Inhalt

Widmung

Für Melvine Love

(meine Mutter)

Teil 1

1

Spätabends klingelte in meiner New Yorker Wohnung das Telefon. Es war die Nacht des 4. August 1964. Eine Nacht der Trauer und Wut für alle von uns in der Bürgerrechtsbewegung, besonders aber für die in Mississippi. »Wir haben hier unten eine Krise«, sagte der junge Mann am Telefon. »Wir brauchen Hilfe.«

Zu Beginn dieses schicksalsschweren Sommers waren Hunderte Freiwillige – die meisten davon Studenten, darunter auch viele Weiße – aus dem Norden gekommen, um im Süden schwarze Wähler zu registrieren und die schwarzen Bewohner der ländlichen Gebiete bei der Ausübung ihrer Bürgerrechte zu unterstützen. Sie alle wussten, wie gefährlich ihre Arbeit sein würde. Und sie alle zogen unbewaffnet in den Kampf für Bürgerrechte in einem Bundesstaat, der von fanatischen Befürwortern der Rassentrennung beherrscht wurde.

Die Polizei von Mississippi stand bereit, sie beim kleinsten Anlass zusammenzuschlagen und ins Gefängnis zu stecken. Noch Schlimmeres war vom Ku-Klux-Klan zu erwarten. Wie viel schlimmer, erfuhren wir alle an diesem Tag. In der Nähe von Philadelphia, Mississippi, wurden in einem flachen Grab verscharrt die Leichen von drei Freiwilligen gefunden, die seit dem 21. Juni vermisst wurden. Michael Schwerner, James Chaney und Andrew Goodman – zwei von ihnen weiß, einer schwarz – waren wegen eines angeblichen Verkehrsverstoßes verhaftet, für kurze Zeit eingesperrt und nach Einbruch der Dunkelheit laufen gelassen worden, woraufhin sie in einen Hinterhalt des KKK gerieten. Alle drei wurden übel zusammengeschlagen und dann erschossen. Chaney, der Schwarze unter ihnen, wurde gefoltert und verstümmelt.

Ich hatte zur Finanzierung des Mississippi Freedom Summer eine Menge Geld aufgetrieben. Ich hatte alle Top-Entertainer, die ich kannte – Frank Sinatra, Lena Horne, Henry Fonda, Marlon Brando, Joan Baez, das Kingston Trio, Dick Gregory und viele andere –, um Geldspenden oder um eine Beteiligung an Benefizkonzerten gebeten. Mit diesem Geld ließ sich schon einiges bezahlen: Benzin und Autos, Unterbringung und Verpflegung. Aber jetzt wurde noch mehr gebraucht. Sehr viel mehr.

Ursprünglich war geplant gewesen, dass die Studenten für jeweils zwei Wochen in den Süden kommen und dann durch andere ersetzt werden sollten. Aber nach dem rätselhaften Verschwinden von Schwerner, Chaney und Goodman wollte niemand weg. Jetzt wo man die Leichen gefunden hatte, wollten all diese Freiwilligen nicht nur den ganzen Sommer, sondern auch noch den Herbst über bleiben. »Es ist gut, dass sie bleiben«, erklärte Jim Forman, der junge Mann, der mich an diesem Abend anrief. Jim war de facto der Leiter des Student Nonviolent Coordination Committee (SNCC), einer von mehreren Bürgerrechtsgruppen unten im Süden. »Denn wenn sie jetzt oder Ende August gehen, wird der Klan behaupten, er hätte sie verjagt, und die Presse wird es auch nicht anders darstellen. Aber wenn sie bleiben, können wir noch Tausende weitere Wähler registrieren. Das Problem ist nur, dass uns das Geld fehlt, um sie alle hierzubehalten.«

»Wie viel braucht ihr?«, fragte ich.

»Mindestens fünfzigtausend Dollar.«

Ich sagte, okay, das wäre machbar, und fragte, wie eilig es wäre.

»In zweiundsiebzig Stunden werden wir den Rest unseres Budgets aufgebraucht haben«, sagte Forman. Und bevor der junge Mann auflegte, bemerkte er noch etwas: »Das könnte sehr hässlich werden«, sagte er ruhig. »Viele Leute hier sagen, jetzt reicht’s, zum Teufel mit dem Gewaltverzicht. Manche bewaffnen sich schon. Ich mache mir Sorgen, dass sie die Sache selbst in die Hand nehmen.«

Jetzt war die Frage, wo ich das Geld herkriegen sollte und wie ich es nach Greenwood, Mississippi, schaffen konnte. Ich hätte die 50 000 von meinen eigenen Ersparnissen nehmen können –bereits in seiner Gründungsphase hatte ich dem SNCC einen Betrag in fast dieser Höhe gestiftet, und auch danach war ich nicht knauserig gewesen. Für mich selbst wäre das kein großes Problem, aber wenn es um Geld ging, musste ich auch an meine Familie denken. Paul Robeson, der brillante Schauspieler, Sänger und Aktivist, dessen Weg ich zu folgen versucht habe, seitdem ich erwachsen bin, hatte so viel Geld für soziale Zwecke gespendet, dass seine Feinde, insbesondere die Regierung, leichtes Spiel gehabt hatten, nachdem er in den 1940er-Jahren als Kommunist auf die schwarze Liste gesetzt worden war. Er hatte eine beachtliche Streitmacht gegen sich, angeführt von J. Edgar Hoover und dem FBI, und mit tatkräftiger Unterstützung durch Senator Joseph McCarthy hatten sie die Carnegie Hall und andere amerikanische Veranstaltungsorte dazu gebracht, ihn nicht mehr zu engagieren. Schließlich hatten sie auch noch seinen Pass beschlagnahmt, sodass er auch nicht mehr im Ausland sein Geld verdienen konnte. Als seine Ersparnisse aufgebraucht waren, versank Paul in eine Phase tiefer Depression. Diese Geschichte vor Augen, beschloss ich, den Großteil des benötigten Geldes bei anderen aufzutreiben. Innerhalb von zwei, vielleicht drei Tagen. Dazu kam die Frage, wie das Geld nach Mississippi kommen sollte. Schließlich konnte ich es nicht einfach telegrafisch anweisen und dann einen schwarzen Bürgerrechtsaktivisten zu einer Western-Union-Filiale vor Ort schicken, um zu fragen, ob er bitte seine 50 000 Dollar haben könne. Das hätte er keine Viertelstunde überlebt. Einem weißen Freiwilligen wäre es nicht anders ergangen. Die Banken, diese feinen Institute, die sich alle im Besitz der weißen Machtelite von Mississippi befanden, waren genauso ausgeschlossen.

Das Geld konnte nur in bar dort hingebracht werden. Und falls mir nicht noch was Besseres einfiel, würde ich das selbst erledigen müssen.

Julie, meine Frau, blieb in unserer Wohnung an der West End Avenue, um dort eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu organisieren. Ich flog nach Chicago. Der Kolumnist Irv Kupcinet, der in seiner Stadt genauso viel Einfluss hatte wie Walter Winchell in New York, trommelte in kürzester Zeit Dutzende Gäste in seinem Haus zusammen. Weiße Leute, die ihre Scheckbücher mitbrachten. Wie kam es, dass ich als schwarzer Entertainer so viel Gewicht bei Irv und seinen Freunden hatte? Unsere Freundschaft ging auf meine Anfangstage als Sänger in den frühen Fünfzigern zurück, als ich durch die Clubs tingelte, aber unser guter persönlicher Draht war nicht alles. Ohne wirklich zu wissen, wie und woher, besaß ich die Fähigkeit, mich über die Rassenschranke hinwegzusetzen. Das lag nicht nur an mir, sondern gewiss auch an den Zeitumständen. Aufgerüttelt von dem schockierenden Mord an den Freiwilligen, überschütteten Irvs Gäste mich geradezu mit Schecks und Bargeld – insgesamt 35 000 Dollar –, als wäre ich ein wichtiger Repräsentant der Bürgerrechtsbewegung. Und in gewisser Weise, an diesem Ort und an diesem Abend, war ich das auch. Ein Ausflug nach Montreal brachte mir zusätzliche 20 000 Dollar ein.

Zurück in New York, bekamen Julie und ich bei unserem Benefizball weitere 15 000 zusammen. Die Zeit lief mir davon: Ich hatte gehofft, auf 100 000 Dollar zu kommen, aber nun mussten 70 000 reichen. Doch auch der Betrag machte mir Mut. Und was mir noch mehr Mut machte, war, dass ich einen Begleiter für die Reise gefunden hatte: meinen alten Freund aus unserer gemeinsamen Zeit als darbende Schauspieler in Harlem, Sidney Poitier.

Sidney und ich waren wie Brüder. Unsere Geburtstage lagen nur acht Tage auseinander, wir hatten beide westindische Wurzeln und waren von der Sehnsucht getrieben, unseren drückend armen Verhältnissen zu entkommen. Kaum zu glauben, dass wir es beide geschafft haben, unseren Traum zu verwirklichen und Entertainer zu werden. Sidney war der schwarze Schauspieler in Hollywood. Ich hatte meine ersten Erfolge als Sänger gehabt, dann aber auch am Broadway und in Hollywood Triumphe gefeiert. Kurz gesagt: Wir waren damals die zwei bekanntesten schwarzen Entertainer der Welt. Wie Brüder konkurrierten wir auch heftig miteinander und hatten unsere politischen und persönlichen Differenzen. Zum Beispiel war Sidney viel vorsichtiger als ich. »An was für Schutzmaßnahmen hast du gedacht?«, fragte er umsichtig, als ich ihn bat, mich zu begleiten.

»Darüber habe ich mit Bobby gesprochen«, sagte ich. Robert F. Kennedy war nach der Ermordung seines Bruders auch unter Präsident Johnson Justizminister geblieben. Er hatte mich an Burke Marshall verwiesen, den Leiter der Abteilung für Bürgerrechte im Justizministerium. Beide wussten, was für ein Risiko ich einging. Bei dem vergifteten Klima von Mississippi war es durchaus denkbar, dass jemand vom Klan mich niederschießen würde. Diesen reichen Negersänger aus New York umlegen, der sich zu wissen einbildet, was für den Süden gut ist? Zehn Punkte! Marshall ließ mich am Telefon ausreden und notierte sich meinen Reiseplan. Das alles erzählte ich Sidney, wobei ich vielleicht ein bisschen übertrieb. »Marshall ist an der Sache dran«, versicherte ich ihm. »Das heißt: Wir stehen auf der ganzen Reise unter dem Schutz der Regierung.«

»Auf der ganzen Reise«, wiederholte Sidney.

»Richtig«, sagte ich. »Außerdem wird es ihnen schwerer fallen, zwei schwarze Stars umzulegen als bloß einen. Gemeinsam sind wir stark, Mann.«

»Okay«, sagte Sidney finster. »Aber danach, Harry?«

»Ja?«

»Ruf mich nie wieder an.«

Ich kannte Sidney gut genug, um zu wissen, dass er das nicht ernst meinte – zumindest in diesem Augenblick. Ich nahm seine Wut als Scherz und ging mit einem Lachen darüber hinweg, aber ich lachte allein. Ohne weitere Begleitung und ziemlich schweigsam stiegen wir zwei in Newark, New Jersey, in den Flieger, der uns nach Jackson, Mississippi, bringen sollte. Ich hatte die Schecks eingelöst und trug jetzt insgesamt 70 000 Dollar in kleinen Scheinen in einer schwarzen Arzttasche mit mir herum. In diesen längst vergangenen Zeiten fragte uns kein Mensch danach, was wir da in der Tasche hatten. Wir wurden einfach von einer Stewardess an Bord gewinkt.

Unser Flug war der letzte, der an diesem Abend in Jackson landete. Jim Forman und zwei andere SNCC – Freiwillige erwarteten uns, ansonsten war der Terminal so gut wie menschenleer. Abgesehen von einem Schwarzen, der seinen Besen durch die Halle schob, war niemand da. Sidney sah mich wütend an. »Ist das dein Regierungsschutz?«

»Wahrscheinlich ein verkleideter FBI – Agent«, sagte ich, worüber Sidney nicht mal schmunzeln konnte.

Die Freiwilligen führten uns in die schwüle Mississippi-Nacht hinaus zu einer privaten Startbahn, wo eine kleine Cessna wartete. Der Pilot, ein Weißer, begrüßte uns äußerst sachlich und mit starkem Südstaatenakzent. Beim Einsteigen beobachtete ich ihn verstohlen. War er einer vom Klan und lockte uns in eine Falle? Es hätte mich nicht gewundert.

Ich wurde zunehmend nervöser, während das winzige Flugzeug Kurs auf Greenwood nahm. Der Flug war holprig. Den Piloten schien das nicht zu beunruhigen, wir aber hielten jeden Hopser der Maschine für den Anfang vom Ende.

Endlich landeten wir auf dem Flughafen von Greenwood, der aus einer Schotterpiste und einem Schuppen bestand. Der Pilot rollte daran vorbei, dann wieder zurück, ließ uns aussteigen und flog sofort wieder los. Was wusste er, was wir nicht wussten? Ich sah mich um, die Dunkelheit war so beklemmend wie die Hitze. Noch nie hatte ich eine so schwarze Nacht erlebt. Ich musste an ein Gedicht von James Weldon Johnson denken, »Die Schöpfung«:

… so weit das Auge Gottes sah
Lag alles tief in Finsternis.
So schwarz wie hundert Mitternächte
im dunkelsten Zypressensumpf.

Ein paar weitere SNCC – Freiwillige erwarteten uns mit zwei Wagen, um uns in die Stadt zu bringen. Sidney und ich setzten uns auf den Rücksitz des einen, Jim Forman nahm vorne neben dem Fahrer Platz, einem jungen SNCCer namens Willie Blue. Die anderen stiegen in den zweiten Wagen. An beiden Autos war der Lack angeraut, damit sie nicht glänzten. Eine gute Vorsichtsmaßnahme, aber nicht gut genug: Als Willie und der andere Fahrer die Motoren anließen, flammte auf der anderen Seite des Flugfeldes eine lange Reihe Scheinwerfer auf. »Das muss die Bundespolizei sein«, sagte ich zu Sidney. Aber es war nicht zu übersehen, dass die Scheinwerferpaare alle zu verschiedenen Autofabrikaten gehörten. Willie Blue zerschlug meine Hoffnungen. »Von wegen Polizisten«, brummte er. »Das ist der Klan.«

Statt von der Scheinwerferfront in Richtung Hauptstraße wegzufahren, rasten Willie und der andere mit vollem Tempo darauf zu. Schon konnten wir die Umrisse von drei oder vier alten Pickups erkennen. Dann aber, als hätten sie das vorher abgesprochen, rissen Willie und der andere plötzlich die Steuer herum und bogen auf eine holprige Nebenstraße ab, wo sie das Tempo drosselten. Die Pickups schlichen in langer Reihe hinter uns her.

»Warum fahren Sie nicht schneller?«, schrie ich. Willie hielt sich exakt ans Tempolimit, vierzig Meilen die Stunde. »Schneller, Mann!«

»Nein«, schrie Willie zurück. »Genau darauf warten die nur. Die haben hier irgendwo einen Polizisten im Hinterhalt, der uns wegen Geschwindigkeitsüberschreitung festnehmen soll. Der bringt uns auf die Wache, und wenn er uns nach einer Stunde laufen lässt, warten draußen noch mehr vom Klan. So machen die das. So sind auch diese Jungs ums Leben gekommen.«

Der erste Pickup hinter uns beschleunigte jetzt, um uns zu überholen. Durchs Heckfenster sahen wir, dass der Wagen einen starken Holzbalken quer vor dem Kühlergrill montiert hatte – eine Art Rammbock – und kein Nummernschild. Willie steuerte in die Mitte der zweispurigen Straße, damit der Pickup nicht an uns vorbeikam, worauf der uns von hinten rammte. »Wir dürfen die nicht neben uns lassen«, schrie Willie. »Dann schießen sie.«

Willie schaltete sein Walkie-Talkie ein und sprach mit dem SNCC – Büro in Greenwood. Eine knisternde Stimme antwortete: »Wir sind unterwegs.«

Der Pick-up rammte uns weiter, aber Willie blieb stur auf der Mitte der Straße und rückte jedes Mal ein bisschen nach links, wenn der Pick-up sich neben uns zu setzen versuchte. Zwei oder drei entsetzliche Minuten später, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, tauchte vor uns ein Konvoi aus Richtung Greenwood auf. »Das sind sie«, sagte Willie. Der Rettungstrupp vom SNCC. Mein Herz schlug immer noch heftig, aber wenigstens konnte ich jetzt wieder atmen.

Als der Konvoi näher herankam, wurden die Pick-ups langsamer und fielen hinter uns zurück. Und dann hörten wir Schüsse, mindestens ein Dutzend. Ob die Klanleute auf uns schossen oder nur in die Luft feuerten, ließ sich nicht feststellen. Niemand wurde getroffen, auch nicht unsere Autos. Als wir im Schutz des SNCC – Geschwaders von der Hauptstraße abbogen, sahen wir die Pick-ups geradeaus weiterfahren, und wieder fielen Schüsse.

Der Konvoi brachte uns nach Greenwood hinein und weiter zur Elks Hall, wo Hunderte von Freiwilligen versammelt waren. Sie hatten den ganzen Tag mit hitzigen Debatten über die nächsten Schritte verbracht und waren entsprechend müde und angespannt. Die meisten der diskutierten Optionen standen oder fielen mit uns. Als Sidney und ich den Raum betraten, brach die Hölle los. Sidney und ich hatten in unserem Leben wirklich schon viel Beifall gehört, aber noch nie ein solches Freudengeschrei. Nach wochenlangem gefährlichen Einsatz waren diese Freiwilligen mit den Nerven am Ende. Dass zwei schwarze Weltstars zu ihnen kamen, um ihnen ihre Solidarität zu bekunden, bedeutete ihnen sehr viel – und uns nicht weniger.

Die Menge stimmte ein Freiheitslied an, und dann noch eins – Spirituals, aus denen diese tapferen jungen Leute Tag für Tag Trost und Mut geschöpft hatten. Schließlich ergriff Sidney das Wort. »Ich bin siebenunddreißig Jahre alt«, sagte er. »Ich bin mein ganzes Leben lang einsam gewesen … weil ich keine Liebe gefunden habe … aber in diesem Raum ist mehr als genug davon.« Dann wandte er sich an mich. Ich wartete noch kurz, und dann fing ich an: »Day-o …« Die Menge fiel lautstark ein. Der »Banana Boat Song« war mein berühmtestes Lied, vor allem aber war es ein Schrei aus den Herzen armer Arbeiter, ein Aufschrei, gemischt aus Müdigkeit und Hoffnung, genau das, was die Freiwilligen an diesem Abend erfüllte. Aus »Day-o, Day-o! Daylight come an’ me wan’ go home« war auch eine Hymne der Bürgerrechtsbewegung gemacht worden – »Freedom, freedom, freedom come an’ it won’t be long«. Nachdem wir beide Versionen gesungen hatten, hielt ich meine schwarze Tasche hoch, drehte sie um und ließ das gebündelte Bargeld auf den Tisch vor mir fallen. Wieder gab es lauten Jubel.

Wie Sidney gesagt hatte, war in dieser Scheune viel Liebe zu spüren. Draußen jedoch lauerten die Männer vom Ku-Klux-Klan in ihren Autos; wie hätten wir sie von Greenwood fernhalten können? An diesem Tag waren Flugzeuge über den Ort geflogen und hatten KKK – Flugblätter abgeworfen, auf denen die Bürger von Mississippi aufgefordert wurden, sich von den Niggern nicht ihre Rechte stehlen zu lassen. Man bewirtete uns mit Hühnchen und Spareribs, und es war schon spät, als man Sidney und mich zu dem Haus eskortierte, wo wir übernachten sollten, bewacht von bewaffneten Freiwilligen. In unserem Zimmer, an der Wand unter dem Fenster, stand ein Doppelbett – kein allzu großes. Sidney erbleichte.

»Ich leg mich innen rein, okay?«, sagte ich. Ich meinte die Wandseite, was als Zugeständnis gedacht war: Dann wäre ich es nämlich, der von seinem schnarchenden Bettgenossen eingeklemmt würde.

Sidney sah mich argwöhnisch an. »Ja, aber wenn einer sein Gewehr zum Fenster reinschiebt und schießt, erwischt er bestimmt mich.«

Das war höchstens halb im Scherz gemeint.

»Okay, okay, dann leg ich mich nach außen«, sagte ich.

Sidney dachte darüber nach. Wenn ich bereit war, mich außen hinzulegen, war das am Ende vielleicht doch die bessere Seite. »Nein, ich leg mich außen hin«, sagte er. »Falls man dich erschießt, müsste ich über deine Leiche klettern, um zur Tür zu kommen.«

Im Dunkeln redeten wir noch eine Weile. Ich erzählte ihm einige meiner Gespenstergeschichten. Irgendwann fiel ich in unruhigen Schlaf, wurde aber bald von einem seltsamen Zischen geweckt. Es war stockfinster. Ich wollte Sidney anstupsen. Aber neben mir lag niemand. Das Zischen wurde lauter. »Sidney?«

»Ja«, zischte er.

»Was zum Teufel machst du da?«

»Liegestütz«, sagte Sidney. »Ich kann nicht schlafen. Und wenn diese Schweine uns ans Leder wollen, will ich fit sein.«

Nachdem ich wieder zu Hause bei Frau und Kindern war, habe ich mich oft gefragt, warum ich mir die Sache der Bürgerrechtsbewegung überhaupt zu eigen gemacht hatte. Im Prinzip war mir die Antwort natürlich bekannt – alle schwarzen Amerikaner, die ein Gewissen besaßen, hatten das spätestens im Sommer 1964 getan, auch wenn das bei manchen nur auf das gelegentliche Ausstellen eines Schecks hinauslief. Und auch viele weiße Amerikaner hatten das getan. Wir alle spürten, dass die Geschichte einen Punkt erreicht hatte, wo sich etwas ändern musste. Wir konnten Lynchjustiz und Auspeitschungen einfach nicht mehr tolerieren. Wir konnten die Schilder »Nur für Weiße« an Hotels und Restaurants und Tankstellen und Trinkbrunnen und Bushaltestellen in den Südstaaten nicht mehr ertragen. Wir konnten nicht mehr zulassen, dass schwarze Amerikaner praktisch immer noch wie Sklaven behandelt wurden. Das stand fest. Aber warum fühlte ich mich persönlich so gekränkt, wenn ich in meinem 21-Zimmer-Apartment in der West End Avenue saß und im Fernsehen die jüngsten Bilder von demonstrierenden Studenten sah, die von Polizisten mit Schlagstöcken verprügelt und von scharfen Polizeihunden gebissen wurden? Aus welchen Tiefen kam der Zorn, der beim Anblick dieser Szenen in mir aufstieg, und warum empfand ich seit so Langem schon eine solche Wut, wenn es um Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung ging, als ob diejenigen, die diese schlimmen Demütigungen zu verantworten hatten – angefangen beim Präsidenten über FBI und Militär bis hin zum Mann auf der Straße –, es darauf abgesehen hätten, mir unrecht zu tun? Und warum hatte ich, dem es zugleich um meinen Erfolg als Schauspieler und Sänger ging, meine steile Karriere aufs Spiel gesetzt – und in mancher Hinsicht beschädigt –, die mich mit dreißig zum ersten sogenannten schwarzen Leinwandidol gemacht hatte?

Meine Mutter hatte viel damit zu tun. Nicht ganz so viel mein Vater, aber auch er. Vor allem jedoch hatte ich von meiner Kindheit an ziemlich einsam zwischen allen Stühlen gesessen, nicht nur zwischen karibischer und amerikanischer Kultur, sondern auch zwischen Schwarz und Weiß. Und in beiden Welten, in denen ich als Kind gelebt habe – Kingston und Harlem –, war ich arm wie eine Kirchenmaus gewesen. Auch daher kam mein Zorn.

Lange nachdem ich mich in die Bürgerrechtsbewegung gestürzt hatte, versuchte ich immer noch, diesen Zorn zu verstehen und nach und nach loszuwerden. Martin Luther King lehrte mich, Gewaltverzicht zu akzeptieren – nicht nur aus taktischen Gründen, sondern als Lebensweise. Ein halbes Jahrhundert Psychoanalyse hat mir ebenfalls geholfen. Aber als ich anfing, die Geschichte meines Lebens aufzuschreiben, hatte ich die Teile noch immer nicht alle zusammengesetzt. Heute weiß ich mehr als zu der Zeit, als ich dieses Buch begonnen habe. Ich sehe den kleinen Jungen, der ich war, in seiner ganzen Komplexität, wütend und verletzt und fast immer allein. Aber warum ausgerechnet dieser kleine Junge seine Wut einsetzen konnte, um sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, um berühmt zu werden und es sich zur Aufgabe zu machen, mit derart grimmiger Entschlossenheit gegen Rassenschranken und Ungerechtigkeiten vorzugehen, ist mir immer noch nicht klar.

Vielleicht ist es am Ende gar nicht so wichtig, wo dein Zorn herkommt. Hauptsache, du fängst etwas damit an.

2

Ich wurde in Armut hineingeboren, wuchs in Armut auf, und lange Zeit glaubte ich, die Armut niemals loswerden zu können. Sie hat mich geprägt; und in tiefster Seele denke ich, sie prägt mich noch immer. Was ich empfand, war nicht nur Zorn, sondern auch Angst und Ausgeliefertsein. Das alles empfand auch meine Mutter, als sie am 20. Juli 1926 von einem Dampfer namens Cananova auf Ellis Island US – amerikanischen Boden betrat. Bei ihr kam aber anfangs noch Hoffnung dazu.

Meine Mutter, Melvine Love, war eine echte jamaikanische Schönheit von einundzwanzig Jahren: dunkle Augen, hohe Wangenknochen und eine schlanke Figur, die sie so gerade hielt, dass ihr Stolz und ihre Entschlossenheit niemandem entgehen konnten. Sie war eins von dreizehn Kindern einer Bauernfamilie in den Bergen von St. Ann Parish an der Nordküste der Insel, und ihre milchkaffeebraune Haut zeugte von ihrer gemischten Herkunft. Ihr Vater war ein schwarzer Farmpächter, ihre Mutter eine Weiße, Tochter eines Schotten, der als Plantagenaufseher nach Jamaika gekommen war. Das war nicht ungewöhnlich in der Karibik. Und nicht selten hatten in den großen Familien die Kinder unterschiedliche Elternteile. Einige Geschwister meiner Mutter hatten verschiedene Väter, was an ihrer dunkleren oder helleren Haut zu erkennen war, und ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Großvater in den Bergen der Umgebung auch noch etliche andere Sprösslinge hatte. Millie, wie meine Mutter genannt wurde, war eins der zehn Kinder ihrer Familie, die das Kindesalter überlebten. Auf Jamaika hatten sie nur die Aussicht auf ein armseliges Bauernleben, weshalb vier von Millies Geschwistern bereits nach New York gegangen waren; zwei davon erwarteten sie im Empfangsbereich. Meine Tante Liz trug einen schicken Hut und ein eng geschnittenes Wollkostüm. Das Kostüm sollte Eindruck machen, und tat es auch. Sie war in Begleitung meines Onkels Castel gekommen, der vermutlich wie ihr Chauffeur aussah; er besaß ein Auto, das er als Taxi nutzte. Er kutschierte Kunden nach Harlem, wozu sich anständige weiße Taxifahrer niemals bereit erklärt hätten – die ließen sich in Harlem überhaupt nicht blicken.

Millie, die im jamaikanischen Hinterland in einer Zweizimmerhütte aufgewachsen war, musste sich an Liz’ Arm festhalten, so eingeschüchtert war sie von den Massen drängelnder Menschen und hupender Automobile, die sie in Manhattan begrüßten. Eingeschüchtert und überwältigt. Aber es gab kein Zurück. Wenn Zweifel in ihr aufkamen, musste sie nur daran denken, woher sie gekommen war. Millie hatte von ihrer Mutter mithilfe einer kleinen Schiefertafel lesen und schreiben gelernt und davon geträumt, eine gebildete Frau zu werden. Als sie acht war, hatte sie die Tafel stolz ihrem Vater gezeigt, das Herz voller großer Erwartungen. »Schön, mehr brauchst du nicht«, hatte ihr Vater gesagt. »Jetzt kannst du vormittags deinem kleinen Bruder beibringen, es genauso gut zu machen, und nachmittags kannst du auf dem Feld mithelfen.« Eine Ausbildung? Was für eine verrückte Vorstellung! Jahre später bewunderte ich die perfekten Kurven und Striche ihrer schönen Schrift, das Einzige, was von ihren Mädchenträumen geblieben war.

Millies erste Taxifahrt führte sie zur Kreuzung 145th Street und 7th Avenue im westindischen Viertel von Harlem. Liz’ Wohnung befand sich in einem der besseren Gebäude des Blocks. Als sie mit ihrer jüngeren Schwester das Haus betrat, wurden sie von einer Nachbarin fröhlich begrüßt: »Hallo, Miz Hines.« Millie schaute sie neugierig an, sagte aber nichts, als sie die Treppe hinauf gingen und eine geschmackvoll eingerichtete Sechszimmerwohnung mit vier Schlafzimmern betraten. Erst hier bekam sie ein Wort heraus:

»Schön«, sagte sie. »Leben alle Leute in New York so?«

Liz erklärte, drei der vier Schlafzimmer seien untervermietet, auf die Weise könne sie die Miete bezahlen. Eins der Schlafzimmer hatte sie für Millie freigemacht, was, wie Liz kaum zu betonen brauchte, ein finanzielles Opfer darstellte. Millie könne dort wohnen, sagte Liz, bis sie selbst etwas gefunden habe. Liz lachte bei diesen Worten, und selbst Millie verstand, was sie damit meinte: Bis du einen Mann gefunden hast.

Millie war das neueste Mitglied einer Gruppe von Einwanderern innerhalb einer größeren Immigrantengruppe. 1926 konnten weiße New Yorker vermutlich keinen Unterschied zwischen den amerikanischen und den karibischen schwarzen Einwohnern von Harlem erkennen, vom besonderen Singsang der Insulaner vielleicht abgesehen. Und doch waren die Unterschiede beträchtlich. Amerikanische Schwarze hatten vor dem Bürgerkrieg zweihundert Jahre lang Sklaverei erduldet und litten seither unter der Rassentrennung. Die meisten hatten so lange in Armut gelebt, dass sie jede Hoffnung verloren hatten. Zwar kämpften sie noch immer dafür, diesem Leben voller Schmerz und Erniedrigung zu entkommen, hatten aber auch gelernt, sich damit zu arrangieren. Mit den Leuten aus der Karibik in Harlem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verhielt es sich ganz anders. Sie waren Einwanderer der ersten Generation, voller Ehrgeiz und Elan, sich ein besseres Leben aufzubauen. Ihre Vorfahren hatten als Sklaven oft unter noch brutaleren Bedingungen gelebt als die in den Südstaaten – mussten sich wie Maultiere zu Tode schuften –, aber genau deswegen hatten sie auch häufiger rebelliert und sich für die Flucht entschieden. Die Möglichkeit, sich durch angepasstes Verhalten eine bessere Behandlung zu erwerben, wie das manchen Sklaven im amerikanischen Süden gelungen war, hatte es für sie nie gegeben. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Rebellion sahen sich Spanien, Frankreich und England Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dazu genötigt, die Sklaverei in ihren Kolonien abzuschaffen. Dass diese Staaten dann eine Schicht von fähigen Beamten ausbildeten, die als Aufseher auf den Plantagen ihrer anderswo lebenden Besitzer arbeiteten, reichte allerdings nicht aus, den rebellischen Geist der Kariben zu zügeln. Und so gestand man ihnen nach und nach die Unabhängigkeit zu, bis Mitte der Zwanzigerjahre den Schwarzen auf den Inseln der Weg offenstand, Landbesitzer, Anwalt oder Arzt zu werden. Auf einer der Inseln stellten sie sogar die Mehrheit dar. Die meisten waren immer noch arm, aber es fehlte ihnen nicht an Stolz und Zielstrebigkeit.

Viele von denen, die schließlich nach Harlem kamen, waren zunächst in Gulfport, Mississippi, gewesen, angelockt von Versprechen auf feste Arbeit, die sich zu einer neuen Art von Sklaverei entwickelte: Vertragsknechtschaft. Unternehmer ließen diese Leute ins Binnenland verfrachten, wo sie Zuckerrohr ernten, Baumwolle pflücken und in primitiven Baracken hausen mussten; Lebensmittel bekamen sie nur in betriebseigenen Läden, und ihr Lohn war so gering, dass sie sich unweigerlich verschuldeten. Den zähesten und entschlossensten von ihnen – entlaufene Sklaven wie ihre Vorfahren auf den Inseln – gelang die Flucht in den Norden.

Die karibischen Bewohner von Harlem waren demnach Leute, die sich von nichts und niemand daran hindern ließen, ihren Weg zu gehen. Die ausweglos erscheinende Armut, in der viele amerikanische Schwarze sich gefangen sahen, war für sie nicht hinnehmbar. Die amerikanischen Schwarzen ihrerseits nannten die Leute aus der Karibik die »Juden« ihrer Gemeinde. Auch wenn daraus ein gewisser Antisemitismus sprach, steckte mehr als nur ein Körnchen Wahrheit darin. Wie die Juden, die sich in anderen Gegenden von Harlem angesiedelt hatten, legten die Kariben Wert auf Bildung – Bildung als solche, aber auch als Mittel, der Armut zu entkommen. Wie die Juden hatten sie hochgesteckte Ziele. Und wie manche amerikanische Juden in den 1920er-Jahren, die auf legale Weise nicht ans Ziel kamen, schafften sie es auf illegale. Damals herrschte Prohibition, und viele Insulaner waren zwischen den karibischen Inseln und der Ostküste als Schnapsschmuggler unterwegs. Andere organisierten in Harlem illegale Lotterien. Millie muss das gleich mitbekommen haben, da auch Liz zusammen mit ihrem Freund Jimmy Hines eine betrieb.

Diese Art von Lotterie war erst vor Kurzem von ein paar Kariben erfunden und nach Harlem gebracht worden; Mitte der Zwanziger hatte sich daraus ein ungeheuer profitables – und illegales – Geschäft entwickelt. Die Idee war genial einfach: Man wettet auf die letzten drei Ziffern irgendwelcher an diesem Tag öffentlich bekannt gegebenen Zahlen. Zum Beispiel die Schlussnotierung der Börse. Oder der Saldo des Staatsbudgets. Am populärsten war die Gesamtsumme aller Wettgewinne des Nachmittags auf irgendeiner bestimmten Pferderennbahn. Alle diese Zahlen, in Dollar und Cent ausgedrückt, bestanden aus mehr als drei Ziffern, und die Spieler tippten auf die letzten drei – die natürlich am schwierigsten zu schätzen waren. Angenommen, die Summe aller Gewinne auf einer Rennbahn betrug 264,64 Dollar, dann lautete die Gewinnzahl der Lotterie 464. Alle drei in der richtigen Reihenfolge zu tippen, war extrem unwahrscheinlich – genau genommen standen die Chancen 1 zu 1000. Man konnte aber auch auf eine einzelne oder zwei Ziffern setzen – zum Beispiel die erste oder die ersten beiden –, womit natürlich nur kleinere Gewinne zu erzielen waren.

Als Lotteriebetreiberin hatte Liz ihre eigene Bank, das heißt, sie sammelte die Wettbeträge in den umliegenden Straßen ein. Jeden Morgen schwärmten ihre Läufer im Viertel aus und klopften an jede Tür. »Was setzen Sie heute, Mrs. Davis?« »Ich nehme drei-vier-eins zu fünfundzwanzig Cent.« Der Mindesteinsatz war so gering, dass fast alle wetteten. Und jeder besaß ein »Traumbuch«-Lexikon mit durchnummerierten Schlagwörtern. Mrs. Davis setzte also vielleicht auf 341, weil sie in der Nacht zuvor von Feuer geträumt hatte – und in ihrem Traumbuch hatte Feuer die Nummer 341. Am Ende des Tages gewann immer jemand, und die Bankhalter zahlten immer direkt aus – das hielt das Spiel am Laufen. Eine weitere Voraussetzung war absolut kompromisslose Ehrlichkeit aufseiten der Bankhalter: Ein Läufer, der bei einer Unterschlagung erwischt wurde, hatte nichts zu lachen. Und weil Mrs. Davis und ihre Nachbarinnen sich auf die Ehrlichkeit der Bank verlassen konnten, machten sie jedes Mal wieder mit. Natürlich sprang dabei auch für Bankhalter wie Liz eine Menge heraus, sonst hätte sie sich eine so schöne Wohnung und so gut geschneiderte Kleider nie leisten können.

Allein konnte Liz ihre Lotterie nicht betreiben. Sie brauchte einen Partner, der außer Muskeln auch politischen Einfluss besaß. Und das war Jimmy Hines, der zu Millies Entsetzen gar nicht aus der Karibik stammte: Er war Ire und Mitglied der korrupten Clique um Bürgermeister Jimmy Walker. Hines war charmant und skrupellos. Angefangen hatte er im Stall seines Vaters, wo er sich um die Hufe der städtischen Polizei- und Feuerwehrpferde kümmerte, was ihm nach und nach Zugang zur politischen Maschinerie der Stadt verschaffte. Bald wurde er District Captain. 1926 mischte er in allen möglichen Geschäften mit. Liz’ Lotterie war nur eins davon: Weitere 30 000 Dollar pro Jahr holte er an Schutzgeldern von anderen Lotteriebetreibern ein, mit denen er wiederum dafür sorgte, dass die Polizei nicht so genau hinsah. Hines hatte eine Frau und drei Söhne in Manhattan. Aber in Harlem hatte er Liz.

Fast jeden Sonntagabend luden Jimmy und »Miz Hines« zu einem turbulenten Dinner. Politiker mischten sich entspannt unter Lotteriebetreiber und Unterweltbosse, um Liz’ karibisches Essen zu genießen. Einer der Stammgäste war Dutch Schultz, der sogenannte Bierbaron, der während der Prohibition den Bierhandel in Harlem kontrollierte; ein anderer war Schultz’ damaliger Partner Lucky Luciano. Mitte der Zwanziger hatten weiße Gangster für die Lotterien nur Verachtung übrig; für sie ging es da um Trinkgelder, verglichen mit den Sachen, die sie am Laufen hatten. Das änderte sich erst mit der Depression und dem Ende der Prohibition. Noch aber verkehrten die Gangster unbekümmert mit den Lotteriebetreibern, die sie bei Miz Hines trafen, und lieferten großzügig den Schnaps dazu. Je mehr Schnaps floss, desto lockerer wurden die Gäste. Und in einer solchen Stimmung stellte Liz eines Sonntagabends Millie einem Junggesellen namens Harold Bellanfanti vor.

Harold war Jamaikaner und wie Millie der Spross einer gemischten Ehe. Seine Mutter war eine schwarze Jamaikanerin, sein Vater ein weißer niederländischer Jude, den es in die Karibik verschlagen hatte, nachdem seine Bemühungen, in den neuen westafrikanischen Kolonien Gold und Diamanten zu finden, restlos gescheitert waren. Harold war genauso arm aufgewachsen wie Millie und arbeitete jetzt als Koch, gelegentlich in New Yorker Restaurants, vor allem aber auf den Schiffen der United Fruit Company – »banana boats« –, die zwischen New York und verschiedenen karibischen und südamerikanischen Häfen verkehrten.

Am zweiten oder dritten dieser Sonntagabende ermunterte Liz ihre jüngere Schwester, sich Harold als Freund zu angeln. Und er sah ja auch hinreißend aus. Sie gab Millie sogar zu verstehen, dass sie das kleine Schlafzimmer am Ende des Flurs benutzen könne, um die Sache zu besiegeln. Wenig später war meine Mutter mit mir schwanger. Ich glaube nicht, dass sie Harold nur wegen der Schwangerschaft geheiratet hat; es ging ihr wohl auch darum, Liz’ Welt zu entkommen, und selbst ohne ein Kind im Bauch dürfte sie in der Ehe mit Harold die beste Chance gesehen haben, schnell da herauszukommen.

Falls Liebe überhaupt eine Rolle spielte, geriet sie jedenfalls bei all den Entbehrungen und Demütigungen eines Lebens in unentrinnbarer Armut bald in den Hintergrund.

Eins stand für Millie fest: Der Einstieg in Liz’ und Hines’ Lotteriegeschäft kam für sie nicht infrage. Das ließen ihre Wertvorstellungen einfach nicht zu. Also ging sie regelmäßig, mit oder ohne morgendliche Übelkeit, zur Kreuzung Park Avenue und 97th Street und wartete dort mit einer Gruppe anderer Frauen auf die Weißen, die es wagten, über die Grenze der 96th Street zu fahren, um sich ein Dienstmädchen zu suchen.

An der 97th Street kam die Park-Avenue-Bahn aus dem U-Bahntunnel nach oben; hier endete die lange Reihe stattlicher Gebäude mit ihren weiß behandschuhten Portiers, und die Straße wurde zu einer Schlucht aus Mietskasernen, düster im Schatten der Hochbahn mit ihren Durchfahrten an jeder Kreuzung. Unter einem dieser Torbögen versammelten sich die Frauen. Später, als ich alt genug war, wartete ich dort zusammen mit meiner Mutter. Sie setzte mich ein wenig abseits ab, manchmal zu ein paar anderen Kindern, behielt mich aber im Auge. Sie wollte mich nicht direkt bei sich haben, weil die vorbeifahrenden Leute sie dann nicht genommen hätten. Entschied sich jemand für sie, fragte sie die weiße Frau in dem Auto, ob ich mitkommen dürfe. Wenn die neue Arbeitgeberin widerwillig zustimmte, kletterte ich zu ihr auf die Rückbank. Schüttelte sie den Kopf, übernahm mich meine Tante Mabel, die ebenfalls mitgekommen war, oder irgendeine unserer vielen anderen Freundinnen.

Millie konnte putzen und bügeln und nähen. Sie war auch eine phantastische Köchin, was ihr manchen Job bei schicken Samstagabendpartys einbrachte. Meist lief an diesen Abenden alles gut. Einmal jedoch war ich dabei, als sie für eine reiche jüdische Familie am Central Park West kochte. Während sie in der Küche schwitzte, saß ich in der Vorratskammer. Aus irgendeinem Grund war eine der Vorspeisen angebrannt. Die Gastgeberin rauschte durch die Schwingtür in die Küche, baute sich vor meiner Mutter auf und schlug sie ins Gesicht. Gott sei Dank war an diesem Abend meine Tante Mabel mitgekommen. Als sie die wutentbrannte Miene meiner Mutter sah, schlang Mabel beide Arme um sie und hielt sie davon ab, sich das Schlachtermesser zu schnappen, das griffbereit in der Nähe lag. Der Abend war gelaufen: Meine Mutter zog wütend und gedemütigt ab, und ich folgte ihr völlig verängstigt.

Aber das alles kam erst später. Als Millie mit mir schwanger war, schuftete sie bis zu dem Tag, an dem ihre Fruchtblase platzte – sie hatte keine andere Wahl. Sie arbeitete gerade in der Upper East Side, als es geschah. Das nächste Krankenhaus lag im jüdischen Viertel der East Side, das Lying-In Hospital, und dort kam ich am 1. März 1927 als Harold George Bellanfanti Jr. zur Welt.

Auf der Upper East Side, südlich der 96th Street, tobten noch die wilden Zwanziger, aber nördlich davon, im karibischen Teil von Harlem, wohin Millie bald mit mir zurückkehrte, hatte bereits die Depression eingesetzt. Oder genauer gesagt: Dort herrschte sie wie eh und je. Vier oder fünf Familien teilten sich die Wohnungen, in denen Millie und Harold nach meiner Geburt lebten: eine Familie pro Zimmer und ein Gemeinschaftsbad für alle am Ende des Flurs. Zu meinen frühesten Erinnerungen zählt der ständige Geruch karibischen Essens. Nicht nur von uns, auch von den Nachbarn. Denn neben dem Bad teilte man sich auch die Küche; nur die Ärmsten der Armen mieteten Zimmer ohne Anrecht auf Küchenbenutzung – sie hatten bloß ein Zimmer zum schlafen.

Immerhin förderten diese schlimmen Verhältnisse die Solidarität unter den Mietern. Reste wurden weitergegeben; Mahlzeiten wurden geteilt. »Millie, ich habe noch etwas Ackee und Salzfisch übrig, das soll nicht schlecht werden, also nimm es dir, Darling« – natürlich in dem westindischen Singsang gesprochen, der solche Angebote umso freundlicher klingen ließ. Nahrungsmittel verdarben schnell, auch in den Eisschränken, die mit einem großen triefenden Eisblock gekühlt wurden.

Aber hinter solchen Gesten steckte mehr als nur praktisches Denken. Arme Leute helfen einander; das haben sie schon immer getan. Wie ich bald erfahren sollte, halten sie in ihrer Ohnmacht zusammen und entwickeln ein Verständnis und Mitgefühl, das den Reichen immer unbekannt bleiben wird. Ich habe die Kameradschaft der Armen nie vergessen und mich immer als einen Angehörigen dieses Stammes betrachtet. Wenn ich viele Jahre später mit den schwarzen Kellnern im Palmer House in Chicago oder mit einem armen, aber stolzen Bauern im Senegal sprach, konnte ich nicht einfach nur Hallo sagen. Vielmehr hatte ich jedes Mal das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Eine andere sehr frühe Erinnerung ist die an meinen wütend schreienden Vater und die furchtbare Angst, die er mir damit machte. Mit ziemlicher Sicherheit war er betrunken, wenn ich ihn so hörte. Mit ziemlicher Sicherheit war Blut an seinen Händen und auf den Bettlaken, da sein Gebrüll stets der Auftakt zu brutalen Schlägen war, mit denen er über meine Mutter herfiel. Als kleines Kind konnte ich dabei nur entsetzliche, hilflose Angst empfinden.

Ich war achtzehn Monate alt, als meine Mutter mich zum ersten Mal nach Jamaika mitnahm. In New York hatte Millie mehr als genug Verwandte, die auf mich aufpassen konnten, wenn sie zur Arbeit ging. Aber Harold war immer häufiger als Schiffskoch unterwegs, und Millie konnte sich bei ihrem anstrengenden Leben einfach nicht ständig allein um mich kümmern. Widerwillig nahm Harold uns auf einer seiner Banana-Boat-Fahrten nach Jamaika mit und übergab mich der freundlichen Obhut meiner Großmutter Jane, die immer noch in der Zweizimmerhütte in den Bergen lebte, wo meine Mutter aufgewachsen war.

Millies Vater – der strenge Mann, der sie auf dem Feld hatte mitarbeiten lassen – war inzwischen gestorben, und fast alle Kinder waren erwachsen und fortgezogen. Ich kann nicht beschwören, dass irgendwelche meiner Erinnerungen an Jane aus diesem ersten Jahr stammen, das ich bei ihr verbrachte, aber ich weiß genau, meine frühesten Erinnerungen an sie sind ihre warme, beruhigende Stimme und die wunderbaren Essensgerüche, die von dem draußen stehenden Steinofen in die Hütte zogen, wenn sie kochte. Ich schlief in einem winzigen Bett, auf einer mit weichem Gras und ausrangierten Kleidungsstücken ausgestopften Matratze. Wenn ich die Augen aufmachte, sah ich Holzbalken an der Decke und Kattunvorhänge, die vor den offenen Fenstern schwankten. Draußen erstreckten sich bis an den Horizont bebaute Felder. Vor der Hütte saß Jane – meine weiße Großmutter, deren Hautfarbe mir immer als etwas ganz Selbstverständliches erschienen ist –, ewig mit dem Ausbessern von Kleidern für die Enkel beschäftigt.

Eines Tages sah ich ihr bei der Arbeit zu, und neugierig geworden, begann ich den Nähkorb neben ihrem Schaukelstuhl zu untersuchen. Ich nahm eine Schere heraus, dann ein Stück Stoff, und fing an zu schneiden, stieß aber bald auf Widerstand, als ich an den dicken Saum geriet. Frustriert zerrte ich mit der Schere daran herum, es gab einen Ruck, ich war durch – und die Schere steckte mir im rechten Auge.

Ich schrie, meine Großmutter sprang auf und sah zu ihrem Entsetzen mein blutendes Auge. Mehr als das Auge säubern und ein Pflaster draufkleben konnte sie an diesem Tag nicht tun; schließlich befanden wir uns in den Bergen, weit entfernt vom nächsten Arzt. Ich erinnere mich an Janes Qualen und Schuldgefühle, und wie sie die Hände rang, aber das half alles nichts. Ich hatte es fertiggebracht, mich selbst zu blenden. Von diesem Tag an sah ich mit dem rechten Auge nur noch Lichtblitze, und auch die wurden mit der Zeit immer schwächer, bis ich am Ende gar nichts mehr sah.

Später, als mir das Lesenlernen so große Schwierigkeiten bereitete, schob ich die Schuld auf das blinde Auge. Erst Jahrzehnte später kam mir der Verdacht, dass ich Legastheniker bin und dass meine Wut und Enttäuschung über mein schlechtes Vorankommen in der Schule und mein Ausstieg während der neunten Klasse mit dieser Schwäche zu tun hatten und nicht mit der Verletzung, die ich mir als kleines Kind vor der Hütte meiner Großmutter selbst zugefügt hatte.

Sobald sie von dem Unfall mit der Schere erfuhr, brach meine Mutter auf, um mich abzuholen, aber das dauerte eine Weile; sie musste mit einem Banana-Boat kommen. In Harlem hatte sie gerade eine neue Bleibe bezogen, und es stand schon wieder der nächste Umzug an. Ständig gab es neue Wohnungen. Manchmal haute meine Mutter ab, weil sie die Miete nicht zahlen konnte, manchmal, weil mein Vater ihr das Leben zur Hölle machte. Und manchmal versteckte sie sich mit mir im Chaos anderer Immigrantenwohnungen, weil sie gehört hatte, die Einwanderungsbehörde sei ihr auf die Spur gekommen. Mein Onkel Castel besaß nicht nur ein Taxi, sondern auch einen Umzugswagen, und half seinen karibischen Landsleuten immer wieder, wenn sie kurzfristig in die Anonymität abtauchen mussten. Das war ein sehr einträgliches Geschäft. Meist kam er mitten in der Nacht, lud zusammen mit zwei Gehilfen unsere Sachen ein, und ab ging’s zur nächsten neuen Wohnung.

Die Behörde war hinter Millie her, weil ihr Visum längst abgelaufen war. Sie und Harold waren illegale Einwanderer. Harold besaß immerhin eine Arbeitserlaubnis, aber genau genommen war auch er ein Illegaler. Legalen Status bekamen meine Eltern erst, als beide nach der Scheidung amerikanische Staatsbürger heirateten – im Fall meiner Mutter geschah das, als ich siebzehn war.

Mit anderen Worten: Während meiner gesamten Kindheit haben wir ein Leben im Untergrund geführt, praktisch wie Kriminelle auf der Flucht. Fotos von unserer Familie gibt es fast keine, weil sich damals niemand gern fotografieren ließ. Als ich alt genug war, draußen zu spielen, schärfte meine Mutter mir ein, niemals mit Fremden zu reden. Wenn sie an Wochenenden mit einer Freundin arbeiten ging, blieb ich allein in der Wohnung zurück, musste ihr aber hoch und heilig versprechen, niemals die Tür aufzumachen, egal wer anklopfte. Damals kann ich höchstens vier gewesen sein. Mehrmals kam es so weit, dass meine Mutter aus Furcht vor Entdeckung ihren Namen änderte und gefälschte Papiere kaufte. Aus Bellanfanti wurde Belanfonte und schließlich Belafonte.

Die Behörde konnten wir abschütteln, aber die Armut fand uns immer und überall. Oft brachte meine Mutter mir etwas zu essen und sagte, sie habe schon bei der Arbeit gegessen. Ich wusste, das stimmte nicht. Immer ging es um die Grundbedürfnisse: Essen, Miete und Kohle zum Heizen; schon Kleider waren Luxus. Die Winter waren entsetzlich. Als ich auf die Schule kam, hatte meine Mutter längst die Hoffnung aufgegeben, durch irgendeinen Pakt mit Gott oder dem Teufel die Armut jemals hinter sich lassen zu können. Ihr blieb nur die Hoffnung, mich – und später meinen jüngeren Bruder Dennis – zu strebsamen und anständigen Menschen zu erziehen. Es war die klassische Einwanderergeschichte.

Und doch glaubte sie selbst nie so recht daran. Ganz gleich, wie weit ich es später als Sänger und Schauspieler brachte, meine Mutter konnte sich nie einfach an meinem Erfolg erfreuen. Sie schuftete immer weiter, wollte unbedingt durch eigene Kraft aus dem Sumpf rauskommen und verbitterte dabei zunehmend, da ihr das nicht gelang. Sie hat sich immer hartnäckig geweigert, die Annehmlichkeiten zu akzeptieren, mit denen ich sie zu beschenken versuchte.

Eine ihrer Bemühungen, es zu etwas zu bringen, führte zur Freundschaft mit einem jüdischen Schneider, an dessen Geschäft sie immer vorbeikam, wenn sie zu der Sammelstelle für die Haushaltshilfen an der Park Avenue ging. Der Schneider brachte ihr bei, Kleider zu nähen und auszubessern, Fertigkeiten, die ihr halfen, ein wenig zusätzliches Geld zu verdienen. Er verkaufte auch Kleider. Eines Tages fiel Millie auf, dass einige seiner Sachen schon so lange im Schaufenster lagen, dass sie