Der Hof

Inhaltsübersicht

Der Wagen fährt auf den letzten Tropfen. Seit Stunden keine Tankstelle, und die Tankanzeige ist tief in den roten Bereich gerutscht. Ich muss von der Straße runter, aber die Felder erstrecken sich endlos zu beiden Seiten und zwingen mich, immer weiter geradeaus zu fahren, bis der Motor den Geist aufgibt. Es ist noch früher Morgen, doch dieser Tag wird heiß und trocken. Der Wind, der durch die offenen Fenster hereinweht, bringt keine Kühlung.

Ich fahre über das Lenkrad gebeugt und rechne jeden Moment damit, dass der Motor ausgeht. Dann sehe ich eine Lücke in der grünen Barriere. Zu meiner Linken schneidet ein Feldweg eine Bresche zwischen zwei Weizenfelder. Ich lenke den Wagen von der Straße auf den holprigen Weg. Mir ist egal, wohin er mich führt, solange ich dort nur in Deckung bin. Ich erreiche ein Wäldchen. Äste kratzen an den Fenstern, als ich den Audi hineinlenke und den Motor ausschalte. Im Schatten der Bäume ist es kühler. Die Stille wird nur vom leisen Ticken des Motors und fließendem Wasser durchbrochen. Ich schließe die Augen und lehne den Kopf nach hinten. Aber ich habe keine Zeit, mich auszuruhen.

Ich muss in Bewegung bleiben.

Etwas ist auf dem edlen Lederpolster des Beifahrersitzes verschmiert, ebenso auf dem abgewickelten Anschnallgurt, der bis in den Fußraum hängt. Das robuste Material ist an einer Stelle fast durchgerissen, und als ich mit den Fingern darüberfahre, ist da etwas Klebriges und Dunkles.

Mir wird schwindelig bei der Vorstellung, dass ich den ganzen Weg gefahren bin, während das da gut sichtbar war. Ich will möglichst schnell eine große Entfernung zwischen das Auto und mich bringen, aber so kann ich es nicht zurücklassen. Die Äste kratzen über die Tür, als ich aussteige. Ich finde den Bach, der durch das Wäldchen führt, und meine Hände zittern, als ich dort ein Taschentuch anfeuchte, das ich im Handschuhfach gefunden habe. Der Sitz lässt sich einfach abwischen, aber das Blut ist in das Material des Gurts eingezogen. Ich reibe so viel wie möglich herunter, dann wasche ich das Taschentuch im Bach aus. Wasser umschließt meine Hände wie gläserne Handschellen, als ich sie mit dem Sand vom Grund des Bachs abschrubbe. Selbst danach fühlen sie sich nicht richtig sauber an.

Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und ziehe eine Grimasse, als es die Kratzer auf meiner Wange benetzt.

Mit weichen Knien lehne ich mich gegen den Wagen.

Es hat ungefähr die Größe einer Tüte Zucker, aber das weiße Puder darin ist längst nicht so unschuldig. Hastig schaue ich mich um, als könnte mich jemand hier sehen. Aber hier sind nur Bäume und das beständige Summen der Insekten. Ich starre das Päckchen an und bin zu erschöpft, um diese neue Komplikation zu begreifen. Ich will es nicht mitnehmen, aber hierlassen kann ich es auch nicht. Also nehme ich es, stopfe es ganz nach unten in meinen Rucksack, knalle die Kofferraumklappe zu und gehe los.

Die Weizenfelder liegen noch verlassen da, als ich aus dem Wäldchen komme. Ich werfe die Nummernschilder des Wagens und die Schlüssel zwischen die hohen Halme, ehe ich mein Handy aus der Tasche ziehe. Es ist hoffnungslos und irreparabel kaputt. Im Gehen nehme ich die SIM-Karte heraus und zerbreche sie in zwei Teile, ehe ich die winzigen Plastikstücke in das eine Feld werfe und das Handy in das andere.

Ich wüsste ohnehin nicht, wen ich anrufen sollte.

Meine roten Haare sind dabei sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil. Ich ziehe die Aufmerksamkeit auf mich, und man sieht sofort, dass ich hier fremd bin. Als Erstes werde ich von einem jungen Paar in einem klapprigen Peugeot mitgenommen.

«Où allez-vous?», fragt er, und die Zigarette in seinem Mund bewegt sich dabei kaum.

Es kostet mich Überwindung, in die fremde Sprache zu wechseln. Ich habe Französisch in letzter Zeit mehr gehört als gesprochen. Aber das ist gar nicht der Grund für mein Zögern. Wo will ich hin?

Ich habe keine Ahnung.

«Irgendwohin. Ich reise einfach herum.»

Ich sitze auf dem Beifahrersitz, das Mädchen hat sich ohne Widerspruch auf die Rückbank gesetzt. Ich bin froh, dass der Fahrer eine Sonnenbrille trägt, denn so brauche ich meine auch nicht abzunehmen. Sie verdeckt das Schlimmste von dem Bluterguss.

Er schaut auf meine roten Haare. «Brite?»

«Dein Französisch ist echt gut. Schon lange hier?»

Einen Moment ringe ich um die Antwort. Es fühlt sich an, als wäre ich schon ewig hier. «Eigentlich nicht.»

«Und wo hast du es so gut gelernt?» Die Frage kommt von dem Mädchen, das sich zwischen den Sitzen nach vorne beugt. Sie ist dunkelhaarig und mollig, mit einem hübschen, offenen Gesicht.

«Früher bin ich oft hergekommen. Als ich jünger war. Und ich … Ich steh auf französische Filme.»

Danach halte ich lieber den Mund, weil ich mehr von mir preisgebe, als ich eigentlich will. Zum Glück scheint sich keiner von beiden allzu sehr für Details zu interessieren. «Ich schau ja lieber amerikanische Filme», meint er und zuckt mit den Schultern. «Wie lange bleibst du?»

«Keine Ahnung», sage ich.

Sie setzen mich am Rand einer kleinen Stadt ab. Ich greife auf meine Geldreserve in Euro zurück, um mir Baguette und Käse, eine Flasche Wasser und ein Wegwerffeuerzeug zu kaufen. Ich kaufe außerdem bei einem Straßenhändler auf dem Marktplatz eine Baseballkappe. Eine billige Nike-Kopie, aber sie spendet Schatten und hilft, meine Abschürfungen zu verstecken. Ich weiß, dass ich mich paranoid verhalte, aber ich kann einfach nicht anders. Ich will nicht mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen als unbedingt nötig.

Es ist eine Erleichterung, die Stadt hinter mir zu lassen und wieder über offenes Gelände zu laufen. Die Sonne brennt auf meinen Nacken herunter. Nach etwa einem Kilometer mache ich unter einer Reihe Pappeln halt und

Aber das kann ich nicht machen. Meine Hände zittern bei dem Versuch, mir mit dem Wegwerffeuerzeug eine Zigarette anzuzünden. Ich ziehe daran. Es ist die erste seit zwei Jahren, sie schmeckt, als würde ich endlich heimkehren. Ich atme einen Teil meiner Anspannung mit dem Zigarettenrauch einfach aus und genieße es für ein paar Augenblicke, an nichts zu denken.

Nach der Zigarette stehe ich wieder auf und gehe weiter. Ich habe nur eine ungefähre Vorstellung davon, wo ich bin, aber da ich ohnehin keinen Plan habe, ist das gar nicht so schlimm. Ich strecke den Daumen raus, wenn ein Auto kommt, aber das passiert nicht allzu oft. Die Straßen hier sind vor allem routes bis, also Landstraßen durchs Hinterland, die von Durchreisenden, die sich an Nationalstraßen und Autobahnen halten, eher gemieden werden. Am Nachmittag und nachdem ein Citroën und ein Renault mich mitgenommen haben, habe ich weniger als zwanzig Kilometer zurückgelegt. Die Mitfahrgelegenheiten waren nur von kurzer Dauer – Einheimische, die ins nächste Dorf oder in die Stadt wollten. Inzwischen gibt es nicht mal mehr diese. Die Straße ist so leer, dass ich glauben könnte, die Welt da draußen hätte mich vergessen. Die einzigen Geräusche sind das Schaben meiner Schuhe und das unablässige Zirpen der Insekten. Es

Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit gegangen bin, werden die offenen Felder von einem dichten Kastanienwald abgelöst, der mit altem Stacheldraht abgesperrt ist. Aber die Äste mit den breiten, fächerförmigen Blättern hängen weit über die Straße und bieten so wenigstens etwas Schutz vor der Sonne.

Ich lasse den Rucksack langsam von meinen schmerzenden Schultern gleiten und nehme einen Schluck aus meiner Flasche. Es sind nur noch wenige Fingerbreit darin, und das Wasser ist warm wie Blut und vermag kaum meinen Durst zu löschen. Ich hätte eine zweite Flasche kaufen sollen, denke ich. Aber ich hätte so vieles tun sollen. Jetzt ist es zu spät, um irgendwas davon zu ändern.

Ich kneife die Augen zusammen und starre die Straße entlang, die pfeilgerade verläuft und in der Hitze flirrt. Ich schraube den Deckel auf die Wasserflasche und starre weiter auf die Straße, als würde allein deshalb ein Auto auftauchen, weil ich es will. Natürlich klappt das nicht. Himmel, ist das heiß. Schon jetzt bin ich wieder völlig ausgedörrt. Ich nehme die Kappe ab und fahre mir mit der Hand durch die verschwitzten Haare. Vor einer Weile bin ich am Tor zu einem Bauernhof vorbeigekommen, erinnere ich mich. Ich kaue auf der Unterlippe und überlege. Eigentlich will ich nicht zurück. Aber meine trockene Kehle nimmt mir die Entscheidung ab. Ich habe keine Ahnung, wie weit es bis zur nächsten Stadt ist, und es ist zu heiß, um ohne Wasser weiterzugehen. Ich setze den Rucksack wieder auf.

Ich schaue ein letztes Mal die Straße hoch, doch da ist noch immer kein Auto in Sicht. Also achte ich auf den Stacheldraht, schiebe das Tor auf und gehe hindurch. Der Weg führt in sanftem Schwung bergauf, dann wieder hinab. Weiter hinten entdecke ich im Schutz der Bäume eine Ansammlung von Dächern. Ich folge dem Weg und gelange in einen staubigen Hof. Ein heruntergekommenes, altes Bauernhaus, das von einem wacklig wirkenden Gerüst halb verdeckt wird, steht an seinem Kopfende. Gegenüber gibt es eine große Scheune und an einer Seite einen leeren Stalltrakt, in dessen Giebel eine Uhr eingelassen ist, die nur noch einen Zeiger hat. Im Stall sind keine Pferde, nur ein paar staubige Fahrzeuge parken offenbar mehr oder weniger permanent in den offenen Türen.

Niemand ist zu sehen. Irgendwo in der Nähe meckert eine Ziege, und ein paar Hühner kratzen im Dreck. Wären die Tiere nicht, könnte man meinen, das Anwesen sei verlassen. Ich bleibe am Rand des Hofs stehen, irgendwie widerstrebt es mir weiterzugehen. Die Tür zum Bauernhaus steht offen. Ich steige die Stufen hinauf und klopfe an das rohe Türblatt. Einen Moment lang ist alles still, dann höre ich die Stimme einer Frau.

Ich stoße die Tür auf. Nach der Helligkeit im Hof wirkt das Hausinnere auf mich undurchdringlich dunkel. Es dauert ein, zwei Sekunden, ehe ich eine junge Frau erkenne, die am Küchentisch sitzt. Und es dauert etwas länger, bis ich das Baby erkenne, das sie auf dem Arm trägt.

Ich hebe die leere Flasche und zögere, während ich mir die Frage auf Französisch zurechtlege. «Kann ich wohl etwas Wasser haben, bitte?»

Wenn es ihr Unbehagen bereitet, von einem Fremden gestört zu werden, zeigt sie das nicht offen. «Wie sind Sie hier reingekommen?», fragt sie ruhig.

«Das Tor stand offen.»

Ich fühle mich wie ein Eindringling, als sie mich mustert. Sie setzt das Baby in einen hölzernen Hochstuhl. «Möchten Sie auch ein Glas Wasser trinken?»

«Das wäre großartig.»

Sie nimmt die Flasche mit zur Spüle und füllt sie am Wasserhahn, ehe sie außerdem ein großes Glas füllt. Ich trinke dankbar. Das Wasser ist eiskalt und hat den erdigen Geschmack von Metall.

«Danke», sage ich und gebe ihr das leere Glas zurück.

«Können Sie das Tor hinter sich schließen?», bittet sie mich. «Es hätte nicht offen bleiben dürfen.»

«Okay. Noch mal vielen Dank.»

Ich kann ihren Blick auf mir spüren, als ich den sonnigen Innenhof wieder überquere.

Ich folge dem Weg zurück durch den Wald zur

Das Dröhnen eines Motors löst sich allmählich aus der aufgeheizten Stille. Ich drehe mich um und sehe etwas am Horizont auftauchen – ein dunkler Fleck, der in der Hitze verschwimmt. Zuerst scheint er regungslos über einer Reflexion seiner selbst zu verharren. Dann tauchen die Räder auf und werden immer länger, bis sie die Straße berühren. Ein blaues Auto hält auf mich zu.

Ich trete schon aus dem Schatten der Bäume, als ich etwas auf dem Wagendach bemerke. Im nächsten Moment begreife ich, was ich da sehe. Ich springe über den Stacheldrahtzaun und reiße mir dabei die Jeans auf. Wegen des Rucksacks lande ich ziemlich unglücklich. Ohne anzuhalten, stürze ich in den Wald, während das Motorengeräusch lauter wird. Als der Wagen fast auf meiner Höhe ist, ducke ich mich hinter einem Baum und blicke ängstlich zur Straße hoch.

Der Polizeiwagen braust vorbei. Ich lausche, ob er das Tempo verlangsamt. Aber das Motorengeräusch wird immer leiser, bis es ganz verschwindet. Ich lege den Kopf gegen den Baum. Ich weiß, dass ich überreagiere und

Ich habe einen bitteren Geschmack im Mund. Blut – bei meiner Flucht habe ich mir auf die Lippe gebissen. Ich spucke aus und nehme die Wasserflasche aus meinem Rucksack. Meine Hände zittern, als ich mir den Mund ausspüle. Danach erst schaue ich mich um, wo ich gelandet bin.

Der Wald erstreckt sich auf einem abgeflachten Hügel, und in einiger Entfernung kann ich zwischen den Bäumen einen See aufblitzen sehen. Auf der einen Seite sehe ich die Dächer eines Bauernhofs, die auf die Entfernung winzig und unbedeutend wirken. Vermutlich habe ich dort nach dem Wasser gefragt. Ich bin also noch auf ihrem Grund und Boden.

Ich stehe auf und wische mir den Dreck von der Jeans. Mein T-Shirt klebt mir schweißnass am Rücken. Es ist inzwischen so heiß, dass die Luft zu backen scheint. Wieder blicke ich zu dem See hinüber und wünsche mir, ich könnte darin schwimmen. Aber das wird nicht passieren. Ich muss in Bewegung bleiben. Nach einem letzten Schluck Wasser lasse ich den Baum hinter mir, mache ein paar Schritte und schreie auf. Etwas bohrt sich schmerzhaft in meinen Fuß.

Ich sinke auf die Knie, als der Schmerz mein Bein hinaufschießt. Mein linker Fuß steckt in einem Paar schwarzer, halbrunder Kiefer. Ich versuche, mich aus der Umklammerung zu befreien, doch bei jeder Bewegung

«Herrgott!»

Ich verharre und atme tief durch, um die Panik niederzuringen. Ich bin in eine Art Eisenfalle getreten, die unter einem Gewirr aus knorrigen Baumwurzeln versteckt lag. Sie umklammert den Spann bis hinauf zum Knöchel, und die gezackten Eisenzähne haben sich durch das dicke Leder meines Stiefels gebohrt. Sie stecken so tief in meinem Fleisch, dass ich spüre, wie die Spitzen eisig den blanken Knochen berühren.

Ich kneife die Augen fest zusammen und gebe mir Mühe, den Anblick auszublenden. «Scheiße, Scheiße, Scheiße!»

Aber das bringt mich auch nicht weiter. Ich schüttle den Rucksack ab und versuche, eine bessere Sitzposition zu finden, um die Kiefer der Falle packen zu können. Sie rühren sich keinen Millimeter. Ich stütze mich mit dem gesunden Fuß an einer Baumwurzel ab und versuche es erneut. Dieses Mal werde ich mit einem winzigen Nachgeben belohnt, aber das ist längst nicht genug. Meine Arme zittern vor Anstrengung, und die Metallrahmen bohren sich mir in die Handflächen. Langsam lasse ich wieder los und lehne mich keuchend zurück.

Ich sauge an den wunden Stellen an meinen Händen und schaue mir die Falle jetzt genauer an. Eine primitive Vorrichtung, die von ockerfarbenem Rost überzogen ist. Trotzdem kann sie noch nicht allzu lange hier liegen. Das Öl an den Scharnieren scheint noch ziemlich frisch zu sein. Beängstigend frisch, finde ich und versuche lieber

Ich sitze auf dem Boden, mein gefangenes Bein lang vor mir ausgestreckt. Mit einer Hand versuche ich, mich in eine etwas bequemere Position zu bringen, und spüre dabei etwas Feuchtes. Die Wasserflasche liegt dort, wo ich sie fallen gelassen habe. Ich reiße sie hoch, obwohl inzwischen fast alles rausgelaufen und in der trockenen Erde versickert ist. Vorsichtig nehme ich einen Schluck, schraube die Flasche zu und versuche nachzudenken.

Okay, bleib ganz ruhig. Der anfängliche Schmerz ist einem beständigen Pochen gewichen, das Zahnschmerzen ähnelt und bis in mein Schienbein strahlt. Blut beginnt, das Leder meines Stiefels zu durchnässen. Bis auf das Summen der Insekten ist der vom Sonnenlicht gesprenkelte Wald still. Ich schaue zu den Dächern des Bauernhofs hinüber. Sie sind zu weit weg. Keiner würde mich hören, wenn ich schreie. Aber das will ich auch gar nicht. Jedenfalls nicht, solange ich es vermeiden kann.

Ich krame im Rucksack nach meinem Taschenmesser. Ich weiß, dass es irgendwo da drin sein muss. Aber bei der Suche stoßen meine Finger auf etwas anderes. Ich ziehe es heraus, und der Anblick trifft mich wie ein Schock.

Die Fotografie hat Eselsohren und ist verblasst. Ich hatte keine Ahnung, dass sie noch im Rucksack war. Ich

Mir wird schwindelig. Die Bäume scheinen sich um mich zu drehen, als ich das Foto wieder einstecke. Ich atme tief durch und zwinge mich, jetzt nicht durchzudrehen. Die Vergangenheit ist vorbei. Ich kann nichts dagegen unternehmen, ich kann sie nicht ändern. Die Gegenwart bereitet mir schon genug Sorgen. Ich finde mein Taschenmesser und setze mich zurecht. Das Messer hat eine knapp acht Zentimeter lange Klinge, einen Korkenzieher und einen Flaschenöffner. Leider nichts, um ein Fangeisen zu entschärfen. Ich ramme die Klinge trotzdem zwischen beide Bügel und versuche, die Falle aufzustemmen, aber sie bewegt sich nur ein paar Millimeter und schnappt sofort wieder zu. Ich werfe das kaputte Messer beiseite und schaue mich nach etwas anderem um. In der Nähe liegt ein toter Ast. Er ist außer Reichweite, aber mit Hilfe eines anderen kürzeren Asts kann ich ihn zu mir heranziehen und schiebe dann das dickere Ende zwischen die Bügel. Das Metall gräbt sich in das Holz, aber die Falle beginnt ganz langsam, sich zu öffnen. Ich übe noch mehr Druck aus und beiße die Zähne zusammen, als die Eisenzähne ganz langsam die Umklammerung meines Fußes lockern.

«Ja! Los jetzt!»

Ich schreie.

Als der Schmerz nachlässt, liege ich flach auf dem Rücken. Ich richte mich auf und hämmere mit dem Ast auf den Boden ein. «Scheißding!»

Ich kann jetzt nicht länger so tun, als wäre die Situation nicht ernst. Selbst wenn ich meinen Fuß befreien kann, bezweifle ich, dass ich mit der Verletzung noch weit komme. Aber das Problem kann ich getrost vernachlässigen. Der Umstand, dass ich mich nicht aus eigener Kraft befreien kann, ist viel beängstigender.

Bist du jetzt glücklich? Das hast du dir selbst eingebrockt. Ich blende die finsteren Gedanken aus und versuche stattdessen, mich auf das viel drängendere Problem zu konzentrieren. Mit dem Korkenzieher des Taschenmessers beginne ich, um den Metallstift, der die Falle verankert, die Erde aufzugraben. Ein vergeblicher Versuch, aber wenigstens kann ich meine Wut abarbeiten, indem ich auf Boden und Wurzeln einhacke. Schließlich lasse ich das Messer fallen und sinke wieder gegen den Baumstamm.

Die Sonne steht inzwischen spürbar tiefer. Es wird noch stundenlang hell bleiben, aber die Vorstellung, die ganze Nacht hier zu liegen, entsetzt mich. Ich zerbreche mir den Kopf, was ich noch tun kann, aber mir fällt nur eins ein.

Ich hole tief Luft und schreie.

Meine Schreie verhallen ohne Echo. Ich bezweifle, dass man sie bis zu dem Bauernhof gehört hat, bei dem ich vorhin gewesen bin. Ich schreie lauter, sowohl auf

«Ist da jemand!», schluchze ich fast und dann, leiser: «Bitte.» Die Worte scheinen von der Nachmittagshitze aufgesaugt zu werden und verlieren sich zwischen den Bäumen. Danach senkt sich die Stille wieder über den Wald.

Da weiß ich, dass ich nirgendwo mehr hingehen werde.

 

Am nächsten Morgen habe ich Fieber. Ich hatte in der Nacht meinen Schlafsack aus dem Rucksack gezogen und ihn über mir ausgebreitet, aber ich zittere immer noch ziemlich heftig. Mein Fuß puckert dumpf im Rhythmus meines Pulsschlags. Er ist bis weit über den Knöchel hinaus angeschwollen. Obwohl ich den Stiefel so weit wie möglich aufgeschnürt habe, ist das Leder, das inzwischen schwarz und klebrig vom Blut ist, gespannt wie eine Trommelhaut. Es fühlt sich wie ein riesiges Geschwür an, das jederzeit aufplatzt.

Beim ersten Licht des neuen Tages versuche ich wieder zu schreien, aber weil mein Hals so ausgedörrt ist, bringe ich nicht mehr als ein heiseres Krächzen zustande. Schon bald kostet selbst das zu viel Anstrengung. Ich versuche, mir andere Möglichkeiten auszudenken, um Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Weile scheint mir der Gedanke verlockend, den Baum in Brand zu setzen, unter dem ich hocke. Ich taste sogar schon in den Hosentaschen nach dem Feuerzeug, ehe ich wieder zur Vernunft komme.

Die Tatsache, dass ich das ernsthaft in Erwägung

Ich verliere immer wieder das Bewusstsein, tauche in verworrene, überhitzte Phantasien ab. Irgendwann öffne ich die Augen und sehe ein Gesicht, das mich prüfend mustert. Es gehört einem Mädchen und ist wunderschön und madonnenhaft. Es scheint mit dem auf dem Foto zu verschmelzen und plagt mich mit Schuldgefühlen und Trauer.

«Es tut mir leid», sage ich oder glaube zumindest zu sagen: «Es tut mir leid …»

Ich starre das Gesicht an und hoffe auf ein versöhnliches Zeichen. Aber als ich sie anschaue, beginnt die Form ihres Schädels durch die Haut zu scheinen. Die Oberfläche schält sich ab, und darunter kommt ein Bild aus Fäulnis und Verfall zum Vorschein.

Ein neuer Schmerz überrollt mich, eine neuerliche Qual, die mich fortträgt. Aus weiter Ferne höre ich jemanden schreien. Als die Schreie verebben, höre ich

«Doucement. Essayez d’être calme.»

Vorsichtig, verstehe ich. Aber es verwirrt mich, dass sie leise sein müssen.

Dann reißt der Schmerz mich vollends fort, und jenseits davon existiere ich nicht länger.

Das Oberlicht ist von Kondenswasser beschlagen. Regen trommelt darauf ein. Wir liegen auf dem Bett, unsere schmutzigen Spiegelbilder über uns – verschwommene Doppelgänger, die im Glas gefangen sind.

Chloe ist ganz weit weg. Ich kenne ihre Stimmungen inzwischen gut genug, um sie nicht zu bedrängen und sie in Ruhe zu lassen, bis sie freiwillig wieder mit mir spricht. Sie starrt durch das Oberlicht nach draußen, und ihre blonden Haare fangen das Licht von der Muschellampe ein, die sie auf dem Flohmarkt gekauft hat. Ihre Augen sind blau. Sie blinzelt nicht. Ich habe wieder das Gefühl, ich könnte meine Hand quer durch ihr Sichtfeld wischen, ohne eine Reaktion zu bekommen. Ich will sie fragen, worüber sie nachdenkt, aber ich schweige. Ich habe Angst, sie könnte es mir erzählen.

Die Luft im Raum ist kalt und feucht auf meiner nackten Brust. Am anderen Ende der Wohnung steht eine leere Leinwand unberührt auf Chloes Staffelei. Sie ist jetzt schon seit Wochen leer. Der Geruch von Terpentin und Ölfarben, den ich lange Zeit mit dieser kleinen Wohnung verknüpft hatte, ist verflogen und kaum mehr wahrnehmbar.

Ich spüre, wie sie sich neben mir regt.