Für Inge Langen,
als Dank für all die korrigierenden Erfahrungen.
Vorwort
1. Kapitel
Ein ehrlicher Blick auf den Menschen
Reifer und unreifer Narzissmus
Ein neues Menschenbild
2. Kapitel
Unsere narzisstische Kultur
Unsere Suche nach Selbstaufwertung
Die Intelligenz der Lüge
Der Narzissmus des Westens
Unsere sieben Selbstlügen
Unser allzu menschlicher Narzissmus: Eine kurze Zwischenbilanz
3. Kapitel
Der optimierte Mensch
Die kurze Leine für den inneren Schweinehund
Von Menschen und Marionetten
Resiliente Selbstoptimierung
Die Tyrannei des positiven Denkens
Der digitalisierte Mensch
4. Kapitel
Narzissten auf der Couch
Gute Psychologen
Die Wahrheit nachhaltiger Heilungsprozesse
5. Kapitel
Der Weg der Veränderung
Offen sein für korrigierende Erfahrungen
Erleben statt Denken
Narzisstischer Verzicht
Reife Freiheit und neue Fülle
Soziale Gemeinschaften der Veränderungswilligen
6. Kapitel
Der Sinn unseres narzisstischen Lebens
Anmerkungen
Dank
»Inwendig lernt kein Mensch sein Innerstes erkennen. Denn er
mißt mit eigenem Maß sich bald zu klein und leider oft zu groß. Der Mensch erkennt sich nur im Menschen, nur das Leben lehrt jedem, was er sei!«Goethe, Tasso; II, 3
Politiker, Topmanager und Instagram-Stars fallen uns als Erstes ein, wenn es um das Thema Narzissmus geht. Danach denken wir vielleicht noch an eine bestimmte Freundin oder einen Kollegen, die beide ernsthaft glauben, sie wären die Allerwichtigsten. Auch im Familienkreis gibt es noch diesen einen Onkel oder die Schwiegermutter, die bei jedem Fest im Mittelpunkt stehen müssen, ohne Rücksicht auf ihr Umfeld.
Kommen Klienten zu mir in die psychologische Beratung, geht es oft um andere, die sich völlig egoistisch verhalten und nur ihre eigenen Interessen durchsetzen. Ich empfehle dann immer einen Trick, damit die Ratsuchenden besser nachvollziehen können, was in den Köpfen der Menschen vorgeht, mit denen sie immer wieder Probleme haben: Am besten stellt man sie sich als dreijährige Kinder vor. Denn bei einem Kleinkind würde sich niemand wundern, wenn es ständig im Mittelpunkt stehen will und die Bedürfnisse der anderen ignoriert. Wir wissen, dass Kinder – leicht kränkbar und trotzig – eigentlich nur Angst haben, nicht beachtet zu werden und ohnmächtig unterzugehen. Wir gehen deshalb auf sie ein, versuchen auf ihre Empfindlichkeiten und ihre kindliche Weltsicht Rücksicht zu nehmen. Wir nehmen es ihnen nicht übel, dass sie vieles noch nicht können – und trotzdem einfach behaupten: »Mami, heute war ich der / die Beste!«
Und so wäre das kindische, narzisstische Verhalten vieler Menschen völlig normal – wenn sie Dreijährige wären.
Auch wenn diese Vorstellung erst mal hilft, andere Menschen besser zu verstehen, löst das natürlich nicht die Probleme, die wir mit ihrem unreifen Verhalten haben. Denn leider können wir andere Menschen nicht verändern, auch wenn wir ihnen hundertmal erklären, was mit ihnen los ist.
Deshalb beginnt an dieser Stelle immer der unangenehme Teil der Beratung: Denn so deutlich wir den kindlichen Narzissmus bei anderen wahrnehmen und beklagen – so schwer tun wir uns, auch unsere eigenen narzisstischen Befindlichkeiten zu erkennen. Auch unsere eigenen Interessen und Erwartungen (besonders die an andere Menschen) haben mit kindlichen Sehnsüchten und Vorstellungen zu tun.
Wir alle sehnen uns nach Anerkennung und fühlen uns gekränkt und ungerecht behandelt, wenn uns andere nicht beachten. Wir wollen eine gute Stellung haben, Wertschätzung erfahren in der Gesellschaft und in jeder Gruppe, zu der wir gehören; sei es nun die Firma, ein Verein oder die Familie. Wir sind eifersüchtig auf Menschen, die scheinbar mehr Zuwendung bekommen, mehr Erfolg haben als wir.
So ist Narzissmus nicht nur eine Diagnose für offensichtlich gestörte Menschen. Vielmehr ist er eine Qualität, die all unsere menschlichen Gefühle, Gedanken, Erkenntnisse, Erfindungen und Handlungen überschattet. Unser narzisstischer Wunsch nach einer guten Stellung in der Gruppe, nach Wertschätzung und Zuwendung, treibt uns voran; unser Selbstwertgefühl, die Sehnsucht nach Anerkennung und Angst vor Kränkung sind die Grundlage für unsere einzigartige, allzu menschliche Suche nach Status und Erfolg.
Denn nur wir Menschen können mit unserem Verstand – vorsätzlich, wissend und mit Nachdruck – nach einem besseren Leben streben. Gerade deshalb sind wir Narzissten, weil wir nicht nur leben wollen wie jedes andere Lebewesen, sondern bewusst alles auf uns selbst beziehen und gezielt nach dem besseren (Über-)Leben suchen.
Allerdings legen wir dabei entweder reifere oder unreifere narzisstische Verhaltensweisen an den Tag: Unsere Art und Weise, Beziehungen zu führen, unser Umgang mit Konflikten und unser Selbstbild können erwachsener werden, souveräner sein – oder eben kindlich und hilflos bleiben. Unsere Suche nach Anerkennung kann zwanghaft über äußerliche Statusdinge geschehen – oder als Suche nach einem gesünderen Gleichgewicht und einer freieren Gestaltung des eigenen Lebens erfolgen. Und: Wir haben ein Leben lang die Möglichkeit, weiter zu reifen und uns zu verändern.
Oft erkennen wir im Rückblick – als großen Vorteil des Alters –, welche unreifen narzisstischen Vorstellungen und Umgangsweisen wir bereits hinter uns gelassen haben. Manchmal schütteln wir selbst darüber den Kopf, wie naiv und abhängig wir mal waren, wie schlecht wir uns haben behandeln lassen – und wie selbstsüchtig wir mit anderen umgegangen sind. Wir sind dann zufrieden und erleichtert, dass wir bestimmte schmerzhafte Situationen und übertriebene Erwartungen überwinden konnten und uns bestimmte Menschen auch nie wieder selbst zumuten würden.
So ist für uns Menschen das ganze Leben ein großer Selbstreifeprozess, der uns einerseits einfach passiert – auf den wir aber auch gezielt Einfluss nehmen können. Unsere kindlichen narzisstischen Wünsche und Verhaltensweisen werden dabei von der sozialen Realität »zurechtgeschliffen« – bis wir als reife Narzissten unsere realistischen Ansprüche selbst angemessen umsetzen können und ein reifes Beziehungs- und Konfliktverhalten entwickelt haben (wenn es gut läuft).
Der berühmte Psychoanalytiker Otto Kernberg hat zusammen mit einigen Neuropsychologen vor ein paar Jahren den Vorschlag gemacht, all unsere unreifen und reiferen Verhaltensweisen in verschiedenen Reifestufen zu erfassen, um damit jede Persönlichkeit in ihrer Entwicklungsmöglichkeit ganzheitlich aufzuzeigen. Unser kindlicher oder erwachsenerer Narzissmus gilt seither als Grundlage für Diagnosen und Heilungserfolge in der modernen Tiefenpsychologie.
Demnach befinden wir uns alle in reiferen oder unreifen Entwicklungsstufen, legen kindlichere und erwachsenere Umgangsweisen an den Tag. Und wir erfahren alle kleinere und größere Kränkungen und Selbstwertbestätigungen, die uns weiter reifen lassen. Dabei ist unser Verstand nicht der rationale Kontrolleur unserer narzisstischen Sehnsüchte, Gefühle und Triebe, wie wir lange angenommen haben: Vielmehr ist er der Diener unserer unreifen und reiferen narzisstischen Wünsche.
Leider behindert unsere kapitalistische westliche Kultur gezielt unsere möglichen Selbstreifeprozesse. Immer neue falsche Versprechen von der totalen Erfüllung unserer infantil-narzisstischen Ansprüche suggerieren uns: Du bist etwas Besonderes, du hast das Recht auf ein außergewöhnliches Leben – wie ein Kind, einfach so. Das Paradies scheint immer nur ein paar Klicks entfernt.
Auch wenn wir wissen, dass wir von retuschierten Bildern und geschönter Selbstdarstellung umgeben sind, sehnen wir uns doch nach einem Leben, das dem derer auf den Bildern ähnelt: Die glückliche Mutter, die mit ihren süßen, aufgeweckten Kindern im großen Garten spielt, das attraktive Paar, das seinen perfekten Urlaub genießt, der charmante junge Mann, dem die Welt offensteht …
Es scheint doch Menschen zu geben, die viel bessere Leben führen als wir – mit all den wunderbaren Dingen an paradiesischen Orten.
Und immer genauer kennen die Algorithmen unsere Sehnsüchte, immer tiefer greifen die wirtschaftlichen Interessen in unser Leben ein, manipulieren unsere narzisstischen Vorstellungen vom tollen Leben – und verkaufen uns dabei die Dinge, die uns Bewunderung und Glück bringen sollen: das schnittige Auto mit der überlegenen Technik, die Hautcreme, die uns strahlen lässt, das neue Handy, das uns mit vielen interessanten Freunden verbinden wird, die Windel, die die Welt unserer Babys besser macht und uns selbst zu perfekten Eltern, der Hightech-Bart-Trimmer, der Männer in gepflegte Gewinnertypen verwandelt.
Alles das ist heute angeblich klimaneutral und ökologisch so korrekt, sodass wir damit auch noch die Welt retten. So haben die Wirtschaft und ihre politischen Vertreter kein Interesse an unserer Selbstreife – im Gegenteil. Und wir glauben weiter an unsere grenzenlose Selbstverwirklichung durch einen umweltfreundlichen Wohlstand und den überlegenen Fortschritt der westlichen Kultur.
Dennoch dämmert uns, dass wir uns dabei selbst belügen, dass wir unsere Selbstbilder und Lebensweise verändern und reifen lassen müssen. Denn es sind nicht nur die pathologischen Narzissten, die Topmanager der Banken und Autokonzerne oder die Internetmilliardäre, die mit Raketen ins All starten, die für die Zerstörung unseres Lebensraums und die wachsende Ungerechtigkeit verantwortlich sind: Auch wir »Alltagsnarzissten« mit unserem kindischen Anspruch, das Beste aller Leben zu leben, erschaffen die Krisen, die uns aktuell umtreiben. Jede unserer Bestellungen bei Amazon, jeder Kurztrip nach Mallorca oder Barcelona, unsere vollen Schuh- und Kleiderschränke sind Teil des Problems. Jeder makellose, in Plastik verpackte Apfel, den wir kaufen, jede Scheibe Wurst auf unserem Teller und jedes zu viel gekaufte Lebensmittel, das im Müll landet, ist als narzisstischer Anspruch mitverantwortlich für die Unwetter, Dürren und das Artensterben.
Unser Stolz auf die deutsche Wirtschaftsvormacht und auf unsere begabten Kinder, denen wir einen Akademikerabschluss und gute Verdienstchancen ermöglichen wollen, treibt den Auseinanderfall unserer Gesellschaften voran. Unser Schönheitswahn und unser andauernder Wille zur Selbstoptimierung halten die Leistungs- und Konsumzahlen hoch, die unseren irdischen Lebensraum belasten.
Die Angst, in den wachsenden Verteilungskämpfen zu kurz zu kommen, überträgt sich von Wohlhabenden, die ihre Wohlstandsfreiheiten gegen mehr Abgaben verteidigen, auf die Unterschichten, die ihre deutschen Vorrechte gegenüber Zuwanderern behaupten. Hass und Diskriminierung sind die Folgen. Immer öfter übertragen wir unsere eigenen kränkenden Entwertungserfahrungen auf Menschen, die wir als Ballast für die Gesellschaft empfinden, die angeblich kein Recht (mehr) haben, eigene narzisstische Ansprüche zu stellen. Wir wollen nicht, dass die verhaltensauffälligen Kinder aus sozial schwachen Familien unsere Kinder beim Lernen behindern; wir wollen nicht, dass der ohnehin rare Wohnraum an Asylbewerber verschwendet wird.
Doch nur wenn wir uns unseren eigenen Alltagsnarzissmus eingestehen, unser selbstgerechtes Verhalten ehrlich beobachten und unsere westliche Leistungskultur mit ihren narzisstischen Rangeleien in Firmen, Schulen, der Nachbarschaft, im Freundeskreis und auf den Fahrradwegen und Straßen als unreifes narzisstisches Verhalten durchschauen, legen wir den Grundstein für eine völlig neue Betrachtung des Lebens.
Doch können wir unser Verhalten überhaupt selbstbestimmt ändern? Wie geht das, reifer zu werden und unsere kindlichen Konsum- und Anerkennungswünsche in ein nachhaltigeres Wohlbefinden zu wandeln?
Auch dazu gibt es einige sehr interessante neue Studien, die ein völlig neues Menschenbild entworfen haben – und völlig neue Veränderungsprozesse möglich machen. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was ist überhaupt ein »besseres Leben«? Wer bestimmt, wie wir sein müssen, um gut zu leben? Und wie können wir ein nachhaltiges Gleichgewicht und Wohlbefinden als reife Narzissten entwickeln?
So hat in den letzten Jahren eine Paradigmenrevolution begonnen, die nicht nur die Psychologie-, Hirn- und Therapieforschung erneuert, sondern allmählich auch die gesamten Humanwissenschaften erfasst. Denn eine neue, ganzheitliche psychosomatische Betrachtung des Menschen beschreibt uns als Teil der Evolution mit einem narzisstischen Lebenswillen – und einer sehr begrenzten Verstandesmacht. Statt dem Fortschritts- und Optimierungsgedanken weiter zu folgen, der unsere unreifen narzisstischen Sehnsüchte und unseren kindischen Größenwahn spiegelt, können wir durch Selbstreifeprozesse ein artgerechtes Leben führen – ohne andauernde Selbstoptimierung und Überforderung.
Bisherige Macht- und Wirtschaftsinteressen werden durch diese Selbstreifeprozesse untergraben, nach dem Motto: Stell dir vor, es ist Kapitalismus und keiner macht mehr mit. Denn es liegt an uns selbst, unser Leben reifer und freier zu machen, um es nach gesunden Maßstäben zu leben, die unsere innere Natur und unseren Lebensraum als äußere Natur in ein Gleichgewicht bringen.
Im ersten Kapitel dieses Buches werde ich mich auf die Spuren dieses neuen ganzheitlichen Menschenbilds begeben – um zu erklären, wie unsere Gefühle und Gedanken, unsere bewussten und unbewussten Entscheidungen und Selbstbilder herangereift sind – in der Evolution und in jedem einzelnen Menschenleben.
Danach möchte ich im zweiten Kapitel aufzeigen, wie wir uns in unserer westlichen Kultur mit einer unreifen Selbstüberschätzung in verschiedene Selbstlügen verstrickt haben. Denn unser Fortschrittsglaube, unsere Hoffnung, mit immer mehr Bildung mehr Gerechtigkeit zu schaffen und mit Vernunft unseren Narzissmus zu bezwingen, ist ein Widerspruch in sich: Wir machen als fleißige Bildungsbürger mit unserem biotechnischen Fortschritt und Wohlstandswachstum die Welt nicht besser – sondern zerstören sie.
Im dritten Kapitel zeige ich die neuen Erkenntnisse und Möglichkeiten für eine gesunde Selbstentwicklung und einen reifen Narzissmus auf. Denn die erstaunlichen neuen Forschungsergebnisse zu unseren Gehirn- und Selbstreifeprozessen sind bisher nur wenig in der Öffentlichkeit kommuniziert worden. Denn wie sich herausgestellt hat, brauchen wir für eine nachhaltige Veränderung unserer Verhaltensweisen und Selbstreife neue korrigierende Erfahrungen: Wir brauchen eine reife Form der sozialen Anerkennung und Wertschätzung, um unsere Beziehungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und unreifen Selbstbilder erwachsen werden zu lassen. Wie diese neuen prägenden Erfahrungen auch außerhalb von Therapien aussehen können, erzähle ich im letzten Kapitel.
Allen Lesern, die neue Wege ohne andauernde Überforderung und Leistungsdruck gehen wollen, die nach einer völlig neuen Erklärung für ihr wachsendes Unbehagen suchen, verspreche ich neue überraschende Antworten. Allen, die bereit sind, ihren eigenen Anteil am Weltgeschehen zu betrachten und eine objektive Selbstkritik nicht scheuen, verspreche ich, neue Ansätze zur nachhaltigen gesunden Veränderung aufzuzeigen.
Statt mit biotechnischem Fortschritt und andauernder Selbstoptimierung immer weiter unreife narzisstische Ansprüche durchzusetzen, brauchen wir eine erwachsene Kultur, die unsere inneren und äußeren artgerechten Grenzen und Möglichkeiten erkennt und akzeptieren lernt.
1. Kapitel
Sucht man im Internet nach dem Begriff Narzissmus, findet man zuerst den griechischen Mythos vom hübschen Jungen Narziss, der ziemlich arrogant alle Liebhaberinnen und Liebhaber zurückwies. Kein Mensch schien ihm gut genug – bis er sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser verliebte. Doch immer, wenn er sich selbst näher kam, verschwand das geliebte Selbstbild – und so starb Narziss am Ende einsam, und auf seinem Grab wuchs eine schnell welkende Frühlingsblume, die bis heute seinen Namen trägt.
Am Rande der Geschichte vom schönen Narziss wird auch das Schicksal der Nymphe Echo beschrieben, die sich in den schönen Narziss heftig verliebt hatte. Da sie jedoch sehr geschwätzig war und allzu gern über ihre große Liebe redete (wie Verliebte das eben so tun), verriet sie versehentlich der Gottesmutter Juno, dass Narziss der uneheliche Sohn des Gottesvaters Jupiter war. Und so wurde Echo, aus Wut über die Enthüllung dieses Ehebetrugs, von Juno mit einem Fluch belegt: Sie konnte von nun an nur noch die letzten Worte wiederholen, die sie selbst von anderen gehört hatte. So wurde sie zum Echo des Geredes anderer – und war verdammt dazu, das Wehklagen ihres geliebten Narziss über seinem unerreichbaren Spiegelbild nachzuahmen – ohne ihm helfen zu können. Am Ende verstarb auch sie unglücklich und einsam.
Sigmund Freud hat, ausgehend von diesem Mythos, den Narzissmus als unsere grundlegende Selbstliebe definiert: Denn nur wir Menschen erkennen uns als Selbst im Spiegel, können uns daher selbst lieben und wollen unser geliebtes Leben gezielt verbessern und verteidigen. Alle anderen Lebewesen haben dagegen nur einen Selbsterhaltungstrieb. So versuchen auch nur wir Menschen in unserer großen Selbstliebe unseren Selbstwert, unsere Attraktivität und die eigenen Vorteile zu steigern, um ein besseres und längeres Leben zu haben. Daher ist unser gesamtes Wissen von dieser Selbstliebe überschattet: Alles, was wir denken, fühlen und tun, ist auf unsere narzisstischen Lebensansprüche ausgerichtet.
Wir wissen also, dass wir da sind und dass wir sterben werden – und wollen deshalb mit bewusstem Nachdruck, mit Erfindungen und einem hohen Status in unserer Gruppe länger und besser am Leben bleiben. All unsere Gefühle, Gedanken und Handlungen sind davon bestimmt. Vorsätzlich planen und streben wir nach einem guten Selbstwert – im Rahmen unserer Gruppe. Sind wir dabei erfolgreich, verschafft uns das ein gutes Selbstwertgefühl.
Wir wollen unsere Ressourcen und Möglichkeiten vermehren. Mit guter Nahrung, guter Bildung, guter medizinischer Versorgung, repräsentativer Kleidung und Wohnstätte, attraktiven Partnern und erfolgreichen Kindern versuchen wir unsere narzisstischen Bedürfnisse bestmöglich zu befriedigen. Wir legen daher – bewusst und unbewusst – viel Wert auf Anerkennung und möglichst viel Teilhabe an den Gewinnen der Gemeinschaft.
Wir fordern mehr Elterngeld und Anerkennung für Mütter, deren Wert und Arbeit für den Erhalt der Gesellschaft unterschätzt wird. Wir fordern höhere Gehälter und mehr Aufmerksamkeit für typische Frauenberufe und eine Streichung der Boni für Topmanager, die wiederum niedrigere Steuern für sich fordern.
Wir fordern den Umbau der Städte für ältere und behinderte Menschen, für Fahrradfahrer und Kinderwagen – und gegen Autos, die so lange unsere deutsche Wohlstandsidentität und technische Überlegenheit repräsentiert haben. Rentner fordern mehr Rente, junge Paare mehr Bauland fürs Eigenheim, sozial Schwache billige Wohnungen, Umweltschützer fordern mehr Geld und mehr Anerkennung für die Notwendigkeit des Umweltschutzes und weniger Bebauung der Flächen. So fordern wir alle mehr Wichtigkeit für unsere narzisstischen Interessen. Denn unsere Wichtigkeit, unser Ansehen in der Gesellschaft, war von jeher mit existenziellen Vorteilen und einem längeren und besseren Leben für uns und unseren Nachwuchs verbunden.
Diese in der Evolution einzigartige intelligente, vorsätzlich-narzisstische Selbstliebe hat uns an die Spitze der Nahrungskette gebracht – und seit einigen Jahrzehnten leider auch darüber hinaus. Denn es ist gerade unser Wissen-Können, unser Be-Wusst-Sein, das mit all seinen Erkenntnissen und Erfindungen unsere narzisstischen Ansprüche immer weitertreibt – weit über ein gesundes Gleichgewicht unserer inneren und äußeren Natur hinaus.
Unsere Selbstliebe kann man in ihrer reinsten und natürlichsten Form bei kleinen Kindern beobachten. Hilflos, wie sie noch sind, fordern sie als »geborene Narzissten« für ihr Überleben viel Zuwendung, wohlwollende Anerkennung und die volle Aufmerksamkeit anderer Menschen ein.
Bekommen sie diese Lebensbestätigung und Hilfe nicht ausreichend, können sie nicht gesund heranwachsen: Bestätigt man Kinder nicht in ihrer narzisstischen Selbstliebe und ihren Lebensansprüchen, ihrer Wichtigkeit für die Gemeinschaft, ihrem »Gewolltsein« im Leben, können sie ihre infantil-narzisstischen Verhaltensweisen nicht heranreifen lassen. Sie können dann keine reifen erwachsenen Narzissten werden. Sie lernen nicht, die Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen und ein gesundes Geben und Nehmen zu entwickeln, um sicher eingebunden gemeinsam besser zu überleben.
Sigmund Freud hat diesen unreifen, »primären Narzissmus«1 bei Kindern als gesunden Narzissmus beschrieben und deutlich gemacht: Hier ist unser einzigartiger reifender, lernender Lebenswillen am Werk. Denn menschliche Kinder sind besonders lange ohnmächtig und müssen für ihre langen Reifeprozesse viele soziale Lernerfahrungen machen, um ein stabiles Selbst und gesunde Selbstliebe zu entwickeln. Mit ihrem infantilen Narzissmus fordern sie die dafür nötige Zuwendung und Aufmerksamkeit ein.
So sind wir nicht nur alle am Anfang unseres Lebens offensichtliche »natürliche Narzissten«. Vielmehr hängt unser Überleben sogar von unserem nachdrücklichen Willen ab: Wir müssen Anerkennung, Zuwendung, Wertschätzung und Teilhabe einfordern. Narzissmus ist also nicht in erster Linie die Diagnose für ein Krankheitsbild – sondern die Qualität unseres ichbezogenen Verhaltens für ein besseres Überleben.
Doch können wir nicht ewig Kinder bleiben, nicht »einfach so« alles bekommen, geliebt und für toll befunden werden, nur weil wir existieren. Wir müssen uns nach und nach unsere Wertschätzung verdienen, uns als wertvolle Mitglieder unserer Gemeinschaft profilieren. Wir müssen Fähigkeiten für das gemeinsame Überleben entwickeln und diese in unsere Gruppe einbringen. Wir müssen die narzisstischen Bedürfnisse anderer Menschen erkennen lernen – um unsere Bedürfnisse gegenseitig zu befriedigen und gemeinsam zu erfüllen.
Wir lernen Empathie, Kommunikation und Hilfsbereitschaft also nicht, um selbstlos zu werden – im Gegenteil. Wir entwickeln unsere sozialen Fähigkeiten, unseren reifen, »sekundären Narzissmus«2, weil wir auch weiterhin Zuwendung haben wollen und brauchen – doch dafür als Erwachsene auch Zuwendung und Wertschätzung geben müssen, um wertvolle Mitglieder einer schützenden Gemeinschaft zu sein.
So geschieht unser sozialer menschlicher Reifeprozess aus narzisstischen Gründen: Wir bleiben dabei ein Leben lang selbstbezogen in unseren eigenen Körpern und streben instinktiv, unbewusst und bewusst nach einem guten Status in der Gruppe. Denn Anerkennung, Zuwendung und Teilhabe sichern uns ein gutes und langes Leben.
Als Besitzer unseres Körpers, mit unserem Wissen über unser Leben und seine Endlichkeit, gehen wir also mit all den anderen Narzissten in unserer Gemeinschaft eine Art sozialen Vertrag ein: Die gegenseitige Befriedigung und Verteidigung unserer narzisstischen Bedürfnisse ist das Ziel jeder Gruppe.
Wer dabei nur auf sich selbst schaut, ein infantiler Narzisst bleibt, bekommt auf Dauer weniger Zuwendung, wird ohne tiefe Bindungen einsam. Doch auch wer zu viel gibt, sich für den Narzissmus der anderen aufopfert, um endlich geliebt zu werden, läuft Gefahr, wie die Nymphe Echo einsam zu sterben, weil sie nur den narzisstischen Willen der anderen wiederholte, ohne auf ihre Bedürfnisbefriedigung zu achten und sich selbst zu lieben.
Solche Formen des unreifen, größenwahnsinnigen und gleichzeitig extrem verletzlichen Narzissmus haben »toxische«3 Folgen für das eigene Leben – und das anderer Menschen. Denn hier findet eine zu große Sehnsucht nach Anerkennung und Zuwendung statt – ohne reife und gesunde Selbstliebe und ohne gesundes Gleichgewicht. Und wenn unreifer Narzissmus zu häufig in der Erwachsenenwelt und kulturellen Werteordnung auftritt, leidet der soziale Zusammenhalt der Gruppe: Verantwortungsloses und egoistisches Verhalten führt zu mehr Ungerechtigkeit und Unfrieden, die das unreife Verhalten weiter potenzieren. Es treibt uns immer tiefer in einen Teufelskreis: Als unreife, selbstverliebte und sehnsüchtige Narzissten versuchen wir unsere kindlichen Vorrechte und Privilegien immer weiter auszubauen. Wir fordern von den anderen immer mehr Rücksicht und Zuwendung für uns selbst ein – was die gegenseitige Anerkennung und Hilfsbereitschaft weiter schwächt. Trotzig und gekränkt stellen wir dann irgendwann sogar in einer solchen »narzisstischen Gesellschaft«4 die Lebensansprüche anderer Menschen infrage: Mit Hass, Gewalt und Demütigungen wird die narzisstische Konkurrenz entwertet. Es wird den Gegnern damit das Lebensrecht und die Suche nach dem besseren Leben abgesprochen.
Die Grenze zum pathologischen Narzissmus – zur sogenannten narzisstischen Persönlichkeitsstörung als schlimmste krankhafte Form des Narzissmus – ist dabei schwer zu ziehen: Während in den offiziellen Diagnosehandbüchern (DSM und ICD) die typischen Symptome wie Selbstüberschätzung, Erfolgsfantasien, zu hohe Ansprüche, Sehnsucht nach Bewunderung, Ich-Bezogenheit, Empathielosigkeit, Neid und arrogantes Verhalten aufgelistet werden, stellen diese Merkmale auch das ganz normale Alltagsverhalten in unserer kapitalistischen Kultur dar – in mehr oder weniger starker Ausformung. Ein pathologischer Schweregrad ist da schwer genau zu bestimmen. Dazu kommt: Diese Verhaltensweisen kommen auch in ähnlichen Störungen vor (wie zum Beispiel in der Borderlinestörung).5
Deshalb ist eine Analyse der individuellen Selbststrukturen in ihrer narzisstischen Dynamik viel hilfreicher, um Menschen zu verstehen, als eine reine Aufzählung der Symptome mit schwammigem Schweregrad. Oder um es anders zu sagen: Wie jemand sein unreifes Selbstwertgefühl versucht aufrechtzuhalten, erklärt ihn besser als ein pauschaler Diagnosebegriff. Denn auch pathologische Narzissten sind keine abartigen Monster: Ihre Verhaltensweisen betreffen (nur ein paar Grad schwerer) auch unsere normalen alltäglichen Versuche, mit unserem narzisstischen Überlebenswillen im Gleichgewicht zu bleiben.
»Am Nebenmenschen lernt der Mensch erkennen«6, hat Sigmund Freud schon vor über hundert Jahren festgestellt. Und ein Leben lang hat er (als Neurologe) nach einem Menschenmodell gesucht, das unser narzisstisches Selbst und sein Gehirn schlüssig und einheitlich erklärt. Denn er war überzeugt davon, dass unsere Gefühle und Gedanken in den neuronalen Prozessen wiederzufinden sind.
Er wollte unsere einzigartigen psychischen und physischen Reifeprozesse in der Kindheit und die dort entstehenden narzisstischen Störungen und späteren Nachreifemöglichkeiten (durch Therapie- und Heilungsverfahren) ganzheitlich erfassen. Damit hat er den Grundstein für ein dynamisches, entwicklungsfähiges Menschenbild gelegt, das unseren narzisstischen Lebenswillen in seinen gesunden oder unreiferen Anpassungsstrategien beschreibt. Denn unser Gehirn und unsere Persönlichkeit, unsere Beziehungs- und Konfliktfähigkeit und unser heranreifendes Selbstbild entstehen erst im Prozess des Erlebens, durch die erfahrenen Wertungen im sozialen Geschehen.
Gelungen ist ein solches überzeugendes, ganzheitliches Menschenbild, die Brücke zwischen Gehirn und Geist, zwischen Körper und Ich jedoch erst nach der Jahrtausendwende: durch die bahnbrechende Forschung der Neuropsychologie bzw. Neuropsychoanalyse. Große Namen sind dabei zu nennen, wie der Hirnforscher Antonio Damasio, der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms, der Psychologe Jaak Panksepp und der schon erwähnte Psychoanalytiker Otto Kernberg.7
Den alles entscheidenden Grundstein für ein solches ganzheitliches Menschenbild kann man dabei dem österreichisch-amerikanischen Hirnforscher Eric Kandel zuschreiben: Er bekam im Jahr 2000 den Nobelpreis in Physiologie / Medizin, weil er erstmals genau nachweisen konnte, wie unser Denken zu Körper wird.8
Denn unser narzisstisches Streben und Erleben verändert unsere Gehirnzellen und ihren Stoffwechsel – und umgekehrt. So findet eine permanente bessere Anpassung an das (soziale) Umfeld statt, indem unser heranreifendes Gehirn-Selbst auf das Erleben narzisstisch reagiert.
Unsere Neuronen bilden ständig neue Ausstülpungen (Axone und Synapsen), um sich mit anderen Hirnzellen neu zu verknüpfen. Das geschieht, wenn wir starke emotionale Erfahrungen machen, die unser Selbstwertgefühl, unsere Stellung in der Gemeinschaft erheben oder bedrohen. Und so kann sich jede einzelne unserer ca. 86 Milliarden Nervenzellen mit bis zu 30 000 (!) Synapsen mit anderen Neuronen verbinden – wenn wir Lebenserfahrungen mit starken Gefühlen und Gedanken haben, die unseren narzisstischen Status, unsere Beziehungen zu anderen und damit unser Überleben betreffen. Deshalb ist das riesige, sich ständig verändernde Netzwerk in unseren Köpfen die komplexeste Struktur, die wir im Universum kennen.
Man kann also nicht länger unser Denken vom Körper trennen: Körper und Geist sind ein und dasselbe. Das hat enorme Folgen für unser Selbstbild – und für die Versuche, unser Verhalten zu ändern. Denn ein höherer Geist oder Verstand, der klar und logisch – unabhängig von unseren körperlichen Bedürfnissen – unser Verhalten rational steuert, ist nicht länger zu behaupten: Unser Verstand kann nicht unsere Emotionen kontrollieren. Denn er ist von emotionalen Wertungen und narzisstischen Interessen durchdrungen.
Unser Verstand ist also fälschlicherweise im Zuge der Aufklärung von unseren narzisstischen Ambitionen befreit worden, um uns zu höheren, rationalen Wesen zu erklären – was wirklich eine sehr unreife narzisstische Selbstsicht ist.
Mit teilweise absurden Begründungen haben wir also die letzten 400 Jahre unser Menschenbild verzerrt: Wir haben uns »einfach so« zu Ebenbildern Gottes gemacht. Unsere Ratio und Logik sollten demnach höhere Wahrheiten erkennen können – die (ungetrübt von unseren narzisstischen Ambitionen) das Leben objektiv erfassen und verbessern würden. Und noch immer rufen wir in diesem Sinn zu mehr Vernunft auf und glauben, mit Erkenntnis und Fortschritt unsere Menschen(vor)rechte der Natur abringen zu können.
Doch deutet sich nun schon länger eine große Kränkung dieser Selbstsicht an. Denn wie Eric Kandel bereits bewiesen hat, haben wir kein höheres, freies, logisches Denken. Jeder Gedanke ist gleichzeitig Stoffwechsel und narzisstisches, emotional gewertetes (Über-)Lebensinteresse. Unsere innergeistigen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle formen unsere Neuronen und ihre biophysikalischen Prozesse – für unsere Suche nach narzisstischen (Über-)Lebensvorteilen.
Dieses neue ganzheitliche Menschenbild, das sich bisher von der Öffentlichkeit noch ziemlich unbemerkt langsam an den Universitäten und in den Humanwissenschaften durchsetzt, bewirkt eine Paradigmenrevolution: einen grundsätzlichen »Bewertungswechsel« von unserer Selbstsicht und der einhergehenden Welterklärung.
Für das Alltagsselbstverständnis der Menschen, die Werteordnung in der Gesellschaft, sind solche Paradigmenwechsel irritierend und lösen Identitätskrisen aus: Viele Menschen wollen nicht glauben, dass wir keinen höheren Verstand haben, unsere Ratio nicht die äußere und unsere innere Natur beherrschen kann. Denn das bedeutet auch, dass unser Leben nicht ständig mit Erkenntnissen und Erfindungen verbessert werden kann. Wir empfinden es als Kränkung, dass unser bewusster Geist, der uns Menschen doch angeblich auszeichnet, plötzlich nur noch als Diener unserer Triebe gilt und dass unser Narzissmus all unsere Erkenntnisse und moralischen Vorstellungen durchdringt. Denn wenn wir keinen höheren wissenschaftlichen oder gottgegebenen Geist haben und niemals die Krönung der Schöpfung waren, was sind wir denn dann noch Besonderes?
Ich möchte nun zuerst auf die drei entscheidenden neuen Wahrheiten über den Menschen eingehen, die sich aus Eric Kandels bahnbrechender Forschung ergeben – und uns endgültig vom Sockel unserer eigenen narzisstischen Selbsterhebung schubsen, den wir uns als angebliche Verstandeswesen errichtet haben. Denn aus diesem unreifen Selbstbild der Aufklärung ergeben sich all die Selbstlügen, an denen wir als Menschheit gerade scheitern.
Dabei sind die Begriffe Wahrheit bzw. Wahrheiten hier bewusst gewählt: Auch wenn wir heute wissen, dass wir »die höhere Wahrheit« nicht erkennen können, sind die bescheideneren Begriffe wie Erkenntnis oder Einsicht weiterhin durchdrungen vom Anspruch, Wahrheit zu sein. Denn wir greifen mit unseren Erkenntnissen in die Welt ein, gestalten sie nach unseren körperlich-narzisstischen Ansprüchen. Wir stehen mit unseren Einsichten nicht innergeistig der Welt gegenüber. Unsere Erkenntnisse schaffen Wahrheiten – harte, weitreichende Fakten.
Und so reiben wir uns mit unseren narzisstischen Wahrheitswünschen an den grundsätzlichen Wahrheiten der Evolution und unserer psychosomatischen Gesundheit. Und wir sollten diese als »Pflöcke der Wahrheit« in den Boden unserer selbstgefälligen Fortschrittsideen schlagen, um unserer Suche nach einer wahreren Orientierung wieder mehr existenziellen wahrhaftigen Halt zu geben.
Der Philosoph Hilary Putnam wurde 1981 mit einem Denkexperiment berühmt, dem sogenannten »Gehirn-im-Tank-Experiment«.9 Und das geht so: Man stelle sich vor, ein menschliches Gehirn liegt in einem Nährstofftank und wird von einem Computer über Elektroden mit künstlichen Informationen / Reizimpulsen versorgt, als wäre es in einem lebendigen Körper. Kann das Gehirn nun erkennen, ob es in einer virtuellen Realität lebt? Kann sein Stoffwechsel und Denken den Unterschied zum echten Leben erfassen? (Auf dieser Idee beruhen auch die berühmten Matrix-Filme.)
In diesem Experiment zeigt sich unser altes Menschenbild der Aufklärung. Unser Gehirn und unser Geist werden als zwei getrennte Dinge dargestellt, wobei sich stets die Frage stellt: Wer bestimmt hier wen?
Um die Antwort auf diese Fragen wird an den Universitäten und Lehrstühlen, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, ein schwelender Glaubenskrieg geführt: Wer bestimmt die höhere Wahrheit über uns? Die Naturwissenschaften mit ihren Hirnscans und Stoffwechselvermessungen? Oder die Geisteswissenschaften mit der Analyse unserer Gedanken und Vorstellungen?
Wenn wir davon ausgehen, dass unser Gehirn nur eine unfreie »Biomaschine« ist, dessen Verhalten und Denken vom Stoffwechsel verursacht wird und mit Impulsen von außen leicht getäuscht werden kann, bleibt ungeklärt, von wo aus wir das erkennen können. Wieso können wir diese absolute Wahrheit über uns selbst wissen? Und vor allem: Wieso haben wir dann in der Evolution Gefühle von Freiheitsliebe und die Sehnsucht nach Selbstbestimmung entwickelt, wenn doch alles nur ein biochemisches Programm ist, das ohne unser Zutun abläuft? Wieso können wir reifer werden?
Wenn wir aber davon ausgehen, dass die Welt und unsere Gefühle nur in unserem Kopf existieren, wie sind sie dann da reingekommen? Und: Warum können wir nicht mit Gedanken unser Verhalten nachhaltig ändern?
Hier werden die Widersprüche deutlich, die sich bisher durch die Zweiteilung des Menschen in Körper und Geist in der Aufklärung ergeben haben. In der Philosophie nennt man diesen Widerspruch das »Leib-Seele-Problem« bzw. einen »performativen Widerspruch«: Wir performen etwas, während wir genau das Gegenteil behaupten.
Das Leib-Seele-Problem galt bisher als eines der großen philosophischen Probleme. Begründet hat es 1641 der Philosoph René Descartes mit seinem berühmten Satz: »Ich denke, also bin ich.«10 Denn dieser Satz hat das Denken vom Dasein getrennt und unser Dasein dem Denken überstellt – um mit einem höheren, unkörperlichen (gottgegebenen) Verstand das Dasein angeblich vernünftig gestalten zu können.
Interessanterweise hat es fast 400 Jahre gedauert, bis die Neuropsychologie (also Eric Kandel) auf dieses Problem die richtige Antwort gefunden hat und den Widerspruch ein für alle Mal auflösen konnte. So lautet die korrekte Antwort auf das große Leib-Seele-Problem: Die Fragestellung ist völlig falsch und realitätsfern.
Denn das Experiment vom »Gehirn im Tank« ergibt keinen Sinn, da die Zweiteilung von Körper und Geist eine völlig künstliche, wirklichkeitsfremde ist. Sie diente immer nur dazu, unseren Geist als etwas Höheres auszuzeichnen, ihn von unserem banalen, sterblichen Körper zu trennen, um damit angeblich letztgültige Wahrheiten zu erschaffen und uns narzisstisch aufzuwerten.
Diese narzisstische Verzerrung unseres Selbstbilds zieht sich durch die gesamte Aufklärung und begründet unsere angebliche Herrschaft über die Natur. Und immer noch glauben wir an eine absolute Selbstbefreiung von unseren irdischen, irrationalen Gefühlen und unserer triebhaften Dummheit und Gier durch biotechnische und neurowissenschaftliche Forschung als höheres Wissen. Doch ist genau dieser Anspruch auf unsere Kontrolle der Natur durch unsere Ratio selbst zutiefst narzisstisch und irrational. Und dennoch halten viele Wissenschaftler, Programmierer, Wirtschaftsführer, Politiker und fortschrittsgläubige Bürger weiterhin daran fest.
Wenn es nach Elon Musk und anderen Vertretern des Silicon Valley geht, sollen unsere Fähigkeiten und Gedanken bald durch Hirnschnittstellen schnell und einfach neu programmiert werden und so die perfekte digitale Lebenskontrolle erreicht werden. »Ihr werdet eure Erinnerungen speichern und sie möglicherweise auch in einen anderen Körper oder einen Roboter herunterladen können«, behauptete Musk bei der Präsentation seines Schweins Gertrude im Jahr 2020. Er hatte dem Tier einen ersten Hirnchip seiner Firma »Neuralink« einsetzen lassen.
Doch dieser technische Einbau in das Gehirn kann nur die Impulsstärke von Neuronen messen. Das hat nichts mit unseren Lebenserfahrungen und Gedankeninhalten zu tun.
Die Nervenimpulse können auch niemals vom Gehirnzellennetz getrennt werden. Denn nur das körperliche Erleben gibt den Impulsen seinen Inhalt und Sinn. Oder um es anders zu sagen: Strom ist kein Gedanke. Dennoch stellen die sogenannten »Transhumanisten« völlig selbstherrlich den Stromfluss durch Kabel und Leiterplatten und die elektrischen Impulse in lebenden Zellen des Gehirns auf eine Stufe.
Unsere Gehirne und seine Nervenzellen, unsere elektrischen Neuronenimpulse, Gefühle und Denkinhalte sind und waren immer Teil der Lebensentwicklung in der Evolution. Unser Hirnstoffwechsel und unsere Gedanken haben sich in der Gesamtheit des Körpers und seines Umfelds entwickelt, um besser zu überleben.
Dabei sind Gehirnzellen und Gedanken zwei Seiten derselben Medaille. »Doppelaspekt-Monismus«11 nennt man das in der Neuropsychologie heute: Zellstoffwechsel und Denkinhalt sind eine Einheit – der wir uns von zwei Seiten mit zwei unterschiedlichen Erklärungssystemen nähern. Auf der einen Seite erfassen wir das Geschehen in biochemischen Daten – auf der anderen Seite versuchen wir, unsere Denkinhalte zu analysieren.
Es gibt hier also keine Kausalität, sondern Korrelation: Gleichzeitigkeit. Der Stoffwechsel verursacht nicht die Gedanken – und auch unsere Gedanken können unseren Körper und seine Triebe nicht beherrschen. Der Stoffwechsel ist Denken; das Gehirn ist unser Selbst.
Wir können nicht durch einen höheren Geist Emotionen kontrollieren. Wir können nur für eine kurze Zeit bestimmte emotionale Impulse durch andere Gefühle ausgleichen. So bleiben wir am Schreibtisch sitzen und machen die Steuererklärung fertig, statt zum Kühlschrank zu laufen. Denn dort lauert die Schokolade und wir haben Angst vor dem schlechten Gewissen nach dem Zuckergenuss, vor dem Ärger mit dem Finanzamt und dem Zwicken unserer zu eng gewordenen Hosen.
Wenn wir den Kühlschrank jedoch dauerhaft meiden wollen, dann brauchen wir spätestens nach einer Stunde Steuerklärung eine andere positive narzisstische Erfahrung: Mit dem Hund spielen, mit Freunden treffen oder unseren Hobbys nachgehen – alles, was uns zeigt, dass wir für andere wichtig sind, dass wir etwas gut können und gerne machen. Wir brauchen gesündere positive Erlebnisse, um ungesunde unreife Impulse (wie Fressattacken) nachhaltig zu überwinden. Wir können nicht über unser Bewusstsein mit einer rationalen Disziplin und Selbstkontrolle langfristig unser narzisstisch motiviertes Verhalten ändern.
Deshalb sollten wir (jenseits der Steuererklärung) vorwiegend gerne am Schreibtisch sitzen, um dort in einer überschaubaren Zeit einen guten Job unter netten Kollegen zu machen. Denn dann hüllt sich der Kühlschrank meist in Schweigen, weil Gefühle, Gedanken und narzisstische Bedürfnisse im Einklang sind.
Unser Bewusstsein ist nur als ein Teil unserer Gefühlsempfindungen entstanden und kann diese nur reflektieren, aber nicht dauerhaft bezwingen.
»Wenn der Geist bewusstwerden soll, muss im Gehirn ein Wissender erzeugt werden, ganz gleich, welchen Namen – Selbst, Erlebender, Protagonist – wir ihm geben.«12 Diese Aussage Antonio Damasios begründet die Untrennbarkeit von bewusstem Geist und lebenden Zellen. Und sie betont die Revolution in unserem Selbstverständnis: Unser Selbst und unser Gehirn sind eine untrennbare Einheit. Denn unser Gehirn und seine unbewussten und bewussten Gedankenprozesse haben sich für eine bessere Anpassung an das Lebensumfeld und für eine bessere Befriedigung unserer narzisstischen Lebensbedürfnisse entwickelt: Alles, was wir denken, fühlen und »verstoffwechseln«, hat deshalb eine narzisstische Qualität, eine narzisstische Ausrichtung auf reifere oder unreifere Lebensziele.
Dem berühmten Buchtitel von Richard David Precht Wer bin ich und wenn ja, wie viele? wäre demnach entgegenzusetzen: Ich bin – und deshalb nur einer!
Wir können unser Gehirn also nicht aus dem Körper entfernen, denn dann hätte es seinen Sinn verloren. Wir können demnach auch nicht unsere Gedanken und unser Ich aus dem Gehirn herunterladen: Sie sind an die Neuronen, an die lebenden Gehirnzellen und unsere Lebenserfahrungen im Körper gebunden. Und wir können auch nicht unsere Gefühle von unseren Gedanken trennen, denn die Gefühle geben den Gedanken erst ihren narzisstischen Erlebnisinhalt und machen logische Schlüsse und Wertungen erst möglich.
Deshalb können wir auch umgekehrt nicht Maschinen zu eigenständigen Wesen machen – und sie »richtigere« Entscheidungen treffen lassen. Da künstliche Intelligenz keine Zellen und keinen lebenden Körper hat, kann sie sich gar nicht von alleine orientieren, sich nicht anpassen, hat keinen Lebenswillen, keine narzisstische Lebensambition.
Deshalb haben alle Vergleiche von menschlicher und künstlicher Intelligenz gar keinen Sinn. Es sind nur Gedankenexperimente, die mit der Wirklichkeit und unseren realen menschlichen Lebensprozessen nicht kompatibel sind.
So sind wir also keine Biomaschinen: Mit Psychopillen oder Alkohol können wir zwar unseren Hirnstoffwechsel und unser Denken manipulieren. Doch deshalb sind wir keine Apparate, die von ihrem Stoffwechsel fremdbestimmt werden. Denn unser Selbst beschließt (freier oder zwanghafter), zur Flasche oder Pille zu greifen. Wir reagieren nicht nur – wir agieren auch, nämlich freier und unfreier, reifer und unreifer. Unser Zwang wird nicht vom Stoffwechsel verursacht, sondern von unseren unreifen Sehnsüchten und unseren Defiziten an gesunder Erfahrung. Und wir können uns nur mit mehr Selbstreife gegen diese Manipulationen unserer Gedanken und unseres Stoffwechsels wehren.
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