Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Zitat eines ehemaligen Schülers der Odenwaldschule, an der vermutlich Hunderte von Schülern von Lehrern und Lehrerinnen sexuell missbraucht wurden

vgl.: Enders/Eberhardt (2007)

Download der Illustrationen unter www.zartbitter.de

Die folgenden Bausteine entsprechen Enders/Eberhardt (2007).

Endnoten

Nowara/Pierschke 2005, S. 70f. und 76

Bange/Enders 1995

vgl. DJI 2011a

4 vgl. Bange 2011

Wetzels 1997

Elliott u.a. 1995

Nowara & Pirschke 2005

KFN 2011

vgl. ebenda

Wetzels 1997

Fegert/Rassendorfer/Schneider/Seitz/König/Spröber 2011

ebenda

KFN 2011

vgl. Elz 2003

vgl. z.B. Bundschuh/Stein-Hilbers 1998; Engelfried 1997

z.B. Brongersma 1991

vgl. Abel/Rouleau, zitiert nach DJI 2011b

Wyre/Swift 1991

Bastian Obermayer/Rainer Stadler, Bruder, was hast Du getan? Kloster Ettal. Die Täter, die Opfer, das System, Köln 2011: Kiepenheuer & Witsch

20 Brongersma 1992, S. 126

zit.n. Leopardi 1988, S. 126

Lautmann 1994, S. 121

Brongersma 1992, S. 109

Bange 2000a, S. 85

Kentler 1989

Kentler 1999, S. 151

Kentler 1991, S. 103f.

Lautmann 1994

ebenda

Gloer/Schmiedeskamp-Böhler 1990

Conte u.a. 1985

http://www.mik.nrw.de/presse-mediathek/aktuelle-meldungen/archiv/archiv-meldungen-im-detail/news/rede-von-abteilungsleiter-wolfgang-dueren-anlaesslich-der-sitzung-des-innenausschusses-aufnahmerit.html, 15.08.08 – Stand: 24. 05. 2011

http://www.sueddeutsche.de/panorama/umstrittene-aufnahmefeiern-feuer-unterm-dach-1.581768, 18.08.2008 – Stand: 24. 05. 2011

www.beepworld.de/cgi-bin/forum_de/archive/index.php/t-199025.html, 08.07.2007 – Stand: 25. 05. 2011

http://archiv.raid-rush.ws/t-609555.html, 04. 07. 2009 – Stand: 25. 05. 2011

http://www.sturmforum.at/wbb3/index.php?page=Thread&threadID=1319 – Stand: 24. 05. 2011

http://www.news.at/articles/0249/20/46592/pastern-schweden-klagen, 07.12.2002 – Stand: 24. 05. 2011

http://www.news.at/articles/0249/20/46592/pastern-schweden-klagen, 07.12.2002 – Stand: 24. 05. 2011

http://www.blick.ch/news/schweiz/bern/junioren-missbrauchen-mitspieler-mit-besenstiel-159418, 27. 10. 2010 – Stand: 24. 05. 2011

http://www.rp-online.de/panorama/deutschland/ameland-vier-jugendliche-werden-angeklagt-1.1998321, 25. 03. 2011 – Stand: 24. 05. 2011

http://www.mainpost.de/sport/Bad-Kissingen-Aufnahme-Ritual;art796,2437167, aktualisiert am 03. 12. 2006 – Stand: 24. 05. 2011

http://board.raidrush.ws/showthread.php?t=609555, 24. 06. 2009 – Stand: 24. 05. 2011

Nowara/Pierschke 2005, S. 70f. und 76

Kroll/Meyerhoff/Sell 2003

Enders/Eberhardt 2007

ebenda

Fegert/Wolff 2006

Enders/Eberhardt 2007

ebenda

Kroll/Meyerhoff/Sell 2003

Anfang der Neunzigerjahre wurde ich damit konfrontiert, dass einer meiner ehemaligen Kollegen in einer Übernachtungsstelle für jugendliche Trebegänger Mädchen und Jungen missbraucht hatte. Fünf Jahre zuvor hatten wir gemeinsam im Rahmen eines ehrenamtlichen Engagements beim Deutschen Kinderschutzbund ein Beratungsangebot für kindliche Opfer sexuellen Missbrauchs aufgebaut. Nachdem ich den ersten Schock über die erschütternde Nachricht überwunden hatte, setzte ich mich mit der Frage auseinander, wie der Vereinskollege mein ansonsten gut funktionierendes gesundes Misstrauen überlisten und mich derart täuschen konnte. Schnell wurde deutlich, dass es mir an grundlegendem Wissen über die Vorgehensweisen von Tätern mangelte. Ich hatte typische Täterstrategien des Sozialarbeiters nicht als solches erkannt und zum Beispiel nicht durchschaut, dass er die »Maske des Kinderschützers« nutzte, um die Wahrnehmung der Umwelt zu vernebeln und mit möglichen Opfern in Kontakt zu kommen. Diese Erkenntnis motivierte mich zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem strategischen Vorgehen von Tätern und Täterinnen bei sexuellem Missbrauch

Wissen hilft, das strategische Vorgehen von Tätern zu stoppen und sichere Orte für Mädchen und Jungen zu schaffen. Möge das Handbuch »Grenzen achten« Müttern und Vätern, Pädagoginnen und Pädagogen Mut machen, sich aktiv für den Schutz von Mädchen und Jungen in Institutionen einzusetzen!

 

Ursula Enders

Köln, im Januar 2012

I.

Wir sind nicht die einzigen[*]

Fakten zum sexuellen Missbrauch in Institutionen

Dirk Bange/Ursula Enders

 

Fälle von sexuellem Missbrauch durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus Institutionen hat es immer schon gegeben, doch wurde meist nur hinter vorgehaltener Hand und nicht offen darüber gesprochen. Da die Täter in der Vergangenheit nur sehr selten zur Rechenschaft gezogen wurden, waren Mädchen und Jungen ihnen schutzlos ausgeliefert – zum Beispiel dem Pfarrer, den die Erwachsenen der Gemeinde »Pastor gribbel in die Buchs« (rheinisch für »in die Hose fassen«) nannten, oder dem Lehrer, der im Laufe seiner 30-jährigen Berufslaufbahn wiederholt sexuelle Kontakte zu Schülerinnen aufbaute und inzwischen mit der fünften ehemaligen Schülerin zusammenlebt.

In den Achtzigerjahren machten die ersten Frauen sexuelle

Risikofaktoren von Mädchen und Jungen

Mädchen werden etwa zweimal so häufig Opfer sexuellen Missbrauchs wie Jungen. Doch nicht nur Mädchen haben ein erhöhtes Risiko, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, sondern überdurchschnittlich gefährdet sind ebenfalls Kinder,

Haben Kinder und Jugendliche mehrere unterschiedliche Belastungen zu meistern, so steigt ihr Risiko, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Wie auch bei häuslicher Gewalt findet sich beim sexuellen Missbrauch kein oder nur ein geringer Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status: Es werden Mädchen und Jungen aus allen Gesellschaftsschichten sexuell missbraucht.[3]

Der Beratungsalltag von Zartbitter, Wildwasser, Tauwetter und anderen Fachstellen gegen sexualisierte Gewalt belegt zudem das erhöhte Risiko von Mädchen und Jungen, deren Mütter und Väter oder Pädagoginnen und Pädagogen, denen sie anvertraut werden, sich kaum mit der Problematik des sexuellen Missbrauchs beschäftigt haben. Sind die Erwachsenen nur unzureichend über die Strategien der Täter und Täterinnen informiert, so fällt es ihnen besonders schwer wahrzunehmen, wenn jemand die sexuelle Ausbeutung eines Kindes, Jugendlichen oder Heranwachsenden systematisch vorbereitet.

Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in Institutionen

Nach den Ergebnissen der acht vorliegenden deutschen Untersuchungen aus den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts werden zwischen 12,5 und 29 Prozent aller Mädchen in ihrer Kindheit inner- und außerhalb der Familie Opfer sexuellen

Zahlen, Daten, Fakten

Geschlecht der Opfer

Etwa zwei Drittel der Opfer sind Mädchen, etwa ein Drittel Jungen.

 

Art der sexuellen Gewalthandlungen

Etwa 30 Prozent der Opfer erleben anale, orale oder vaginale Vergewaltigungen, etwa 40 Prozent genitale Manipulationen, und etwa 30 Prozent der Opfer werden zu Zungenküssen gezwungen, an der Brust berührt oder begegnen Exhibitionisten.

 

Dauer des Missbrauchs

Etwa die Hälfte der Fälle sexuellen Missbrauchs betreffen einmalige Handlungen, die andere Hälfte der Fälle betreffen mehrmalige Handlungen und ziehen sich teilweise über Jahre hin.

 

Alter der Opfer

Etwa je ein Drittel der Fälle sexuellen Missbrauchs geschehen bzw. beginnen vor dem 10. Lebensjahr der Opfer, im Alter von 10 bis 12 Jahren und geschehen bzw. beginnen in der Pubertät bzw. ab dem 12. Lebensjahr.

 

Etwa ein Drittel der Täter ist jünger als 21 Jahre, zwei Drittel sind Erwachsene ab 21 Jahren.

 

Geschlecht der Täter/innen

80 bis 90 Prozent der Täter sind Männer.

Frauen bzw. weibliche Jugendliche sind für etwa 20 Prozent der Fälle sexuellen Missbrauchs an Jungen und für 5 bis 10 Prozent der Fälle sexuellen Missbrauchs an Mädchen verantwortlich.

 

Soziale Schicht

Sexueller Missbrauch geschieht in allen sozialen Schichten.

 

Missbrauch in Institutionen

Es gibt keine gesicherten Daten über das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in Institutionen. Folgende Untersuchungsergebnisse liefern erste Hinweise:

Von 91 untersuchten verurteilten Sexualstraftätern aus den USA hatten 35 Prozent einen sozialpädagogischen Hintergrund.[6]

Von 324 Jungen aus NRW, die als Sexualstraftäter aufgefallen sind, haben 17 Prozent ihre Taten in Heimen oder Einrichtungen der Jugendhilfe begangen.[7]

Im Rahmen einer Befragung gaben 8,6 Prozent aller weiblichen Betroffenen an, von einem Lehrer missbraucht worden zu sein.[8]

Bisher gibt es in der Bundesrepublik keine Grundlagenforschung zur Problematik sexualisierter Gewalt in Institutionen. Die vier deutschen Untersuchungen, die Angaben zum Opfer-Täter-Verhältnis machen, unterscheiden lediglich zwischen sexuellem Missbrauch durch Familienangehörige, Menschen aus dem außerfamilialen Umfeld und Fremdtätern. In diesen

Die Untersuchung von Peter Wetzels bestätigt das große Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Umfeld der Familie. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass etwas mehr als ein Viertel der Täter und Täterinnen aus dem Familienkreis der Opfer und gut 40 Prozent aus dem Umfeld der Familie kommen. Ein weiteres Viertel sind den Opfern unbekannte Täter – meist Exhibitionisten, die öffentlich ihr Glied entblößen und sich u.a. vor Kindern und Jugendlichen befriedigen.[10]

Die Statistik des Bundeskriminalamtes weist ähnliche Zahlen aus: 2010 wurden laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (Tabelle 91/PKS) 14407 Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern erfasst. In 22 Prozent der Fälle kam der Täter aus der Familie des Opfers. In 29 Prozent waren die Täter dem Kind bekannte, in 9 Prozent flüchtig bekannte und in 32 Prozent unbekannte Personen (meist Exhibitionisten). In knapp 7 Prozent der Fälle war die Beziehung zwischen Täter und Opfer ungeklärt. Laut Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2009 2242 Menschen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Im Jahr 2010 waren es 1473 Verurteilte. Gegen weitere 380 Personen wurde 2010 ein Hauptverfahren eröffnet, dieses aber zum Teil unter Auflage von gerichtlichen Maßnahmen (zum Beispiel Zahlung eines Bußgeldes), zum Teil ohne Auflagen eingestellt. Die Verurteilungen eines Jahres beziehen sich generell nicht ausschließlich auf die in diesem Jahr erfassten Fälle, da sich Verfahren bis zu einem Urteilsspruch

Nach der Aufdeckung des erschütternden Ausmaßes sexualisierter Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durch katholische Geistliche und in renommierten Internaten wie zum Beispiel der Odenwaldschule setzte die Bundesregierung im Frühjahr 2010 die ehemalige Familienministerin Christine Bergmann als »Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs« ein. Neben zahlreichen anderen Maßnahmen richtete Frau Bergmann eine Anlaufstelle ein, an die sich Betroffene und ihre Kontaktpersonen telefonisch oder schriftlich wenden können. Bis zum Ausscheiden von Frau Dr. Christine Bergmann Ende Oktober 2011 meldeten sich bei der Anlaufstelle mehr als 22000 Personen (19000 Anrufe, 3000 Briefe) und berichteten von ihren eigenen Erfahrungen oder ihnen bekannten Fällen sexueller Ausbeutung – viele lagen Jahre zurück und waren bereits strafrechtlich verjährt, andere aktuelle Fälle. Die wissenschaftliche Auswertung der telefonischen Meldungen und Briefe von Betroffenen bestätigt, dass Mädchen und Jungen, junge Frauen und Männer häufig in Institutionen sexuell ausgebeutet werden. Die weiblichen Betroffenen hatten in deutlich mehr als der Hälfte der Fälle sexualisierter Gewalt in der Familie (70,8 Prozent), in nahezu jedem sechsten Fall in Institutionen (17,2 Prozent), in jedem zehnten Fall im sozialen Umfeld der Familie und in einigen wenigen Fällen durch Fremdtäter erlebt. Männliche Betroffene wurden weniger häufig als Mädchen innerhalb der Familie (32,6 Prozent), jedoch häufiger in Vereinen, auf Ferienfreizeiten, in Pfarrgemeinden und anderen Institutionen sexuell ausgebeutet (56,9 Prozent). In etwa jedem

Einige Mütter und Väter, Pädagoginnen und Pädagogen gehen davon aus, dass der Anteil der Fremdtäter in den letzten Jahren sehr stark gestiegen sei, da Täter heute vielfach über Chaträume und andere soziale Netzwerke des Internets ihre Opfer suchen. Die Erfahrungen von Zartbitter sind andere. Zartbitter hat in den letzten sechs Jahren Präventionsprojekte gegen sexuellen Missbrauch und Cyber-Mobbing per Handy, Internet und Spielkonsole durchgeführt, an denen mehr als 450000 Mädchen und Jungen der

Sexuelle Übergriffe unter Kindern im Vor- und Grundschulalter

Schon sehr kleine Kinder können sexuelle Übergriffe verüben. Diese finden häufig nicht nur unter Geschwistern, sondern ebenso unter Freunden und Freundinnen zum Beispiel in Kindertagesstätten, Grundschulen und Jugendgruppen statt. Verbale sexuelle Belästigungen werden zum Beispiel von ca. 40 Prozent der Schüler und Schülerinnen im Grundschulalter verübt.[14] Sexuelle Übergriffe unter Kindern im Vor- und Grundschulalter können unterschiedliche Ursachen haben (siehe S. 263).

Sexualisierte Gewalt durch jugendliche Täter

Internationale Forschungsergebnisse belegen durchgängig, dass etwa ein Drittel der Täter selbst noch im Jugendalter bzw. jünger als 21 Jahre ist. Ebenso bestätigt die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes, dass sexueller Missbrauch häufig von jungen Menschen verübt wird. Im Jahr 2009 waren 17 Prozent der Tatverdächtigen Jugendliche und 7 Prozent junge

Frauen als Täterinnen

Sexueller Missbrauch ist kein rein männliches Delikt. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sind die Täter männlich, doch in ca. 10–20 Prozent der Fälle werden Mädchen und Jungen von Frauen und weiblichen Jugendlichen missbraucht. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung der Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs bestätigen diese Zahlen: 14 Prozent der Betroffenen berichteten, von einer Frau missbraucht worden zu sein – 10 Prozent alleine von einer Frau und 4 Prozent sowohl von einer Frau als auch von einem Mann.

Wird Mädchen und Jungen von einer Frau oder einer weiblichen Jugendlichen sexualisierte Gewalt zugefügt, so wird den Opfern in der Regel noch weniger geglaubt als bei Missbrauch durch männliche Täter. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass zum Beispiel auch Pflegemütter, Jugendgruppenleiterinnen,

Anzahl der Opfer pro Täter

Männliche Täter, die Kinder und Jugendliche im Rahmen einer ehrenamtlichen oder beruflichen Tätigkeit missbrauchen, haben selten nur ein einziges, sondern in der Regel im Laufe ihres Lebens mehrere und manchmal sehr viele Opfer: 5, 10, 20, 40, 100, 300 … Nicht selten missbrauchen sie mehrere Mädchen und Jungen gleichzeitig.[15] Vertreter der Pädosexuellenszene gehen davon aus, dass in seltenen Fällen einzelne Täter im Laufe ihres Lebens zu weit mehr als 1000 Kindern »sexuelle Kontakte« haben.[16] Inwieweit diese Zahlen seriös sind oder auf »Prahlereien« von »bekennenden Pädophilen« beruhen, mag dahingestellt sein, doch bestätigen nicht zuletzt die Berichte über die sexuelle Ausbeutung innerhalb der Kirche oder in Internaten die relativ hohe Anzahl der Opfer einiger Täter. Bereits im Jahr 1998 machten zum Beispiel betroffene Männer in einem Brief an die Odenwaldschule auf weitere Opfer sexuellen Missbrauchs durch Lehrpersonen aufmerksam. Glasbrecher e.V., ein von ehemaligen Schülern der Odenwaldschule gegründeter Verein, geht im Herbst 2011 davon aus, dass an der Odenwaldschule mehr als 500 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht wurden.

Eine große Anzahl von Tätern missbrauchen ausschließlich oder vorrangig Jungen. In einer anonymen Befragung von Sexualstraftätern berichteten 153 inhaftierte, auf männliche

Die Vielzahl der Opfer einzelner Täter klingt nahezu unglaublich. Fachkräfte und Laien können diese meist leichter nachvollziehen, wenn sie sich vergegenwärtigen, dass einige Täter bis ins hohe Alter missbrauchen. Ihre ersten Taten verüben sie nicht selten bereits im Jugendalter, indem sie beispielsweise jüngere oder schwächere Kinder der Messdienergruppe oder aus der Nachbarschaft sexuell nötigen. Ein paar Jahre später finden sie ihre nächsten Opfer möglicherweise im Rahmen ihres Engagements als Jugendgruppenleiter oder als Praktikant in einer Kindertagesstätte bzw. in einer Schule für Mädchen und Jungen mit Behinderungen. Anschließend entscheiden sie sich für eine berufliche Tätigkeit, bei der sie mit jungen Menschen in Kontakt kommen, und werden etwa Hausmeister an einer Grundschule, Taxifahrer im Behindertentransport, Bademeister, Krankenpfleger, Arzt oder Lehrer. Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Anzahl der Opfer eines Täters bei sexueller Ausbeutung von jungen Frauen/Männern durch Lehrer, Priester, Ausbildungsleiter, Sozialarbeiter, Pflegeväter usw. liegen bisher jedoch nicht vor.

Wenn Kinder Zeuge von sexuellem Missbrauch werden – ein Fallbeispiel

Opfer sexualisierter Gewalt sind nicht nur Mädchen und Jungen, die unmittelbar sexuell ausgebeutet werden, sondern ebenso Kinder und Jugendliche, die sexuelle Ausbeutung miterleben.

 

Als ich zehn Jahre alt war, fuhr ich in den Ferien in ein Kinderheim. Abends hatten mehrere Jungen Heimweh, besonders wenn wir schlafen sollten. Einige von uns weinten leise. Ich stimulierte mich manchmal am Penis, das war wie ein kleiner Trost, wenn ich traurig war. An anderen Abenden schluchzte ich mich in den Schlaf. Manchmal tobten wir und wollten keine Ruhe geben. Die Erzieherin kam dann, schimpfte mit uns oder tröstete uns. Schließlich ging sie fast immer zu einem Jungen, dessen Bett an der Wand stand. Ich stellte mich schlafend und beobachtete sie heimlich durch einen Schlitz meines Bettzeugs. Sie streichelte dem Jungen über das Gesicht und flüsterte mit ihm. Ich konnte ihre Worte nicht verstehen, doch es hörte sich liebevoll an, besonders, wenn der Junge weinte. Ich hätte mir so gewünscht, dass sie auch zu mir ans Bett gekommen wäre!

Dann streichelte sie seine Brust und seinen Bauch. Ich sah einmal genau, wie sie ihre Hand in seine Schlafanzughose steckte und mit seinem Penis spielte. Ihre Bewegungen zeichneten sich deutlich über der Decke ab: auf und ab. Ich hatte Herzklopfen, mir wurde ganz heiß, ich hielt den Atem an, war wie gelähmt. Ich war erschrocken und zugleich auf gespannte Weise aufgeregt. Ich empfand Eifersucht.

Ich ärgerte den Jungen und hetzte andere auf, ihn zu quälen. Ich war wütend auf ihn, weil er etwas bekam, was ich nicht bekam. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen.

Noch viele Jahre hatte ich das Bild der Frau vor Augen, sie hatte Macht über meine Gefühle.

Vor wenigen Jahren war ich beruflich in der Nähe des Kurortes. Ich wollte endlich für mich klären, was das war, was ich erlebt hatte. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand ich sofort das Haus. Es wurde gerade umgebaut und war eine offene Baustelle. Ich ging hinein und stand nun mehr als 20 Jahre später wieder in dem alten Schlafsaal mit der Stuckdecke. Mir zitterten die Knie, mein Herz schlug im Hals. Die alten Bilder holten mich ein. Hier hatte mein Bett gestanden. Ich war wie aufgelöst und wütend, musste mich setzen. Da wusste ich, ich muss endlich erzählen, was ich gesehen hatte. Sonst lässt mich die Erinnerung nicht in Ruhe. (Jürgen, 35 Jahre)

Ursula Enders/Yücel Kossatz

 

Was ist und wo beginnt sexualisierte Gewalt?

Im Alltag von Institutionen kommt es immer wieder zu Verhaltensweisen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die die persönlichen Grenzen von Mädchen und Jungen, jungen Frauen und Männern überschreiten. Sexuelle, psychische und körperliche Grenzüberschreitungen verletzen Grenzen zwischen einzelnen Personen, zwischen Generationen und/oder Geschlechtern. Verübt werden Grenzverletzungen sowohl von erwachsenen wie jugendlichen Frauen und Männern, die mit Betreuungs- oder Versorgungsaufgaben beauftragt werden, als auch von gleichaltrigen oder älteren Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden. Viele grenzüberschreitende Verhaltensweisen sind unbeabsichtigt und können korrigiert werden, andere wiederum sind eindeutig übergriffig und somit inakzeptabel. In einigen Fällen handelt es sich um strafrechtlich relevante Formen sexualisierter, psychischer oder körperlicher Gewalt. Zudem gibt

Nachdem Institutionen sexuelle Grenzverletzungen in der Vergangenheit fast durchgehend verleugnet und vertuscht haben, vermuten heutzutage Laien und Fachkräfte mitunter schon bei unbeabsichtigten und zufälligen Grenzüberschreitungen einen schweren sexuellen Missbrauch. Beide Reaktionsweisen schaden den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Institutionen dürfen entsprechend ihrer Verantwortung für den Kinderschutz sexuelle Grenzverletzungen in den eigenen Reihen nicht bagatellisieren und müssen zugleich auf Fehlverhalten von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen besonnen und unmissverständlich reagieren, um dieses bereits in den Anfängen zu stoppen.

Im Sinne eines fachlich angemessenen Umgangs mit grenzverletzendem Verhalten empfiehlt sich eine Differenzierung zwischen

  • Grenzverletzungen, die unabsichtlich verübt werden und/oder aus fachlichen bzw. persönlichen Unzulänglichkeiten oder aus einer »Kultur der Grenzverletzungen« resultieren

  • sexuellen Übergriffen, die Ausdruck eines unzureichenden Respekts gegenüber Mädchen und Jungen, grundlegender fachlicher Mängel und/oder einer gezielten Vorbereitung eines sexuellen Missbrauchs/eines Machtmissbrauchs sind

  • strafrechtlich relevanten Formen sexualisierter Gewalt (wie sexuelle Nötigung, exhibitionistische Handlungen, sexueller Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen, Vergewaltigungen, die Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger, Prostitution von Kindern, das Ausstellen, die Herstellung, der Handel und Eigenbesitz kinderpornografischer Produkte).

 

Zartbitter e.V. (2009). »Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen von Gewalt im pädagogischen Alltag«. Die Checkliste von Zartbitter e.V. erleichtert die Wahrnehmung von Grenzverletzungen und trägt in konkreten Fällen zur Versachlichung der Diskussion bei.

Zum Downloaden unter www.zartbitter.de