Reinhardts Gerontologische Reihe

Band 38

Vicki de Klerk-Rubin

Demenz in der Familie

Validation für Angehörige

Mit 16 Abbildungen

5., aktualisierte Auflage

Vicki de Klerk-Rubin, Den Haag, Niederlande, ist Krankenschwester und Validations-Master. Zusammen mit ihrer Mutter Naomi Feil, die die Methode begründet hat, entwickelt sie Validation weiter und ist geschäftsführende Direktorin des Validation Training Institute, Vorträge weltweit.

Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Brock

Fotos im Innenteil von Lena und Kate de Klerk

1.-4. Auflage erschienen unter dem Titel „Mit dementen Menschen richtig umgehen. Validation für Angehörige“

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

  ISBN 978-3-497-03123-8 (Print)

  ISBN 978-3-497-61578-0 (PDF-E-Book)

  ISBN 978-3-497-61579-7 (EPUB)

  ISSN 0939-558X

  5., aktualisierte Auflage

© 2022 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Covermotiv: © iStock.com/FredFroese. Agenturfoto. Mit Model gestellt

Satz: Bernd Burkart, www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Einleitung

■ Teil I
Was geschieht mit verwirrten hochbetagten Menschen?

Alzheimer-Demenz und Desorientierung: Was verbirgt sich hinter einem Wort?

Wenn Ihre Familie betroffen ist: Füreinander da sein und mit den eigenen Gefühlen richtig umgehen

Die Validationsprinzipien: Werkzeuge für ein neues Verständnis für desorientierte sehr alte Menschen

Was meinen sie damit? Bedürfnisse und Bedeutungen im Verhalten desorientierter hochbetagter Menschen erkennen

Aufarbeiten: Aufgaben im letzten Lebensabschnitt

■ Teil II
Wie Sie mit Ihrem desorientierten Familienmitglied kommunizieren können

Die Arbeit beginnt: Bereiten Sie sich auf die Validation vor

Erfolgreiche Techniken für den Umgang mit Menschen in Phase

Erfolgreiche Techniken für den Umgang mit Menschen in den Phasen 2 und 3

Erfolgreiche Techniken für den Umgang mit Menschen in der Phase

Es geht auch um Sie: Erkennen Sie Ihre Grenzen an und suchen Sie Hilfe

■ Teil III
Wie Validation im Familienalltag wirkt

Doris und ihre Mutter

Was tun, wenn Ihre Mutter eine bestimmte Handlung oder Fragen ständig wiederholt?

Herr Allert und seine Frau Joan

Wie reagieren, wenn Ihre Frau innerlich im Jahr 1942 lebt?

Nancy und ihre Mutter, Frau Johnson

Lassen Sie es zu und versetzen Sie sich in die Welt Ihrer Mutter hinein

Frau Prachel und ihre Mutter

Ihre Mutter ist nicht wieder zum Kind geworden

Jill und ihre Großmutter

Kindern und Jugendlichen besseren Umgang mit ihren desorientierten Großeltern vermitteln

Max und seine „Warten auf Johnnie“-Mutter

Ihre Mutter so akzeptieren, wie sie ist

Emily und ihr Mann Samuel

Nicht erkannt werden, das ist die Hölle

Helen und ihre Schwester Meryl

„Ich will jetzt nach Hause!“ Was tun?

Sara und Mama

Warum Sie mit Lügen und Sich-Verstellen nichts erreichen

Louise und Tom

Ihren Mann Tag für Tag ein Stückchen mehr verlieren

Schlussgedanken

Anhang

Verschiedene, besonders für Angehörige geeignete Projekte und Anregungen der AVO’s (Autorisierte Validationsorganisationen)

Zusammenfassung der Validation für pflegende Angehörige (Merkblatt zum Kopieren)

Kurzfassung der einzelnen Validierungsschritte (Merkblatt zum Kopieren)

Zentrierungsübungen

Adressen (Autorisierte Validationsorganisationen und Alzheimer-Gesellschaften)

Literatur

Danksagung

Einleitung

Dieses Buch richtet sich an Menschen, die ein desorientiertes hochbetagtes Familienmitglied betreuen. Es richtet sich an Töchter, Schwiegertöchter, Söhne, Schwiegersöhne, Ehemänner, Ehefrauen, Brüder, Schwestern, Freundinnen und Freunde, Nachbarinnen und Nachbarn sowie an andere Mitglieder einer „erweiterten Familie“. Dabei spielt es keine Rolle, ob Sie sich zu Hause oder in einer Pflegeeinrichtung um die verwandte oder befreundete Person kümmern, ob Sie die gesamte Betreuung alleine oder nur einen Teil der Pflege schultern. Wenn ein Mensch, der Ihnen nahe steht, an irgendeiner Form von Demenz leidet und 70 Jahre oder älter ist, kann Ihnen dieses Buch eine Hilfe sein. Viele der Anregungen in diesem Buch lassen sich aber auch in der Betreuung jüngerer desorientierter Menschen gut umsetzen.

Validation ist eine Methode zur Kommunikation und Unterstützung hochbetagter Menschen mit Desorientierung im letzten Abschnitt ihres Lebens. Es ist nicht Ziel der Validation, den Zustand sehr alter desorientierter Menschen zu verbessern, vielmehr geht es darum, dass wir, die Pflegenden, uns verändern und uns in die persönliche Realität unseres Gegenübers einfühlen. Wenn es uns gelingt, eine fürsorgliche, einfühlsame Beziehung herzustellen, können wir wieder neu in Kontakt treten oder auf eine neue Art kommunizieren, die uns und unserem desorientierten Angehörigen das Le-ben erleichtert und hilft, es erfreulicher zu gestalten. Das ist es, was Validation denjenigen anbieten kann, die unter dem Schmerz, den Anstrengungen und der Angst leiden, die bei der Pflege verwirrter alter Menschen entstehen. Obwohl Validation keine Heilmethode ist, ist sie für Pflegende und Gepflegte von großem Wert. Für uns kann es zutiefst erfüllend sein, wenn wir ein intensives Gespräch führen, Lachen oder Weinen miteinander teilen, die letztendlich scheinbar so bizarren Verhaltensweisen verstehen. Für uns ist es ein Gefühl der Erleichterung, wenn wir nicht hartnäckig kämpfen oder uns mühen müssen, um unseren Angehörigen zu ändern. Unsere Selbstachtung wächst, je mehr wir uns der Situation gewachsen fühlen. Validation bringt den alten Menschen Linderung und gleichzeitig Achtung gegenüber ihrer Menschenwürde. Weniger Stress und das Gefühl, so, wie sie jetzt sind, geschätzt und geachtet zu werden, kommen ihnen zugute. Wenn sie ermutigt werden, über Dinge zu sprechen, die ihnen viel bedeuten, können sie mit Ihnen verbunden bleiben, anstatt sich weiter in sich selbst zurückzuziehen.

Validation erfordert nicht viel Zeit, setzt aber eine ganze Menge bei den Anwendern voraus. Um validierend zu arbeiten, müssen Sie ehrlich sein mit sich, müssen Sie sich Ihren eigenen Gefühlen stellen, fähig sein, diese für eine Weile beiseite zu lassen, und willens, sich auf die Gefühle Ihres Angehörigen einzulassen. Das ist nicht jedermanns Sache. Vielleicht kommen Sie nach der Lektüre dieses Buchs zu dem Schluss, dass Validation für Ihr desorientiertes Familienmitglied gut sein mag, jedoch nichts ist, was Sie, die Pflegeperson, praktizieren möchten. Jedoch kann auch ein passives Verständnis für die Theorien und Ziele der Validation Ihre Haltung gegenüber dem Angehörigen und Ihrer Situation beeinflussen und Ihren Umgang mit beiden verbessern. Auch wenn Validation in die professionelle Pflege eines geliebten Menschen integriert wird, ist es für die Familienmitglieder und für den alten Menschen wertvoll, wenn Sie die Grundprinzipien der Validation verstehen.

Dieses Buch will Sie nicht alles über Validation lehren, sondern Ihnen einen Einstieg bieten, was möglicherweise genügt, um Ihnen einen völlig neuen Weg des Zusammenlebens mit Ihrem desorientierten Familienmitglied zu eröffnen.

In Teil I führe ich grundlegend in die Prinzipien und die Theorie der Validation ein. Dabei werden nicht sämtliche theoretischen Aspekte der Validation erläutert, doch immerhin so viel erklärt, dass Sie sich realistische Ziele setzen und eine geeignete emotionale Grundhaltung einnehmen können. Im Anschluss daran werde ich die Bedeutung des Verhaltens und den Sinn hinter dem Verhalten desorientierter hochbetagter Menschen näher betrachten. Es folgt eine Beschreibung „Schritt für Schritt“, wie Sie Validation mit Ihrem desorientierten Familienangehörigen einsetzen können. In TeilIII finden Sie mehrere typische Szenarien zwischen Angehörigen und desorientierten Familienmitgliedern, die zeigen, wie Validation jeweils eingesetzt wurde. Auf jede Szene folgt ein Kommentar, der Ihnen spezifische Hilfestellung für den Umgang mit schwierigen Situationen geben soll.

Die Validationsmethode geht auf die amerikanische Gerontologin Naomi Feil (geb. 1932) zurück. Sie hat festgestellt, dass die überkommenen Methoden in der Praxis nicht funktionierten. Daraufhin begann sie zu experimentieren und kam durch Versuch und Irrtum auf eine Reihe von Ideen, Theorien und Techniken, die sie im Laufe der Zeit zu einer in sich stimmigen Methode zusammenfügte. Heute wird Validation in Krankenhäusern, Pflegeheimen und von kommunalen Pflegehelfern in Nordamerika, Europa, Australien, China und Japan angewandt. Naomi Feils Bücher „Validation“ (engl. 1982, 1992, 2003) und „Validation in Anwendung und Beispielen“ (engl. 1993, 2004) sind beide weit verbreitet und wurden in neun Sprachen übersetzt. Einführende Lehrvideos sind in verschiedenen Sprachen erhältlich und werden in vielen Institutionen und Schulen eingesetzt, um das Personal für diese Art humanistischen Arbeitens mit älteren Erwachsenen, die mit kognitiven Einschränkungen leben, auszubilden und zu sensibilisieren. Naomi Feil trat mehrmals in Fernsehen und Rundfunk in den Vereinigten Staaten, Europa und Japan auf. 15000 professionelle Pflegekräfte und Laien nahmen jährlich an ihren Workshops in aller Welt teil.

Seit den 1980er Jahren bietet das „Validation Training Institute“ (VTI) Ausbildungsgänge mit Abschlusszertifikaten und Kurse gemäß internationaler Qualitätsstandards an. Die Zertifikate werden von vielen professionellen Institutionen und Behörden anerkannt. Das VTI arbeitet mit einem internationalen Netzwerk Autorisierter Validationsorganisationen (AVO). Bei den AVO’s können Sie weitergehende Informationen einholen und Unterstützung bekommen, Näheres über Validationskurse am Ort oder die Namen von Validationsanwenderinnen oder Validationsanwendern in Ihrer Nähe erfahren. (Siehe http://vfvalidation.org für weitere Informationen.)

■ Teil I
Was geschieht mit verwirrten hochbetagten Menschen?

Alzheimer-Demenz und Desorientierung: Was verbirgt sich hinter einem Wort?

Auch ohne Blick auf die Statistiken ist wohl allen klar, dass die steigende Zahl alter Menschen, die an irgendeiner Form von Demenz leiden, eine der größten Herausforderungen des Gesundheitssystems darstellt. Wir werden nicht nur älter als je zuvor in der Geschichte, auch der Anteil der über 65-Jährigen hat sich erhöht. Vor nur 50 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 70,6 Jahren, heute beträgt sie 81 Jahre (World Bank). Dieser Anstieg ist vor allem der verbesserten und besser zugänglichen medizinischen Versorgung zu verdanken, dem Fortschritt in der Medizintechnik und der gesünderen Lebensführung vieler Menschen. Noch im Jahr 1950 waren Tuberkulose und „Altersschwäche“ recht häufige Todesursachen. Heute tauchen diese Begriffe nicht mehr auf. Unsere Gesellschaft weist eine neue, bedeutende Bevölkerungsgruppe auf, nämlich die über 80-Jährigen. In allen gesellschaftlichen Bereichen mehren sich die Anzeichen, dass es uns schwer fällt, die besonderen Bedürfnisse der Menschen in diesem Lebensabschnitt zu verstehen und zu befriedigen.

Mit dieser Veränderung in der Bevölkerungsstruktur geht eine Steigerung der Zahl derer einher, die an einer Form der Alzheimer-Demenz erkranken. In Deutschland haben heute ca. 1.5 Millionen Personen eine durch die Alzheimer-Krankheit ausgelöste Demenz, wobei von einer Verdoppelung dieser Zahl in den kommenden 50 Jahren ausgegangen wird (Alzheimer Gesellschaft). Ich fand keine Angaben über die Zahl der Menschen, bei welchen Alzheimer-Demenz diagnostiziert wurde, aus der Zeit vor 1990, weil diese Diagnose damals offiziell nicht gestellt wurde. Was bedeutet das? Heißt es, dass sich die Erkrankung ausbreitet, dass einfach mehr Menschen an der Alzheimer-Krankheit leiden? Könnte es sein, dass diese Diagnose aufgrund neuer medizintechnischer Möglichkeiten leichter zu erhärten ist und deshalb mehr Menschen korrekt diagnostiziert werden, oder hat sich der Begriff „Alzheimer-Krankheit“ verändert, weshalb inzwischen mehr Menschen mit ähnlichen Symptomen in diese diagnostische Kategorie passen?

Mit 51 Jahren fing Frau D. an, Dinge des Alltagslebens zu vergessen. Zudem verdächtigte sie ihren Mann, Affären zu haben, und wurde extrem eifersüchtig. Obwohl er ihr tatsächlich keinerlei Anlass gab, machte sie ihm wütende Vorwürfe. Sie verirrte sich in der eigenen Wohnung, trug ohne erkennbaren Sinn Sachen hin und her und versteckte sie. Manchmal dachte sie, dass sie ermordet würde, und fing an zu schreien. Daraufhin wurde sie in eine entsprechende Institution eingewiesen. Dort änderte sich ihr Verhalten; sie wurde zunehmend hilflos sowie zeitlich und örtlich desorientiert. Sie trug Teile des Bettzeugs mit sich herum, rief nach ihrem Mann und ihrer Tochter und hatte akustische Halluzinationen. Ihr Zustand verschlechterte sich kontinuierlich, bis sie nach viereinhalb Jahren starb. Am Ende ihres Lebens lag sie in fötaler Haltung da, war völlig in sich gekehrt und reagierte nicht mehr auf ihre Umgebung. Sie starb im Alter von 55 Jahren. Das geschah vor 100 Jahren.

Alois Alzheimer war ein deutscher Pathologe, geboren 1864 in Marktbreit in Bayern. Er arbeitete in dem Krankenhaus, in welchem Frau D. ihre letzten Jahre verbrachte, und entwickelte dort neue Hilfsmittel und Techniken zur Untersuchung von Gehirnzellen. Sein Ziel: Er wollte herausfinden, welche abnormen Strukturen im Gehirn mit verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen korrelieren. Zusammen mit seinen Kollegen Franz Nissl und Emil Kraepelin publizierte er eine sechsbändige Enzyklopädie, die „Histologischen und histopathologischen Arbeiten über die Großhirnrinde“. Im Jahr 1906 präsentierte Dr. Alzheimer erstmals seine Forschungsarbeiten zu der Krankheit, die schließlich nach ihm benannt wurde (Alzheimer/Nissl). Alzheimer führte bei Frau D. eine Autopsie durch und entdeckte Folgendes: Das Gehirn von Frau D. wies „auffällige Veränderungen der Filamente (Teile der Nervenzellen des Gehirns) und eine eigenartige Substanz in der Hirnrinde auf. An Stelle normaler Zellen lagen eine oder mehrere Fibrillen, die durch ihre Dicke und Färbbarkeit auffielen... Der Kern und die Zelle waren desintegriert, weshalb nur eine Fibrillenmasse die Stelle der Ganglionzelle anzeigte... Das ganze Gehirn, insbesondere jedoch die oberen Schichten, war von miliären (hirsekornähnlichen) Zentren bedeckt, die von einer ungewöhnlichen Substanz gebildet wurden... Die Gliazellen waren fibrös und viele Gliazellen wiesen Fettablagerungen auf... wir hatten es offensichtlich mit einer bislang nicht identifizierten Krankheit zu tun.“ (Alzheimer 1907) Die Fettablagerungen wurden später „Plaques“ genannt, die Verfilzungen „Alzheimer-Degenerationsfibrillen“. Das sind die organischen Leitsymptome der Alzheimer-Krankheit.

Abbildung 1:
Alois Alzheimer (1864 1915)

In Abbildung 2 ist eine gesunde Nervenzelle des Gehirns abgebildet und eine Nervenzelle mit „Alzheimer-Plaques und Alzheimer-Degenerationsfibrillen“. Das Gehirn besteht aus Nervenzellen (Neuronen), die alles regulieren was wir tun, angefangen von den wichtigsten Körperfunktionen (Atem, Herzschlag, Stoffwechselfunktionen), unseren automatischen Reaktionen (Lidschlag), bis zu unserem bewusst gesteuerten Verhalten (in ein Geschäft gehen, um eine Zeitung zu kaufen).

Abbildung 2:
Gesunde Nervenzelle und Nervenzelle mit Alzheimer-Plaques und Alzheimer-Degenerationsfibrillen (The Alzheimer’s Disease Education and Referral Center, a service of the National Institute of Aging, U. S. A.)

Hundert Jahre nach Alois Alzheimers erster Publikation seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse ist der Krankheitsprozess besser erforscht und dokumentiert. Es tut sich auf diesem Gebiet sehr viel; regelmäßig werden neue Informationen veröffentlicht. Es ist jedoch nicht Ziel dieses Buchs, die Leserschaft mit theoretischen Informationen über die Alzheimer-Krankheit zu versorgen. Diese Informationen können einer Reihe von Quellen entnommen werden, die im Anhang aufgelistet sind. Wenig Fortschritte gab es allerdings im diagnostischen Prozess. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der UCLA (University of California in Los Angeles) haben im Jahr 2001 durch Einsatz eines neuen chemischen Markers, des FDDNP genannten „Suchmoleküls“, eine Methode zur Identifizierung der sogenannten „Alzheimer-Plaques“ oder amyloiden Plaques entwickelt. Das künstliche, radioaktiv markierte Molekül setzt sich an den Plaques ab und ist dann bei der PET (Positronen-Emissionstomographie) zu erkennen. Dieses Verfahren könnte sich künftig als wichtiges diagnostisches Instrument erweisen. Es gibt aber auch Überraschungsbefunde. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass manche Menschen, die bis zu ihrem Tod voll orientiert waren, bei der Autopsie erhebliche Gehirnschädigungen aufwiesen, das Gehirn anderer, gänzlich desorientierter Menschen dagegen relativ geringe Schäden hatte. Offenbar spielen noch andere Faktoren eine Rolle, die mitbestimmen, ob eine Person im höheren Lebensalter desorientiert wird.

Damit kommen wir zur nächsten Frage: Was ist die Alzheimer-Krankheit und wie wird der Begriff verwendet? Oft werden sämtliche Personen, die an irgendeiner Form von Demenz leiden, unterschiedslos als „Alzheimer-Kranke“ bezeichnet. Doch auch mit dem Wort Demenz wird ein übergeordneter Sachverhalt beschrieben, ein Syndrom, also eine Reihe von Symptomen. Die meisten Psychiatrielehrbücher definieren Demenz als organisch bedingten, chronischen, fortschreitenden Verlust kognitiver Funktionen. Gedächtnis, Denken, Orientierung sind offensichtlich beeinträchtigt, ebenso die Fähigkeit, zu verstehen, zu rechnen, zu lernen, zu sprechen und zu urteilen. Es ist wichtig zu wissen, dass zwischen Demenz und Delirium ein gewaltiger Unterschied besteht. Obwohl er häufig mit dem Missbrauch von Alkohol in Verbindung gebracht wird, bezeichnet der Begriff Delirium den Verlust kognitiver Funktionen (aller oben genannten) über einen kurzen Zeitraum hinweg. Den Unterschied zwischen Demenz und Delirium zu kennen ist von Belang, weil manchmal Fehldiagnosen gestellt werden. Tritt beispielsweise bei einem hochbetagten Menschen ein medizinischer Notfall ein, etwa ein Hüftbruch, wird er ins Krankenhaus gebracht, wo er möglicherweise desorientiert wird. Um eine Demenz diagnostizieren zu können, muss geklärt sein, ob das desorientierte Verhalten bereits vor dem Unfall vorhanden war oder nicht. Wenn Menschen mit einer traumatischen Situation konfrontiert sind, werden sie nicht selten verwirrt, erregt, emotional überdreht oder depressiv. Das ist eine Reaktion auf ein ungewöhnliches Ereignis; das Verhalten wird nicht durch einen Abbau des Gehirns ausgelöst. Das Personal in den Notaufnahmen von Krankenhäusern ist oft nicht ausreichend informiert und kann Demenz und Delirium nicht unterscheiden, weshalb eine Patientin oder ein Patient dann oft fälschlicherweise das Etikett „Demenz“ verpasst bekommt. Inzwischen gibt es Hinweise, dass man in den Notaufnahmen von Krankenhäusern dieses Problem erkannt hat. Um derlei Fehldiagnosen zu verhindern, werden bei medizinischen Notfällen zunehmend geriatrische Fachkräfte hinzugezogen.

Auch ein älterer Mensch, der einen leichten Schlaganfall hatte, erhält manchmal eine falsche Diagnose. Neben anderen Symptomen tritt beim Gehirnschlag ein seltsam verändertes Verhalten oder Delirium ein. Meist ist das Delirium akut, setzt also unmittelbar nach dem Schlagereignis ein (also keine allmähliche Verschlechterung des Zustands) und klingt mit der Zeit wieder ab. Kleinere Schlaganfälle werden oft überhaupt nicht bemerkt und nicht als solche diagnostiziert. Vielleicht fühlt sich der oder die Betroffene beim Aufwachen etwas seltsam, ein wenig schwach und verwirrt. Dann liegt es nahe, den Zustand einem Virus, Schlafmangel, einer schlechten Tagesform o. ä. zuzuschreiben. Oft werden die Symptome behandelt, ohne das Gesamtbild zu betrachten. Eine Behandlung mit Psychopharmaka oder gar mit hochdosierten Antibiotika kann die Desorientierung noch verstärken. Die Spirale von Symptomen – Behandlung – Symptomen – Behandlung kann dazu führen, dass sich die Kranken mehr und mehr zurückziehen.

In seiner neuesten Ausgabe entfernt sich das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-5), das von der American Psychiatric Association (deutsche Ausgabe: Falkai et al. 2018) veröffentlicht und weltweit umfassend eingesetzt wird, vom Wort „Demenz“ und verwendet stattdessen den Begriff „Neurokognitive Störungen“ (NCS bzw. engl. NCD; Neurocognitive Disorders). Es gibt nun diagnostische Kriterien für leichte oder schwere neurokognitive Störungen, nämlich Nachweis einer leichten bzw. deutlichen Verringerung der kognitiven Leistung gegenüber dem vorherigen Niveau in einem oder mehreren kognitiven Bereichen (komplexe Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen, Lernen und Gedächtnis, Sprache, perzeptuell-motorische oder soziale Kognition). Diese kognitiven Verluste betreffen die Fähigkeit, Alltagshandlungen auszuführen, und werden nicht von einem Delir verursacht. Das DSM unterscheidet außerdem zwischen „mit und ohne Verhaltensauffälligkeiten“; der Schweregrad von leicht oder schwer basiert auf der Alltagskompetenz einer Person. Die folgende Liste enthält verschiedene Formen neurokognitiver Störung (DSM-5; Falkai et al. 2018), viele Symptome sind ähnlich:

Alzheimer-Krankheit

Frontotemporale Demenz

Lewy-Body-Krankheit

Vasculäre Demenz

Huntington-Krankheit

Parkinson-Krankheit

HIV-Infektion

Induzierte, irreversible Demenz (durch jahrelangen Drogenmissbrauch oder als Reaktion auf ein Medikament oder Toxin; viele betagte Menschen reagieren auf die Gabe von Medikamenten sehr stark und äußerst sensibel. Was für Personen im mittleren Lebensalter eine angemessene Dosierung ist, kann bei älteren eine „Vergiftung“ auslösen.)

Andere Erkrankungen

Die meisten dieser Krankheiten oder Leiden sind mit spezifischen Untersuchungen zu diagnostizieren, z. B. mit Blut- und Urinanalysen, Röntgenaufnahmen des Brustkorbs, Elektrokardiogramm, Computertomografie, Kernspinresonanztomografie).

Laut DSM-5 wird eine durch die Alzheimer-Krankheit hervorgerufene neurokognitive Störung durch genetische Tests oder den klaren Nachweis eines Gedächtsnisabbaus und zusätzlich der fortschreitenden Verringerung mindestens einer anderen kognitiven Funktion diagnostiziert. Zusätzlich muss ausgeschlossen sein, dass es eine andere identifizierbare Ursache für den kognitiven Abbau gibt. In diesem Buch wird nicht von „frühem“ oder „spätem“ Beginn der Erkrankung gesprochen, sondern von möglicher oder wahrscheinlicher NCD aufgrund einer Alzheimer-Krankheit.

Auch wenn diese Art der Diagnose einfacher ist, berücksichtigt ein Validationsassessment stärker psychosoziale Faktoren. Naomi Feil, die die Methode der Validation entwickelt hat, sah bedeutende Unterschiede zwischen einem 40-, 50- oder 60-Jährigen und einer Person, die 80 Jahre oder älter ist, auch wenn bei beiden eine Verringerung der kognitiven Leistung auftrat. Sie sprach von „altersangemessenem Abbau“. Wie Ihre Haarfarbe, Seh- und Hörfähigkeit, Muskelmasse und -spannung, Heilungsfähigkeit und Hautstraffheit verändert sich auch Ihr Gehirn, wenn es altert. Ein gewisser kognitiver Abbau ist vielleicht normaler Bestandteil von Hochaltrigkeit. Wenn er in früherem Alter beginnt, ist er nicht normal.

medizinischen Vorgeschichte der oder des Kranken, nach dem sozia