Otto Schulte-Kellinghaus ist im Mai 2016 gestorben.
Für Helmut,
mit Blick auf den 1. September 2020
(Bahnhof Flensburg, 17 Uhr, Gleis 1)
»Unsere aufwendigen Gewohnheiten machen uns allzu abhängig.«
– Jane Austen, Stolz und Vorurteil –
Es lag etwas in der Luft. Bevor im Sommer 2015 der Krisenmodus begann, aus dem wir seitdem nicht mehr herausgekommen sind, der uns täglich das Gefühl gibt, dass es immer noch ein bisschen schlimmer werden kann, habe ich bemerkt, dass viele Gespräche im Privaten ihre Richtung geändert haben. Plötzlich war nicht mehr so viel die Rede vom nächsten Urlaub oder einem raffinierten Rezept. Stattdessen sprach man über den labilen Zustand unserer Welt. Der Krieg in Syrien war da zwar schon ein paar Jahre alt und schien lange weit weg, aber mit einem Mal war zu spüren, dass die Zahl derer wuchs, die mal auf die Landkarte geschaut hatten, wie weit entfernt sich das wirklich von uns und unserem geschützten Leben im Wohlstandskokon abspielt. Man begann sich dafür zu interessieren, was Sunniten und Schiiten miteinander auszutragen haben und betrieb Geopolitik am Esstisch. Leute, von denen ich wusste, dass sie sich bei Gesprächen eigentlich ausklinken, sobald Politik zur Sprache kommt, horchten nun auf und begannen vor allem, sich Sorgen zu machen. Angst ist kein guter Ratgeber. Wenn viele Einzelne in ihr festhängen und um ihr eigenes Leben kreisen, dann hat eine ganze Gesellschaft ein Problem, weil sie in einen labilen Zustand gerät. Das erleben wir gerade. Angstzustände sind der Nährboden für den Rechtspopulismus. Beeindruckend war in diesem Sommer 2015 aber, wie viele Hunderttausende in Windeseile aus dieser Sorge um sich selbst eine Sorge um andere gemacht haben. Das eine lässt sich vom anderen sowieso nicht sauber trennen.
Im Rückblick scheint es mir, dass sich damals zwei Entwicklungslinien gekreuzt haben. Die eine Linie verzeichnet die wachsende Anzahl derer, die ein Unbehagen daran spüren, dass an unserem derzeitigen Lebensstil etwas grundsätzlich faul ist. An unserer Art zu wirtschaften, an unserer Art zu arbeiten, an unserem Umgang mit Zeit, Mobilität und menschlichen Beziehungen. Die Moderne ist entgleist, die Ökonomie beherrscht alle anderen Lebensbereiche. Faul ist an diesem Lebensstil schon deshalb etwas, weil er zerstörerische Wirkungen entfalten würde, wenn er Vorbild für jeden auf diesem Planeten wäre. Das Jahr 2015 war das heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen im 19. Jahrhundert. Wieder mal ein Rekord und fast schon wieder vergessen nach all den Aufregungen um die Unordnung der Welt. Während die Weltgemeinschaft zunehmend hektischer nach politischen Wegen sucht, um die Erderwärmung auf maximal zwei Grad zu begrenzen, damit die Entwicklung nicht aus dem Ruder läuft, haben wir das erste Grad bereits fast geschafft. Eigentlich weiß jeder, der Augen und Ohren hat, dass wir ein Leben auf Pump führen. Aber wie es zu beenden wäre, wie wir die Logik der ständigen Steigerung hinter uns lassen können, ist vollkommen unklar.
Mir kommt es so vor, als ob wir gerade mühsam dabei wären, das neoliberale Gift aus unseren Körpern auszuschwitzen. Wir verstehen langsam, dass wir im vergangenen Vierteljahrhundert nicht nur öffentliche Güter privatisiert haben, sondern auch unsere Vorstellungen von einem gelingenden Leben. Jeder kümmert sich um sich selbst, und das soll dann in der Summe das größtmögliche Glück für alle bescheren. Wäre es tatsächlich so, wären wir die glücklichste Gesellschaft auf Erden. Zu Risiken und Nebenwirkungen dieser Denkungsart befragen wir die noch junge Disziplin der Glücksforschung. Die setzt dann völlig überraschend ärmere Länder im Glücksranking auf vordere Plätze, und wir grübeln anschließend darüber nach, welche Rolle materieller Wohlstand – der nun wirklich nicht zu verachten ist – für ein gutes Leben hat. Glücklich das Land, das keine Glücksforscher braucht.
Das also wäre die eine Entwicklungslinie: Es gibt ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass es jenseits eines hyperindividualistischen Lebensstils noch etwas geben muss, das den Zusammenhalt der Gesellschaft sichert. Die Frage, welche Werte es sind, die wir verteidigen wollen, wird in nächster Zeit eine dominierende Rolle spielen. Das Paradox der Freiheit ist ja gerade, dass niemand gezwungen werden kann, für ihren Erhalt zu kämpfen. Das werden wir freiwillig tun müssen. Es wächst auch die Bereitschaft, sich selber für ein gelingendes Gemeinwesen einzusetzen. Viele wollen runter von der Tribüne und nicht mehr nur Zuschauer im Demokratie-Theater sein. Nur sind die Formen von Engagement noch instabil, weil die klassischen Institutionen von Politik, zuallererst die Parteien, einen rasanten Vertrauensverlust erlebt haben. Keine gute Ausgangslage für eine Gesellschaft, in der die Ängste vor sozialem Abstieg wuchern und ständig neue Erregungswellen, Hasskampagnen und üble Gerüchte den digitalen Raum vergiften. Die Zeit der Netzutopien ist vorbei. Wir werden wieder analoge Orte schaffen müssen, in denen Demokratie von Angesicht zu Angesicht gelebt wird.
Die zweite Entwicklungslinie betrifft unsere bisherigen Vorstellungen von Raum und Zeit. Die jüngsten Krisen haben sie über den Haufen geworfen. Denn wer hätte sich vorher vorstellen können, dass es Märsche von Tausenden von Menschen aus anderen Kontinenten Richtung Deutschland gibt, und zwar täglich? Wer hätte sich vorstellen können, dass ein Selfie mit der deutschen Kanzlerin Minuten später virale Wirkung in Bagdad oder Damaskus entfaltet? Raum und Zeit sind radikal zusammengeschrumpft, die Krisen dieser Welt werden nun auch vor unserer Haustür ausgetragen, in Echtzeit. So ziemlich jeder auf diesem Planeten dürfte inzwischen davon wissen, dass wir es uns hier lange Zeit haben verdammt gut gehen lassen. Globalisierung hieß bislang, dass wir von Entgrenzungen profitieren. Plötzlich aber schlagen sie auf uns zurück. Das Elend der Welt klopft an die Tür und weckt uns aus dem schönen Traum, dass wir zwar überall hinreisen und unsere Waren verkaufen dürfen, dass daraus umgekehrt aber keinerlei Erwartungen resultieren dürfen. Unser prekärer Lebensstil wird uns umso unheimlicher, je attraktiver er für andere wird. Wir wachen auf und stellen fest, in einer Illusionswelt gelebt zu haben. Wachzustand heißt ab sofort, dass die harten, auch hässlichen Realitäten nicht mehr aus unserem Alltag verschwinden werden. Willkommen in der Wirklichkeit der Welt, ab jetzt wird nur noch improvisiert.
Aber immerhin kreuzen sich ja die beiden Linien, das ist die gute Nachricht. Die Gunst der Stunde besteht darin, dass uns gigantische Aufgaben ausgerechnet in dem Moment zuwachsen, wo es eine Bereitschaft gibt, sich um mehr als nur den eigenen Vorgarten zu kümmern. Menschen, die Flüchtlingen helfen, hat es auch früher gegeben, aber es waren wenige. Dass es plötzlich so viele sind, hängt damit zusammen, dass sich die Einsicht durchgesetzt hat, wie stark der Zusammenhalt der Gesellschaft vom Bürgerengagement abhängt. Die Kümmerer tun einfach das, was gerade getan werden muss. Insofern geht die Rede von den sogenannten Gutmenschen, die irgendein schlechtes deutsches Gewissen kompensieren wollen, völlig fehl. Das ist für mich, auch im Rückblick, der gute kollektive Geist des Sommers 2015, von dem man nur hoffen kann, dass er noch lange prägend sein wird und durch kommende Krisen trägt: Hunderttausende Menschen machen mit einem Mal Politik, ohne ihr Handeln für ein gelingendes Gemeinwesen selbst so zu nennen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass später einmal, wenn der zeitliche Abstand groß genug sein wird, Historiker Bücher über diesen Sommer 2015 schreiben werden. Weil sich die Ereignisse zu beschleunigen begannen, weil die Weltgeschichte auf höchst unangenehme Weise Fahrt aufnahm. Ausgang bis heute ungewiss. Wie gesagt, es lag etwas in der Luft.
Ausgerechnet in diesem nervösen Sommer, der zudem drückend heiß war, habe ich meinen Rucksack gepackt, um einfach loszulaufen. Ohne genauen Plan, aber mit ziemlich viel Zeit. Obendrein allein mit mir. Aber immer auf der Suche nach der nächsten zufälligen Begegnung, die mir hilft, etwas Neues zu begreifen. Über den Zustand unserer Gesellschaft, vielleicht auch darüber, wie anders zu leben wäre. Es wäre gelogen, wenn ich im Rückblick behaupten würde, mehr als eine Witterung dafür gehabt zu haben, dass wir momentan Zeugen eines Epochenumbruchs sind. Als Schlaumeier hätte ich zu Hause bleiben können. Denn es war ja gerade das Gefühl, mich nicht mehr auszukennen, das mich hinausgetrieben hat. Dieser blinde Fleck namens Zukunft. Vermutlich haben Menschen zu allen Zeiten Bilder von einem besseren Leben im Kopf gehabt. Diese Bilder haben sie in Bewegung gesetzt. Wir allerdings leben inzwischen schon verdammt lange in einer Art Fin-de-Siécle-Stimmung, als ob die besten Zeiten hinter uns lägen und von nun an nur noch verzweifelt geklammert werden müsse an dem, was man hat. Utopisten wird der Gang zum Arzt empfohlen, die Politik fährt auf Sicht.
Gegen diese Lähmung im Denken ist das Wandern seit je eine großartige Therapie. Viel Klügere haben das lange vor mir entdeckt. Der dänische Philosoph Kierkegaard zum Beispiel hat geschrieben: »Jeden Tag gehe ich mich in einen Zustand des Wohlbefindens, und gehe fort von jedweder Krankheit; ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen, und ich kenne keinen Gedanken, der so bedrückend wäre, dass man ihn nicht gehend hinter sich lassen könnte. Aber indem man stillsitzt, kommt man dem Gefühl umso näher, krank zu sein.«
Mein Bedürfnis hat sich jedenfalls im richtigen Augenblick seinen Weg gesucht. Dieses Bedürfnis ist deutlich älter als der momentane Krisenreigen, ist mit den Jahren aber kontinuierlich gewachsen. Auf einen Nenner gebracht, ist es der Wunsch, von der Straße zu lernen. Etwas über mich selbst, wie ich mit Ereignislosigkeit klarkomme, vor allem aber etwas darüber, wie andere ihr Leben leben und welchen Veränderungen es unterworfen ist. Ich wollte mir mein eigenes Land erklären lassen, die scheinbar bekannte Nähe als unverstandene Ferne betrachten, den Blick des Ethnologen einüben. Noch jedes Mal, wenn ich zu Fuß längere Zeit unterwegs war, war mir an mir selbst aufgefallen, wie die Langsamkeit des Gehens allmählich den Blick schärft. Als Wanderer setze ich mich aus, bin mit dieser Welt leiblich verbunden, sehe ich Dinge, für die ich sonst keine Aufmerksamkeit gehabt hätte. Beim Gehen gerate ich in einen anderen Zustand, das Denken verflüssigt sich.
Das Wandern ist für mich auch das Korrektiv zum Lesen. Es ist ein vollkommen anderer Modus, diese Welt begreifen zu wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, auf eines von beidem verzichten zu müssen. Aber das Lesen nimmt nun mal in meinem Alltag den größeren Raum ein. Das erste philosophische Buch, das ich als Jugendlicher gelesen habe, war »Der eindimensionale Mensch« von Herbert Marcuse, das damals Mode war. Heute amüsiere ich mich darüber, was ich im August 1979 mit Bleistift an den Rand geschrieben habe. Aber ich weiß noch, dass mir dieses Buch Türen in eine andere Welt geöffnet hat. Plötzlich hatte ich verstanden, wie wichtig es ist, nicht einfach ein Leben von der Stange zu führen, wie sehr es darauf ankommt, mit kritischem Blick die eigenen Bedürfnisse anzuschauen.
Seit bald zehn Jahren moderiere ich nun jeden Freitagabend in WDR5 »Das Philosophische Radio«. Ein paar Zufälle und eine entscheidende menschliche Begegnung haben dazu geführt, dass ich mich mit dieser Sendung seit Langem an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Journalismus bewege. Ich versuche, einem größeren Publikum den Satz von Sokrates plausibel zu machen, dass die Philosophie es mit den wichtigsten Dingen des Lebens zu tun hat. In meinem Studium des gleichnamigen Fachs war davon übrigens wenig zu spüren. Oft hatte ich damals den Eindruck, dass die universitären Philosophen vorwiegend mit Glasperlen spielen. Aber heute, in der Stunde der Krise, stößt die Philosophie wieder auf großes Interesse. »Mensch, werde wesentlich« heißt es beim Barocklyriker Angelus Silesius. Die Zeit der Spaßgesellschaft ist vorbei. Ich habe in diesen knapp zehn Jahren im »Philosophischen Radio« unzählige Texte studiert und mit wirklich klugen Leuten Gespräche geführt. Nicht selten haben wir über genau dieses Gefühl gesprochen, dass etwas faul ist an unserem Lebensstil. Wir haben nach Alternativen gesucht. Es fehlt also beileibe nicht an Kritik der herrschenden Zustände. Aber manchmal ist es eben Zeit, schlaue Gedanken einem Praxistest zu unterziehen. Berührung mit Asphalt kann der Philosophie nicht schaden. Man lernt immer am meisten, wenn man sich als Fragender durch die Welt bewegt.
Vermutlich reicht es heute nicht mehr, so wie Kierkegaard jeden Tag eine Runde zu drehen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dafür ist unser Leben zu schnell geworden. Weil der Umgang mit Zeit selbst Teil des Problems ist, schien es mir nötig, für einige Zeit ganz vom Karussell abzusteigen, die analoge Existenz des Wanderers zu führen. Es dauerte einige Zeit, bevor mir unterwegs der Rhythmuswechsel gelang. Am Anfang spukte mir noch im Kopf herum, ob ich auch an alles Nötige gedacht hatte, bevor ich für einige Zeit verschwinden konnte. Den Plan, eines Tages etliche Hundert Kilometer am Stück zu gehen, hatte ich schon lange. Aber plötzlich schien es mir so, als ob dieser Plan keinen Aufschub mehr duldete, und ich wollte los. Ich hatte Sorge, dass die Zeit mir davonrinnt und es dann irgendwann vielleicht zu spät sein würde. Als Wanderer macht man ja ohnehin Bekanntschaft mit der eigenen Endlichkeit. Erst jetzt, da ich zurück bin, wird mir klar, wie wichtig auch dieser Teil der Erfahrung gewesen ist. Ich habe es geschafft, ich bin wieder da. Mit dem sicheren Gefühl, doch etwas klüger als vorher zu sein. Wie labil das Leben ist, das wir führen, habe ich genauer verstanden. Und auch, dass ich nicht der Einzige bin, der auf der Suche ist. Dass man, um aus einer Sackgasse zu kommen, einfach loslaufen kann, scheint mir ein gutes Rezept auch in anderen Lebenslagen zu sein.
(FAZ)
Am Ende meiner Straße klebt die Jakobsmuschel. Lange Zeit muss ich den blauen Sticker mit dem gelben Symbol der Pilger übersehen haben, denn er ist längst ausgebleicht und pappt unbeachtet an einem Laternenpfahl. Mir ist auch noch nicht aufgefallen, dass fromme Leute mit frommen Liedern auf den Lippen durch meine Straße gezogen wären. Santiago ist weit. Mich interessiert die Muschel nicht, ich bin kein Pilger. Die Vorstellung, auf einem vorgezeichneten Pfad an ein Ziel zu kommen, das als heilig gilt, halte ich für Aberglaube. Falls es einen Gott gibt, wäre von ihm doch wohl zu erwarten, dass er in einer Hochhaussiedlung genauso gegenwärtig ist wie in Santiago, oder wir könnten ihn mit gutem Recht ignorieren. Pilger haben ein Ziel, ich habe keins. Denn wer vorher schon weiß, was draußen zu finden ist, muss ja gar nicht erst die Schuhe schnüren. Aber eins verdanke ich dem Aufkleber am Ende meiner Straße doch: den simplen Gedanken, dass man jederzeit einfach loslaufen kann. Dass eine Reise auch vor der eigenen Haustür beginnen kann. Als ich ihn zum ersten Mal bewusst sah, wusste ich, was ich tun wollte. Am liebsten gleich.
Von wo nach wo? Diese Frage hatte mich vorher unnötig lange beschäftigt, nachdem der Plan gefasst war, ein paar Wochen zu gehen. Ich habe Deutschlandkarten studiert, auf denen die Fernwanderwege verzeichnet sind. Aber die sind nicht für Leute wie mich gemacht. Ich suche nicht nach dem spektakulären Panoramablick, nach den Idyllen der deutschen Mittelgebirge, meine Wege sollen auch dorthin führen, wo es schäbig ist. Ich glaube nämlich, dass man eine Gesellschaft am besten von ihren Rändern her verstehen kann. Was sich dort verändert, bekommt die gesellschaftliche Mitte in ihrer Behäbigkeit häufig gar nicht mit. Deshalb wird meine Wanderung auch an Orte führen, die wie Inseln sind, abgespalten vom großen Ganzen, das sie umgibt. Flüchtlingsheime, Psychiatrien, Schlachthöfe liegen nicht am Jakobsweg, verdienen anscheinend keine Wegweiser, aber ich möchte dorthin. Hier zeigen sich die feinen Haarrisse in der Gesellschaft zuallererst, aus denen schnell Klüfte werden können. Die möchte ich wahrnehmen und nach Antworten auf die Frage suchen, ob es überhaupt noch etwas gibt, das die Gesellschaft heute noch zusammenhalten kann. Diese Antworten sind umso wichtiger, weil sich nach meiner Beobachtung viele unserer Gespräche gerade darum drehen, dass der Boden unter unseren Füßen schwankt. Dass uns kollektiv Sicherheit verloren gegangen ist. So ist das wohl, wenn man das Empfinden hat, in einer Epoche des Übergangs zu leben, in einer Zwischenzeit, in der das Alte zwar in rasender Geschwindigkeit entwertet wird, das Neue aber noch keine klare Kontur besitzt. Ein gutes halbes Leben rum und plötzlich so vieles fraglich. Wo man auch hinschnuppert, riecht es nach Krise. Weit verbreitet das Gefühl, dass die fetten Jahre vorbei sind. Da kann es nicht schaden, für ein paar Wochen zu gehen statt wie sonst zu rennen. Im Laufen denkt es sich besser, im Laufen kommt man aber hoffentlich auch etwas leichter von einem Denken los, das nicht vom Fleck will.
Aber das allein ist es nicht, was mich nach draußen zieht. Denn natürlich möchte ich auch etwas über mich erfahren. Wie das ist, wenn man morgens loszieht, ohne zu wissen, an welchem Ort und in welchem Bett man abends die Augen zumacht. Was geschieht, wenn der Zufall bestimmt, mit welchem unbekannten Menschen ich das nächste Gespräch führen werde. Ob ich klarkommen werde mit dem Verzicht auf Planung und Taktung. Wenigstens für einen Moment soll das Gefühl, dass Tage und Stunden einem durch die Finger rinnen, keine Rolle spielen. Und dann natürlich die Einsamkeit. In meinem Alltag fehlt sie mir oft, geht es mir wie so vielen, die merken, dass sie überkommuniziert sind. Und nun auf einmal ganz viel davon? Da wird es darauf ankommen, dass ich mich selbst aushalten kann, wovor ich ein bisschen Angst habe. Es wird Zeit für mich, den Stecker rauszuziehen und über ein paar Dinge nachzudenken. Ich gehe los, um von der Straße zu lernen.
Am Tag meines Aufbruchs werden die Toten einer Serie von Anschlägen islamistischer Terroristen gezählt, Urlaub in Tunesien gilt jetzt als zu gefährlich. In Frankreich hat ein Islamist seinen Vorgesetzten enthauptet und versucht, ein Chemieunternehmen in Brand zu setzen. Genau ein Jahr ist es her, dass der Chef des IS ein neues Kalifat ausgerufen und sich selbst als Nachfolger Mohammeds tituliert hat. Am Tag meines Aufbruchs fürchten viele auch einen Börsencrash, weil Griechenland vor der Pleite steht. Davon lese ich in der Zeitung, bevor ich die Haustür hinter mir zuziehe.
Ich schaffe es tatsächlich, unerkannt aus meinem Kölner Vorort rauszukommen, und spüre schon bald, wie mein Körper geflutet wird von einem Gefühl der Euphorie. Was jetzt vor mir liegt, gehört mir ganz allein. Von einem Moment auf den anderen bin ich in den Besitz eines äußerst knappen Gutes geraten: Ich habe Zeit! So viel davon, dass das, was vor mir liegt, so endlos scheint wie die Sommerferien der Kindheit.
Überhaupt ist der Sommer auf meiner Seite. Der Wetterbericht hat zwar für die kommenden Tage Temperaturen bis nah an die 40 Grad gemeldet. Eigentlich vollkommen bescheuert, bei dieser Hitze loszulaufen, aber anders als sonst macht sie mir nicht das Geringste aus. In einem Ein-Euro-Shop habe ich mir auf den letzten Drücker noch einen schwarzen Filzhut mit breiter Krempe gekauft, der mich definitiv für ein Leben in der Großstadt disqualifiziert. Im Rucksack findet sich nur das Allernötigste. Ich setze darauf, an Waschsalons vorbeizukommen. Außerdem habe ich eine wichtige Kleinigkeit dabei: eine Kreditkarte. Denn mir geht es nicht darum, möglichst asketisch zu leben und einen Kampf gegen mich selbst zu führen. Mein Deutschland muss nicht umsonst sein. Ich habe mir auch fest vorgenommen, auf das Zählen der Kilometer zu verzichten. Mir ist es egal, wie viel ich schaffen werde. Es wäre zwar gelogen, wenn ich behaupten würde, mir nichts beweisen zu müssen. Aber die Anzahl der Kilometer ist es nicht.
Gleichwohl laufe ich nicht vollkommen planlos. Alle paar Tage habe ich eine lose Verabredung, die sich jedoch jederzeit absagen ließe. Verabredungen mit Menschen, von denen ich mir Denkanstöße erhoffe. Und gleich heute wird es das erste Treffen geben. Dazu muss ich nur knapp zwei Stunden bergauf durch den Königsforst Richtung Osten nach Forsbach laufen. Unterwegs im Wald treffe ich auf zwei ältere Herren, die mich prompt nach meinem Weg fragen. Offenbar ist es mit einem Rucksack auf dem Rücken ähnlich wie mit einem Hund an der Seite, man wird als Fremder leichter angesprochen. Die beiden lachen, nachdem ich gesagt habe, dass ich das noch nicht weiß. »In die Richtung geht’s ins Sauerland«, meint einer und zeigt Richtung Osten.
Oben auf dem Bergrücken angekommen, bin ich vollkommen durchgeschwitzt. Aber die Frau, mit der ich verabredet bin, erwartet gewiss kein tadelloses Äußeres. Sie liebt es, gesellschaftliche Konventionen zu unterlaufen: Mary Bauermeister, Künstlerin, inzwischen 81 Jahre alt. Von ihr möchte ich wissen, wie man älter werden kann, ohne die Bedeutung des utopischen Denkens aus den Augen zu verlieren. Vor über 40 Jahren hat sie hier in Forsbach ein großes Wald-und-Garten-Grundstück gekauft, das heute wie ein Museum der Avantgarde wirkt. Hierhin ist sie mit ihren vier Kindern gezogen, nachdem ihr Zusammenleben mit dem Komponisten Karlheinz Stockhausen in die Brüche gegangen war. Vor ein paar Jahren hat Mary in einem Buch bemerkenswert offen Auskunft über ihr Lebensexperiment mit einer Ehe zu dritt gegeben. Noch nie habe ich einen Menschen getroffen, der im hohen Alter so radikal denkt und so vitalisierend auf die eigene Umgebung wirkt wie sie. Mary ist ein Vulkan. Sie scheint keine Angst zu kennen. Bei unserer ersten Begegnung hatte sie gesagt, dass sie sich jetzt im Alter mit jedem Tag freier fühle. »Ich bin die hässliche Alte«, meinte sie damals mit breitem Grinsen und wies demonstrativ auf ihre Zahnlücken. Sofort war mir klar, dass ich sie gern ein bisschen näher kennenlernen würde.
Sie verkörpert für mich ein Lebensgefühl, das meiner Generation vollkommen fremd ist. Eines, um das ich sie ein wenig beneide. Denn während wir heute gut 50-Jährigen von vornherein mit der Grundmelodie groß geworden sind, dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei ist, alle Utopien verdampft, letzte Ausfahrt postmoderne Ironie, hat Mary lebensgeschichtlich das Glück gehabt, dabei gewesen zu sein, als etwas völlig Neues in die Welt kam. »Am Anfang war der Klang« heißt ein Kapitel in ihrem Buch, in dem beschrieben ist, welche ungeheure Wirkung die Zerstörung etablierter Hörgewohnheiten durch die Neue Musik entfaltet hat. Im Sommer 1960 hat Mary im Großen Sendesaal des WDR an einem Abend drei Uraufführungen von Werken von Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel und Luigi Nono miterlebt und in der Nacht darauf in ihr Tagebuch geschrieben, dass man sich selbst total neu erschaffen und alle Erwartungen fahren lassen müsse. Sie war dann bald darauf in den wilden Jahren des künstlerischen Aufbruchs eine der Leitfiguren der Fluxus-Bewegung. Das Erstaunliche an Mary ist, dass auf ihren Aufbruch kein Abbruch folgte. Sie ist frei von Zynismus, der Krankheit vieler Veteranen der künstlerischen Avantgarde, und voll von dem Impuls, diese Gesellschaft immer wieder neu denken zu wollen. Schon merkwürdig, dass es mich für den Anfang zum geistigen Auftanken zu einer alten Dame zieht.
Ihre schlohweißen Haare sind ungebändigt. Wie stets ist sie in ein weißes Gewand gehüllt. Darunter trägt sie auch bei dieser Affenhitze schwere Wanderschuhe mit offenen Schnürsenkeln. Wir sind im Garten verabredet, vor einer ihrer Skulpturen in Spiralform. Mary hasst den Kreis, weil er statisch ist, sie liebt die Spirale, weil sie für das Lebensprinzip Bewegung steht und keinen Anfang und kein Ende hat. Sie kommt auf mich zu, mustert mein Gepäck, erkundigt sich nach meinen Plänen und erzählt dann, dass sie selbst einmal drei Wochen gelaufen sei, in den 60er-Jahren in den USA. Ohne auch nur ein Mal etwas zu essen. Nur von Wasser habe sie gelebt. Der Hunger sei ihre Droge gewesen. Ich bin sofort bereit, ihr das zu glauben.
Mary und ihr Körper, immer wieder kommt sie auf dieses Thema zu sprechen. Vielleicht passiert es unweigerlich, dass wir mit zunehmendem Alter unseren Körper als Kampfzone betrachten. Jedenfalls beschwört sie mich geradezu: »Ich bin nicht mein Körper, ich bewohne einen Körper. Und der kann mich in die Knie zwingen.« Das ist klassischer Dualismus, Mary setzt auf die Stärke ihrer Seele. Gerade als ich sie fragen möchte, warum sie so frei von Angst ist, wo sie doch weiß, dass es auf das Ende zugeht, kommt ihre Tochter zu uns und gibt die Antwort für ihre Mutter. »Weil sie nach dem Grundsatz lebt: Das, was ich mache, das ist meine Realität.«
Marys Pfad zum Glück ließe sich wohl folgendermaßen zusammenfassen: Überwinde das Mangeldenken! Klammere nicht an Dingen, die dir sowieso niemals für immer gehören werden. Nicht an Besitz und nicht an Liebe. Und schon sind wir wieder beim Thema Angst. »Du musst auf die Angst zugehen wie auf einen Schleier«, sagt sie, »erst wenn er zerrissen ist, merkst du, dass dahinter nichts war.« Eine Liebe beispielsweise nicht haben zu müssen, Eifersucht zu überwinden, das sei Freiheit pur. »Du kämpfst immer vergeblich gegen Entropie, das sieht man ja im Garten.«
An dieser Stelle unseres Gesprächs spüre ich, dass mich die Besitzfrage mehr interessiert als Marys Liebesphilosophie. An gebrochenen Herzen haben Menschen schon immer gelitten, aber wie sie auf eine Gesellschaft blickt, die momentan geradezu neurotisch von Abstiegsängsten geplagt ist, das will ich wissen. Denn das ist ja das verblüffend Neue an unserer Lebensform in der Konsumgesellschaft: Wir sind verglichen mit allen Kulturen vor uns materiell so unendlich viel reicher, aber ein Genug scheint es niemals zu geben. Jedes Zehntel Wachstum wird stets aufs Neue gefeiert, weil uns bislang keine intelligentere Art des Wirtschaftens eingefallen ist und obwohl wir längst wissen, dass das, was wir mit dem inzwischen vollkommen übernutzten Wort Glück meinen, auf diese Art nicht zu bekommen sein wird.
Nur hilft dieses Wissen anscheinend bislang nicht weiter. Wir haben zwar reichlich Wachstumskritik, die auf die verheerenden ökologischen Folgen unseres Lebensstils hinweist. Diese Kritik verlangt ein Umsteuern aus moralischen Gründen, hat aber noch keine alternative Ökonomie hervorgebracht, die nicht nur in einer Nische funktionieren würde, sondern in einer ganzen Volkswirtschaft. Die Wachstumsfrage will ich auf meiner Wanderung immer wieder stellen, denn genau genommen ist es ein Mysterium, warum eine Wirtschaft der Selbstzerstörung nur dann entgehen können soll, wenn sie dem Prinzip des permanenten Mehr folgt. Ich habe dieses Rätsel nie verstanden. Vielleicht gibt es eine Auflösung gar nicht, weil es sich nur um einen Mythos handelt. Mary ist nun die Erste, die eine Antwort geben soll.
Natürlich ist es die Antwort einer Künstlerin, die ich zu hören bekomme. Und sie fällt pechschwarz aus: »Dass die Natur uns Menschen so lange aushält, ist nicht selbstverständlich. Eigentlich gehörten wir abgeräumt.« Sie spricht vom Experiment Menschheit, das jederzeit abgebrochen werden könne, weil die Natur stärker ist. In diesem Garten, in dem es überall wild wuchert, wirkt ihr Gedanke gar nicht absurd. Und bei dieser Hitze merke ich sowieso, wie bedürftig ich bin, und trinke rasch ein paar Schlucke aus meiner Wasserflasche, bevor Mary mit der Klage fortfährt, dass es an einer Ethik fehle, um die Zerstörung zu stoppen. Gewöhnlichen Menschen traut sie keine Veränderungen zu, weil sie von Gier und Angst getrieben seien. Mary träumt von einem Rat der Weisen, der die Zukunftsprobleme lösen soll. Das ist sehr platonisch gedacht – und leider ganz und gar nicht demokratisch.
Viel spannender ihre Antwort auf die Frage, welche Rolle in ihren Augen Künstler in den Krisen der Gegenwart übernehmen sollen. Mary bezieht sich auf den Medientheoretiker Marshall McLuhan, der in den 60er-Jahren von der Kunst als »Frühwarnsystem« gesprochen hat, das auf seine Weise Bewusstseinsveränderungen anstoßen könne. So sieht sie auch ihre eigenen Arbeiten. Gerade bereitet sie für eine Ausstellung eine Installation vor, die einen ganzen Raum einnehmen soll. Eine riesige Essenstafel aus acht Meter langen Brettern, die sie aus einem Pferdestall hat. Auf der einen Seite eine Holzschale für den armen Schlucker, auf der anderen das feine Porzellan für denjenigen, der gegenüber auf einem Prachtstuhl sitzen darf. »Zuvielisation« nennt sie dieses Projekt. Daneben soll ein Müllberg aus Elektronikschrott entstehen, der den Titel »Weltkulturerbe« trägt.
Seit einiger Zeit sind Marys Werke auf dem Kunstmarkt wieder heiß begehrt. Kürzlich ist in den USA eines für 250000 Dollar verkauft worden. Die Avantgarde der frühen 60er-Jahre ist dort momentan populärer als bei uns. Mary macht seit einiger Zeit Remakes von ihren frühen Arbeiten mit Muscheln und Steinen, weil sie für sich herausfinden will, ob sie die Techniken von damals noch beherrscht. Von ihrem früheren Selbst sei sie eingeschüchtert gewesen, erzählt sie. Ich merke ihr an, dass es ihr nicht leichtfällt, zu diesem späten Ruhm von heute ein stimmiges Verhältnis zu entwickeln. Einerseits ist sie unverkennbar geschmeichelt, weil sie nun wieder das bekommt, was sich jeder Künstler wünscht: Ruhm und Aufmerksamkeit. Andererseits ist es ihr zutiefst suspekt, dass sich diese Aufmerksamkeit in der Höhe des Preises ausdrückt.
Dass die Logik der Ökonomisierung in alle Poren der Gesellschaft eindringt, zeigt sich ja – lässt man mal den Profifußball beiseite – nirgendwo so ungeschminkt wie auf dem Kunstmarkt. Mary nennt es verkehrte Welt, wenn heutzutage Banker über Kunst reden und im Gegenzug Künstler über Aktien. Eigentlich war das mal anders gedacht, sollte das Reich der Kunst eine eigene Sphäre frei von Zwecken sein.
Mary hatte selbst mal Aktien und kennt das Gefühl, sich verspekuliert zu haben. Heute sagt sie ihren wohlhabenden Freunden, dass Geld keine Kinder kriegen kann. Ihre Utopie ist eine Gesellschaft der Gabe, eine Schenkgesellschaft, in der jeder das weggibt, was er zu viel hat. Sie ist längst dabei, sich von ihrem Besitz nach und nach zu verabschieden. Vor einiger Zeit hat sie ein altes Pferdegehöft eine Autostunde von Köln entfernt übernommen, baut es gerade um. Irgendwann sollen dort viele Künstler wohnen, für sie wird ein kleines Zimmer reichen. Alles zurück an die Gemeinschaft, so wünscht sie es sich. »Die wirkliche Änderung«, sagt sie zum Abschied, »ist, dass ich mich reduziere.« Dann schwebt die Frau in Weiß zurück ins Haus und lässt mich im Garten zurück.
Bevor ich gehe, sehe ich mich noch ein wenig um. Hier im Garten gibt es etliche Bauwagen, in denen Gäste unterkommen können, und mehrere Werkstätten für die künstlerische Arbeit. In einen der Schuppen gehe ich hinein und stoße auf zahllose Einmachgläser, die mit optischen Linsen gefüllt sind. Es müssen viele Tausend sein. Ich nehme eine der Linsen heraus, halte sie in die Richtung eines Baumastes, der sich leicht im Wind bewegt, und merke, wie sich die Bewegungen beschleunigen, wenn ich durch die Linse blicke. Eine kleine Schule des Sehens. Genau dies ist es, was ich mir für die kommenden Wochen vorgenommen habe. Anders auf die Welt schauen. Zeit haben, um genauer hinzusehen. Das Gewöhnliche des Alltags nicht für gegeben halten.
Und dann fällt mein Blick auf ein Plakat an der Wand, auf dem Mary ihre eigenen neun Gebote fixiert hat. Ein Problem mit mangelndem Selbstbewusstsein hat sie jedenfalls nicht, denke ich. Wenn schon nicht die ganze Welt, will sie doch immerhin die kleine Welt um sie herum verändern. Drei der neun Gebote notiere ich in meine Kladde:
Verschwende von der Fülle nichts und begehre nichts.
Achte das Licht in jedem Menschen. Mache keine Vergleiche, sondern betrachte alles für sich allein.
Tue es jetzt. Wenn du erkennst, was getan werden muss, tue es.