Tagebuchschreiberin Cosima natürlich nicht über ihre Feder.
Die Familienidylle endet am 30. September 1821, als der zweiundvierzigjährige Ludwig Geyer an Schwindsucht stirbt. Wagner spricht sein Leben lang mit großer Zärtlichkeit und Dankbarkeit von ihm. Noch fünfzig Jahre später schreibt er an Schwester Cäcilie beim Durchsehen von Geyers Briefen: Ganz besonders ergreift mich auch der zarte, feinsinnige und hochgebildete Ton in diesen Briefen, namentlich in denen an unsere Mutter. (Familienbriefe 14.1.1870)
«Sein Vater war ein Schauspieler namens Geyer. Ein Geyer ist schon beinahe ein Adler.» Mit diesem berühmten bösen Satz behauptet Friedrich Nietzsche in «Der Fall Wagner», dass Wagner nicht nur Geyers leiblicher Sohn gewesen sei, sondern durch ihn auch jüdischer Abstammung.
Diese Theorie ist durch nichts zu beweisen, ganz abgesehen davon, dass der Name Geyer kein jüdischer Name ist. Geyer stammt aus Eisleben, und seine Vorfahren – fast alle protestantische Pastoren, Kantoren oder Stadtmusikanten – sind bis ins 16. Jahrhundert nachprüfbar. Ein Jude ist nicht darunter.
Was Geyers Vaterschaft an Richard betrifft, ist die Lage weniger eindeutig. Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr trägt der Knabe – im Unterschied zu den älteren Geschwistern – den Namen Geyer. Vor allem: Er wäre gern Geyers Sohn und sucht geradezu nach Argumenten, die dafür sprechen. So schreibt er 1870 an Schwester Cäcilie: Mir ist es, als ob unser Vater Geyer durch seine Aufopferung für die ganze Familie eine Schuld zu verbüßen glaubte – womit er wohl eine außereheliche Beziehung der Mutter zu Geyer andeutet. (Familienbriefe 277)
In diesem Scherzgedicht schildert Ludwig Geyer dem abwesenden Albert Wagner die jüngeren Geschwister:
«Rosalie liegt immer noch in der Druse
Und erholt sich zuweilen am Pflaumenmuse.
Louise – Gottlob! – wird dicker und fett
Sie kommt auch beinahe nicht mehr aus dem Bett,
Die beiden liegen sich stets in den Haaren,
Wie Du selbst hier schon manchmal erfahren,
Clara bleibt ihrer Grobheit treu,
Wie Ottilie ihrer Schlabberei.
Richard wird groß und grundgelehrt
Doch Seelenpips (Cäcilie) gern die Weisheit entbehrt,
Sie grüßen Dich alle.»
Kapp/Jachmann 22
Wie intensiv sich noch der alte Wagner mit dieser Frage auseinander setzt, zeigt die Unterhaltung mit Cosima 1878: Als der neunjährige Siegfried Richards Kappe aufsetzt, habe er Geyer ähnlich gesehen. Cosima: Vater Geyer ist gewiß dein Vater gewesen. Richard: Das glaube ich nicht. – Woher dann die Ähnlichkeit? Richard: Meine Mutter hat ihn damals geliebt. Wahlverwandtschaften. (CT 27.12.1878)
Richards Ähnlichkeit mit seinem ältesten Bruder Albert deutet eher darauf hin, dass Friedrich Wagner sein Erzeuger war, wenn es auch Argumente für Geyers Vaterschaft gibt. (Reihlen 1940) Dass es kein Bild des gesetzlichen Vaters gibt, woran sich der Sohn orientieren kann, macht das Problem noch größer. In Siegfrieds Frage Wie sah mein Vater wohl aus? benennt Wagner sein eigenes Dilemma.
Wie auch immer sich die Vaterfrage darstellt, so stammen doch die beiden möglichen Väter aus ähnlichen Verhältnissen: Beide Familien sind evangelisch, stammen aus Sachsen und stellen viele Lehrer und damit, wie üblich, auch Kantoren und Organisten der Pfarre.
Aber auch die Abstammung der Mutter scheint rätselhaft. In den Familienerzählungen tauchen nie Geschwister oder Verwandte der Mutter aus dem nur dreißig Kilometer entfernten Weißenfels auf. In Mein Leben deutet Wagner ein Geheimnis an: Über ihre Herkunft hat sie [die Mutter] sich gegen keines ihrer Kinder umständlich vernehmen lassen. Und: Schon in betreff ihres Namens äußerte sie sich aber mit einer sonderbaren Befangenheit, indem sie diesen als «Perthes» angab, während, wie wir wohl herausbekamen, er in Wahrheit «Petz» hieß.
Wohlgemerkt: Diese Sätze diktiert Wagner 1869 der adelsstolzen Cosima und deutet ihr gegenüber – und für die Nachwelt – eine fürstliche Abstammung der Mutter an. Er sagt, dass die Mutter in einer gewählten Erziehungsanstalt zu Leipzig untergebracht war und dort die Sorge eines von ihr sogenannten «hohen väterlichen Freundes» genoß, als welchen sie uns später einen weimarischen Prinzen nannte, der sich um ihre Familie in Weißenfels Verdienste erworben hatte. Ihre Erziehung scheint in jener Anstalt durch den plötzlichen Tod dieses väterlichen Freundes unterbrochen worden zu sein. (ML 17) Seine Mutter sei also, so deutet Wagner an, keine Bäckerstochter, sondern ein illegitimer Spross des Hauses Sachsen-Weimar-Eisenach.
Außer dem regierenden Großherzog Carl August, Goethes Freund, gibt es im Fürstenhaus nur den jüngeren Bruder Prinz Constantin, geboren am 8. September 1758, gestorben am 6. September 1793. Er hätte also demnach bereits mit fünfzehn die ältere Bäckersfrau und mehrfache Mutter geschwängert. Da das kaum glaubhaft ist, erzählt Wagner eine weitere Mär: Die Mutter habe den Vater im jugendlichsten Alter geheiratet. Aber bei der Heirat mit Wagners Vater am 2. Juni 1798 ist Johanna, geboren am 19. September 1774, bereits 23 Jahre alt.
Um diese Aussagen des Meisters stimmig zu machen, ändert Cosimas Leibhistoriker Carl Friedrich Glasenapp Johannas Geburtsjahr von 1774 auf 1778, macht also aus der dreiundzwanzigjährigen Braut eine neunzehnjährige. Aus dem bei Johannas Zeugung erst fünfzehnjährigen Prinzen wird so ein neunzehnjähriger. Glasenapps sechsbändige Wagner-Biographie von 1894 ist ein Standardwerk, aus dem wegen der erstmals verwendeten Quellen alle späteren Historiker zitieren müssen. Diese Manipulation ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie verwirrend die Wagnerliteratur sein kann.
Die falschen Daten und die Mär von Wagners fürstlicher Abstammung halten sich über Jahrzehnte. Zu Silvester 1942 notiert die Wahnfried-Archivarin Gertrud Strobel alarmiert in ihr Tagebuch: «Nach Tisch die Akten vom Thür. Staatssarchiv durchgesehen: ich finde die entscheidende Stelle über das Verhältnis des Prinzen Constantin zu Wagners Mutter; wir sind völlig erschlagen, ich kann vor Aufregung kaum vorlesen.» Sie und ihr Ehemann Otto Strobel wollen die Neuigkeit publizieren, fürchten aber, dass ihnen «Reihlen aus Leipzig» zuvorkommt.
Der Leipziger Archivar Wolfgang Reihlen überprüft seit langem systematisch alle Daten der Familie Wagner in den Urkunden. Das 1943 veröffentlichte Ergebnis seiner Forschungen ist eindeutig: Wagners Mutter ist nicht die Tochter des Prinzen, wohl aber seine Geliebte. Die Wagners sind also nicht fürstlicher Herkunft. (Reihlen 1943)
Die Familie Wagner und ihre Hofhistoriker sind mit Sicherheit informiert. Aber wieder werden Fakten unterdrückt, was angesichts der Kriegszeiten noch verständlich ist, nicht aber für die weiteren vier Jahrzehnte. Erst als 1984 der Germanist Volker Sigismund in einem biographischen Vortrag über Constantin arglos Reihlens Aufsatz breit zitiert, ist die Täuschung nicht länger aufrechtzuerhalten.
Die von Reihlen gefundenen Fakten: Nach 1788 ist Prinz Constantin als Generalmajor der Kavallerie in der Nähe von Weißenfels stationiert. Johanna ist vierzehn. 1789 stirbt ihre Mutter. Der Vater heiratet noch im selben Jahr eine Sechsundzwanzigjährige.
Die fünfzehnjährige Johanna trennt sich offenbar im Streit von ihrer Familie und geht in den Dienst des Prinzen. 1791 nimmt Constantin das Mädchen mit sich nach Leipzig und gibt es bei einer Frau Hesse im Brühl in Kost und Logis. 1793 zieht er in den Krieg gegen Frankreich, stirbt im sächsischen Hauptquartier an «Ruhr, Nervenfieber und Entkräftung» und wird in der Familiengruft in Eisenach beigesetzt.
Constantins Verlassenschaftsakt offenbart eine Reihe unehelicher Kinder und vier aktuelle Geliebte. Johanna Pätz hat eine Sonderstellung: Sie wird in den Akten als Constantins «Pflegetochter» bezeichnet, die bei Frau Hesse «mit vielem Aufwande» erzogen worden sei. Der Prinz «mag mit ihr die Absicht gehabt haben, aus ihr eine Persohn zu bilden, welche er einsten mit Anstand praesentiren könnte». Er bezahlt für das Mädchen nicht nur Logis, Schneider und Frisör, sondern auch einen Schreib- und einen Sprachmeister und eine Lehrerin, die ihr die Putzmacherei beibringen soll, wohl als künftigen Beruf. Ein Arzt stellt eine Rechnung über dreijährige Dienste bei Johanna, was die Mindestdauer der Beziehung andeutet, die nun abrupt zu Ende ist. Frau Hesse kann die Stimmung nur andeuten: «Die hofnungslose Nachricht in betref der Pflegebefohlenen ist sehr traurig.» Das letzte Lebenszeichen des Prinzen sind zwei von ihm erlegte Hasen, die er Johanna schickte.
Während die unehelichen Kinder und deren Mütter vom Fürstenhaus großzügig abgefertigt werden, hat die neunzehnjährige kinderlose Johanna das Nachsehen. Großherzog Carl August befiehlt: «Diese person soll 50 Reichsthaler aus obiger Caße, welche zu Michaelis noch nachzuzahlen sind, ausgezahlt erhalten und ihrem Schicksale überlaßen werden.» Vier Jahre später heiratet sie Friedrich Wagner.
Nach Geyers Tod ist die tiefgetroffene und überforderte Witwe so gut wie mittellos und auf Hilfe angewiesen, die ihr von vielen Seiten zuteil wird.
Zwei der acht Kinder sind bereits selbständig: Der zweiundzwanzigjährige Albert ist Sänger und Regisseur. Die achtzehnjährige Rosalie, bereits als Schauspielerin am Dresdner Hoftheater engagiert, wird die wichtigste finanzielle wie emotionelle Stütze der Mutter.
Die übrigen Kinder werden verteilt: Der siebzehnjährige Julius hat, da Geyer Freimaurer war, eine Freistelle am Dresdner Freimaurer-Institut und geht später bei Geyers Bruder in eine Lehre als Goldschmied. Luise ist fünfzehn und will Schauspielerin werden. Die musikalisch hochbegabte Clara ist dreizehn, Ottilie zehn, Cäcilie sieben. Der achtjährige Richard kommt zunächst bei einem Pfarrer und dann bei einem Onkel unter. 1822 wird er in die Dresdner Kreuzschule aufgenommen. Er träumt davon, einmal Theaterschriftsteller zu werden. Das Interesse für Musik kommt später. Erst mit elf Jahren hat er Klavierunterricht, bringt es aber damit nicht weit.
Julius Wagner, geboren am 7. August 1804, bleibt ledig und macht eine Lehre als Goldschmied. Sieben Jahre lebt er in Paris. Dann lässt er sich in Leipzig von der Mutter und den Geschwistern ernähren und ist, da er nicht arbeitet, das schwarze Schaf der Familie. In den Akten ist ein (nicht mehr vorhandener) Kriminalakt verzeichnet, der auf ein strafbares Delikt hindeutet. Er starb vermutlich am 29. März 1862.
Als Rosalie 1827 ein Engagement in Leipzig annimmt, übersiedelt die Familie mit ihr. Auf Antrag erhält die Mutter eine städtische Rente in Höhe von 60 Reichstalern. (Reihlen 1943)
Der nun vierzehnjährige Richard ist ungebärdig und schwierig und meint im Nachblick über diese Zeit: Ich bin in der wildesten Anarchie aufgewachsen; es mußte wohl so sein, da auch später keine bestehende Form für mich passen wollte, aber wie vieles hätte ich mir erspart, wäre ich an Gehorsam gewohnt gewesen. Ich war für meine Schwester [Rosalie] ein gewisses wildes aufgegebenes Wesen, das sich nicht fügte. (CT 5.7.1871) Über sein Leipziger Geburtshaus, den «Roten und Weißen Löwen», spöttelt er: Der weiße Löwe ist zornrot und der rote vor Angst weiß geworden. (CT 13.10.1879)
Verwandte und Geyers Freunde gleichen manches Problem aus, so der Schauspieler und Bühnenmaler Ferdinand Heine: Von ihm wurde ich sofort als Kind vom Hause aufgenommen, und wir Heimatlosen fanden in der uns gänzlich entfremdeten Heimat dort wieder den ersten heimischen Boden. (ML 235) Der Taufpate Adolf Träger hat laut Cosima spezielle Bedeutung: Er, der Pate, schenkte ihm einen hechtgrauen Frack und eine rote türkische Weste von sich, worüber die Mutter R.s sehr lachte, R. aber ging auf den Spott nicht ein, weil der für ihn hergestellte Frack des reichen Paten mit Seide gefüttert war. (CT 9.1.1870) Luxuriöse Stoffe braucht Wagner sein Leben lang, um sich wohl zu fühlen und seine Kreativität zu beflügeln.
Der Fünfzehnjährige nimmt Unterricht in Harmonielehre. Er schreibt einen Operntext, Die Hochzeit, aber da Schwester Rosalie das Buch nicht gefällt, vernichtet er es. Erst mit achtzehn studiert er beim Thomaskantor Theodor Weinlig systematisch den Kontrapunkt und die Musik des angebeteten Ludwig van Beethoven, bricht aber auch diese Ausbildung ab.
Für einige Jahre spielt Onkel Adolf Wagner, der Bruder des Vaters, für Richard eine wichtige Rolle, ein vielsprachiger, recht verschrobener Privatgelehrter, der erst 1827, mit 53 Jahren, sein Doktorat macht. Er arbeitet als Schriftsteller, übersetzt Sophokles, Byron, gibt eine Sammlung italienischer Dichtung heraus. Vor allem seine Schrift Theater und Publikum beeinflusst den Neffen stark. Richard nutzt die reiche Bibliothek des Onkels, liest dort Goethe, Schiller und Shakespeare und findet wahrscheinlich hier Tiecks Novellensammlung mit der Geschichte des Tannhäuser.
Politisch steht Adolf Wagner im freigeistigen Lager, was den Neffen stark beeinflusst. Denn nach der Pariser Julirevolution 1830 nimmt der Siebzehnjährige an den Leipziger Studentenkrawallen teil und gehört nach eigener Aussage zu jenen, welche wie wahnsinnig Möbel und Geräte zerschlugen. (ML 48)
Die familiäre Verbindung mit Brockhaus ist für Wagner ein verlässlicher Rückhalt in Krisenzeiten – intellektuell, gesellschaftlich und finanziell: 1828 heiratet Luise Wagner den Leipziger Verlagsbuchhändler Friedrich Brockhaus und nimmt ihre jüngere Schwester Ottilie in ihren Haushalt auf. Diese heiratet 1836 den Orientalisten und Sanskrit-Forscher Prof. Hermann Brockhaus. 1840 heiratet Cäcilie Geyer den Buchhändler Eduard Avenarius, der die Pariser Niederlassung der Firma Brockhaus leitet. Wagner wird Taufpate des kleinen Richard Avenarius, der ein bedeutender Philosoph wird.
1831, als polnische Aufständische aus dem Zarenreich nach Westen fliehen, ist Richard häufig bei seinem Schwager, dem Leipziger Buchhändler und Verleger Friedrich Brockhaus: Dieser leitet ein Komitee zur Betreuung polnischer Flüchtlinge: Nun war das Brockhaussche Haus für mich von höchster Anziehung. (ML 67)
Der junge Wagner betrachtet von vornherein Musik und Text einer Oper als ein Ganzes, das aus einer Hand kommen muss. Er arbeitet und denkt also gleichzeitig als Theaterdichter und -komponist und bald auch als Dirigent und Regisseur. Der Neunzehnjährige arbeitet am Text zur romantischen Oper Die Feen. Sein Leipziger Musikstudium schließt er nicht ab, da seine Familie sein ungezügeltes Leben nicht mehr unterstützen will. Immerhin verspielt er einmal das gesamte Geld seiner Mutter, hat aber das Glück, es zurückzugewinnen. Danach ist er von der Spielsucht geheilt.
Um Theaterpraxis zu erwerben und dem sächsischen Militärdienst zu entgehen, fährt der Neunzehnjährige im Februar 1833 nach Würzburg, wo Bruder Albert, inzwischen verheiratet und dreifacher Vater, am Stadttheater als Regisseur und Sänger arbeitet. Er nimmt ihn in eine strenge Lehre und, so Richard, verschaffte mir vor allen Dingen eine ausnahmsweise Beschäftigung als Chordirektor beim Theater, für welche ich monatlich 10 Gulden erhielt. (ML 81)
Richard studiert in Würzburg zwei Opern mit Chor ein, übt sich im Instrumentieren und Arrangieren für den Tagesbedarf und erhält vom Bruder wichtige Tipps aus der Sängerpraxis. Als er in der Sommerpause kein Geld verdient, hilft Schwester Rosalie. Unermüdlich arbeitet er an seiner Oper und schreibt aus Würzburg am 11. Dezember 1833 einen langen, zärtlichen Brief an Rosalie, die mit der Mutter zusammenlebt: Wie hab’ ich doch fast bei jeder Note an Euch – ach, an Dich! – gedacht, – und es war dies ein Gefühl, das mich wohl oft recht antrieb … O Gott gäbe, daß ich Dich in Deinen freudigen Erwartungen nicht täusche. Und: Ich bin doch ein recht verzogenes Kind, es tut mir jeder Augenblick wehe, den ich von Euch weg bin! Er bittet Schwester und Mutter innigst bei allem um Eure Güte und Nachsicht … Gott, ich bin ja erst 20 Jahre alt! Er schließt den langen Brief: Du aber – bleibst mein Engel, meine gute, einzige Rosalie! Bleibe es immer! Dein Richard. (ML 776)
Über Nürnberg, wo er Schwester Clara besucht, die mit dem Sänger Heinrich Wolfram verheiratet ist und zwei Töchter hat, kehrt Wagner nach einjähriger Abwesenheit nach Leipzig zurück, wo ich nun meiner hochbefriedigten Mutter und meiner innig erfreuten Schwester die drei kräftigen Bände meiner Partitur vorlegen konnte. (ML 87) Die Oper Die Feen ist fertig.
Der einundzwanzigjährige Richard wird 1834 Dirigent («Musikdirektor») bei der Theatertruppe Bethmann aus Magdeburg, die im Sommer in Bad Lauchstädt gastiert. Dort verliebt er sich in die sehr hübsche Erste Liebhaberin der Truppe: Minna Planer. Es ist eine stürmische, wechselhafte, höchst intensive Beziehung, wie zahlreiche Liebesbriefe dokumentieren. Wagner an den Jugendfreund Theodor Apel: So kann man auch nur mit einer Schauspielerin leben; – diese Hinwegsetzung über die Bürgerlichkeit kann man nirgends anders finden als da, wo der ganze Boden phantastische Willkühr und poetische Lizenz ist. Und nur eine Woche später, als Minna kurz verreist ist: Mein Gott! Mein Gott! – Wenn ich modern sein wollte, wäre jetzt wohl der rechte Zeitpunkt da, den ich zur Trennung benützen könnte; – aber da sitzt’s. Mir ist das Herz gebrochen, – recht bürgerlich gebrochen. (SB 27.10. und 5.11.1835)
Minna nimmt 1835 ein Engagement in Königsberg an, und Wagner jammert ihr nach: Eher gewöhne ich mich an den Gedanken meines schnellen Todes, als an die Trennung von Dir. Er beklagt sein trauriges, einsames Bett und besucht Minnas Mutter: Sehe Deine Schwester in Deinem Schlafrock, mir gegenüber Otterstedt’s Bild, – ich trinke allein aus dem Glase, aus dem ich nur mit Dir zusammen trank. Und so fort. (SB 8.11.1835) Als die Bethmann’sche Truppe Pleite macht, reist der stürmische Liebhaber sofort nach Königsberg. Dort leben sie von Minnas kleiner Gage.
Erst kurz vor der Hochzeit am 24. November 1836, als die Papiere vorgelegt werden müssen, macht Minna zwei Geständnisse: Sie ist nicht, wie Richard glaubt, ein Jahr jünger als er, sondern vier Jahre älter. Und sie hat eine sechzehnjährige Tochter: Natalie, jenes Mädchen, das Wagner als Minnas Schwester kennt. Minnas Mutter gab das Kind aus Angst vor ihrem Ehemann, einem früheren sächsischen Stabstrompeter, als ihr eigenes aus, auch um die verstörte Tochter zu entlasten. Denn der Erzeuger, der Königl. Sächsische Garde-Hauptmann Baron von Einsiedel – Halb Gewalt, halb Verführung brachte sie in seine Gewalt, so Richard (ML 137) –, suchte nach der Tat das Weite. Minna wird Richard veranlassen, mit ihr einen Alimentenprozess gegen Einsiedel beim Dresdner Landesgericht einzuleiten. (CT 29.7.1878)
Ihr Leben lang betrachtet Natalie ihre Großmutter als ihre Mutter und Minna als große Schwester. Minna nimmt das Mädchen zwar lange Zeit im Wagnerhaushalt auf, behandelt es aber eher wie eine Dienstbotin statt als Kind im Haus.
Natalie Planer, Minnas Alleinerbin, ist ihre 1826 geborene Tochter und offizielle Schwester, nach ihrer Heirat 1869 Frau Bilz. Wagner unterstützt sie, bewahrt sie vor dem Versorgungshaus und erhält von ihr rund zweihundert seiner Briefe an Minna zurück. Die restlichen Papiere verkauft Natalie kurz vor ihrem Tod an die Engländerin Mary Burrell. Die «Burrell-Sammlung», die nicht der Wahnfrieder Zensur untersteht, wird erst 1950 veröffentlicht. Natalie stirbt 1892.
Wagner akzeptiert das. Er liebt und braucht Minna und offenbar auch die ständigen Liebeskrisen, um arbeiten zu können. Jedenfalls ist er an ihrer Seite höchst produktiv. Und er ist seiner Minna mindestens vierzehn Jahre lang treu. Sie jedoch brennt nach einem Ehekrach 1837 mit einem Liebhaber durch. Als sie nach einigen Monaten reumütig zurückkehrt, ist Richard glücklich, sie wiederzuhaben, und arbeitet intensiv am Text des Rienzi.
Wagner braucht ständig Menschen um sich, Freunde, Verwandte, Jünger und überdies Hunde, Papageien und anderes Getier. Minna ist eine adrette, warmherzige und humorvolle Gastgeberin und vorzügliche Hausfrau und Köchin. Die Wagners wünschen sich eine große Familie.
Als Wagner eine Stelle als Musikdirektor in Riga annimmt, gibt Minna ihren Beruf auf und geht mit ihm. Er will über Leipzig reisen, um Rosalie zu sehen, die im Vorjahr den Philologen Oswald Marbach geheiratet hat. Dass er den Plan aufgibt, reut ihn bald. Denn in Riga erhält er die Nachricht von Rosalies Tod im Kindbett. Mit dem Schwager, Privatdozent der Leipziger Universität, bleibt Richard weiter in Verbindung. Denn Marbach arbeitet an einer neuhochdeutschen Übersetzung des Nibelungenliedes.
Am Provinztheater des damals russischen Riga lernt Wagner die zu dieser Zeit gängige Opernliteratur gründlich kennen und missachten. Er nimmt sich vor, seinen Rienzi so aufwendig zu planen, dass er nur in großen Häusern spielbar ist, am besten in Paris. Im Sommer 1839 verlassen die Wagners Riga, um Giacomo Meyerbeer zu treffen und mit seiner Empfehlung in Paris den künstlerischen Durchbruch mit Rienzi zu schaffen. Wegen der vielen Gläubiger fliehen sie auf Schleichwegen aus der Stadt und lassen sich ohne Pässe über die russische Grenze schmuggeln, samt ihrem schwarzen Neufundländer Robber.
Auf der Fahrt zum Ostseehafen Pillau kommt es in tiefer Finsternis auf unwegsamem Gelände zu einem Wagenunfall. Wagner landet in einer Jauchegrube. Viel später notiert Natalie, was erst 1950 veröffentlicht wird und durch keine andere Quelle belegt ist: dass Minna so unglücklich unter den Wagen zu liegen kam, daß sie schwer beschädigt des höchsten Glückes einer jungen Frau, des begonnenen Mutterglückes verlustig wurde. Wegen Minnas schwer leidendem Zustand macht das Paar in einem schäbigen Dorfwirtshaus einen Tag Rast. Dann brechen sie wieder bei Nacht auf, um den ganzen weiten Weg bis zum Schiff durch hohes nasses Graß auf dem Erdboden kriechend zurückzulegen. (Burrell 120)
In Mein Leben erwähnt Wagner nur Minnas Verletzung, kaum verwunderlich, da er ja Cosima diktiert. Aber auch von Minna ist keine Erwähnung einer Fehlgeburt bekannt. Diese Frage bleibt also offen. Sosehr Wagner sich auch ein Kind wünscht: Minna wird nicht mehr schwanger.
Statt wie vorgesehen sieben Tage brauchen sie fast vier Wochen für die Reise. An der Küste Norwegens gerät das kleine Segelschiff «Thetis» in tagelange Stürme und Seenot. Für Minna muss das alles eine furchtbare Tortur sein. Wagner inspirieren die Ängste und Schrecknisse zum Thema und zur musikalischen Stimmung des Fliegenden Holländer.
Nach einem Zwischenaufenthalt in London, wo das Reisegeld dahinschwindet, kommen die Wagners endlich in Paris an. Eduard Avenarius hat eine billige Wohnung für sie und ist auch sonst behilflich. Und als 1840 Schwester Cäcilie als Frau Avenarius kommt, hat Wagner wieder höchst willkommenen Familienanschluss.
Paris ist für Wagner eine bittere Enttäuschung. Rienzi wird nicht aufgeführt. Der erhoffte Auftrag für die Komposition des Fliegenden Holländer bleibt aus, und er arbeitet ohne Auftrag weiter. Ein wenig Geld verdient er mit Artikeln für die «Dresdener Abendzeitung». Er fertigt sogar Klavierauszüge französischer Komponisten an. Bemerkenswert ist, dass er sich ausgerechnet in Paris, in der Konfrontation mit der französischen Oper, intensiv mit deutschen Sagen beschäftigt, mit dem Ziel, eine andere, eine «deutsche Oper» zu schreiben.
Der Hunger ist ein häufiger Gast. Minna nimmt Untermieter auf, die sie bedient und deren Schuhe sie putzt. Bei den ebenfalls bitterarmen Künstlerfreunden ist sie sehr beliebt und versteht es, inmitten des Elends ein ziemlich munteres Bohemeleben zu gestalten. Sein Leben lang wird Wagner seiner Frau nicht vergessen, was sie für ihn in diesen düsteren Jahren tat und wie geradezu lebenswichtig sie in dieser Zeit für ihn war.
Erlösung aus dem Pariser Elend bringt die Nachricht, dass Rienzi in Dresden zur Uraufführung angenommen ist. Die Wagners brechen nach drei schlimmen Jahren ihre Zelte in Paris ab und übersiedeln nach Dresden.
Mit dem Riesenerfolg des Rienzi am 20. Oktober 1842 ändert sich Wagners Leben. Über Nacht ist der Neunundzwanzigjährige ein Liebling des Publikums und wird bald zum Hofkapellmeister auf Lebenszeit ernannt.
Kietz, wir haben immer noch keine Kinder, nur Peps und Papchen