Zitat eines ehemaligen Schülers der Odenwaldschule, an der vermutlich Hunderte von Schülern von Lehrern und Lehrerinnen sexuell missbraucht wurden
vgl.: Enders/Eberhardt (2007)
Download der Illustrationen unter www.zartbitter.de
Die folgenden Bausteine entsprechen Enders/Eberhardt (2007).
Nowara/Pierschke 2005, S. 70f. und 76
Bange/Enders 1995
vgl. DJI 2011a
4 vgl. Bange 2011
Wetzels 1997
Elliott u.a. 1995
Nowara & Pirschke 2005
KFN 2011
vgl. ebenda
Wetzels 1997
Fegert/Rassendorfer/Schneider/Seitz/König/Spröber 2011
ebenda
KFN 2011
vgl. Elz 2003
vgl. z.B. Bundschuh/Stein-Hilbers 1998; Engelfried 1997
z.B. Brongersma 1991
vgl. Abel/Rouleau, zitiert nach DJI 2011b
Wyre/Swift 1991
Bastian Obermayer/Rainer Stadler, Bruder, was hast Du getan? Kloster Ettal. Die Täter, die Opfer, das System, Köln 2011: Kiepenheuer & Witsch
20 Brongersma 1992, S. 126
zit.n. Leopardi 1988, S. 126
Lautmann 1994, S. 121
Brongersma 1992, S. 109
Bange 2000a, S. 85
Kentler 1989
Kentler 1999, S. 151
Kentler 1991, S. 103f.
Lautmann 1994
ebenda
Gloer/Schmiedeskamp-Böhler 1990
Conte u.a. 1985
http://www.mik.nrw.de/presse-mediathek/aktuelle-meldungen/archiv/archiv-meldungen-im-detail/news/rede-von-abteilungsleiter-wolfgang-dueren-anlaesslich-der-sitzung-des-innenausschusses-aufnahmerit.html, 15.08.08 – Stand: 24. 05. 2011
http://www.sueddeutsche.de/panorama/umstrittene-aufnahmefeiern-feuer-unterm-dach-1.581768, 18.08.2008 – Stand: 24. 05. 2011
www.beepworld.de/cgi-bin/forum_de/archive/index.php/t-199025.html, 08.07.2007 – Stand: 25. 05. 2011
http://archiv.raid-rush.ws/t-609555.html, 04. 07. 2009 – Stand: 25. 05. 2011
http://www.sturmforum.at/wbb3/index.php?page=Thread&threadID=1319 – Stand: 24. 05. 2011
http://www.news.at/articles/0249/20/46592/pastern-schweden-klagen, 07.12.2002 – Stand: 24. 05. 2011
http://www.news.at/articles/0249/20/46592/pastern-schweden-klagen, 07.12.2002 – Stand: 24. 05. 2011
http://www.blick.ch/news/schweiz/bern/junioren-missbrauchen-mitspieler-mit-besenstiel-159418, 27. 10. 2010 – Stand: 24. 05. 2011
http://www.rp-online.de/panorama/deutschland/ameland-vier-jugendliche-werden-angeklagt-1.1998321, 25. 03. 2011 – Stand: 24. 05. 2011
http://www.mainpost.de/sport/Bad-Kissingen-Aufnahme-Ritual;art796,2437167, aktualisiert am 03. 12. 2006 – Stand: 24. 05. 2011
http://board.raidrush.ws/showthread.php?t=609555, 24. 06. 2009 – Stand: 24. 05. 2011
Nowara/Pierschke 2005, S. 70f. und 76
Kroll/Meyerhoff/Sell 2003
Enders/Eberhardt 2007
ebenda
Fegert/Wolff 2006
Enders/Eberhardt 2007
ebenda
Kroll/Meyerhoff/Sell 2003
Anfang der Neunzigerjahre wurde ich damit konfrontiert, dass einer meiner ehemaligen Kollegen in einer Übernachtungsstelle für jugendliche Trebegänger Mädchen und Jungen missbraucht hatte. Fünf Jahre zuvor hatten wir gemeinsam im Rahmen eines ehrenamtlichen Engagements beim Deutschen Kinderschutzbund ein Beratungsangebot für kindliche Opfer sexuellen Missbrauchs aufgebaut. Nachdem ich den ersten Schock über die erschütternde Nachricht überwunden hatte, setzte ich mich mit der Frage auseinander, wie der Vereinskollege mein ansonsten gut funktionierendes gesundes Misstrauen überlisten und mich derart täuschen konnte. Schnell wurde deutlich, dass es mir an grundlegendem Wissen über die Vorgehensweisen von Tätern mangelte. Ich hatte typische Täterstrategien des Sozialarbeiters nicht als solches erkannt und zum Beispiel nicht durchschaut, dass er die »Maske des Kinderschützers« nutzte, um die Wahrnehmung der Umwelt zu vernebeln und mit möglichen Opfern in Kontakt zu kommen. Diese Erkenntnis motivierte mich zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem strategischen Vorgehen von Tätern und Täterinnen bei sexuellem Missbrauch in Institutionen. Eine intensive Recherche zum internationalen Forschungsstand und der regelmäßige Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen europäischen Ländern erweiterten mein Wissen. Auch schärfte die Dokumentation der Fakten in den bei Zartbitter bekanntgewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in Institutionen meinen Blick für das systematische Vorgehen von Tätern und Täterinnen. Zugleich erschlossen sich aus der intensiven fachlichen Auseinandersetzung neue Möglichkeiten der Prävention.
Wissen hilft, das strategische Vorgehen von Tätern zu stoppen und sichere Orte für Mädchen und Jungen zu schaffen. Möge das Handbuch »Grenzen achten« Müttern und Vätern, Pädagoginnen und Pädagogen Mut machen, sich aktiv für den Schutz von Mädchen und Jungen in Institutionen einzusetzen!
Ursula Enders
Köln, im Januar 2012
Fakten zum sexuellen Missbrauch in Institutionen
Fälle von sexuellem Missbrauch durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus Institutionen hat es immer schon gegeben, doch wurde meist nur hinter vorgehaltener Hand und nicht offen darüber gesprochen. Da die Täter in der Vergangenheit nur sehr selten zur Rechenschaft gezogen wurden, waren Mädchen und Jungen ihnen schutzlos ausgeliefert – zum Beispiel dem Pfarrer, den die Erwachsenen der Gemeinde »Pastor gribbel in die Buchs« (rheinisch für »in die Hose fassen«) nannten, oder dem Lehrer, der im Laufe seiner 30-jährigen Berufslaufbahn wiederholt sexuelle Kontakte zu Schülerinnen aufbaute und inzwischen mit der fünften ehemaligen Schülerin zusammenlebt.
In den Achtzigerjahren machten die ersten Frauen sexuelle Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit öffentlich. Die meisten von ihnen hatten sexualisierte Gewalt durch ihre Väter und Stiefväter erlebt. Während zuvor Kinder vor dem »schwarzen Mann auf dem Spielplatz« gewarnt wurden, entstand nunmehr der neue Mythos, dass die Opfer bis auf wenige Ausnahmen weiblich und die Täter in der Regel Väter oder Stiefväter seien. Missbrauch an Jungen wurde weiterhin tabuisiert. Erst nachdem die ersten deutschsprachigen Fachpublikationen über Missbrauch an Jungen erschienen – »Die verlorene Kindheit – Sexuelle Gewalt gegen Jungen«[1] und »Auch Indianer kennen Schmerz«[2] – und erste Prominente wie der Rockmusiker Carlos Santana die Missbrauchserlebnisse in ihrer Kindheit öffentlich machten, fanden vermehrt männliche Opfer den Mut, sich zu Wort zu melden. Viel Aufmerksamkeit fand auch der Bericht des James-Bond-Darstellers Roger Moore: Er berichtete 1996 anlässlich des von Königin Silvia von Schweden initiierten 1. Weltkongresses gegen kommerzielle sexuelle Ausbeutung in Stockholm, dass er als Junge das Glück hatte, mit dem Schrecken davongekommen zu sein, als er mit einem Freund zeltete und ein unbekannter Mann die beiden Jungen sexuell ausbeuten wollte. Danach dauerte es noch weitere 14 Jahre, bis im Jahr 2010 die breite Öffentlichkeit nach der Aufdeckung zahlreicher Fälle sexuellen Missbrauchs in Kirchengemeinden, Heimen, Internaten, Schulen und Vereinen endlich wahrnahm, dass nicht nur die Familie, sondern oftmals auch Institutionen Tatort der Verbrechen und etwa ein Drittel der Opfer Jungen sind.
Mädchen werden etwa zweimal so häufig Opfer sexuellen Missbrauchs wie Jungen. Doch nicht nur Mädchen haben ein erhöhtes Risiko, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, sondern überdurchschnittlich gefährdet sind ebenfalls Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die aufgrund körperlicher oder geistiger Einschränkungen über geringere Selbstschutz- oder Mitteilungsmöglichkeiten verfügen. Auch sind Mädchen und Jungen, junge Frauen und Männer, die besondere Belastungen meistern müssen, häufiger betroffen als junge Menschen, die unbeschwert aufwachsen. Besondere Risikofaktoren sind zum Beispiel der Tod eines Elternteils, massive Ehekonflikte der Eltern, psychische Erkrankung der Mutter, Drogen- oder Alkoholabhängigkeit der Mutter oder des Vaters und harte Bestrafungspraktiken in der Familie.
Haben Kinder und Jugendliche mehrere unterschiedliche Belastungen zu meistern, so steigt ihr Risiko, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Wie auch bei häuslicher Gewalt findet sich beim sexuellen Missbrauch kein oder nur ein geringer Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status: Es werden Mädchen und Jungen aus allen Gesellschaftsschichten sexuell missbraucht.[3]
Der Beratungsalltag von Zartbitter, Wildwasser, Tauwetter und anderen Fachstellen gegen sexualisierte Gewalt belegt zudem das erhöhte Risiko von Mädchen und Jungen, deren Mütter und Väter oder Pädagoginnen und Pädagogen, denen sie anvertraut werden, sich kaum mit der Problematik des sexuellen Missbrauchs beschäftigt haben. Sind die Erwachsenen nur unzureichend über die Strategien der Täter und Täterinnen informiert, so fällt es ihnen besonders schwer wahrzunehmen, wenn jemand die sexuelle Ausbeutung eines Kindes, Jugendlichen oder Heranwachsenden systematisch vorbereitet.
Nach den Ergebnissen der acht vorliegenden deutschen Untersuchungen aus den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts werden zwischen 12,5 und 29 Prozent aller Mädchen in ihrer Kindheit inner- und außerhalb der Familie Opfer sexuellen Missbrauchs. Bei den Jungen sind es zwischen 4 und 8,2 Prozent.[4] Die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums von Peter Wetzels durchgeführte Studie aus dem Jahr 1997 stellt ein Ausmaß von 18,1 Prozent bei den Mädchen und 6,2 Prozent bei den Jungen fest. Tatsächlich dürften die Zahlen jedoch höher liegen, denn in der Untersuchung von Peter Wetzels wurden keine Frauen und Männer erfasst, die in Heimen, in der Psychiatrie, im betreuten Wohnen, in Gefängnissen usw. leben und unter denen eine erhöhte Zahl von Betroffenen zu erwarten ist.[5]
Geschlecht der Opfer
Etwa zwei Drittel der Opfer sind Mädchen, etwa ein Drittel Jungen.
Art der sexuellen Gewalthandlungen
Etwa 30 Prozent der Opfer erleben anale, orale oder vaginale Vergewaltigungen, etwa 40 Prozent genitale Manipulationen, und etwa 30 Prozent der Opfer werden zu Zungenküssen gezwungen, an der Brust berührt oder begegnen Exhibitionisten.
Dauer des Missbrauchs
Etwa die Hälfte der Fälle sexuellen Missbrauchs betreffen einmalige Handlungen, die andere Hälfte der Fälle betreffen mehrmalige Handlungen und ziehen sich teilweise über Jahre hin.
Alter der Opfer
Etwa je ein Drittel der Fälle sexuellen Missbrauchs geschehen bzw. beginnen vor dem 10. Lebensjahr der Opfer, im Alter von 10 bis 12 Jahren und geschehen bzw. beginnen in der Pubertät bzw. ab dem 12. Lebensjahr.
Alter der Täter
Etwa ein Drittel der Täter ist jünger als 21 Jahre, zwei Drittel sind Erwachsene ab 21 Jahren.
Geschlecht der Täter/innen
80 bis 90 Prozent der Täter sind Männer.
Frauen bzw. weibliche Jugendliche sind für etwa 20 Prozent der Fälle sexuellen Missbrauchs an Jungen und für 5 bis 10 Prozent der Fälle sexuellen Missbrauchs an Mädchen verantwortlich.
Soziale Schicht
Sexueller Missbrauch geschieht in allen sozialen Schichten.
Missbrauch in Institutionen
Es gibt keine gesicherten Daten über das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in Institutionen. Folgende Untersuchungsergebnisse liefern erste Hinweise:
Von 91 untersuchten verurteilten Sexualstraftätern aus den USA hatten 35 Prozent einen sozialpädagogischen Hintergrund.[6]
Von 324 Jungen aus NRW, die als Sexualstraftäter aufgefallen sind, haben 17 Prozent ihre Taten in Heimen oder Einrichtungen der Jugendhilfe begangen.[7]
Im Rahmen einer Befragung gaben 8,6 Prozent aller weiblichen Betroffenen an, von einem Lehrer missbraucht worden zu sein.[8]
Bisher gibt es in der Bundesrepublik keine Grundlagenforschung zur Problematik sexualisierter Gewalt in Institutionen. Die vier deutschen Untersuchungen, die Angaben zum Opfer-Täter-Verhältnis machen, unterscheiden lediglich zwischen sexuellem Missbrauch durch Familienangehörige, Menschen aus dem außerfamilialen Umfeld und Fremdtätern. In diesen Untersuchungsergebnissen schwankt der Prozentsatz der Täter aus der Familie bei den Mädchen zwischen 22 und 40 Prozent und bei den Jungen zwischen 15 und 35 Prozent. Mädchen werden zwischen 27 und 50 Prozent und Jungen zwischen 46 und 55 Prozent von Menschen aus dem sozialen Umfeld der Familie missbraucht – aus dem Freundeskreis der Familie, der Nachbarschaft, der weitläufigen Verwandtschaft, der Schule, der Pfarrgemeinde, der Musikschule, dem Verein oder anderen Institutionen.[9]
Die Untersuchung von Peter Wetzels bestätigt das große Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Umfeld der Familie. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass etwas mehr als ein Viertel der Täter und Täterinnen aus dem Familienkreis der Opfer und gut 40 Prozent aus dem Umfeld der Familie kommen. Ein weiteres Viertel sind den Opfern unbekannte Täter – meist Exhibitionisten, die öffentlich ihr Glied entblößen und sich u.a. vor Kindern und Jugendlichen befriedigen.[10]
Die Statistik des Bundeskriminalamtes weist ähnliche Zahlen aus: 2010 wurden laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (Tabelle 91/PKS) 14407 Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern erfasst. In 22 Prozent der Fälle kam der Täter aus der Familie des Opfers. In 29 Prozent waren die Täter dem Kind bekannte, in 9 Prozent flüchtig bekannte und in 32 Prozent unbekannte Personen (meist Exhibitionisten). In knapp 7 Prozent der Fälle war die Beziehung zwischen Täter und Opfer ungeklärt. Laut Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2009 2242 Menschen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Im Jahr 2010 waren es 1473 Verurteilte. Gegen weitere 380 Personen wurde 2010 ein Hauptverfahren eröffnet, dieses aber zum Teil unter Auflage von gerichtlichen Maßnahmen (zum Beispiel Zahlung eines Bußgeldes), zum Teil ohne Auflagen eingestellt. Die Verurteilungen eines Jahres beziehen sich generell nicht ausschließlich auf die in diesem Jahr erfassten Fälle, da sich Verfahren bis zu einem Urteilsspruch teilweise über Jahre hinziehen können. Der Abgleich entsprechender Zahlen zeigt jedoch unter Berücksichtigung der Vorjahre, dass höchstens ein Sechstel der von der Polizei aufgedeckten Fälle sexuellen Missbrauchs verurteilt werden. Als polizeilich aufgedeckt gilt ein Fall, wenn die Polizei zu der Einschätzung gelangt, dass ein »hinreichender Tatverdacht« gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen besteht.
Nach der Aufdeckung des erschütternden Ausmaßes sexualisierter Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durch katholische Geistliche und in renommierten Internaten wie zum Beispiel der Odenwaldschule setzte die Bundesregierung im Frühjahr 2010 die ehemalige Familienministerin Christine Bergmann als »Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs« ein. Neben zahlreichen anderen Maßnahmen richtete Frau Bergmann eine Anlaufstelle ein, an die sich Betroffene und ihre Kontaktpersonen telefonisch oder schriftlich wenden können. Bis zum Ausscheiden von Frau Dr. Christine Bergmann Ende Oktober 2011 meldeten sich bei der Anlaufstelle mehr als 22000 Personen (19000 Anrufe, 3000 Briefe) und berichteten von ihren eigenen Erfahrungen oder ihnen bekannten Fällen sexueller Ausbeutung – viele lagen Jahre zurück und waren bereits strafrechtlich verjährt, andere aktuelle Fälle. Die wissenschaftliche Auswertung der telefonischen Meldungen und Briefe von Betroffenen bestätigt, dass Mädchen und Jungen, junge Frauen und Männer häufig in Institutionen sexuell ausgebeutet werden. Die weiblichen Betroffenen hatten in deutlich mehr als der Hälfte der Fälle sexualisierter Gewalt in der Familie (70,8 Prozent), in nahezu jedem sechsten Fall in Institutionen (17,2 Prozent), in jedem zehnten Fall im sozialen Umfeld der Familie und in einigen wenigen Fällen durch Fremdtäter erlebt. Männliche Betroffene wurden weniger häufig als Mädchen innerhalb der Familie (32,6 Prozent), jedoch häufiger in Vereinen, auf Ferienfreizeiten, in Pfarrgemeinden und anderen Institutionen sexuell ausgebeutet (56,9 Prozent). In etwa jedem zehnten Fall sexuellen Missbrauchs von Jungen kamen die Täter und Täterinnnen aus dem weiteren sozialen Umfeld oder waren dem Jungen persönlich nicht bekannt.[11] Die breite öffentliche Diskussion über Missbrauch in der Kirche motivierte vor allem Frauen und Männer, zurückliegende Gewalterfahrungen in Pfarrgemeinden und kirchlichen Einrichtungen zu melden. Ebenso wurden einige Fälle aus Schulen, Ausbildungsstätten, Kindertagesstätten, Jugendverbänden, von Ferienfreizeiten und aus Sportvereinen benannt. Auffallend war der mit 7 Prozent relativ hohe Anteil der Berichte über sexuellen Missbrauch durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gesundheitswesens (Ärzte, Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Psychotherapeuten usw.). Etwas mehr als einem Drittel der Betroffenen, die in einer Institution sexuell ausgebeutet wurden, war auch in anderen Institutionen, in der Familie, im privaten sozialen Umfeld oder durch Fremdtäter sexualisierte Gewalt zugefügt worden.[12] Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen weist in seinem Forschungsbericht über die Befragung von 16- bis 40-Jährigen auf das hohe Ausmaß der sexuellen Ausbeutung durch Lehrer hin: 8,6 Prozent der Betroffenen gaben an, von einem Lehrer missbraucht worden zu sein.[13]
Einige Mütter und Väter, Pädagoginnen und Pädagogen gehen davon aus, dass der Anteil der Fremdtäter in den letzten Jahren sehr stark gestiegen sei, da Täter heute vielfach über Chaträume und andere soziale Netzwerke des Internets ihre Opfer suchen. Die Erfahrungen von Zartbitter sind andere. Zartbitter hat in den letzten sechs Jahren Präventionsprojekte gegen sexuellen Missbrauch und Cyber-Mobbing per Handy, Internet und Spielkonsole durchgeführt, an denen mehr als 450000 Mädchen und Jungen der Klassenstufen 3 bis 8 teilnahmen (siehe S. 361). Die Berichte der Kinder und Jugendlichen lassen den Rückschluss zu, dass auch in Fällen sexualisierter Gewalt über soziale Netzwerke viele Täter und Täterinnen den Opfern persönlich bekannt sind – oftmals sind dies Jugendliche aus dem sozialen Umfeld, in einigen Fällen auch Lehrer, Sozialarbeiter aus Jugendzentren, Betreuer von Ferienfreizeiten usw.
Schon sehr kleine Kinder können sexuelle Übergriffe verüben. Diese finden häufig nicht nur unter Geschwistern, sondern ebenso unter Freunden und Freundinnen zum Beispiel in Kindertagesstätten, Grundschulen und Jugendgruppen statt. Verbale sexuelle Belästigungen werden zum Beispiel von ca. 40 Prozent der Schüler und Schülerinnen im Grundschulalter verübt.[14] Sexuelle Übergriffe unter Kindern im Vor- und Grundschulalter können unterschiedliche Ursachen haben (siehe S. 263).
Internationale Forschungsergebnisse belegen durchgängig, dass etwa ein Drittel der Täter selbst noch im Jugendalter bzw. jünger als 21 Jahre ist. Ebenso bestätigt die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes, dass sexueller Missbrauch häufig von jungen Menschen verübt wird. Im Jahr 2009 waren 17 Prozent der Tatverdächtigen Jugendliche und 7 Prozent junge Heranwachsende (18–21 Jahre). Obgleich davon auszugehen ist, dass von Kindern verübte sexualisierte Gewalt kaum angezeigt wird, sind laut Polizeilicher Kriminalstatistik des Jahres 2009 in 9 Prozent der polizeilich erfassten Fälle sexuellen Missbrauchs die Tatverdächtigen jünger als 14 Jahre alt. Sexualisierte Gewalt in Institutionen wird von Jugendlichen u.a. in Form von Gruppenvergewaltigungen und/oder im Rahmen von Aufnahmeritualen, Mutproben und grenzverletzenden Spielen verübt (s. Seite 158).
Sexueller Missbrauch ist kein rein männliches Delikt. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sind die Täter männlich, doch in ca. 10–20 Prozent der Fälle werden Mädchen und Jungen von Frauen und weiblichen Jugendlichen missbraucht. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung der Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs bestätigen diese Zahlen: 14 Prozent der Betroffenen berichteten, von einer Frau missbraucht worden zu sein – 10 Prozent alleine von einer Frau und 4 Prozent sowohl von einer Frau als auch von einem Mann.
Wird Mädchen und Jungen von einer Frau oder einer weiblichen Jugendlichen sexualisierte Gewalt zugefügt, so wird den Opfern in der Regel noch weniger geglaubt als bei Missbrauch durch männliche Täter. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass zum Beispiel auch Pflegemütter, Jugendgruppenleiterinnen, Lehrerinnen, Therapeutinnen, Reitlehrerinnen, Tagesmütter, ehrenamtliche Mitarbeiterinnen in einem Kinderhospiz oder Betreuerinnen im Wohnheim für Menschen mit Behinderung sexualisierte Gewalt verüben können. Erfahrungen der Beratungspraxis mit kindlichen Opfern sexueller Gewalt lassen darauf schließen, dass einzelne Täterinnen meist weniger Opfer haben als männliche Täter. Frauen missbrauchen jedoch einzelne Opfer häufig über einen langen Zeitraum.
Männliche Täter, die Kinder und Jugendliche im Rahmen einer ehrenamtlichen oder beruflichen Tätigkeit missbrauchen, haben selten nur ein einziges, sondern in der Regel im Laufe ihres Lebens mehrere und manchmal sehr viele Opfer: 5, 10, 20, 40, 100, 300 … Nicht selten missbrauchen sie mehrere Mädchen und Jungen gleichzeitig.[15] Vertreter der Pädosexuellenszene gehen davon aus, dass in seltenen Fällen einzelne Täter im Laufe ihres Lebens zu weit mehr als 1000 Kindern »sexuelle Kontakte« haben.[16] Inwieweit diese Zahlen seriös sind oder auf »Prahlereien« von »bekennenden Pädophilen« beruhen, mag dahingestellt sein, doch bestätigen nicht zuletzt die Berichte über die sexuelle Ausbeutung innerhalb der Kirche oder in Internaten die relativ hohe Anzahl der Opfer einiger Täter. Bereits im Jahr 1998 machten zum Beispiel betroffene Männer in einem Brief an die Odenwaldschule auf weitere Opfer sexuellen Missbrauchs durch Lehrpersonen aufmerksam. Glasbrecher e.V., ein von ehemaligen Schülern der Odenwaldschule gegründeter Verein, geht im Herbst 2011 davon aus, dass an der Odenwaldschule mehr als 500 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht wurden.
Eine große Anzahl von Tätern missbrauchen ausschließlich oder vorrangig Jungen. In einer anonymen Befragung von Sexualstraftätern berichteten 153 inhaftierte, auf männliche Opfer fixierte pädosexuelle Täter, insgesamt 22981 Opfer missbraucht zu haben – das heißt im Durchschnitt 150 pro Täter. Die 224 verurteilten pädosexuellen Täter, die vorrangig Mädchen sexualisierte Gewalt zufügten, gaben durchschnittlich 20 Opfer an.[17] Der englische Tätertherapeut Ray Wyre berichtete bereits vor mehr als 20 Jahren über einen Täter, der als Kindertherapeut arbeitete und dem über 2000 Kinder zum Opfer fielen.[18] Auch aus Deutschland werden zunehmend Fälle mit hohen Opferzahlen bekannt. Zartbitter war bereits in einigen Fällen tätig, in denen weit mehr als 100 Kinder von der sexuellen Ausbeutung eines Täters betroffen waren – als unmittelbare Opfer oder als Zeugen des Missbrauchs.
Die Vielzahl der Opfer einzelner Täter klingt nahezu unglaublich. Fachkräfte und Laien können diese meist leichter nachvollziehen, wenn sie sich vergegenwärtigen, dass einige Täter bis ins hohe Alter missbrauchen. Ihre ersten Taten verüben sie nicht selten bereits im Jugendalter, indem sie beispielsweise jüngere oder schwächere Kinder der Messdienergruppe oder aus der Nachbarschaft sexuell nötigen. Ein paar Jahre später finden sie ihre nächsten Opfer möglicherweise im Rahmen ihres Engagements als Jugendgruppenleiter oder als Praktikant in einer Kindertagesstätte bzw. in einer Schule für Mädchen und Jungen mit Behinderungen. Anschließend entscheiden sie sich für eine berufliche Tätigkeit, bei der sie mit jungen Menschen in Kontakt kommen, und werden etwa Hausmeister an einer Grundschule, Taxifahrer im Behindertentransport, Bademeister, Krankenpfleger, Arzt oder Lehrer. Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Anzahl der Opfer eines Täters bei sexueller Ausbeutung von jungen Frauen/Männern durch Lehrer, Priester, Ausbildungsleiter, Sozialarbeiter, Pflegeväter usw. liegen bisher jedoch nicht vor.
Bis zum heutigen Tag wird in der Bundesrepublik keine Statistik über sexuelle Ausbeutung in Institutionen geführt. Bedauerlicherweise sah bisher noch nicht einmal das Bundeskriminalamt eine Veranlassung dafür, der seit vielen Jahren von den Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt gestellten Forderung zu entsprechen und Missbrauch in Institutionen in der Kriminalstatistik gesondert zu erfassen. Ebenso wenig führen bzw. veröffentlichen die Schulaufsichtsbehörden eine Statistik über die ihnen gemeldeten Fälle sexueller Übergriffe und Missbrauch durch Lehrer und Lehrerinnen. Auch die Jugendverbände und der Deutsche Olympische Sportbund sehen trotz des großen Ausmaßes sexualisierter Gewalt in ihren Reihen bisher keine Veranlassung, Fälle von Missbrauch in den Verbänden systematisch zu dokumentieren. Lediglich die Kirchen legen aufgrund des großen öffentlichen Drucks erste Zahlen der sexuellen Ausbeutung durch Seelsorger vor, die allem Anschein nach jedoch weit unter den tatsächlichen liegen. Leider bleibt bis zum heutigen Tag auch in den Statistiken der katholischen Kirche das große Ausmaß sexualisierter Gewalt durch jugendliche Täter und Täterinnen in der kirchlichen Jugendarbeit unberücksichtigt (s. S. 158).
Opfer sexualisierter Gewalt sind nicht nur Mädchen und Jungen, die unmittelbar sexuell ausgebeutet werden, sondern ebenso Kinder und Jugendliche, die sexuelle Ausbeutung miterleben.
Als ich zehn Jahre alt war, fuhr ich in den Ferien in ein Kinderheim. Abends hatten mehrere Jungen Heimweh, besonders wenn wir schlafen sollten. Einige von uns weinten leise. Ich stimulierte mich manchmal am Penis, das war wie ein kleiner Trost, wenn ich traurig war. An anderen Abenden schluchzte ich mich in den Schlaf. Manchmal tobten wir und wollten keine Ruhe geben. Die Erzieherin kam dann, schimpfte mit uns oder tröstete uns. Schließlich ging sie fast immer zu einem Jungen, dessen Bett an der Wand stand. Ich stellte mich schlafend und beobachtete sie heimlich durch einen Schlitz meines Bettzeugs. Sie streichelte dem Jungen über das Gesicht und flüsterte mit ihm. Ich konnte ihre Worte nicht verstehen, doch es hörte sich liebevoll an, besonders, wenn der Junge weinte. Ich hätte mir so gewünscht, dass sie auch zu mir ans Bett gekommen wäre!
Dann streichelte sie seine Brust und seinen Bauch. Ich sah einmal genau, wie sie ihre Hand in seine Schlafanzughose steckte und mit seinem Penis spielte. Ihre Bewegungen zeichneten sich deutlich über der Decke ab: auf und ab. Ich hatte Herzklopfen, mir wurde ganz heiß, ich hielt den Atem an, war wie gelähmt. Ich war erschrocken und zugleich auf gespannte Weise aufgeregt. Ich empfand Eifersucht.
Ich ärgerte den Jungen und hetzte andere auf, ihn zu quälen. Ich war wütend auf ihn, weil er etwas bekam, was ich nicht bekam. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen.
Doch dann hatte ich abends oft Angst vorm Einschlafen, auch noch, als ich wieder zu Hause war. Lange schlief ich nur auf dem Bauch ein, damit niemand meinen Penis anfassen konnte.
Noch viele Jahre hatte ich das Bild der Frau vor Augen, sie hatte Macht über meine Gefühle.
Vor wenigen Jahren war ich beruflich in der Nähe des Kurortes. Ich wollte endlich für mich klären, was das war, was ich erlebt hatte. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand ich sofort das Haus. Es wurde gerade umgebaut und war eine offene Baustelle. Ich ging hinein und stand nun mehr als 20 Jahre später wieder in dem alten Schlafsaal mit der Stuckdecke. Mir zitterten die Knie, mein Herz schlug im Hals. Die alten Bilder holten mich ein. Hier hatte mein Bett gestanden. Ich war wie aufgelöst und wütend, musste mich setzen. Da wusste ich, ich muss endlich erzählen, was ich gesehen hatte. Sonst lässt mich die Erinnerung nicht in Ruhe. (Jürgen, 35 Jahre)
Was ist und wo beginnt sexualisierte Gewalt?
Im Alltag von Institutionen kommt es immer wieder zu Verhaltensweisen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die die persönlichen Grenzen von Mädchen und Jungen, jungen Frauen und Männern überschreiten. Sexuelle, psychische und körperliche Grenzüberschreitungen verletzen Grenzen zwischen einzelnen Personen, zwischen Generationen und/oder Geschlechtern. Verübt werden Grenzverletzungen sowohl von erwachsenen wie jugendlichen Frauen und Männern, die mit Betreuungs- oder Versorgungsaufgaben beauftragt werden, als auch von gleichaltrigen oder älteren Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden. Viele grenzüberschreitende Verhaltensweisen sind unbeabsichtigt und können korrigiert werden, andere wiederum sind eindeutig übergriffig und somit inakzeptabel. In einigen Fällen handelt es sich um strafrechtlich relevante Formen sexualisierter, psychischer oder körperlicher Gewalt. Zudem gibt es Institutionen, in denen eine »Kultur der Grenzverletzungen« herrscht. Das bedeutet, dass Grenzverletzungen Einzelner nicht als solche wahrgenommen, geschweige denn geächtet werden; der Alltag dieser Institutionen wird auf unterschiedlichen Ebenen von Grenzverletzungen geprägt.
Nachdem Institutionen sexuelle Grenzverletzungen in der Vergangenheit fast durchgehend verleugnet und vertuscht haben, vermuten heutzutage Laien und Fachkräfte mitunter schon bei unbeabsichtigten und zufälligen Grenzüberschreitungen einen schweren sexuellen Missbrauch. Beide Reaktionsweisen schaden den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Institutionen dürfen entsprechend ihrer Verantwortung für den Kinderschutz sexuelle Grenzverletzungen in den eigenen Reihen nicht bagatellisieren und müssen zugleich auf Fehlverhalten von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen besonnen und unmissverständlich reagieren, um dieses bereits in den Anfängen zu stoppen.
Im Sinne eines fachlich angemessenen Umgangs mit grenzverletzendem Verhalten empfiehlt sich eine Differenzierung zwischen
Grenzverletzungen, die unabsichtlich verübt werden und/oder aus fachlichen bzw. persönlichen Unzulänglichkeiten oder aus einer »Kultur der Grenzverletzungen« resultieren
sexuellen Übergriffen, die Ausdruck eines unzureichenden Respekts gegenüber Mädchen und Jungen, grundlegender fachlicher Mängel und/oder einer gezielten Vorbereitung eines sexuellen Missbrauchs/eines Machtmissbrauchs sind
strafrechtlich relevanten Formen sexualisierter Gewalt (wie sexuelle Nötigung, exhibitionistische Handlungen, sexueller Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen, Vergewaltigungen, die Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger, Prostitution von Kindern, das Ausstellen, die Herstellung, der Handel und Eigenbesitz kinderpornografischer Produkte).
Im Folgenden werden im pädagogischen Alltag häufig beobachtete Formen sexuell grenzverletzenden Verhaltens skizziert.
Zartbitter e.V. (2009). »Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen von Gewalt im pädagogischen Alltag«. Die Checkliste von Zartbitter e.V. erleichtert die Wahrnehmung von Grenzverletzungen und trägt in konkreten Fällen zur Versachlichung der Diskussion bei.
Zum Downloaden unter www.zartbitter.de