Péter Nádas

Buch der Erinnerung

Roman

Aus dem Ungarischen von Hildegard Grosche

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Péter Nádas

Péter Nádas, 1942 in Budapest geboren, Fotograf und Schriftsteller. 1967 veröffentlichte er einen ersten Band mit Erzählungen. Sein erster Roman, «Ende eines Familienromans» (1979), wurde in Ungarn erst Jahre nach seiner Vollendung publiziert, da Nádas der Zensur als unerwünschter Autor galt. 1986 erschien sein Opus magnum «Buch der Erinnerung». Nádas wurde u.a. mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991), dem Kossuth-Preis (1992), dem Leipziger Buchpreis (1995), dem Franz-Kafka-Literaturpreis (2003) sowie dem Verdienstorden der Republik Ungarn ausgezeichnet. Er lebt in Budapest und Gombosszeg.

 

Weitere Veröffentlichungen

Ende eines Familienromans

Von der himmlischen und der irdischen Liebe

Der Lebensläufer

Liebe

Minotauros

Ohne Pause

Heimkehr

Parallelgeschichten

Über dieses Buch

Zehn Jahre hat Péter Nádas an diesem Roman, einem «Meilenstein der europäischen Prosa» (Neue Zürcher Zeitung), gearbeitet, mit dem er sich in die Weltliteratur eingeschrieben hat.

 

«Ein gewaltiges Vorhaben und ein gewaltiges Ergebnis: Mit seinem ‹Buch der Erinnerung› hat der ungarische Schriftsteller Péter Nádas nichts Geringeres als eine innere Geschichte unseres von Ideologien gezeichneten Jahrhunderts versucht.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel «Emlékiratok könyve» bei Szépirodalmi Könyvkiadó, Budapest.

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert vom Deutschen Literaturfonds e.V. und dem Künstlerprogramm des DAAD.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2013

Copyright © 1991, 1999 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

«Emlékiratok könyve» Copyright © 1986 by Péter Nádas

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Ingrid Krüger

Redaktion Christiane Böhler

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Umschlagabbildung: plainpicture/Rupert Warren)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-22581-9 (3. Auflage 2012)

ISBN E-Book 978-3-644-02361-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-02361-1

Fußnoten

1

Allamvedelnü Osztaly, Staatssicherheitsdienst.

Es ist mir eine angenehme Pflicht, zu erklären, dass ich hier nicht meine eigenen Memoiren niedergeschrieben habe. «Buch der Erinnerung» ist ein Roman. Es war meine Absicht, Geschichten zu erzählen, ein wenig wie Plutarch, parallele Erinnerungen verschiedener Personen zu verschiedenen Zeiten. Und die verschiedenen Personen wären naturgemäß alle ich, ohne dass ich es wirklich wäre.

Alle Personen, Namen, Orte und Begebenheiten, die in diesem Buch vorkommen, sind also nicht als wirkliche zu betrachten, sondern als romanhafte Endprodukte schriftstellerischer Intention und Phantasie. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen und Begebenheiten wären rein zufällig.

P. N.

Er aber redete vom Tempel seines Leibes.

Johannes 2, 21

Die Schönheiten meiner Regelwidrigkeit

Meine letzte Berliner Wohnung hatte ich bei den Kühnerts, draußen in Schöneweide, im ersten Stock einer von wildem Wein bewachsenen Villa.

Die Weinblätter röteten sich schon, die schwarz gewordenen Früchte wurden von Vögeln heimgesucht, es war Herbst.

Kein Wunder, dass ich mich jetzt daran erinnere, drei Jahre sind seither vergangen, dreimal wurde es Herbst, und ich werde nie mehr nach Berlin fahren, ich wüsste nicht, zu wem, ich wüsste nicht, warum, deshalb schreibe ich auch, dass es meine letzte Berliner Wohnung war, ich weiß es.

Ich wollte, dass es die Letzte sei, und auch unabhängig von meinem Willen hat es sich so gefügt, oder es ist so geworden, wie auch immer, jetzt tröste ich mich, während ich meinen lästigen Herbstschnupfen kuriere und mein Hirn zu nichts anderem fähig ist, aber auch in diesem rotzigen Zustand um die wesentlichen Dinge kreist, dass ich mir die Berliner Herbsttage in Erinnerung bringe.

Nicht, dass man auch nur irgendetwas vergessen könnte.

Natürlich weiß ich nicht, wen außer mir selbst das interessieren könnte.

Zum Beispiel jene Wohnung in der Steffelbauerstraße, dort im ersten Stock.

Reisenotizen nämlich will ich nicht schreiben, kann nur beschreiben, was zu mir gehört, sagen wir, die Geschichte meiner Liebesbeziehungen, vielleicht aber nicht einmal das, da ich mir nicht so weit vertraue, um hoffen zu können, ich sei imstande; von wesentlicheren Ereignissen zu reden als von Ereignissen persönlichen Zusammenhangs, umso weniger, als ich nicht glaube, dass es bedeutendere Zusammenhänge geben könnte, als es die an und für sich ganz unwesentlichen und uninteressanten persönlichen sind, genauer gesagt, weiß ich nicht, ob es sie gibt, und daher glaube ich es nicht, also finde ich mich gleich damit ab, mit allem finde ich mich bereitwillig ab, mag das Geschriebene hier eine Art Erinnerung oder eine Rückschau werden, irgendetwas, was mit den Schmerzen und der Lust des Heraufbeschwörens verknüpft ist, etwas, was man eigentlich in seinen alten Tagen schreibt, ein Vorgriff auf das, was ich in vierzig Jahren fühlen werde, falls ich die Dreiundsiebzig erleben und dann noch fähig sein sollte, mich zu erinnern.

Der Schnupfen holt jetzt alles deutlich heran, es wäre schade, die Gelegenheit verstreichen zu lassen.

Ich könnte zum Beispiel erzählen, dass zu den Kühnerts in die Steffelbauerstraße, in jenen südlichen Bezirk Berlins, der Schöneweide, also die schöne Weide heißt und vom Herzen der Stadt, dem Alexanderplatz, ungefähr dreißig Minuten oder, wenn man den immer pünktlichen Anschluss verpasst und im Regen warten muss, vierzig Minuten bis zu einer Stunde entfernt liegt, mich Thea Sandstuhl gebracht hat, ja, es war Thea.

Diese Wohnung hatte sie für mich besorgt, genauer gesagt, sie hatte sie organisiert.

Natürlich, auch sie ist mir in diesen Schnupfentagen wieder eingefallen, aber merkwürdigerweise nicht mit den auffälligen Zeichen, durch die sie ihre Eigenart so herausfordernd betonte, ihrem roten Pullover und dem weichen roten Mantel, dem unendlich vielen Rot, das sie immer an sich trug, es waren auch nicht die Falten in ihrem Mädchengesicht, diese blassen, nervös bebenden Furchen, die sie zwar nicht zu verleugnen suchte, aber doch nur mit einer gewissen Verkrampftheit ertrug, was sich vielleicht am deutlichsten in der steifen Haltung ihres Nackens ausdrückte, irgendwie schien sie den Hals immer nach vorn zu strecken, als wolle sie sagen, bitte, hier ist mein Gesicht, so alt und hässlich bin ich geworden, seht nur genau her! obwohl ich auch einmal jung und schön gewesen bin, lacht nur! freilich wäre das niemandem eingefallen, da sie keineswegs hässlich war, aber vielleicht lag ja gerade in dieser Verkrampftheit wegen ihrer Falten die Ursache für ihre unglückliche Liebe; doch nicht das war es, was mir jetzt einfiel, und auch nicht, wie sie in ihrem Zimmer mit den weißen Musselinvorhängen, mit dem roten Teppich in dem roten Sessel saß, eher erinnere ich mich an ihr Lachen und ihr Weinen, die großen, nikotingelben Pferdezähne, aber nicht an ihr Lachen und Weinen auf der Bühne, das kaum dem natürlichen ähnelte, an ihre Anfälle von Bosheit, bei denen ihre Augen sich spöttisch verengten und die trockene Haut sich über ihrem Kinn spannte; und der Baum im Hof der Synagoge an der Rykestraße fällt mir ein, diese dürre Akazie gehörte irgendwie auch zu ihr, an den Stamm war ein Schild genagelt, dass es verboten sei, auf den Baum zu klettern, aber wer hätte denn, dreißig Jahre nach dem Krieg, an einem Freitagabend im Hof einer Alt-Berliner Synagoge auf einen Baum klettern wollen? wer sollte hier auf so etwas Lust haben? und während die langen Schatten der Juden aus dem beleuchteten Tempel in das goldene Licht des Hofes fielen, sagte ich zu ihr, dass ich Fieber hätte, und sie strich mir mit der Hand mütterlich über die Stirn, aber ihrem Gesicht sah ich es an, mein Gesicht spürte es, dass sie weniger mein Fieber kontrollieren als meine Haut, die noch jung und faltenlos war, genießen wollte.

Und vielleicht deswegen steht hier, am Anfang, die überflüssige Entschuldigung, dass das Folgende keine Reisebeschreibung sein kann und sein soll, denn ich will nicht mit Arno Sandstuhl, Theas Mann, der so etwas wie ein Reiseschriftsteller ist, verglichen oder in Verbindung gebracht werden, obwohl ich weiß, dass die ausgeprägte Verachtung für Arnos unschuldige Leidenschaft, in ferne Gegenden zu reisen und anschließend seine Erlebnisse niederzuschreiben, meiner Eifersucht zuzuschreiben und keineswegs begründet war, zweifellos hatte aber gerade dieser Umstand meinen Argwohn erregt, denn von dort aus können tatsächlich nur wenige solche Reisen machen, so etwas wie Reiselust kennt man dort wirklich nur vom Hörensagen, aber er, die große Ausnahme, war, wenn ich mich recht erinnere, schon in Tibet und sogar in Afrika gewesen, und dennoch muss ich eher annehmen, dass meine unbegründete Antipathie nicht durch diesen flüchtigen Argwohn, nicht durch Verachtung und nicht einmal durch Eifersucht ausgelöst wurde, sondern durch Theas zweideutiges Verhalten, mit dem sie, natürlich ohne Absicht, auf eines der geheimen Kapitel meines Lebens abzielte.

Als wir sie das erste Mal besuchten – sie wohnten wiederum in einer anderen Gegend, ebenfalls ziemlich weit draußen, ich glaube irgendwo in der Nähe von Lichtenberg, aber ich weiß es nicht genau, denn wenn wir gemeinsam unterwegs waren, verließ ich mich, seit ich ihn kennengelernt hatte, immer auf Melchiors Ortskenntnis, ich sah nichts anderes als sein Gesicht, dieses Gesicht, das sich in meines einnistete, und meine Aufmerksamkeit reichte wirklich nicht aus, um auf solche Nebensächlichkeiten wie die Richtung, in die wir fuhren, zu achten, er sah mich an und ich ihn, während wir fuhren; aber das letzte Mal traf ich Thea zufällig in der S-Bahn, damals war Melchior schon aus Berlin verschwunden, und auch Thea war allein geblieben, nachdem Arno von ihr weggezogen war, an der Endstation Friedrichstraße stießen wir aufeinander, ein paar Minuten vor Mitternacht, «mein Wagen ist schon wieder im Eimer», sagte sie, als wolle sie sich rechtfertigen, ich kam aus dem Theater, und wir trennten uns erst am Ostkreuz, weil ich dort in Richtung Schöneweide umsteigen musste, ich wohnte immer noch bei den Kühnerts, und sie fuhr weiter, nach Hause, daraus schließe ich, dass ihre Wohnung irgendwo in der Gegend von Lichtenberg lag, als wir sie an einem Sonntagnachmittag zum ersten Mal besuchten und ich mich mit Arno unterhielt, wie es zwei Schriftsteller unter sich tun, bedächtig, ernsthaft und langweilig.

Das war Theas zweideutigem Verhalten zu verdanken, denn sie hatte die Situation dadurch so steif und feierlich werden lassen, dass sie, als Arno mit einer gewissen Verspätung ins Zimmer trat und ich mich aus dem Sessel erhob, uns beide an den Ellbogen fasste und damit verhinderte, dass wir uns die Hände reichten; und als wollte sie uns bedeuten, dass sie das Bindeglied zwischen uns sei, dass wir aber auch unabhängig davon zusammengehörten, sagte sie, «die beiden an einer schöpferischen Krise leidenden Schriftsteller», auf eine vertrauliche Bemerkung von mir anspielend, noch wichtiger als der verhinderte Händedruck schien ihr diese Gemeinsamkeit, denn dieser Satz verriet mir Arnos Qualen und ihm die meinen, aber mit diesem doppelten, schamlosen Verrat wollte sie Arno durch mich, mit mir helfen, so sollte die Zusammengehörigkeit von uns dreien besiegelt und wir beide unter einen Hut gebracht werden; wir sahen einander nicht in die Augen, weil kein Mensch es liebt, wenn man ihn, und sei es in bester Absicht, zu durchschauen vorgibt und ihm ein Spiegelbild zeigt, dem er weder ähnlich sieht noch ähnlich sehen will.

Diese Situation war mir gut bekannt, wofür die beiden freilich nichts konnten.

Und Melchior hinter unserem Rücken lachte, die beiden tölpelhaften Schriftsteller mochten wirklich einen erheiternden Anblick bieten, und in meiner Not, vielleicht auch vor Zorn, dachte ich in jenem Augenblick, dass Arno die Weltreisen genehmigt bekäme, weil er ein berufsmäßiger Agent sei, ein Spitzel, ein Spion, durchaus möglich, dachte ich damals, dass er etwas Ähnliches von mir denkt, nein, das macht überhaupt nichts, dass ich so etwas von ihm denke, denn er weiß ja auch von mir, was ich gern verheimlichen möchte; Melchior hatte seine Blicke vor Thea wahrhaftig nicht beherrscht, und was ein Geheimnis bleiben sollte, dass wir nämlich nicht einfach Freunde, sondern Liebende waren, das war auch ihm gewiss nicht verborgen geblieben.

Außerdem musste ich ihm einfach einen gewissen Respekt entgegenbringen, zum einen weil Arno um einiges älter als ich war, etwa fünfzig, zum anderen weil ich keine Ahnung hatte, was er schrieb, ich wusste nur, dass es Reisebücher waren und dass sie in Auflagen von Hunderttausenden erschienen, was ja nicht unbedingt ausschloss, dass es möglicherweise Meisterwerke waren, warum nicht, daher lag es nahe, meine Vorsicht hinter respektvoller Höflichkeit zu verbergen, aber diese wechselseitige Rücksichtnahme machte uns beide verlegen, während Thea wie eine Beamtin an ihrem freien Sonntag den Kaffeetisch deckte und Melchior mit ihr im Flüsterton über mich sprach.

Dabei tat Arno wirklich alles, um der ihm aufgedrängten Rolle perfekt gerecht zu werden, und in seinen Fragen, in welche Richtung meine Theaterstudien denn gingen, was für Novellen ich schrieb, spürte ich sogar etwas wie männlichen Charme, die Verlegenheit des Stärkeren, ja, mit einer seiner Bemerkungen schien er mir sogar ritterlich einen Fluchtweg anzubieten, denn er gab mir zu verstehen, dass er den Dingen keineswegs auf den Grund gehen wolle, «gewiss nicht, nur beiläufig, anders lässt sich darüber ja gar nicht reden, ich denke nicht an einen Inhalt, nur so andeutungsweise», sagte er und lächelte, wobei die kleinen Falten um seinen Mund anzeigten, dass sich seine Gedanken nur selten in ein Lächeln auflösten und er eine eher grüblerische Natur war, daher schaute er seinem Gegenüber auch nicht direkt in die Augen, als schäme er sich einer Sache, als verberge er vielleicht sogar etwas.

Während ich antwortete, sah er mir plötzlich doch in die Augen, und obwohl sein Interesse nicht dem galt, was ich zu sagen versuchte, war es doch aufrichtig, das hätte ich würdigen müssen, denn wenn ein Blick die Zusammenhänge hinter unseren Worten zu ergründen sucht, beispielsweise begierig, herauszufinden, welche Beziehung meine schriftstellerischen Bemühungen zu der Tatsache haben, dass ich, ein Mann, in einen anderen Mann verliebt bin, und so etwas beschäftigte ihn meiner Ansicht nach, während ich redete, wenn also die Aufmerksamkeit, losgelöst von Überlegungen, bemüht ist, die Gefühle im Gegenüber zu ertasten, dann sollte einem dieser Augenblick bedeutsam genug sein.

Ich wusste, dass ich in einem anderen Zimmer schon einmal genauso gestanden hatte, einem Manne völlig ausgeliefert, aber Arno, der sonst anscheinend alle Verrücktheiten Theas duldete, schien jetzt diese uns beiden widerstrebende Rolle, die Thea uns aufgezwungen hatte, nicht zu akzeptieren, das war seinen schönen tiefbraunen Augen anzusehen, ich dagegen war mit meinen Gedanken beschäftigt und achtete mehr auf das, was Melchior Thea über mich zuflüsterte, als darauf, was ich Arno über meine eigene schriftstellerische Arbeit sagte, darum merkte ich nicht, dass wir uns jetzt endlich hätten frei fühlen können, sein Blick wurde kindlich, neugierig, begierig, offen, und mit wohlüberlegten Worten oder auch wortlos hätte unsere Unterhaltung nicht nur angenehm, sondern vielleicht sogar inhaltsreich werden können, das machte ich mir nicht bewusst, ich reagierte nicht auf den Blick; am Ende meines Berichts angekommen, versäumte ich daher die richtige Frage, ich wollte zwar höflich sein, doch aus Bequemlichkeit stellte ich ihm die gleiche Frage, die er an mich gerichtet hatte, und bemerkte die rüde Gleichgültigkeit, die in dieser Wiederholung steckte, erst, als sein Blick plötzlich fortglitt, er seine Hände an die Schläfen hob und mit einer seltsamen Geste, als wolle er sich selber Eselsohren drehen, abwinkte.

Diese Geste sollte freilich weder Leidenschaft noch Geringschätzung für seine Arbeit ausdrücken, sie drückte vielmehr Erstaunen, Verlegenheit, ja Kränkung und den Verzicht aus, jemals verstanden zu werden, «oh, ich bin bloß so ein Bergsteiger», besagte sie, und in der Tat war es so eine Bergsteigergeste, mit der man die Frage, wie die Tour gewesen war und ob das Wetter gut gewesen sei, abzuwehren pflegt, wie soll die Tour schon gewesen sein und das Wetter?

Er antwortete auch, natürlich, schließlich hatte er jene gutbürgerliche Erziehung genossen, die einen lehrt, Augenblicke der Unaufmerksamkeit, der Verwirrung, ja des Hasses mit gleichgültigem Gerede zu überbrücken, er sprach, wie es gebürtige Berliner tun, als spülte er seine Worte im Mund; aber selbst wenn ich zu irgendeiner Aufmerksamkeit fähig gewesen wäre – Melchior flüsterte Thea eben zu, was ich zum Mittagessen gekocht hatte –, und wenn ich verstanden hätte, was Arno sagte: Durch seine Körperhaltung, seinen gekrümmten Rücken drückte er unmissverständlich aus, dass es gar nichts Interessantes sei, dass er bloß rede, um der Konvention zu genügen, sogar seine Stimme entglitt mir, zum einen weil ich Melchior wegen seiner intimen Mitteilungen grollte und ihm auf irgendeine Weise bedeuten wollte, dass er endlich den Mund halten solle! zum anderen weil ich darauf gekommen war oder glaubte, darauf gekommen zu sein, woher ich dieses sauber gefurchte, sprechende Gesicht kannte; es hätte das Gesicht meines Großvaters sein können, wenn mein Großvater als Deutscher geboren wäre; Ernst, Geduld, humorloses Selbstbewusstsein, ein Demokratengesicht, falls es so etwas gibt, und so kam mir nicht nur der Sinn seiner Worte abhanden, sondern auch der Klang seiner Stimme, wie eine leere Hülse stand er vor mir, und ich konnte nichts weiter wahrnehmen, als dass er mich noch immer genau beobachtete, aufpasste, um nichts zu sagen, was interessant sein könnte, damit er mich nicht durch etwas in Verlegenheit brächte, worauf ich hätte achtgeben müssen, und noch bevor Thea fertig gedeckt hatte, ließ er mich einfach stehen; da stand ich, halb an den Sessel gelehnt, ein wenig wippend, und er ging, sich entschuldigend, rasch in sein Zimmer zurück.

Schön, wie sich die Herbstbilder übereinanderlegen.

Nie habe ich einsamere Erfahrungen gemacht.

Erfahrungen, die zwar auch mit meiner Vergangenheit zusammenhingen, doch die Vergangenheit war nur ein entfernter Hinweis, ein Hinweis auf meine eigenen unbedeutenden Leiden, und ebenso ohne Erdkontakt, schwebend wie jeder gelebte Augenblick, den ich Gegenwart nannte, nichts als die Erinnerung an den Duft und das Aroma einer Welt, der ich nicht mehr angehörte, ich könnte sie auch meine verlassene Heimat nennen, die ich umsonst, wahrhaft umsonst verlassen hatte, weil mich auch hier niemand und nichts band, weil ich auch hier fremd war, und das einzige menschliche Wesen, das ich liebe, Melchior, umsonst hier war, auch er konnte mich nicht daran gewöhnen, hier zu sein, ich war verloren, ich existierte nicht, alle meine Knochen und Knorpel waren zu Gallert geworden, und doch, obwohl ich das Gefühl hatte, von allem losgerissen zu sein und nirgendwo hinzugehören, blieb mir die Empfindung meiner selbst, vielleicht wie die einer Kröte; wie der schleimige Leib einer Schnecke an die Erde geschmiegt, beobachtete ich reglos meine Nichtigkeit, nichts geschah mit mir, auch wenn in diesem Nichts schon meine Zukunft enthalten war und der aufeinanderfolgenden Herbste wegen auch schon etwas von meiner Vergangenheit.

Und das hätte ich in jenem Herbst, im Hinterzimmer der Wohnung in der Steffelbauerstraße, mit den zwei Ahornbäumen vor meinem Fenster, noch raschelnd und grün, und den Spatzen, die über dem Fensterrahmen in der Höhle des fehlenden Ziegels nisteten, nicht nur fühlen, sondern auch erkennen müssen, aber ich gab nicht auf und hoffte, dass ich einen besonderen, einen ganz außergewöhnlichen, einen nur mich angehenden Zusammenhang entdecken würde, dass sich eine Situation, irgendetwas, eine Stimmung, vielleicht sogar eine Tragödie, ergeben würde, durch die ich in diesem konturlosen Nichts zu einer Deutung meiner selbst käme, dass sich etwas finden würde, das zu retten sei, etwas, das einen Sinn ergäbe und das auch mich erretten, aus dieser animalischen Existenz befreien könnte, aber nicht in meiner mich tödlich langweilenden Vergangenheit, weil unwillkommene Erinnerungen einen üblen Geschmack hinterlassen, und auch nicht in der Zukunft, denn ich hatte Angst und hatte es mir längst abgewöhnt, auch nur den nächsten Augenblick zu planen, nein, jetzt wartete ich auf eine Offenbarung, eine Erlösung, und ich muss gestehen, ich wusste damals noch nicht, dass es schon genügt, das Nichts zu kennen, das aber gründlich.

Thea hatte mich mit ihrem Wagen dorthin gebracht, in diese Wohnung – Frau Kühnert war ihre Freundin, und dort war ich viel allein.

Man könnte sogar sagen, dass ich immer allein war; so hatte ich die Einsamkeit einer fremden Wohnung noch nie erlebt, die glänzend polierten Möbel, die Sonne, die durch die Ritzen der zugezogenen Vorhänge hereinschien, den hellen Streifen auf dem Teppich, den Glanz des Fußbodens, sein Knarren, und die Wärme des Ofens, diese Wärme, die auf den Abend wartete, darauf, dass die Bewohner heimkehrten und den Fernsehapparat einschalteten.

Das Haus war ruhig und nur wenig vornehmer als die schmutzigen Häuser am Prenzlauer Berg, «graue Vögel, alte Berliner Hinterhöfe», wie Melchior sie in einem seiner Gedichte beschrieb, aber auch hier gab es die gedrechselten, taubengrau gestrichenen Holzgeländer wie an den übrigen Schauplätzen meines Berliner Lebens, wie in der Chausseestraße und am Wörther Platz, auch hier die mit dunklem Linoleum bedeckte Holztreppe, den Desinfektionsgeruch des Bohnerwachses, die bunten bleiverglasten Fenster auf den Absätzen des Treppenhauses, nur die Hälfte davon mit den wuchernden stilisierten Blumen der Jahrhundertwende im Original erhalten, die andere Hälfte war Ersatz, trübes Pressglas, sodass immer dieses ärmliche Halbdunkel herrschte, wie schon im Haus in der Stargarder Straße, wo ich am längsten gewohnt hatte, und dort hatte ich auch Zeit genug gehabt, mich daran zu gewöhnen, dass ein Treppenhaus nun mal nicht anders ist; trotzdem war es mir immer noch nicht so vertraut, wie es ein beliebiges Budapester Haus gewesen wäre, es fehlte ihm an Vergangenheit, auch wenn sich diese Vergangenheit auf verschiedenste Weise zeigte, ich bemühte mich, die Zeichen zu verstehen, und obwohl ich wusste, dass Melchior mir durch dieses Spiel nicht vertrauter wurde, stellte ich mir, wenn ich nachmittags nach Hause kam, an meiner statt im Treppenhaus einen jungen Mann vor, der eines schönen, längst vergangenen Tages nach Berlin gekommen war, und dieser Mann war Melchiors Großvater, er wurde der Held meiner von Tag zu Tag komplexer wuchernden Geschichte; er war es, der diese im gedämpften Licht der Hinterhöfe aufleuchtenden Glasblumen noch unversehrt neu hätte sehen können, wenn er dieses Haus samt seiner Geometrie gekannt und dessen Vergangenheit als Gegenwart erlebt hätte.

Unten, in der dunklen Toreinfahrt, musste man sogar tagsüber auf jenen rot leuchtenden Knopf drücken, der die schwache Hausflurbeleuchtung gerade so lange einschaltete, bis der erste Treppenabsatz erreicht war, dann musste man erneut drücken, manchmal ging ich aber im Dunkeln hinauf, denn das Licht des auch am Tage leuchtenden Knöpfchens er schien mir nachts wie das Feuer eines Leuchtturms in der Weite des offenen Meeres, und diesen Anblick liebte ich so sehr, dass ich den Knopf nicht drückte, das Treppenhaus also im Dunkeln blieb, und obwohl ich die Anzahl der Stufen nicht wusste, meldeten sie sich doch zuverlässig mit ihrem Knarren, an den Treppenabsätzen orientierte mich der rote Knopf, und so verfehlte ich die Stufen nur ganz selten.

In dem Haus am Wörther Platz, in dem Melchior wohnte, machte ich es genauso, fast jeden Abend ging ich die Treppe hinauf, von der biederen Frau Hübner im zweiten Stock durch den Türspion beobachtet, wozu sie angeblich einen hohen Stuhl benutzte, doch wenn ich im Dunkeln nach oben ging, konnte sie nicht sehen, wann ich vorbeiging, sie konnte nur hören, dass jemand kam, und öffnete die Tür entweder zu spät oder zu früh.

Im Haus in der Steffelbauerstraße war die Treppenbeleuchtung schlecht, sie funktionierte nur, solange jemand auf den Knopf drückte, und wenn ich mich abends anschickte fortzugehen und Frau Kühnert gerade in der Küche war, kam sie jedes Mal heraus, sosehr ich mich auch bemühte, mein Zimmer unbemerkt zu verlassen, damit ich nicht im Dunkeln tappte, denn es störte mich doch einigermaßen, dass sie Thea, die alles über Melchior wissen wollte, über jeden Schritt, den ich tat, getreulich unterrichtete – nach einiger Zeit hatte ich sogar die Zwangsvorstellung, dass auch Frau Hübner für sie arbeitete –, und dennoch gelang es mir fast nie, mich vorsichtig genug zu bewegen, «mein Herr, ich bin doch da, ich mache Ihnen gern Licht», und schon kam sie aus der Küche gelaufen und drückte auf den Knopf, bis ich im Erdgeschoss angekommen war, «danke» hinaufrief und dabei denken musste, dass dort im zweiten Stock Frau Hübner mich bereits erwartete und ich auch sie in dem Licht, das aus ihrer Wohnung herausfiel, höflich zu grüßen hätte; doch wenn ich einmal nachts nach Hause kam und von der Straße kein Licht hereinsickerte, musste ich jede Stufe einzeln ertasten oder beim verlöschenden Licht eines Streichholzes aufpassen, wohin ich trat, denn dann war sogar der rotglühende Punkt erloschen, sodass ich mich nicht mehr orientieren konnte und fürchten musste, mit etwas Lebendigem zusammenzustoßen.

Melchior kannte dieses Haus nicht.

Auch das Haus in der Stargarder Straße hatte er nie betreten, denn wir versteckten uns, besser gesagt, wir vermieden jedes Aufsehen, worin ich übrigens eine ausgezeichnete Übung hatte, es fiel mir nicht schwer, aber auch das wies in unangenehmer Weise auf meine Vergangenheit hin; nur einmal, an einem Sonntagnachmittag, als die Stargarder Straße vollkommen leer war, hinter den Gardinen aber jemand versteckt sein konnte, an einem dunkelgrauen Novembertag, an dem alle Welt zu Hause saß und vor dem Fernsehapparat Kaffee trank, hatten wir das Gefühl, uns nicht trennen zu können, und eigentlich hätten wir uns gar nicht trennen müssen, wir hätten beieinanderbleiben können, nur dass wir schon drei Tage zusammen waren und der Dunstkreis um uns, der alles andere ausschloss, immer dichter wurde; wir mussten einmal ausbrechen, mussten uns trennen, um wenigstens einen einzigen Abend allein zu sein, auch hätte ich gerne gebadet, denn in Melchiors Wohnung gab es kein Badezimmer, man musste sich in einer Waschschüssel oder einfach unter dem Wasserhahn in der Küche waschen, ich fühlte mich schmutzig, wollte wenigstens den Nachmittag und Abend allein sein, einmal Atem holen und dann vielleicht noch vor Mitternacht auf die Straße hinuntergehen und ihn anrufen, an die kalte Scheibe gelehnt, seine Stimme hören, um dann vielleicht doch noch zu ihm zurückzukehren; anfangs wollte er mich nur bis ans Ende der Dimitroffstraße begleiten, um unter der Hochbahn, wo auch um diese Zeit der Kiosk noch offen war, Zigaretten zu kaufen, aber wir konnten uns immer noch nicht trennen, obwohl wir uns an jeder Ecke verabschieden wollten; mal sagte er, dass er mich noch bis zur nächsten Ecke begleiten würde, mal bat ich ihn darum; an den Händen wollten wir uns nicht halten, das wäre lächerlich gewesen, feige und linkisch, aber irgendetwas mussten wir tun, wir sahen uns nicht an, bis er mir auf einmal doch die Hand entgegenstreckte, und weil wir irgendetwas voneinander fühlen wollten, fassten wir uns an den Händen, niemand kam, aber es war nicht gut so, ich wollte ihn küssen, dort vor dem Haus, am hellen Nachmittag.

Auch das Haus in der Chausseestraße kannte er nur von außen.

Es war an einem Sonntagabend.

Von der Straßenbahn aus zeigte ich ihm das Fenster, wir waren auf dem Weg ins Theater, und auf der menschenleeren Plattform erzählte er mit leiser Stimme vom Berliner Aufstand und ich vom Aufstand in Budapest, seine Sätze wechselten mit meinen ab, er blickte zwar hin, aber seinem Gesicht war nicht anzumerken, ob er es überhaupt wahrnahm, er sprach einfach weiter, während es mir damals sehr wichtig erschien, dass er wenigstens das Haus kannte, wenn schon nicht das Zimmer, mein erstes Zimmer in Berlin, das, ohne dass er es wissen konnte, auch in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatte, doch obwohl Melchior meine Vergangenheit nicht gleichgültig war, verschloss er sich gegen sie, etwas anderes konnte er nicht tun.

Ich wohnte schon den zweiten Monat in der Steffelbauerstraße, ich hatte mich an die Wohnung gewöhnt und liebte sie sogar in gewisser Weise, als eines Morgens Frau Kühnert, während sie das Feuer anzündete, sagte, dass die Elektriker im Laufe des Vormittags kommen würden, um die Beleuchtung im Treppenhaus zu reparieren, sie würden sicher nach ihr fragen, aber sie könne nicht zu Hause bleiben, ich sei doch zu Hause, ob ich wohl zu Hause sein würde? «Ja», antwortete ich aus dem Bett, während Frau Kühnert vor dem Ofen kniete und wie immer, wenn sie eine Hausarbeit verrichtete, vor sich hin summte; ich war ja meistens zu Hause, ausgenommen an den Abenden; da sie die Vertrauensperson des Hauses sei, sagte Frau Kühnert, würde man nach ihr fragen, und dann sollte ich sagen, dass sie nicht zu Hause bleiben konnte, «wie die sich das vorstellen, das wär ja noch schöner», aber ich sollte ihnen erklären, worum es ginge, wo der Fehler lag, und sollte sie nicht fortlassen, «die Schufte», ehe sie alles repariert hätten.

Ich war den ganzen Vormittag zu Hause und wartete auf Melchiors Anruf, denn wir hatten damals nur noch wenige Tage vor uns, aber er rief nicht an, und die Monteure kamen auch nicht.

Wenn er angerufen hätte – draußen ein wolkenloser Himmel, die Sonne schien und ringsum tiefe Stille; morgens wurde nur das Wohnzimmer, das in der Mitte der Wohnung lag, geheizt, die Nächte waren kalt, weil es manchmal schon fror, ja, und auch mein Zimmer wurde geheizt; vom Flur aus kam man ins Esszimmer, und von dort betrat man das Wohnzimmer, mein Zimmer befand sich im entgegengesetzten Flügel der Wohnung, an einem langen dunklen Korridor, der die Küche und das Vorzimmer miteinander verband, und von hier aus gelangte man auch zu den beiden Schlafzimmern; ich hatte also die Türen, ausgenommen die des Wohnzimmers und meines eigenen, unnötigerweise offen stehen lassen, damit ich das Telefon sofort läuten hörte und hinlaufen könnte, falls Melchior anrufen würde, das Wetter wäre für einen Ausflug oder einen größeren Spaziergang günstig gewesen, und hätte ich im Kühnert’schen Wohnzimmer einfach telefonieren können, hätte ich ihm vorgeschlagen, zum Müggelsee hinauszufahren, «das Wetter ist so herrlich», hätte ich, aus dem warmen Zimmer in den kalten Sonnenschein blickend, gesagt, aber ich hätte ihm auch gesagt, dass ich nicht mit ihm zu seiner Mutter fahren wollte, weil er mich ja nur mitnehmen würde, um sich den Abschied zu erleichtern, denn er musste sich von seiner Mutter verabschieden, er würde sie vielleicht zum letzten Mal sehen, ohne dass sie das Geringste davon merken sollte, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er das Bett aus seiner Kinderzeit in dem ungeheizten Schlafzimmer nie mehr mit mir teilen würde, es schien mir damals undenkbar, dass das ein für allemal zu Ende sein sollte.

«Hast du wirklich darin geschlafen? Und genau so hat das Bett gestanden? Und der Fleck da, der war auch schon an der Decke? Da oben, der Fleck?»

Er lachte über meine Fragen, als könne er sich gar nicht vorstellen, dass sich hier jemals etwas ändern würde und dass solche Unveränderbarkeit jemanden überhaupt in Staunen versetzte, nein, die Dinge seien nicht so unbeständig, und seine Mutter, die man zur Erinnerung an die im Kindbett verstorbene Großmutter ebenfalls Helene getauft hatte, sorgte dafür, dass sich hier nichts veränderte und sie ihrem Sohn die Sicherheit eines letzten Zufluchtsorts erhielt; aber auch unabhängig davon hatte Melchior guten Grund zu seiner Überzeugung, denn es war ihm, wie er nicht ohne eine gewisse Eitelkeit erzählte, bevor er mich kannte, fast gleichgültig, mit wem er sich einließ, er hatte kein Bedürfnis nach Sicherheit, war nicht wählerisch, im Gegenteil, er könne sogar behaupten, dass ihm zuweilen die allergewöhnlichsten Beziehungen die größten Freuden bereitet hätten, doch um irgendeiner Sache in seinem abwechslungsreichen Leben echte Beständigkeit zu geben, verfeinerte er seinen Stil zu höchster Ästhetik, zwang sich in seinen fast abweisend hermetischen Gedichten zu asketischer Strenge, zu Anspruchslosigkeit und Härte; aber hierher konnte er, was auch geschehen mochte, an jedem Wochenende zurückkehren, im Koffer schleppte er seine schmutzige Wäsche mit, weil hier tatsächlich alles beim Alten geblieben war, außerdem bestand seine Mutter darauf, für ihn zu waschen; «nur der Fleck, dieser Fleck ist erst später dorthin gekommen», er lachte, aber sein Lachen hatte niemals viel zu bedeuten, er lachte ohne besonderen Grund, leichthin, und nichts konnte das Lächeln in seinen Augen zum Erlöschen bringen, außer wenn er glaubte, dass niemand ihn sah. Und auch das konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich eines Sonntagmorgens nicht mehr vom Glockenläuten, das durch die kleinen Fenster in sein Elternhaus drang, aufgeweckt würde, dass ich, allein geblieben, nicht mehr spüren sollte, wie sich der Geruch seiner Haut mit dem starken Duft der Äpfel im kalten Zimmer und dem süßen Aroma des zum Sonntagskaffee gebackenen Kuchens vermischte; die Äpfel auf dem Schrank in Reih und Glied, der Kuchen mit dem Zuckerguss auf der Marmorplatte der Kommode, alles wartete auf den Nachmittag, während das Fenster immer offen stand, aber seine Miene verdüsterte sich, er blickte auf meinen Mund und meine Stirn, als ich ihm unbedacht gestand, wie sehr ich seinen Schweißgeruch liebte, meine Nase, meine Handflächen und meine Zunge liebten diesen Geruch, und als hätte ich ihm damit einen Schmerz zugefügt, drückte er mich an sich und stieß seltsame Laute aus, «ich schmecke, rieche und fühle dich», sagte er, ich hielt es für Lachen, aber es war ein kurzes, trockenes Schluchzen, aus dem wimmernd ein ersticktes Entsetzen brach, dort, auf dem quietschenden Bett, in der Wohnung am Wörther Platz.

Dann stellte ich mir den von farbigen Herbstblättern bedeckten Weg um den Müggelsee vor, die regungslose Ruhe des Sees, das Geräusch unserer Schritte auf dem vom Morgennebel feuchten Laub, und allein deshalb hätte ich ihn gebeten, mit mir dorthin zu gehen, weil er da draußen sich mir oder ich mich ihm vielleicht endgültig hätte zuneigen können, wissend zugleich, dass das unmöglich war, o wunderbarer Herbst! oder wir könnten in den Tierpark gehen, wenn ihm der Spaziergang am Ufer des Müggelsees zu weit und zu umständlich gewesen wäre, denn wenn man den Bildern, die ich während meiner S-Bahn-Fahrten zerstreut betrachtete, wenn man diesen Bildern glauben konnte, war auch der Tierpark ein Wald mit versteckten, schattigen Wegen, außerdem waren wir noch nie dorthin gegangen, obwohl wir es uns schon oft vorgenommen hatten, aber ich stellte mir auch vor, dass ich in der Kühnert’schen Küche ein Messer an mich nehmen und ihn auf dem Spaziergang umbringen würde.

In der letzten Berliner Wohnung stand ich spät auf, genauer gesagt, ich wachte zweimal oder dreimal auf, bis es mir endlich gelang aufzustehen, manchmal erst gegen Mittag. Das erste Mal schreckte ich frühmorgens auf, wenn Doktor Kühnert den Korridor von seinem Schlafzimmer zum Bad entlangknarrte, an meiner Tür vorbei, dann zog ich mein Kissen über den Kopf, um nicht zu hören, was nun folgte; er ging ins Badezimmer und urinierte zuerst, den kurzen, scharfen Aufprall, der einem langgezogenen, plötzlich abreißenden, allmählich schwächer werdenden Strudeln voraufging, konnte ich genau hören, die Wand war dünn, und ich wusste, dass er in den Hals des Beckens zielte, dorthin, wo nach dem Spülen noch ein Rest Wasser zurückbleibt, als Kind hatte ich das auch probiert, und in gewisser Weise bewunderte ich, dass jemand noch mit fünfzig und als Universitätsprofessor daran Vergnügen fand; war aber zuerst nur ein leises Klopfen zu hören, und der Urin prallte dumpf spritzend auf dem Porzellan auf, dann wusste ich, dass er entleeren würde.

Die Winde allein waren noch kein Beweis dafür; wenn sie ihm nämlich im Stehen entfuhren, während des Urinierens, hörte es sich ganz anders an, als wenn er saß und das Rauschen in der Muschel sich allmählich verstärkte, die Geräusche waren nicht zu verwechseln, und das Kissen nützte nichts, weil das Stöhnen, der leise Seufzer der Erleichterung, das Knistern und Reiben des Papiers durch die Wand zu hören waren; das Kissen konnte gar nicht helfen, weil ich horchte, als genösse ich es, ja als wollte ich mir selbstquälerisch beweisen, dass ich meine Ohren gar nicht verschließen konnte, so wie man die Augen zumacht oder den Mund schließt; aber damit war die Sache keineswegs beendet, das Rauschen des Wassers hatte nur für Augenblicke aufgehört, und wenn ich nicht gewusst hätte, was nun folgte, dann hätte die Zeit vielleicht genügt, um wieder einzuschlafen, mit einem leichten Umdrehen, denn bei diesem nächtlichen und morgendlichen Aufschrecken war der Übergang zwischen Traum und Wachsein kaum kontrollierbar, manchmal wichen die verblassenden Gestalten des Traums sogar vordem Licht der angeknipsten Lampe nicht zurück, sie hatten Gesichter, hatten Hände, die sich gerade so weit entfernten, dass man sie nicht erreichen konnte, sie hüpften auf das Bücherbord zwischen die Bücher, und umgekehrt konnte es manchmal geschehen, dass die Umrisse des Zimmers deutlich in den Traum hinüberglitten, ich sah das Fenster noch, aber schon war es ein Traumfenster, der Baum, das Loch in der Backsteinmauer, in dem die Spatzen wohnten, wurden zu Traumbildern, ich schreckte auf, weil Kühnert jetzt vor den Spiegel trat, sich über das Becken beugte, gerade über meinem Kopf, sich in die Hand schnäuzte, das Wasser rauschte, er fing an zu krächzen und zu prusten und spuckte den heraufgequälten Rotz ins Waschbecken, direkt auf meinen Kopf.

Um sieben dann wachte ich vom Klopfen auf, «ja bitte», sagte ich laut, mit einer zu dieser Tageszeit immer fremden Stimme, ein Zeichen dafür, dass ich zuerst ungarisch sagen wollte, was ich im nächsten Augenblick deutsch sagen musste, und Frau Kühnert kam summend herein, um den Ofen anzuheizen.

An den Abenden ging ich über einen Teppich glitschiger Platanenblätter ins Theater, die Sohlen meiner Lackschuhe waren leicht durchnässt.

Damals war Melchior schon verschwunden.

Er hatte mir Berlin hinterlassen, nass und grau.

Nach der Vorstellung ging ich in die Wohnung am Wörther Platz hinauf, es war kalt, und im Lampenlicht schien der Purpur des Vorhangs verblichen, trotzdem zündete ich die Kerzen nicht an. Draußen regnete es.

Jeden Augenblick konnte die Polizei eintreffen, um die Tür aufzubrechen.

In der Küche summte der Eisschrank.

Tags darauf reiste auch ich ab.

In Heiligendamm schien die Sonne, doch was dort mit mir geschehen ist, kann ich mir nicht erklären.

Wenn ich mit Worten nachlässig umginge, würde ich sagen, dass ich mich dort glücklich fühlte, und bei diesem Glücksgefühl spielte gewiss das Meer eine Rolle, die Reise und alles, was ihr unmittelbar voraufgegangen war, aber auch der hübsche kleine Ort, den man die «weiße Stadt am Meer» nennt, eine leichte Übertreibung, weil zu beiden Seiten des ansehnlichen Kurhauses im Halbkreis nur ein Dutzend gleicher einstöckiger Villen stehen, mit der Stirnseite zum Meer, aber in der Tat ist alles weiß, die Fensterläden, die jetzt geschlossen sind, die Bänke auf dem glatten grünen Rasen, die Säulenhalle, die in einer Ecke aufgestapelten Stühle des Sommerorchesters, gleich weißen Bollwerken zwischen giftig grünen, zu geometrischen Formen gestutzten Buchsbaumhecken und hoch aufgeschossenen Schwarztannen, die Hauptrolle aber fiel dem trügerisch schönen Wetter und der Stille zu.

Trügerisch sage ich, weil der Wind heulend pfiff und an der Uferbefestigung sich mächtige Wellen brachen, Wellen, hart wie Stahl, die zu weißem Schaum zerbarsten; Stille sage ich, weil die horchenden Sinne in den Pausen zwischen zwei Donnerschlägen in die Wellenschluchten abstürzten, in eine spannungsvolle Erwartung, und es einer Erlösung gleichkam, das Getöse einer in Schwere verwandelten Kraft zu vernehmen; aber am Abend, als ich zu einem Spaziergang aufbrach, hatte sich alles beruhigt, der, Mond, ein Vollmond, schien, tief unten über dem offenen Meer.

Auf dem Deich ging ich in Richtung Nienhagen, der Nachbargemeinde, auf der einen Seite das tosende Wasser, lauter glitzernde Splitter, auf der anderen das stumme Moor und ich als einziges Lebewesen zwischen den Elementen; weil mir schon am Nachmittag die Zigaretten ausgegangen waren und weil Nienhagen, von einem sogenannten «Gespensterwald» vor den Westwinden geschützt, der Landkarte nach nicht sehr weit sein konnte – ich hatte die Entfernung mit einem entzweigebrochenen Streichholz maßstabgerecht gemessen, es erschien gut erreichbar; manchmal glaubte mein vom Wind geblendetes Auge das Aufblinken des Leuchtturms wahrzunehmen –, hatte ich beschlossen, meine Zigaretten dort zu kaufen und vor der Rückkehr noch einen schönen heißen Tee zu trinken; ich stellte mir Fischer um einen friedlichen Wirtshaustisch bei Kerzenlicht vor und sah mich, den Fremden, eintreten, sah die Gesichter, die sich nach mir umdrehten, und mein eigenes Gesicht.

Hell und durchsichtig sah ich mich vor mir hergehen, beschwingt, aber schwerfällig schleppte ich mich hinterher. Als könnte mein Körper die Qual der Trennung nicht länger ertragen.

Der Wind blies unter meinen weiten Mantel, packte mich, stieß mich nach vorn, und obwohl ich vor dem Aufbruch alle warmen Sachen übergezogen hatte, fror mich, auch wenn die barmherzige Sinnestäuschung jetzt nicht perfekt funktionierte; nicht, dass ich die Kälte wirklich gefühlt hätte, aber ich hatte Angst davor, weil ich wusste, dass ich eigentlich frieren müsste, zu einem anderen Zeitpunkt wäre ich wahrscheinlich umgekehrt, die Angst hätte gesiegt, und ich hätte meine Umkehr mühelos damit begründen können, dass es zu kalt war, dass ich mich vor einer Erkältung, einem zu hohen Preis für das sinnlose nächtliche Umherstreifen, fürchtete, aber diesmal ließ ich mich nicht von mir selbst täuschen: als habe sich jenes Bild verschoben, das man sich so mühsam, mit solch ungeheurer Selbstdisziplin von sich selber macht, um von der Umwelt als irgendwer angenommen zu werden, und das man dann – ein Zerrbild – für das eigene, wahre hält, denn ich war es wirklich, alle meine vertrauten Sinneswahrnehmungen funktionierten, trotzdem gab es so etwas wie eine Ungenauigkeit, einen Spalt, ja mehrere, es gab Verschiebungen, Risse, durch die man wie auf ein fremdes Wesen, auf einen anderen blicken konnte.

Auf einen, der vor langer Zeit, doch zugleich an diesem Tage in Heiligendamm angekommen und abends nach Nienhagen aufgebrochen war.

Als wäre das, was an diesem Tag geschah, bereits vor fünfzig, siebzig oder hundert Jahren geschehen, selbst wenn überhaupt nichts geschah.

Es war aufregend, neu, unerhört beglückend, diese Spaltung zu beobachten, trotzdem erlebte ich den Vorgang mit der Ruhe eines erfahrenen Menschen, als wäre ich fünfzig, siebzig oder hundert Jahre älter, als ich bin, ein freundlicher alter Herr, der sich an seine Jugend erinnert; aber daran war nichts Verwunderliches oder gar Mystisches, und ich hatte auch jetzt nicht den Mut, die Schlaftabletten, die ich in einer kleinen runden Dose bei mir trug, zu schlucken, obwohl ich mir für meinen Tod poetischere Umstände nicht hätte vorstellen können; um doch irgendetwas zu tun, musste ich mich in einem Akt der Phantasie von mir selber trennen, auf diese Weise wollte ich mich von meinen verworrenen Gefühlen befreien, denn das, was ich als die Zukunft dieser meiner abgetrennten Existenz empfand, war nichts anderes als meine Vergangenheit und meine Gegenwart, all das, was schon eingetreten war oder noch eintreten würde.

Das Außergewöhnliche der Situation lag lediglich darin, dass ich mich weder mit dem einen noch mit dem anderen identisch fühlte, ein aufregender Zustand, als würde ich mich einem Schauspieler gleich in einer romantischen Kulisse bewegen, als wäre meine Vergangenheit ebenso die Darstellung meiner selbst gewesen, wie es meine Zukunft sein würde, mit allen meinen Qualen, als ließe sich all das spielerisch in die Zukunft oder in die Vergangenheit projizieren, als wäre gar nichts geschehen, und wenn doch, dann vor langer Zeit, alles war austauschbar, die Verwirrungen der auseinanderstrebenden Lebensbahnen waren nur in meiner Phantasie vorhanden und einer von der Last des Alltags bestimmten Haltung zuzuschreiben, die man das Ich nennen könnte, das ich zwar als mein Ich vorzeigte, das ich aber nicht war. Ich bin frei, dachte ich damals.

Aber meine Phantasie wählt nur zufällig und ungeschickt einige Möglichkeiten aus meiner grenzenlosen Freiheit aus, um mir daraus ein Gesicht zu formen, das von den anderen Menschen geliebt werden kann und von dem ich schließlich glaube, dass ich es auch wirklich bin, dachte ich damals.

Heute denke ich nicht mehr so, aber damals überfiel mich diese Erkenntnis mit solcher Macht und Intensität, ich sah jenes Wesen, das von den unterschiedlichen Möglichkeiten der Verwirklichung unberührt und frei geblieben war, in solcher Klarheit, es ging mit mir und ich mit ihm, es zitterte, und ich fürchtete mich an seiner statt, dass ich stehen bleiben musste, aber noch nicht genug, ich musste niederknien, für den Augenblick danken, obwohl meine Knie sich gar nicht in Demut beugen wollten, auch wenn ich die Augen gesenkt hielt, lieber wäre ich gleichgültig geblieben, lieber sogar ein Stein, nein, auch das wäre nicht genug gewesen, ein zerrissener Fetzen im Wind.

Der Mond stand tief, gelb, als wäre er auf Armeslänge greifbar, doch an der Grenzlinie des Horizonts spiegelte er sich in fahlem Licht, das dort die sprunghaft wechselnden Konturen der Wellen nicht nachzeichnete, das Wasser schien dort draußen glatt, auch das eine Täuschung der Perspektive, dachte ich, wie auf der anderen Seite des Damms, im Moor, wo das Licht keinen Gegenstand hatte, keine Fläche, keinen Wellenkamm, um sich darin zu spiegeln, es verlor sich, erlosch, und weil das angestrengte Auge nichts Genaues erkennen konnte, war dort weder Dunkelheit noch Schwärze, sondern das bloße Nichts.

Am Nachmittag war ich in Heiligendamm angekommen, kurz vor Sonnenuntergang, und hatte mich nach Einbruch der Dunkelheit, als der Mond schon am Himmel stand, auf den Weg gemacht.

Ich konnte nicht wissen, was dort in Wirklichkeit war, wo die Karte einen Sumpf, der Reiseführer aber ein Moor verzeichnete, es lag zu tief. Es war totenstill.

Als hielte auch der Wind inne, als wiche er vor dem Damm zurück, als habe er ganz aufgehört zu wehen.

Ob die Tiefe mit Schilf und Ried bedeckt war oder ob sie, normales Gelände vortäuschend, sich mit Gras tarnte?

Es hatte eine Zeit gegeben, da ich mich mit Gespenstern herumgeschlagen hatte, jetzt erschien mir diese Leere viel erschreckender.

Damals, vor Jahren, und darüber werde ich später, so gerne ich es vermeiden möchte, ausführlicher sprechen müssen – wenn damals ein Schatten, eine Bewegung oder ein Geräusch unerwartet Gestalt annahm, mich hinterrücks beim Namen rief, zu mir sprach oder mich anschwieg, war das die Gestalt meiner Ängste, jetzt aber lagerte sie düster über dem Moor, bewegungslos, gab keinen Laut von sich, warf keinen Schatten.

Sie beobachtete bloß.