Ostwind – Ein Freund für Feuersturm

Rosa Schwarz
OSTWIND
Ein Freund für Feuersturm
 
Unter Mitarbeit von
Lea Schmidbauer

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OSTWIND-Ebooks erscheinen im Vertrieb der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

 

© und TM 2022 Alias Entertainment GmbH

© Ostwind Filme SamFilm GmbH

Basierend auf Figuren und Fabel von
Lea Schmidbauer und Kristina Magdalena Henn

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat & Projektmanagement:
Simone Hennig und Julia Hanauer

Satz: fuxbux, Berlin

Covergestaltung: Tatendrang

Illustrationen: Comicon S. L.-Barcelona, José Aguilar

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28932-4
V001

1. KAPITEL

Mika spürte, wie die Strahlen der Sonne sie warm durchdrangen. Sie lag lang ausgestreckt auf Ostwinds Rücken und blinzelte schläfrig in den Himmel. »Von unten wärmst du mich und von oben die Sonne«, murmelte sie. Ostwind schnaubte zufrieden. Der Herbst hatte ihnen überraschend noch ein paar warme Tage geschenkt, und Mika nutzte das gute Wetter für ausgedehnte Ausritte – oder eben eine Nachmittags-Siesta auf der Weide.

Da hob Ostwind mit einem Ruck den Kopf und schaute gespannt in Richtung Gut Kaltenbach.

»Was ist los?«, fragte Mika.

Der Hengst reagierte nicht und spitzte weiterhin konzentriert die Ohren.

»Na gut.« Mika rappelte sich auf. »Wir können ja mal nachschauen. Ich habe sowieso ein bisschen Hunger.« Sie klopfte Ostwind den Hals. »Komm!« Auf dieses Zeichen schien Ostwind nur gewartet zu haben. Er trabte los, fiel in einen leichten Galopp, zog das Tempo an und setzte mit einem eleganten Sprung über das Weidegatter.

Als Mika und Ostwind zwei Minuten später durch den Torbogen von Gut Kaltenbach trabten, traute Mika ihren Augen nicht: Der Hof war blitzblank gefegt. Die Mistkarre glänzte wie neu, und irgendjemand hatte sogar die welken Blüten aus den Pflanzenkübeln rechts und links der Haustür entfernt. Mikas Oma, Maria Kaltenbach, stand erwartungsvoll auf der breiten Treppe zum Gutshaus, und Sam, der Stallbursche, ging nervös auf und ab.

»Schön, dass du auch schon kommst«, schimpfte er, als er Mika sah. »Du bist total zu spät!«

»Zu spät für was?«, fragte Mika und ließ sich von Ostwinds Rücken gleiten.

Maria Kaltenbach hob eine Augenbraue und sah ihre Enkeltochter streng an. »Du weißt genau, dass heute unser neues Einstellpferd kommt.«

»Aber noch ist es nicht da«, stellte Mika fest. »Und das heißt: Ich bin nicht zu spät. Außerdem: Seit wann machen wir so ein Theater um ein neues Pferd?«

»Feuersturm ist nicht irgendein Pferd«, fuhr Sam sie an. »Er ist eines der berühmtesten Rennpferde Deutschlands! Er ist große internationale Rennen gelaufen!«

»Aber jetzt setzt er keinen Huf mehr auf die Bahn«, entgegnete Mika. »Wir haben es also mit einem ganz normalen Patienten zu tun.«

Das meinte Mika ernst. Jedes Pferd, das nach Kaltenbach kam, hatte ein Problem. Darum brachten ihre Besitzer sie her – damit sie therapiert wurden, damit Mika mit ihnen arbeitete. Und für sie war jedes Pferd gleich wichtig. Jedes Pferde-Schicksal war berührend, ganz egal ob es sich dabei um ein altes, zerzaustes Shetty handelte oder eben ein mega-wertvolles Rennpferd.

»Nun«, sagte ihre Oma. »Ein paar Kunden mehr von dieser Sorte würden uns schon guttun.«

In dem Moment dröhnten von der Straße Motorengeräusche herüber. Mika grinste Sam an. »Scheint, als sei ich sogar auf die Minute pünktlich.«

Sam antwortete nicht. Er zog die Ärmel seines Pullovers herunter, stellte sich gerade hin und schaute konzentriert zum Tor, durch das jetzt ein riesiger Transporter rollte. Mit einem lauten Zischen hielt der Wagen vor dem Stall. Die Beifahrertür öffnete sich, und ein drahtiger, braun gebrannter Mann sprang heraus. Maria Kaltenbach stützte sich auf ihren Stock und humpelte auf ihn zu. »Herzlich willkommen auf Gut Kaltenbach!«

»Danke. Matthias Reuter. Wir haben telefoniert.« Der Mann streckte Mikas Oma die Hand entgegen. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Es ist mir eine Ehre, eine der besten Springreiterinnen, die unser Land je gesehen hat, persönlich zu treffen.«

»Äh, und ich bin Sam!« Aufgeregt eilte Sam auf Herrn Reuter zu. »Ich bin der Stallchef hier und werde mich um Feuersturm kümmern. Und ich bin auch der Enkel von Herrn Kaan.«

»Wirklich?« Herr Reuter schüttelte Sam kräftig die Hand. »Wo steckt der Kerl? Wir haben uns ewig nicht gesehen.«

»Er kommt bestimmt gleich«, versicherte Maria Kaltenbach. »Wollen wir Feuersturm erst einmal aus dem Wagen befreien?« Sie drehte sich zu Mika, die sich bis dahin etwas abseits gehalten hatte. Zögernd kam Mika näher. Sie beobachtete grundsätzlich alles erst einmal mit Abstand. Denn oft verrieten das Verhalten und die Persönlichkeit eines Pferdebesitzers eine Menge über die Ursachen des Pferde-Problems. War er oder sie ein ungeduldiger Mensch? Ängstlich, fordernd? Oder gar aggressiv? Mikas erster Eindruck von Herrn Reuter war ein riesiges Selbstbewusstsein. Er wusste, was er wollte. Und es schien, als sei er gewohnt, zu bekommen, was er wollte. Er wirkte absolut sicher in allem, was er tat und entschied. Wenn jemand wie er also Hilfe suchte, dann nur, weil er wirklich nicht mehr weiterwusste.

»Hallo«, sagte Herr Reuter und sah Mika prüfend an.

»Hallo, ich bin Mika.«

»Das habe ich mir schon gedacht. Mein alter Kumpel Kaan hält große Stücke auf dich. Ich habe selten gehört, dass er so viele gute Worte für einen Menschen gefunden hat. Kompliment.«

»Danke«, antwortete Mika. »Möchten Sie Feuersturm selbst aus dem Hänger holen, oder soll ich das machen?«

»Bitte.« Herr Reuter machte eine einladende Geste.

»Dann los!« Sam preschte vor und öffnete den Riegel. Langsam surrte die Lade-Rampe herunter. Im Inneren des Hängers war es vollkommen still. Kein freudiges Wiehern, aber auch kein ängstliches Schnauben oder nervöses Tänzeln. Das war ungewöhnlich. Mika trat an die Rampe. Teilnahmslos blickte ihr Feuersturm entgegen. Sein rotbraunes Fell hatte jeden Glanz verloren. Schon das Stehen schien ihm Mühe zu bereiten.

»Erst hat er die Bahn verweigert, und dann hat er angefangen zu lahmen. Wir haben ihn gründlich untersucht, zehn verschiedene Ärzte konsultiert – keiner hat etwas gefunden.« Herr Reuter seufzte. »Theoretisch strotzt er vor Gesundheit.«

Mika schloss für einen Moment die Augen. Sie wollte Feuersturm Zeit geben. Er sollte sie in Ruhe betrachten können – ohne das Gefühl zu haben, beobachtet zu werden. Mika atmete ruhig ein und aus. Sie spürte eine tiefe Traurigkeit, die von dem Pferd ausging. Langsam öffnete sie die Augen und nickte Feuersturm zu.

»Hat es eine Veränderung in seinem Leben gegeben?«, fragte sie Herrn Reuter, ohne sich umzudrehen.

»Eigentlich nicht.«

»Hat er den Stall gewechselt?«

»Seit ich ihn habe, steht er immer in derselben Box.«

»Ein neuer Jockey oder Trainer?«

»Nein.«

Mika ging langsam auf Feuersturm zu.

Das Pferd senkte den Kopf.

»Du musst dich nicht für deine Traurigkeit schämen«, sagte Mika leise. »Das ist in Ordnung.«

Feuersturm schnaubte.

»Kommst du mit mir nach draußen?«

Feuersturm schnaubte noch einmal, und es klang wie ein Ja.

Mika fasste in das Halfter, und der Hengst folgte ihr mit vorsichtigen, unsicheren Schritten die Rampe herunter.

Dann blieb er stehen und blinzelte teilnahmslos in die Sonne.

Ganz anders Ostwind, der neben der Treppe zum Gutshaus wartete. Aufgeregt hob er den Kopf und wieherte zur Begrüßung.

»Lass Feuersturm erst einmal ankommen«, rief Mika dem schwarzen Hengst zu. Etwas unwillig schüttelte Ostwind den Kopf. Ganz offensichtlich war er neugierig und hätte den Neuen gern begrüßt.

Mika schnalzte. Unbeholfen machte Feuersturm ein paar Schritte. Er lahmte tatsächlich. Doch merkwürdigerweise konnte Mika nicht klar sagen, welches Bein es war. Oder wo genau das Problem lag.

»Mmh, sehr schräg«, murmelte sie und führte das Pferd in den Stall. Gleichgültig humpelte Feuersturm in die erste Box des Ganges. Sam hatte sie extra auf Hochglanz gebracht, und Mika musste grinsen. »Das ist dir sicher total egal, oder, Feuersturm?«

Zur Antwort drehte sich das Pferd einmal um die eigene Achse und schaute sich um. In dem Moment scharrte in der Box gegenüber das Shetlandpony mit den Hufen. Feuersturms Körper durchfuhr für eine Sekunde eine Anspannung. Erwartungsvoll hob er den Kopf, blähte die Nüstern – und fiel dann wieder zurück in seine Gleichgültigkeit.

»Da haben wir ja einiges zu tun«, sagte Mika. »Aber keine Sorge, wir schaffen das schon.«

Als sie nach draußen auf den Hof trat, waren ihre Oma und Herr Reuter ins Gespräch vertieft. Ostwind schaute etwas beleidigt. Mika machte eine beschwichtigende Geste in Richtung des Hengstes und hörte dann Herrn Reuter zu.

»Eigentlich war Feuersturm nicht zu bremsen. Wir waren kurz davor, auch international ganz vorn mitzulaufen. Und dann das.«

Maria Kaltenbach nickte. »Ja, das ist bitter.«

»Also, wenn sie ihn wieder hinkriegen, dann wird das nicht zu Ihrem Schaden sein. Das wird sich in der Branche rumsprechen.«

»Wir geben unser Bestes«, versicherte Mikas Oma.

Herr Reuter nickte. »Und wenn Feuersturm bis Jahresende fit sein sollte und wieder antreten kann, dann lege ich noch einmal eine Prämie drauf.«

Maria Kaltenbach lächelte freundlich, aber sie zeigte sich nicht beeindruckt. Dabei konnten sie so eine Extra-Prämie gut gebrauchen. Denn eigentlich hatten sie ständig finanzielle Sorgen. In den vergangenen Jahren hatte das Gut mehrfach vor dem Aus gestanden. Die Gebäude, das Land – all das instand zu halten, kostete ein Vermögen. Und erst allmählich sprach sich herum, dass auf Gut Kaltenbach erfolgreich Pferde therapiert wurden. Das Problem war nämlich, dass sie nichts Offizielles vorzuweisen hatten: Kein Zertifikat oder besonderes Zeugnis – nur eben Mikas Talent. Ihre Gabe, in die Seele eines Pferdes zu schauen, die sensiblen Tiere zu verstehen und ihnen zu helfen.

Ein berühmtes Rennpferd, das dank einer Therapie auf Gut Kaltenbach wieder siegen würde, wäre die beste Werbung, die sie bekommen konnten. Doch Maria Kaltenbach war klug genug, ihre Not vor jemanden wie Herrn Reuter zu verbergen.

»So, da sind wir!«, rief Sam jetzt vom Tor. Gemeinsam mit seinem Großvater, Herrn Kaan, marschierte er über den Hof.

»Kaan!« Reuter eilte auf den alten Mann mit dem sonnengegerbten Gesicht zu und drückte ihn kurz.

»Du bist also meinem Rat gefolgt, Matthias«, stellte Herr Kaan freundlich fest.

»Das hier ist meine letzte Hoffnung.« Herr Reuter zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, dass ich eigentlich nicht viel von diesem Kräuterzeug und Psychokram halte, aber wenn es Feuersturm hilft – dann bin ich zu allem bereit.«

Herr Kaan lächelte milde. »Kräuterzeug und Psychokram – wie du sie nennst – sind zwei verschiedene Dinge. Aber ich rate dir, unterschätze nie die Kraft einer Pflanze: Ein zarter Löwenzahn ist in der Lage, Asphalt zu durchbrechen.«

Herr Reuter winkte ab. »Davon verstehst du mehr als ich, aber ich vertraue dir. Es wäre ein Jammer, wenn Feuersturm keine Rennen mehr laufen könnte.«

»Ein Jammer wäre, wenn Feuersturm seine Traurigkeit nicht überwinden könnte«, flüsterte Mika ihrer Oma zu.

Die nickte unmerklich. »Herr Reuter scheint unter Druck zu sein. Feuersturm hat ein Vermögen gekostet, und jetzt muss er das Geld wieder einbringen. Aber ehrlich gesagt: Für uns wäre es auch eine gute Werbung.«

»Ich habe verstanden und gebe mir alle Mühe«, versprach Mika.

»Mika«, Oma sah ihr fest in die Augen. »Du bist nicht für Kaltenbach und unsere finanzielle Situation verantwortlich. Das ist meine Aufgabe. Du hilfst genug. Den Pferden und mir.«

»Herr Kaan ist ja auch noch da und unterstützt uns.«

Maria Kaltenbach lächelte. »Ja, und wenn du und Kaan das Pferd nicht wieder zum Laufen bringt – wer dann?«

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen stieg Mika nachdenklich in den Schulbus. Feuersturm hatte seit seiner Ankunft kaum gefressen. Als Mika nach dem Frühstück noch einmal nach ihm geschaut hatte, war das Heunetz fast noch genauso prall gefüllt gewesen wie am Abend zuvor. Dabei hatte Sam sogar versucht, ihn mit der Hand zu füttern. Doch selbst das hatte das Rennpferd verweigert.

Mika bahnte sich einen Weg durch den überfüllten Bus zur Rückbank. Dort erwartete sie – wie an jedem Wochentag um kurz nach sieben Uhr – ihre beste Freundin Francesca.

»Hey«, sagte Francesca und rutschte beiseite, um Mika Platz zu machen.

»Er wirkt, als hätte er keinen Lebensmut mehr«, murmelte Mika.

»Was?« Francesca starrte sie an. »Wer hat keinen Lebensmut mehr?!«

Mika schaute auf. »Ähm, Feuersturm, unser neuer Patient.«

»Dio!«, rief Francesca und schüttelte erleichtert ihre schwarze Lockenmähne. »Ich dachte schon, Ostwind oder Sam! Also, was ist passiert?«

»Bis vor Kurzem war Feuersturm ein erfolgreiches Rennpferd – aber jetzt humpelt er und will die Bahn nicht mehr betreten.«

»Tja, dann hat er vielleicht keinen Lebensmut mehr, weil er keine Rennen mehr laufen kann?«, fragte Francesca.