Am Ende blieb uns nur die Unterhose. Sie war schwarz, mit pinkfarbenem, großbuchstabigem Glitzeraufdruck, quer über den Hintern: Could it be magic?, stand darauf. Meine Schwester hatte sie nach dem Konzert am Merchandise-Stand gekauft, dann aber nicht zu unseren anderen Sachen in die Tasche gesteckt, sondern im Überschwang direkt über die Jeans gezogen, damit möglichst viele Menschen diese wichtige, vielleicht wichtigste Frage überhaupt lesen könnten: Could it be magic, now? NOW? Now – and hold on fast! Could this be the magic, at last?
Glänzender Laune waren wir so in eine Kneipe eingelaufen, hatten kurz (überraschend synchron) ein paar Elemente aus der Pray-Choreografie (Den zweifelnden Kranich! Die Solo-La-Ola! Die Schwanke-Mumie!) gezeigt, dann getrunken. Und dabei nicht gemerkt, wie ein böser Mensch irgendwann unsere Tasche plünderte, die unter dem Barhocker lag, und mit unseren Jacken verschwand, die wir irgendwohin geknüllt hatten. Gerupft, ausgenommen, mit verschmierten Waschbäraugen und heillos betrunken schlurften meine Schwester und ich am Ende durch die Hamburger Nacht, aber wir waren sehr glücklich, so glücklich wie lange nicht. Denn wir hatten ja noch die Unterhose. Und Take That gesehen.
Ich liebe Take That. Nicht als Pose, nicht mit ironischem Schutzschürzchen oder aus pappig-leutseligem Wohlwollen ihrer scheinbaren Kunst gegenüber – gönnerhafte Popgoutierer, die nie etwas ernst nehmen, nie ihr Herz an offensichtlichen Quatsch verschenken können, sind die schlimmsten und ärmsten Menschen. Meine Liebe zu Take That hat keinen doppelten Distinktionsboden, und ich habe auch keinen jederzeit abspulbaren Kurzvortrag dazu einstudiert, warum man die Band als ästhetiktheoretisch interessierter Mensch schon allein wegen der Theatralik und Verspieltheit ihrer frühen Werke als dankbares Untersuchungsobjekt für eine struktural-semiotische Analyse des Konzeptes »Camp« sehen muss.
Ich liebe Take That für ihre schönen Lieder und für ihre albernen. Für das Leporello an Männlichkeitsideen, das sie vor mir auffalten, und natürlich für ihre Choreografien. Dafür, dass man sich zwar immer etwas Cooles zusammenlügt, wenn jemand beim überambitionierten Small Talk fragt, welcher Song einen verlässlich zum Tanzen bringt – aber in Wahrheit ist es eben doch für immer und ewig Relight my Fire. Ich liebe sie dafür, dass man, wenn man ehrlich ist, nicht viel mehr über die Liebe wissen muss, als in den Liedern von Take That vorkommt (wenn man die B-Seiten dazunimmt). Take That sind meine liebsten Fluchthelfer aus dem schrundigen Alltag, und an manchen, seltenen Tagen glaube ich wirklich daran, dass das Leben so dramatisch und toll sein kann, wie ihre Musik behauptet. Magic, möglicherweise.
Es war keine klassische, von pubertärer Verwirrung befeuerte Boybandbeschmachtung, die uns zusammenführte. Meine Liebe zu Take That gleicht eher einem neuseeländischen Langflossenaal. Sie ist langsam gewachsen und deshalb unverwüstlich. Bis zu hundert Jahre alt können diese olmigen Tiere werden, weil sie sich mit dem Großwerden reichlich Zeit lassen, ein organismusschonender Lifestyle. Take That und ich, das brauchte eine Weile. Ich mochte sie von Beginn an, warf mich ihnen jedoch nicht gleich an den Hals, als sie in ihren goldenen Jahren Anfang der Neunziger sieben Nummer-eins-Hits in Folge ablieferten, und als sie sich 1996 auflösten, fand ich das sehr schade, vergoss reflexhaft auch ein paar Tränen, verstrudelte mich aber nicht in ungezügeltem Herzschmerz. Mehr als um die Band trauerte ich damals um mein schönes schwarzes Herrenrad, das ungefähr zur selben Zeit verschwand, und auf dessen Querstange ich dekohalber und – da noch halb im Scherz – mit goldenem Nagellack die Vornamen aller Take-That-Mitglieder geschnörkelt hatte. Ich hatte das Rad irgendwann nachts irgendwo in Tübingen angekettet, und als ich es nur drei Monate später wieder abholen wollte, war es nicht mehr da, dafür eine klaffende Baugrube, mindestens so tief und dunkel wie die Leere in den Herzchen der verlassenen Fanmädchen. Noch mal ein paar Monate später musste ich dann deutlich heftiger weinen, weil meine Lieblingszeitschrift Tempo eingestellt wurde. Die Lieder von Take That trösteten mich, ich hörte sie inzwischen fast täglich. Und ein bisschen später merkte ich, dass ich mich mit Mitte zwanzig – also, gemessen am eigentlich vorgesehenen Zielgruppenalter, quasi als Greisin – in eine Boyband verknallt hatte, die gar nicht mehr existierte.
Natürlich habe ich durch meine späte Liebe einiges verpasst. In der Ur-Vollbesetzung, als TT5, wie man im korrekten Thatter-Lingo natürlich sagt, habe ich sie nie gesehen, immerhin mehrfach als TT4, nachdem Robbie gegangen war, später als TT4 plus 1, als Robbie kurzzeitig wiederkam, und schließlich als TT3, nachdem Jason irgendwann keinen Bock mehr hatte, immer nur dieses eine trutschige Liedchen über ein altes Ruderboot singen zu dürfen. Durch all diese Transformationen konnte ich zusehen, wie Take That als erste und einzige Boyband ihr eigenes Verfallsdatum überlebte. Sie löste sich auf und kehrte wieder, transformiert zur Manband, nicht auf einer letzten Cash-only-Abstaubetour, sondern sehr ernsthaft, noch erfolgreicher als in der Erstinkarnation – und womöglich ja tatsächlich: for good.
Pop ist kein nachhaltiges Business, sondern ein kapriziöser Pfau, leicht scheuchbar, und dass ausgerechnet eine Boyband, die ja naturgemäß als maximal zusammengeschraubt und retortig gilt, mit den Jahren tatsächlich in einen anderen Zustand reifen könnte, war bis dahin nicht vorgesehen. Boybands verschnabulierte man am besten jung, wie Brennnesseln, die zunächst zart und später eher unerfreulich sind. Oder wie Lämmchen, bevor die mit dem Alter unvermeidliche Hammelverranzung eintritt.
Die neuen, alten Take Thats können nicht nur noch immer sehr gut singen und tanzen, sie bringen vor allem etwas mit, das keine jugendliche Boyband der Welt besitzen kann, so ausgebufft ihr storytellender Gründungsmythos auch sein mag: Eine eigene Geschichte, jeder für sich, die zusammengebunden das große Take-That-Epos ergibt. Gary, Robbie, Mark, Howard und Jason, jeder von ihnen hat in der gereiften Altersvariante eine kleine Glückskekszettelweisheit, die mich rührt oder amüsiert.
Damit variiert Take That ein zentrales Genremerkmal. Nicht nur das Leben ist angeblich wie eine Pralinenschachtel, auch eine Boyband ist idealerweise nicht einfach nur einheitlich süß: In der perfekten Packung befindet sich zwar unbedingt mindestens ein kriminell überzuckertes Schmeckstückchen, zum Ausgleich aber auch eine herbere Variante. Dann eine komisch geformte Bohne, mit lustigem Likör gefüllt, daneben eine Praline, die aus fadester Milchschokolade besteht, aber in glitzerndes Goldpapier eingewickelt ist – und schließlich immer auch, so will es das international gültige Pralinengesetz, eine Süßigkeit, die einem nicht besonders schmeckt, die man aber trotzdem auch noch verschlingt, wenn man gerade schon mal dabei ist.
Mit ihrer zweiten, gereiften Variante haben Take That die erprobte Boyband-Gemütsdiversifizierungsformel (süß/sensibel/sexy/lustig/auch dabei) nun in eine Sammlung von Ideen verwandelt, wie man mit dem Älterwerden umgehen kann, fünf völlig verschiedene Konzepte des Erwachsenseins: Gary Barlow ist der klassische Heldenreisende, der nach allerhand Unsicherheiten und Gestrauchel in der ersten Lebenshälfte nun strahlend dort gelandet ist, wo er immer hinzugehören schien. Mark Owen ist der überraschend früh verknitterte Posterboy für das unausweichliche Verblühen, dem niemand entkommen kann, und das man am besten würdevoll annimmt, statt sich in hilflosen Restaurationsarbeiten zu ergehen. Robbie Williams ist der ausgestellte Wachstumsschmerz, der zeigt, dass es okay ist, auch im fortgeschrittenen Alter noch ein Schwankekandidat zu sein, weil man auch als Erwachsener unsicher sein darf wie ein Kind. Howard Donald lebt das unaufgeregt coole Uncool-Leben, indem er über Babyaufzuchtsqualen und Detoxblähungen twittert und trotzdem ein Popstar bleibt – weil man sich eben nicht zwischen Schnödheit und Glitzer entscheiden muss. Und Jason Orange ist das ausgebüxte Zirkuspferd, das sich trotz ewig abgetrabter Runden in der Manege doch den Mut bewahrt hat, noch einmal irgendwo irgendwas Neues anzufangen. Oder den Mut, einfach nichts zu tun und damit bestens klarzukommen, Chancen und Möglichkeiten vorbeirauschen zu lassen wie U-Bahnen, denen nur Verzweifelte und Würdelose hinterherrennen.
Zusammen bilden die fünf einen aufwändig musikalisch unterlegten Schnellkurs in Altersakzeptanz: Everything changes – and you, too! Welches der fünf Erwachsenen-Modelle überzeugt am meisten? Wäre man lieber ein Robbie oder ein Gary? Ist man ein Mark, obwohl man lieber ein Jason oder wenigstens ein Howard sein würde? Pop ist immer dann am größten, wenn etwas vom Glanz auf der Bühne auch auf einen selbst zurückspiegelt. Ein bisschen magic, now.