Lebenswerk

Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Alice Schwarzer: »Der kleine Unterschied und seine großen Folgen«, Fischer Verlag, Frankfurt, 1975

  2. Christian Schultz-Gerstein: »Wie Journalismus zur Menschenjagd wird«, Die Zeit, 16.7.1976

  3. Phyllis Chesler: »Frauen, das verrückte Geschlecht«, Rowohlt, Reinbek, 1974

  4. Phyllis Chesler: »Woman’s Inhumanity to Woman«, Nation Books, 2002

  5. Alice Schwarzer: »Lebenslauf«, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2011

  6. Simone de Beauvoir: »Das andere Geschlecht«, Rowohlt, Reinbek, 1951

  7. Hans-Ulrich Wehler: »Eine Lanze für Schwarzer«, Die Weltwoche, 21.5.2007

  8. Sina Walden: »Der Protest findet in aller Stille statt«, Brigitte, 6/1971, 5.3.1971

  9. Ute Geißler, zitiert aus einem Interview 2019, Oral-Herstory-Projekt des FMT

  10. Helke Sander: »Resümee – 50 Jahre nach dem Tomatenwurf«, Rede 14.9.2018, Akademie der Künste

  11. Peter Brügge: »Die rosa Zeiten sind vorbei«, Der Spiegel, 48/1968

  12. KD Wolff in: Clara Zetkin: »Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands«, Verlag Roter Stern, Frankfurt, 1971

  13. Alice Schwarzer: »Frauen gegen den §218«, Suhrkamp, Frankfurt, 1971

  14. Alice Schwarzer: »Frauenarbeit – Frauenbefreiung«, Suhrkamp, Frankfurt, 1973

  15. »Der Frauenkalender«, hrsg. von Alice Schwarzer und Ursula Scheu, Frauenkalender-Selbstverlag 1974–2000

  16. Senta Trömel-Plötz: »Ach, Alice …«, EMMA 6/1993

  17. Patrick Jeudy: »Ein Abend mit Romy«, TV-Dokumentation, Arte, 2018

  18. J. Bancroft/A. Kinsey: »Sexual Behavior in the Human Female«, Indiana University Press 1998

  19. Alfred Kinsey: »Das sexuelle Verhalten der Frau«, G.B. Fischer, Frankfurt, 1954

  20. Mary Jane Sherfey: »Die Potenz der Frau«, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1974

  1. Helen O’Connell: Studie »The Anatomy of the Clitoris«, The Journal of Urology, 2005

  2. Alice Schwarzer: »Auch das noch?«, EMMA 7/1984

  3. Alice Schwarzer: »Brief an meine Schwester«, EMMA 1/1984

  4. Meo Hellriegel-Rentzel: »Killersatellitenabwehrraketenstrahlenwaffen-All-Macht«, Courage 6/1981

  5. Alice Schwarzer: »Nehmt Euch in Acht vor dem Hausfrauenlohn«, Pardon 9/1974

  6. Alice Schwarzer: »Frauenarbeit – Frauenbefreiung«, Suhrkamp, Frankfurt, 1973

  7. Bärbel Boy: »Ändert euch, dann helft ihr euch!«, Die Zeit, 11.3.2020

  8. Angela Merkel, in: »Zu weit gegangen?«, EMMA 4/1992

  9. ibd.

  10. Susan Faludi: »Die Männer schlagen zurück«, Rowohlt, Reinbek, 1993

  11. Angela Merkel: »Die Töchter schlagen zurück«, EMMA 3/1993

  12. Angela Merkel, Rede auf dem CDU-Bundesparteitag, 10.4.2000 in Essen

  13. Alice Schwarzer: »Westerwelle, der Papst & ich«, EMMA 5/2004

  14. Alice Schwarzer: »Verachtung der Demokratie«, Der Spiegel, 40/2005

  15. »Eine Islamisierung Deutschlands sehe ich nicht«, Interview mit Angela Merkel, FAZ, 16.1.2015

  16. Bürgerdialog mit Angela Merkel, Bern 3.9.2015

  17. Margarete Stokowski: »Der Hass radikalisiert mich«, konkret, 11/2018

  18. SPD-Pressedienst »ppp«: »Alice Schwarzer – Die Ziege als Gärtnerin«, 10.9.1980

  19. Adele Meyer: »Offene Antworten«, EMMA 5/1980

  20. Margarete Mitscherlich-Nielsen: »Offene Antworten«, EMMA 5/1980

  1. Niklas Frank: »Sieben Zwerge bei Schneewittchen«, Stern, 23.6.1988

  2. Holger Fuß: »Stimmung wie im Krematorium«, Wiener, Juli 1988

  3. Gerhard Mauz: »Ich hab’ keine Erinnerung davon«, Der Spiegel, 15.11.1976, Nr. 47/1976

  4. Klageerwiderung Stern-Prozess, EMMA 8/1978

  5. Andrea Dworkin: »Pornographie. Männer beherrschen Frauen«, EMMA-Verlag, Köln, 1988

  6. Florence Rush: Das bestgehütete Geheimnis, sub rosa Frauenverlag, Berlin, 1982

  7. Edo Reents: »Moral frisst Geist«, FAZ, 10.3.2020

  8. Mia Farrow: »Dauer hat, was vergeht«, Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach, 1997

  9. Richter Elliot Wilk, Urteil Zivilprozess Woody Allen, Supreme Court, New York County, 7.6.1993

  10. ibd.

  11. Maureen Orth: »Woody Allens Tochter Dylan klagt an«, EMMA 1/2014

  12. Alice Schwarzer, »Dear Ronan Farrow!«, EMMA 1/2019

  13. Judith L. Herman: »Die Narben der Gewalt«, Droemer Knaur, München, 1994

  14. Helmut Kentler: »Leihväter – Kinder brauchen Väter«, Rowohlt, Reinbek, 1989

  15. Reinhart Wolff: »Mit dem gefährdeten Kind wird Politik gemacht«, Psychologie heute, Juli 1994

  16. Susan Brownmiller: »Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft«, Fischer Verlag, Frankfurt, 1978

  17. Gisela Friedrichsen: »Ein Ausholen zum Gegenschlag«, Der Spiegel, 2.11.1992, Nr. 45/1992

  18. Jack Unterweger: »Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus«, Maro Verlag, 1983

  19. Norman Mailer: »Am Rande der Barbarei«, Herbig Verlag, München, 1952

  20. Kate Millett: Das verkaufte Geschlecht. Die Frau zwischen Gesellschaft und Prostitution. Vorwort Alice Schwarzer, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1981

  1. Arzu Toker: »Liebe Freundinnen des Kopftuchs«, EMMA 4/1993

  2. Alice Schwarzer (Hrsg.): »Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz«, KiWi, Köln, 2002

  3. Alice Schwarzer (Hrsg.): »Die große Verschleierung. Für Integration, gegen Islamismus«, KiWi, Köln, 2010

  4. Thilo Sarrazin: »Deutschland schafft sich ab«, DVA, München, 2010

  5. Alice Schwarzer (Hrsg.): »Die große Verschleierung. Für Integration, gegen Islamismus«, KiWi, Köln, 2010

  6. Konferenz »Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung?«, Universität Frankfurt 8.5.2019, Video auf Youtube: www.youtube.com/watch?v=daV4aGWOjb4&feature=emb_logo

  7. Alice Schwarzer: »Meine algerische Familie«, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2018

  8. Alice Schwarzer: »Frauen ins Militär?«, EMMA 6/1978

  9. Chantal Louis: »Kreil gegen Deutschland«, EMMA 1/2000

  10. Irmtraud Morgner: »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz«, Aufbau Verlag, Berlin/DDR, 1974

  11. Irmtraud Morgner: »Jetzt oder nie! Die Frauen sind die Hälfte des Volkes«, EMMA 2/1990

  12. Delphine Horvilleur: »Überlegungen zur Frage des Antisemitismus«, Hanser, Berlin, 2020

  13. Otto Weininger: »Geschlecht und Charakter«, Braumüller & Co, Wien, 1903

  14. Kamel Daoud, in: Alice Schwarzer (Hrsg.): Der Schock – die Silvesternacht von Köln, KiWi, Köln, 2016

  15. Alice Schwarzer: »Meine algerische Familie«, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2018

  16. Alice Schwarzer: »Romy Schneider. Mythos und Leben«, KiWi, Köln, 1998

  17. Alice Schwarzer: »Marion Dönhoff – Ein widerständiges Leben«, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1996

  18. Patrick Jeudy: »Ein Abend mit Romy«, TV-Dokumentation, Arte, 2018

  19. Alice Schwarzer: »Eine tödliche Liebe – Petra Kelly + Gert Bastian«, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1993

  20. Alice Schwarzer/Barbara Maia: »Liebe Alice! Liebe Barbara! Briefe an die beste Freundin«, Kiepenheuer & Witsch, 2005

  1. Alice Schwarzer: »Simone de Beauvoir. Weggefährtinnen im Gespräch«, KiWi, Köln, 2007

  2. Alice Schwarzer: »Simone de Beauvoir live 1973« (DVD), EMMA-Verlag, Köln, 2008

  3. Kate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir: ein modernes Leben, Piper, München, 2020

Wo bei anderen Menschen der Beruf steht, ist bei mir häufig zu lesen: »Alice Schwarzer, Feministin«. Als sei meine politische Haltung mein Beruf. Und als hätte der Feminismus nicht viele Facetten – und so manche sogar konträr zu meinen Überzeugungen. Nein, von Beruf bin ich Journalistin, von Überzeugung Humanistin, Pazifistin und Feministin – und als solche stehe ich in einer ganz bestimmten Tradition. Ansonsten stehe ich nur für mich, für das, was ich persönlich getan oder veröffentlicht habe. Ich rede nicht im Namen anderer oder von Ideologien, sondern nur in meinem Namen. Ich bin ich.

Die feministische Theorie und Praxis, die in der Moderne etwa seit 170 Jahren existiert, war nie einheitlich – so wenig wie der Sozialismus –, sondern hatte von Anfang an drei unterschiedliche Hauptströmungen: Erstens die Reformerinnen, die nicht auf Aufhebung der Geschlechterrolle (Gender) und uneingeschränkt gleichen Rechten und Chancen bestehen, jedoch die Lage der Frauen verbessern wollen. Zweitens die Differenzialistinnen, die von einer »Gleichwertigkeit« der Geschlechter im Unterschied ausgehen, angeboren oder irreversibel konditioniert. Drittens die Radikalen, deren Ziel die Aufhebung der Geschlechterrollen sowie gleiche Rechte und Chancen für beide Geschlechter sind. Zu Letzteren gehöre ich.

Denn ich glaube nicht an eine determinierende »Natur der Frau«, so wenig wie an eine Natur des Mannes bzw. des Menschen überhaupt. Ich gehe davon aus, dass der biologische Faktor nur einer von vielen ist, die den Menschen definieren, und dass die real existierenden Unterschiede, die heute zweifellos zwischen den Geschlechtern bestehen – und nicht nur zwischen ihnen –, »gemacht« sind. Doing gender, wie das heute im Angelsächsischen heißt. Oder: »Wir werden

Frauen sind keineswegs »von Natur aus friedlich« und Männer nicht zwingend gewalttätig; Frauen sind nicht von Natur aus mütterlich und Männer nicht nicht fürsorglich; sie sind auch nicht von Natur aus emotional und Männer rational. Es gibt zahlreiche Beispiele individueller Abweichungen, die das Gegenteil belegen. Die vorgeblich »weiblichen« und »männlichen« Eigenschaften sind das Resultat tiefer Prägungen, langer Traditionen und täglich erneuerter Zu(recht)weisungen. Die Folge ist die Verstümmelung von Menschen zu »Frauen« und »Männern«.

Der überwältigenden Mehrheit der Menschen wird bis heute eine Geschlechterrolle zugewiesen: weiblich oder männlich. Die Möglichkeit auf Diversität und ein »queeres« Leben ist einer winzigen Szene vorbehalten und keineswegs gesichert. Mein Ideal jedoch sind nicht drei, vier, viele Geschlechter, sondern ist der ganzheitliche Mensch. Also ein Mensch, der sich – je nach Begabung, Interessen und Möglichkeiten – unabhängig von seiner Biologie sowohl »weibliche« als auch »männliche« Eigenschaften und Leidenschaften zugestehen kann und daran weder gehindert noch dafür bestraft wird. Doch davon sind wir in der westlichen Welt nach mindestens 4000 Jahren Patriarchat und erst einem halben Jahrhundert neue Frauenbewegung noch ein gutes Stück entfernt, vom Rest der Welt ganz zu schweigen. Dennoch ist durchaus einiges in Bewegung geraten: Männer schieben Kinderwagen und Frauen sitzen in Chefsesseln. Doch auch von diesen Rollenbrecherinnen wird weiterhin erwartet, dass sie trotz alledem »ganz Frau« bleiben. Wenn nicht, wird das sanktioniert.

Ich zum Beispiel bin nach traditionellen Kriterien eigentlich eher »weiblich«, also fürsorglich und menschenorientiert, ich koche gerne und trage lieber Kleider. Gleichzeitig jedoch gestehe ich mir einige als »männlich« konnotierte Eigenschaften zu: offene Konfliktfähigkeit, kein dauerdämliches Lächeln und nicht geleugnete Macht, auch wenn die sehr relativ ist. Was in meinem Fall schon genügt, mich als »Mannweib« abzustempeln. Seit der Wiederbelebung des Feminismus in den 70er Jahren werden Abweichungen von der

Ich stehe in der Tradition von Frauenrechtlerinnen wie Olympe de Gouges (1748–1793), die für ihre »Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin« von den Revolutionären von 1789 unter die Guillotine geschleift wurde; Hedwig Dohm (1831–1919), die die Scharfsinnigste in der historischen Frauenbewegung war (»Die Menschenrechte haben kein Geschlecht«) und heftig bekämpft wurde; Virginia Woolf (1882–1941), die geniale Schriftstellerin und Feministin, oder Simone de Beauvoir (1908–1986), die große Vordenkerin vom »Anderen Geschlecht«. Und auch von Weggefährtinnen wie in Amerika Kate Millett (»Sexus und Herrschaft«) oder Shulamith Firestone (»Die sexuelle Revolution«), beide leider schon tot. Mit Susan Faludi (»Backlash«), der Interessantesten aus der Töchtergeneration, stehe ich seit Jahrzehnten in freundschaftlichem Austausch. Wir arbeiten als Autorinnen wohl nicht zufällig oft an den gleichen Themen: Gendergap, »neue« Weiblichkeit, irritierte Männlichkeit oder Transsexualität.

Alle diese Frauen woll(t)en, ganz wie ich, nicht nur die Frauen befreien, sondern die Menschen. Wir radikalen Feministinnen sind gegen jegliche Unterdrückung und Ausbeutung, gegen Gewalt und Machtmissbrauch. Innerhalb dieses Spektrums gehöre ich allerdings zu der gemäßigten Fraktion. Das heißt, ich bin immer auch offen für Kompromisse und Reformen, soweit sie den Menschen hier und heute nutzen – und sie kein Hindernis sind auf dem Weg zum Ziel oder gar ein Rückschlag. Aus diesem Grund habe ich früh auch den Schulterschluss mit »gemäßigten« Frauenrechtlerinnen und frauenbewussten Politikerinnen gesucht.

Gerade leben wir in einer Zeit, in der solche Koalitionen für Frauen wieder überlebenswichtig werden. Den letzten Teil dieser Standortbestimmung schreibe ich in den Monaten der Corona-Krise. Es ist eine eigenartige Atmosphäre, zwischen Nachdenklichkeit und Panik. Viele Menschen werden Schrammen davontragen. Und eines ist schon

In den vergangenen Jahren haben mir manche Medien das Etikett »Alt-Feministin« verpasst. Als sei ich als Vertreterin einer politischen Theorie schon überholt, nur weil diese Theorie 50 Jahre alt ist oder 170 Jahre, rechnen wir die historische Frauenbewegung dazu. Schließlich reden wir von einer Theorie und Praxis, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die tiefgreifendste soziale Revolution unserer Epoche ausgelöst und auch mein Leben radikal verändert hat.

Im ersten Teil meiner Lebenserinnerungen, in dem 2011 erschienenen »Lebenslauf«, bin ich der Frage nachgegangen: Woher komme ich? Was hat mich geprägt? Wie bin ich zu der geworden, die ich bin? Es geht darin um die Jahre 1942 bis 1977. In diesem zweiten Teil setze ich nun den Akzent auf die publizistischen und politischen Aktivitäten meines Lebens. Ich beginne Mitte der 1970er Jahre und gehe bis ins Heute. 1975, das war der Turning Point meines Lebens. Seither bin ich eine öffentliche Person.

© Walter Vogel

»Wie halten Sie das aus, Frau Schwarzer?« Das ist die Frage, die ich auf jeder Veranstaltung irgendwann zu hören bekomme. Auf jeder. So auch heute, am 28. April 2019 im Düsseldorfer Schauspielhaus. Vor mir sitzen rund tausend Menschen, überwiegend Frauen, etwa ein Viertel Männer. Viele von ihnen, auch die Männer, werden nachher noch zum Signiertisch kommen, mich anstrahlen und Handyfotos mit mir machen. Aber jetzt sitzen sie da in dem halbdunklen Raum und halten die Luft an. Was sagt sie jetzt?

Ich habe inzwischen eine gewisse Routine, aber dennoch gibt diese Frage mir jedes Mal einen Stich ins Herz. Ja, wie halte ich es eigentlich aus? Ganz ehrlich, manchmal weiß ich es selber nicht. Denn schließlich geht das so seit 45 Jahren. Seit ich durch mein Streitgespräch mit Esther Vilar am 6. Februar 1975 eine öffentliche Person wurde. Schlimmer: eine öffentliche Feministin. Noch schlimmer: die Feministin Nr. 1. Die, die für alles verantwortlich ist. Dafür, dass eine Amerikanerin namens Lorena Bobbitt 1993 ihrem Mann den Penis abgeschnitten hat (nach jahrelangen Vergewaltigungen). Oder auch, falls Frau Seehofer ihrem Gatten jemals die Weißwürste kalt servieren sollte (was wohl nie der Fall sein wird, Gott behüte).

Wenn ich also so dastehe auf der Bühne und, wie meist nach meinen Vorträgen oder Lesungen, mit den Menschen diskutiere, wird mir immer wieder klar: Es hat sich seit meinen turbulenten Veranstaltungen nach dem Erscheinen vom »Kleinen Unterschied«[1] 1975 nichts Grundlegendes geändert. Die Neugierde oder Erwartungen, die leidenschaftliche Zustimmung oder das zögerlich erwachende Interesse – das war schon vor 45 Jahren so. Weniger geworden sind nur die Aggressionen und Anzüglichkeiten. Kaum einer brüllt heute noch quer durch den

Lesungen zum »Kleinen Unterschied«, 1975. © Walter Vogel

Universität Tübingen 2010. © Bettina Flitner

Lesung Deutsches Theater Berlin 2011. © Bettina Flitner

Aber jedes Mal und immer wieder muss ich die Mauer der Klischees durchbrechen, versuchen, die Menschen zu erreichen, um ihnen zu zeigen, wer ich wirklich bin, wofür ich wirklich stehe. Und immer wieder muss ich – nach jeder der etwa alle fünf Jahre über mich hinwegschwappenden, rituellen Anti-Schwarzer-Kampagnen – die frohe Kunde meines Überlebens überbringen. Das beruhigt die Frauen. Es sind ja fast immer Frauen, die mich fragen. Und sie fragen es nicht nur in Sorge um mich, sondern auch aus Sorge um sich. Denn sie wissen längst: Mit den Angriffen auf »die Schwarzer« sind auch sie gemeint. Ich bin persönlich wie stellvertretend im Visier: Seht her, das machen wir mit so einer! So soll ich zur Unberührbaren gemacht werden. Was nicht ganz klappt, aber doch ein bisschen – wie wir an den Äußerungen so mancher Spitzensportlerin oder Topmanagerin sehen: Ja, ich bin emanzipiert, aber keine Alice Schwarzer …

Aber Alice Schwarzer ist Alice Schwarzer. Sie kommt da nicht raus. Und sie steht immer noch auf der Bühne und ist eine Antwort schuldig. Zum Beispiel darauf, wie ich es eigentlich aushalte, dass mir seit dem Erscheinen vom »Kleinen Unterschied« die »Weiblichkeit« (was immer das sein mag) sowie das Begehrtwerden (von wem und mit welchen Motiven auch immer) öffentlich abgesprochen werden. Seither bin ich keine »richtige Frau« mehr. Denn für eine »richtige Frau« lautet das oberste Gebot, begehrt und geliebt werden zu wollen – und nicht etwa aufzubegehren und sich unbeliebt zu machen.

Das geht seit meinem TV-Streitgespräch mit Esther Vilar und der Veröffentlichung vom »Kleinen Unterschied« so. Seit ich den bis dahin öffentlich stummen Frauen eine Stimme gegeben habe. Spätestens da hatten viele Frauen verstanden. Verstanden, dass sie nicht allein sind mit ihren Problemen, sondern die Sache System hat. Seither lag ich bei Zwisten im Ehebett auf der Ritze: Für oder gegen Alice?

»Der kleine Unterschied« wurde zu meiner eigenen Überraschung ein internationaler Bestseller: von Brasilien bis Japan identifizierten Frauen sich mit den 18 deutschen Frauen, die ich als Fallbeispiele

Im Januar 2020 besuchte ich die »Schwemme« eines Kölner Brauhauses. Das sind Kombüsen, in denen die Fässer stehen und das Bier gezapft wird. Einheimische gehen da gerne auf einen Sprung rein, um stehend ein Kölsch zu trinken oder auch zwei. Am Zapfhahn stand eine junge Frau (was relativ neu ist, traditionell sind Köbesse in den Brauhäusern Männer). Mitte zwanzig, hübsch, blonder Pferdeschwanz. Nach ein paar Minuten wandte sie sich zu mir: »Hör mal, Alice. (Es ist Tradition in den Brauhäusern, sich zu duzen.) Es ist sonst nicht meine Art, Gäste anzusprechen. Aber ich habe gerade den ›Kleinen Unterschied‹ gelesen und mich total wiedergefunden in dem Buch. Jetzt habe ich es meinem Freund in die Hand gedrückt.« Ich staune. Julia (so heißt sie) redete weiter: »Du erwähnst in dem Buch doch, dass sich die Träume weißer Amerikanerinnen von denen weißer Amerikaner stärker unterscheiden als die Träume weißer Amerikanerinnen von denen weiblicher Aborigines in Australien. Und stell dir vor, ich habe meine Freundinnen gefragt: Die haben auch alle ganz andere Träume als ihre Freunde!« Nun bin ich doch überrascht.

Es geht also weiter. Und solange das so ist, werde ich Ärger haben. Es hätte mir eigentlich von Anbeginn an klar sein müssen, dass eine Autorin, die die Funktion von Liebe und Sexualität analysiert und den Frauen sagt, sie sollten nicht länger relative Wesen bleiben, sondern eigenständige Menschen werden, dass die nicht ungeschoren davonkommt. Aber ich war naiv, ich war damals tatsächlich nicht darauf gefasst. Ich habe einfach immer geraderaus gesagt, was ich denke.

»Frustrierte Tucke« (Süddeutsche Zeitung), »Hexe mit stechendem Blick« (Bild) oder auch »Nachteule mit dem Sex einer Straßenlaterne« (Münchner Abendzeitung), so tönte es 1975 in den Gazetten. Quasi unwidersprochen. So was geht natürlich nicht spurlos an einem Menschen vorbei. Der ZEIT-Autor Christian Schultz-Gerstein war einer der ganz wenigen, die gegenhielten. 1976 schrieb er: »Und ein Ende der Beschimpfungen, die offenkundig kein anderes Ziel haben als das, die deutsche Frauenrechtlerin Alice Schwarzer so lange zu demütigen, bis sie es endlich gefressen hat, dass sie ihre Schnauze

Schultz-Gerstein war vermutlich besonders sensibilisiert, weil der Reporter mich – als Einziger in all den Jahrzehnten! – bei einer Lesereise begleitet hatte. Da hatte er sich selber ein Bild machen können von dem leidenschaftlichen Interesse der Menschen und wie ich damit umging. Er war nicht unbedingt meiner Meinung, aber schockiert darüber, dass mir nicht der »selbstverständliche Schutz« für Andersdenkende gewährt wurde, sondern, wie er in der ZEIT schrieb, »rechte wie linke Journalisten gleichermaßen ihr stumpfsinniges ›Schwanz-ab-Schwarzer‹ predigen, das so verdächtig nach ›Kopf-ab-Schwarzer‹ klingt. Und dass sie es ihren Lesern vormachen, wie man mit so einer umspringt. Das ist schon furchterregend.«[2] Ja, das war es.

Um meine Lage zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass ich in Deutschland in einer ziemlich einmaligen Situation war. In Ländern wie Amerika bekamen damals etwa ein Dutzend öffentlicher Feministinnen die volle Breitseite ab: von Kate Millett, Shulamith Firestone, Gloria Steinem, Phyllis Chesler, Susan Brownmiller oder Robin Morgan bis Andrea Dworkin, um nur ein paar zu nennen. Hierzulande aber starteten die Feministinnen spät und zögerlich. Ich aber hatte meinen Feminismus früh aus Frankreich importiert und war eine medial erfahrene Journalistin. So konnten mich die Medien zur Einzigen stilisieren, was allerdings eine höchst zweifelhafte Ehre war. Von den genannten Amerikanerinnen landeten drei zeitweise in der Psychiatrie, und Firestone brachte sich 2012 um. Auch den Restlichen ging es nicht immer gut. Denn sie waren, ganz wie ich, nicht nur Zielscheibe von Männern und Medien, sondern auch der eigenen Schwestern. Das ist das vielleicht dunkelste Kapitel unter Feministinnen: der Schwesternstreit (Phyllis Chesler, die Autorin des Klassikers »Frauen, das verrückte Geschlecht«[3], hat 2002 darüber ein schmerzliches Buch geschrieben: »Woman’s Inhumanity to Woman«[4]).

Da wussten wir noch nicht, wie es seit dem Erscheinen vom »Anderen Geschlecht« – dieser 1949 erschienenen »Bibel der neuen

Die Rede ist von der Frau, die die vermutlich einflussreichste Intellektuelle des 20. Jahrhunderts war; die im »Anderen Geschlecht« das »Doing Gender«, das »Machen« der Geschlechter (wie Rassen) umfassend analysiert hat (»Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«); und die ein halbes Jahrhundert lang mit Sartre ein außergewöhnliches, wirklich gleichberechtigtes DenkerInnen-Duo gebildet hatte (was auch Sartre selber nicht müde wurde zu betonen). Hilft alles nichts: Selbst sie wurde ridikülisiert und zum relativen Wesen degradiert.

Heute sind die Gehässigsten tatsächlich vor allem manche junge Frauen. Sie werfen Beauvoir vor, ein Anhängsel, wenn nicht gar Opfer von Sartre gewesen zu sein – und ahnen noch nicht einmal, dass ihre eigene Existenz ohne diese große Vordenkerin so gar nicht denkbar wäre.

Doch zunächst treten gegen uns Feministinnen die Männer auf. Im »Kleinen Unterschied« hatte ich ja nicht nur das Schweigen der Frauen gebrochen, sondern auch mit Verve und Ironie auf die Jungs draufgehauen. Vor allem hatte ich an das größte Tabu gerührt: die Sexualität. Und ich hatte die sogenannte »sexuelle Revolution« der 60er Jahre kritisiert, die auf Kosten von Frauen und Kindern ging. Dennoch hatte ich nicht mit so heftigen Reaktionen gerechnet. Doch da ich nicht in einer Dauerschleife des Disputs hängen bleiben wollte, verschanzte ich mich erst einmal hinter der Arbeit. Bereits ein Jahr nach Erscheinen vom »Kleinen Unterschied« begann ich, EMMA

Zu dem Zeitpunkt wusste ich schon – auch aus meiner Erfahrung in der französischen Frauenbewegung –, dass es eine beliebte Methode war, Frauenrechtlerinnen nicht in der Sache zu kritisieren, sondern sie in ihrer »Weiblichkeit« zu verunsichern und persönlich zu diffamieren. Wenn ich jedoch heute auf die Fotos aus diesen Jahren schaue, bin ich schockiert darüber, wie dreist das Einschüchterungsmanöver war. Abgesehen von sichtbar hart manipulierten Aufnahmen (von unten, mit offenem Mund etc.) ist auf diesen Fotos eine eher sensible bis melancholische, manchmal auch angriffslustige oder übermütige junge Frau zu sehen. Alle von mir in den vergangenen Jahrzehnten veröffentlichten Fotos sind symptomatisch, belegen sie doch den Umgang der Medien mit einer (zu) starken Frau und spiegeln exakt die jeweilige allgemeine Stimmung: mal aggressiv, mal wohlwollend. Dasselbe gilt übrigens für Angela Merkel, von 1991 (»Kohls Mädchen«) bis heute (»Die ewige Kanzlerin«).

Es half mir auch, dass ich früh gelernt hatte, nicht auf traditionelle weibliche Attraktivität zu setzen. Meine jungen Großeltern, die meine sozialen Eltern waren, lobten ihr Kind für Mut und Intelligenz – und versäumten es, mich zum koketten Mädchen zu dressieren. So kam es, dass ich selbst in der Phase meiner klassischen Attraktivität – blond, langbeinig, kurzrockig – nie darauf gebaut habe. Darum konnte mich auch das Absprechen dieser Art »weiblicher« Attraktivität nicht im Kern treffen.

Auch das war untypisch bei mir: Ich bin bei den (Groß-)Eltern aufgewachsen, bei denen sich eine partielle Rollenumkehrung eingeschlichen hatte. Ich habe das im »Lebenslauf«[5] im Detail erzählt. Beide Großeltern kamen aus dem schon durch den 1. Weltkrieg deklassierten Bürgertum. Sie fassten auch nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr richtig Tritt. Wir blieben in einer Dauerschleife der Randständigkeit hängen. Dabei spielte eine Rolle, dass beide tapfere Anti-Nazis gewesen waren, was auch nach 1945 nicht unbedingt angesagt war in Westdeutschland. Der Großvater, Ernst Schwarzer, dessen Zeitschriften- und Zigarettenladen im Krieg platt gebombt worden war,

Außer Haus war die 1,50 Meter kleine Frau schüchtern, innerhalb gab sie den Ton an. Sie war sehr ironisch und politisch extrem klarsichtig, schon in den 1950er Jahren Tierrechtlerin und Ökologin dazu: strikt gegen das Sprühen von Pflanzenschutzmitteln im Garten (über das sie Leserbriefe an die Lokalzeitung schrieb), auch »tote Blumen« durfte man ihr nicht schenken. Hinzu kam ihr gewaltiger Zorn auf Rechte und Nazis und ihr kritischer Blick auf Linke. Ihr Mann zog dabei mit, war jedoch sanfter und geselliger, vor allem fürsorglicher.

Mein Großvater war es, der mich in den (Nach-)Kriegswirren ernährt und gewickelt hat, sie interessierte sich für mich erst, als ich sprechen und denken konnte. Es war eine spannungsgeladene Ehe, wie viele, mit großen finanziellen Sorgen. Sie machte ihm Szenen und ihn verantwortlich für ihr verpasstes Leben – wofür dieser humorvolle, liebeswerte Mann nun wirklich nur wenig konnte.

Klar, dass die beiden mein Männer- und Frauenbild geprägt haben. Denkende Frauen und mütterliche Männer sind für mich selbstverständlich. Auch entspricht es meinen ureigensten Erfahrungen, dass nicht alle Frauen gute Mütter sind, viele Männer es jedoch sein könnten.

Was mich, das Kind, anging, war ich die Dritte in dem schwankenden Boot meiner Familie und musste sehr früh mit in die Ruder greifen. Ich hielt meine zu Heftigkeiten neigende Großmutter in Schach und beschützte meinen lieben Großvater. Ihm verdanke ich schließlich mein Leben. Meine abwesende Mutter hatte den Status einer großen Schwester und kümmerte sich erst um mich, als ich anfing, mich um sie zu kümmern.

Großeltern und Mutter. © privat

»Papa« mit Alice in Oberlauringen. © privat

In der Schule. © privat

Die Mädchenclique. © privat

Eintrag ins Goldene Buch von Wuppertal, stehend Jugendfreundin Barbara. Vorne: 1977. © Medienzentrum Wuppertal

Die Familie hatte mich nach der Bombardierung von Elberfeld am 24. Juni 1943 in ein Kinderheim in Pforzheim gebracht. Meine Mutter heiratete in Wien (einen deutschen Unternehmer) und blieb dort

Innerhalb unseres Trios galt ich schon als Kind im Zweifelsfall als die Stärkste, hatte Sorgen und Verantwortung, aber auch Respekt und Freiheiten. Niemand engte mich ein – allerdings förderte mich auch niemand. In der Schule war ich nicht das Mädchen mit den dicken Zöpfen und der weißen Bluse, der Liebling der Klassenlehrerin. Ich war die zwar als intelligent und witzig geltende, aber irgendwie doch fremde Außenseiterin. Meine Bluse strahlte nicht wie in der Waschmittel-Werbung und meine Schulhefte waren so manches Mal verknittert, weil eine der fünf Katzen drübergelaufen war. Auch die drei Hunde hinterließen ihre Spuren in unserem winzigen Häuschen. Und dann waren da die Nachbarn. Ich war zwar beliebt bei ihnen, aber auf meine Großmutter warfen sie scheele Blicke, meinen »armen« Großvater bedauerten sie. Und wir? Wir Schwarzers fanden, dass wir eigentlich drüberstehen: mit einem weiten Blick vom bewaldeten Hügel über Elberfeld und die ganze Welt. Es war eine schizophrene Situation, diese Mischung aus Geringschätzung und Stolz.

Das hat mich geformt – und nicht etwa irgendwelche Erziehungsmaßnahmen. »Du hast dich selber erfunden«, hat meine verstorbene Freundin, die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, mal zu mir gesagt.

Diese frühe Randständigkeit und Verantwortung prägen mich bis heute. Ich bin es gewohnt, nicht dazuzugehören – aber gleichzeitig zu vermitteln zwischen dem Rand und der Mitte. In meiner Familie war ich sozusagen die Außenministerin. Hinzu kam der extrem ausgeprägte Gerechtigkeitssinn meiner Großmutter: Gerechtigkeit für alle Geknechteten dieser Erde (wenn auch nicht immer für ihre eigene Familie). Auch ich ertrage keine Ungerechtigkeiten,

So gewappnet ging ich in die Welt – und war erstaunt, dass plötzlich ein Mädchen weniger wert sein sollte als ein Junge. Ein »Schlüsselerlebnis«? Die Tanzschule H.H. Koch in Elberfeld. Frau Koch bittet zum ersten Mal »die Herren«, nun »die Damen« aufzufordern. Wir sind 16. Und mich überflutet schlagartig ein bisher unbekanntes Gefühl des Ausgeliefertseins an Männer. In meiner Kindheit war mein Verhältnis zu den Jungs, mit denen ich ebenso vertraut war wie mit den Mädchen, eher kameradschaftlich gewesen. Aber jetzt. Um Gottes willen, wenn du jetzt sitzen bleibst?! Ich bleibe nicht. Im Gegenteil, ich werde von Tom, dem mit Abstand bestaussehenden Jungen, aufgefordert. Er bleibt mir treu bis zum Schlussball. Und er will noch nicht mal was von mir, so wenig wie ich von ihm (blond und strahlend war nicht mein Typ, eher dunkel und melancholisch). Doch wir sind beide aus dem Schneider.

Meine Schulzeit ist wie meine Familienverhältnisse: chaotisch. Zuletzt gehe ich zur Handelsschule und mit 16 »ins Büro«. Da werde ich in der Buchhaltung schnell trübsinnig und flüchte am Feierabend mit meiner Mädchenclique in die Milchbar und zum Rock’n’Roll und Jazz. Mit 23 erkämpfe ich mir, nach einem durch Putzen und Tippen finanzierten Sprachstudium in Paris, ein Volontariat bei den Düsseldorfer Nachrichten. Ich bin die einzige Frau unter acht Volontären und die Einzige ohne Abitur und Studium. Das hole ich später nach. Parallel zu meiner Tätigkeit als freie Korrespondentin in Paris studiere ich zwischen 1969 und 1973 an der berüchtigten »roten Fakultät« Vincennes in Paris, unter anderem bei Michel Foucault. Bei ihm belege ich die Kurse »Marxismus und Psychoanalyse« sowie »Sexualität und Macht«. Meine dabei erworbenen frühen Kenntnisse der amerikanischen Sexualforschung werden sich prägend auf den »Kleinen Unterschied« auswirken.

In Paris arbeite ich für den Rundfunk, meist den WDR, manchmal auch für Spiegel oder Stern, das österreichische Neue Forum und die niederländische Vrij Nederland. Meine Themen sind die sozialen und

Ich war Journalistin geworden, weil ich dazu beitragen wollte, die Welt zu verbessern. Doch an mich, an uns Frauen habe ich dabei damals nicht gedacht. Frauen waren in den 60er Jahren einfach kein Faktor, da galt nur »die große Politik«. Im Rückblick beschämt mich, kaum wahrgenommen zu haben, dass erst 1961 die erste Ministerin im Adenauer-Kabinett auftauchte: die Gesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt (und das auch nur, weil die Parteifrauen jahrelang dafür gekämpft hatten).

Die Kämpfe der historischen Feministinnen waren vergessen, ihre Siege selbstverständlich. Fortschrittliche Frauen dachten nicht mehr in der Kategorie »Geschlechter«, sondern in der der Klassen. Selbst Simone de Beauvoir, deren »Anderes Geschlecht«[6] 1949 erschienen war, hatte ja bis zum Aufbruch der neuen Frauenbewegung 1970 erklärt, sie sei keine Feministin, denn das Problem werde sich in der neuen, sozialistischen Gesellschaft schon rütteln. Das müssen wir uns einfach klarmachen: Vor der Frauenbewegung hatte eine Frau nur in Ausnahmefällen (wie im Fall von Virginia Woolf) ein politisches Bewusstsein von ihrer eigenen Lage als Frau. Wir konnten bestenfalls unser Frauenleben schildern, wie viele Schriftstellerinnen und Künstlerinnen es getan haben, ohne Schlussfolgerungen.

Die sogenannten »Frauenthemen« sind in diesen Jahren weniger mein Beruf, sondern eher mein Hobby. Doch ab Herbst 1970 bin ich eine der Pionierinnen der Pariser Frauenbewegung, des Mouvement de la Libération des Femmes (MLF). Eines Tages fragt mich der jüngere, eher linke Studioleiter des WDR in Paris: »Stimmt es, dass Sie im MLF engagiert sind?« Hm. »Aber das haben Sie doch gar nicht nötig.« Hmmm.

Ich habe mich nicht einschüchtern lassen. Das ist es, was vielen Frauen und auch so manchem Mann wohl am meisten imponiert: Dass ich mir bis heute weder das Denken noch den Mund verbieten

Respekt und Anerkennung habe ich allerdings auch für meinen Weg erfahren, zum Beispiel von dem inzwischen verstorbenen Historiker Hans-Ulrich Wehler. Der schrieb 2007, nicht nur Männer machten Geschichte, sondern auch Frauen. Er würdigte den »dramatischen Erfolg« der neuen Frauenbewegung, die in einem »unvorstellbaren Tempo« die rechtliche und soziale Gleichberechtigung erstritten habe. »Es reicht aber nicht«, fuhr er fort, »die Schwungkraft einer anonymen Bewegung anzuerkennen. Ohne die Dynamik, die Argumentationsstärke, das kontinuierliche Engagement einer Wortführerin wie Alice Schwarzer wäre dieser Erfolg vermutlich nicht in der jetzt erreichten Form zustande gekommen. Man braucht nämlich diese Persönlichkeit nur einmal wegzudenken – im Jargon der Wissenschaft: kontrafaktisch zu überlegen –, um zu erkennen, in welchem Maße diese Publizistin und De-facto-Politikerin, oft im Alleingang, die Sache der Frauen überzeugend verfochten hat. Ohne diese ganz individuelle Motorik, ja sei’s drum, ohne diese Leidenschaft, im offenen Streit für ihre gerechte Sache unentwegt voranzugehen, hätte der Frauenbewegung, aber auch den Entscheidungsgremien der Parteipolitik ein wesentlicher Impuls gefehlt.«[7] Ja, ohne die Leidenschaft … Aber ich muss einsehen: Ich bin eine Institution geworden, ob ich will oder nicht. Eine Institution ohne Institution. Denn ich gehöre keiner Partei an, keiner Organisation, keinem Unternehmen, ich stehe für mich allein; nur in EMMA

Spätestens ab Mitte der 80er Jahre gingen die Aktivistinnen in die Institutionen, gründeten Projekte (wie ich zuvor schon die ), engagierten sich im Beruf, bekamen Kinder oder zogen sich auch zurück. Seither ist der Feminismus eine gesellschaftliche Stimmung, ein Bewusstseinszustand, den jede einzelne Frau immer wieder neu durchsetzen muss. Die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte müssen täglich neu verteidigt werden. Der Fortschritt ist keineswegs gesichert. Und es geht auch nicht automatisch voran, manchmal geht es sogar zurück.

Doch noch einmal zurück zu der Frage: Wie halte ich es aus? Da ist zu sagen, dass es auch bei dem Thema Schwarzer eine Verzerrung durch die Medien gibt. Die waren und sind oftmals auf Skandalisierung und Herabsetzung aus, weniger auf Sachkritik, die natürlich so manches Mal auch bei mir berechtigt ist. Ich meine die persönliche Diffamierung.

SPD hier

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Wie das ablief, lässt sich oft schwer festmachen: Es war ein gewisser Sound, aber es waren auch bestimmte Personen. Der Sound war

Seit Jahren wird zum Beispiel in manchen Blättern mein Name nicht mehr ohne den diskriminierend gemeinten Zusatz »Alt-Feministin« erwähnt, gleichzeitig wird die Distanzierung »junger Feministinnen« vom Feminismus der 1970er Jahre bejubelt. Doch: Was war falsch daran? Womit haben wir eigentlich nicht recht behalten? Das ist bisher noch nie gesagt worden. Darf ich eine Vermutung äußern? Weil es nicht gesagt werden kann! Denn die Themen des Aufbruchs sind auf die eine oder andere Weise alle noch immer die Themen des 21. Jahrhunderts: die Gewalt gegen Frauen, das Abtreibungsverbot, die Pornografisierung, der Frauen- und Fremdenhass, sexuelle Identität, das Schlachtfeld Körper, der Gendergap beim Lohn, nicht ausreichende Partizipation an der Macht, unzureichender Einsatz von Vätern und Vater Staat bei den Kindern etc. etc.

Allerdings ist diese Kritik keine reine Generationenfrage. Ich kenne auch ganz andere junge Frauen. So haben zum Beispiel alle acht -Leserinnen-Analysen über vierzig Jahre immer wieder ergeben, dass die jüngsten Leserinnen aller Frauenzeitschriften und Politmagazine hat: zuletzt waren 22 Prozent unter 30 und 48 Prozent zwischen 30 und 50. Und bei meinen Lesungen ist das Publikum in neutralen Sälen (also Orten, die weder überwiegend von Älteren noch Jüngeren frequentiert werden) sehr gemischt, in etwa in Relation zur Bevölkerung. Und auch die direkten Briefe an mich von jungen bis zu ganz jungen Frauen nehmen gerade in den letzten Jahren zu. Sie sind heute die Verlorenen, wissen nicht, wohin. Den Vogel schoss jüngst die zehnjährige Helena aus Tübingen ab. Sie hat mir zusammen mit ihren Eltern einen kleinen Apfelbaum in die Redaktion gebracht, weil ich ihr »Vorbild« bin.

EMMA

Als wir neuen Feministinnen vor einem halben Jahrhundert

Diese selbst ernannten »Intersektionalistinnen« und »Anti-Rassistinnen« beziehen ihre Slogans und Texte in der Regel nicht aus gelebten Erfahrungen, sondern aus einer importierten Ideologie – so wie einst die linken Feministinnen aus den sozialistischen Staaten. Damals musste eine Frauenrechtlerin zehn Mal »Klassenkampf« sagen, bevor sie es überhaupt wagen konnte, auch nur einmal vom »Geschlechterkampf« zu sprechen. Heute muss eine solche »Neofeministin« zehn Mal »Anti-Rassismus« sagen – und die Frauen verschwinden schließlich ganz hinter dem ideologischen Konstrukt der Identitätspolitik. Es gibt sie nicht mehr. Sie sind abgeschafft, zugunsten von zig Geschlechtern, den LGBT*/QA+.