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Mein Vater war eine Sturzgeburt. Er und ein Pelzmantel wurden Opfer der Bridgeleidenschaft meiner Großmutter, die, obwohl die Wehen einsetzten, unbedingt noch die Partie fertigspielen mußte. Bis auf ein einziges dramatisches Mal hat meine Großmutter alle Partien ihres Lebens fertiggespielt, denn eine Partie in der Mitte abzubrechen war unzumutbar. Deshalb hätte sie über den Karten beinahe die Geburt meines Vaters versäumt. Oder besser gesagt: Deshalb wäre mein Vater beinahe unter einem mit grünem Filz bespannten Kartentisch zur Welt gekommen, was übrigens seinem Charakter und seinem Lebensweg gar nicht schlecht entsprochen hätte.

Das einzige, was meiner Großmutter im Leben Freude machte, war Bridge. Sie saß, wie an fast jedem Tag seit jenem, an dem sie meinen Großvater geheiratet hatte und aus einem kleinen mährischen Dorf nach Wien gezogen war, mit ihren Bekannten im Café Bauernfeind und spielte. Das war ihre Art, mit der Welt, die ihr selten behagte, fertig zu werden. Sie verschloß davor die Augen, ging ins Kaffeehaus und spielte Bridge.

An jenem Tag, als mein Vater geboren wurde, verzögerte sich die Partie. Es wurde noch Kaffee bestellt. Die Wehen schienen nicht stärker zu werden, und die Bridgepartnerinnen meiner Großmutter kümmerten sich

Diejenige, die immer die Abrechnung führte, war eine von denen, die nicht rechnen konnten. Sie verwechselte oft die Kolonnen, ob aus Konzentrationsmangel oder aus Unredlichkeit, weiß heute niemand mehr. Denn sie irrte sich auch zu ihren eigenen Ungunsten. Darüber hinaus hatte sie eine sehr kleine, verschnörkelte Schrift, gerade bei Ziffern.

Die dritte, die immer Kredit wünschte, war nur bereit, ihre Schuld vom vorvergangenen Tag zu bezahlen. Am vergangenen Tag hatte sie auch verloren, aber mehr. Und am meisten verlor sie an jenem Tag, an dem mein Vater geboren werden sollte. Das nun wollte sie aber am allerwenigsten bezahlen. Von der vierten weiß ich nichts.

Der Zahlkellner vom ›Bauernfeind‹ kam lange nicht. Er war ein stadtbekannter Feschak, und die Damen, mit Ausnahme meiner Großmutter, pflegten mit ihm kindisch zu kokettieren. Meine Großmutter kokettierte nie. Irgend etwas in ihr war schon früh erfroren, sie war eine blasse, rotblonde Schönheit, die der Welt bloß ironische Strenge zeigte. Sie tobte nur zu Hause. Ihr Busen war sagenhaft. Der Zahlkellner vom ›Bauernfeind‹ behandelte sie ausgesucht. Er war mindestens zehn Jahre jünger als sie, und wobei sich die Bridgepartnerinnen ihn und meine Großmutter gerne vorstellten, hätten sie bei ihrer Seele nicht laut gesagt, nicht einmal heimlich, zueinander. Dabei hatte der

 

Mein Onkel, der damals sieben Jahre alt war, erwachte, als das Licht anging. Er schlief auf einem schmalen Sofa, das quer zum Ehebett seiner Eltern an dessen Fußende stand. Er erwachte, weil es plötzlich hell war und weil seine Mutter schrie. Sie lag in ihrem Pelzmantel, einem schwarzen Persianer, quer über dem Ehebett. Mein Großvater schrie auch, aber von der Tür her. Außerdem schrie mein Vater, der, wie es später immer wieder erzählt wurde, einfach herausgerutscht war und den Pelzmantel verdorben hatte.

Mein Vater schrie, weil das für ein Neugeborenes normal ist. Zeit seines Lebens würde mein Vater die Dinge gewissenhaft so machen, wie er sie für normal hielt, auch wenn ihm das objektiv selten gelingen sollte. Die Einstellung meiner Großmutter zu dieser letzten Schwangerschaft und diese Geburt selbst erforderten es allerdings besonders, sich von Anfang an so normal wie möglich zu verhalten. Denn meine Großmutter, bereits über vierzig, hatte dieses dritte Kind nicht haben wollen. Sie hatte mit Stricknadeln, heißen Sitzbädern und mit Vom-Tisch-Springen versucht, es loszuwerden. Sie erzählte das später gern.

Aber mein Vater war den Stricknadeln ausgewichen und hatte sich bei den Sprüngen angeklammert, so müsse es gewesen sein, sagte man in meiner Familie später immer und nickte dazu. Über die heißen Bäder sagte man nichts. Er wollte es ihr dann recht machen, indem er schnell und schmerzlos herausrutschte, aber meiner Großmutter hat es selten jemand recht machen können. Mein Vater hatte

Meine Großmutter schrie, weil die Hebamme noch nicht da war. Weil das Kind noch an der Nabelschnur hing und alles voll Blut war. Weil mein Großvater weder in der Lage schien, das ältere Kind, meinen Onkel, aus dem Zimmer zu entfernen, wie meine Großmutter es für passend gehalten hätte, noch sich anzuziehen und einen Arzt oder die Hebamme holen zu gehen.

Mein Großvater, dessen Lieblingstonart eigentlich das halblaute, mürrische Schimpfen war, das man in Wien »keppeln« nennt, schrie, weil meine Großmutter schrie. Anders hätte er sich kaum Gehör verschafft. Außerdem lagen auch seine Nerven bloß. Das Bild, das sich ihm auf seinem Ehebett bot, war ebenso grotesk wie faszinierend. Es muß ein wenig an die griechische Mythologie erinnert haben, von der mein Großvater allerdings keine Kenntnis hatte: Ein Wesen, halb schwarzes Schaf, halb Mensch, hatte geboren. Denn aus Scham vor ihrem Mann und ihrem Sohn hielt meine Großmutter den Pelzmantel über ihrem Unterleib fest geschlossen. Sie lag halb eingerollt auf der Seite und umfing mit ihrem Körper meinen Vater, von dem nur der Kopf aus dem Mantel sah und der vor dem schwarzen, pelzigen Hintergrund besonders blutig und neugeboren wirkte.

»Du bist an allem schuld«, schrie meine Großmutter, »du hast mich zu spät abgeholt!«

»Wo ist mein Schal«, schrie mein Großvater von der Tür her, »du hättest früher nach Hause gehen sollen!«

»Du hast mir dieses Kind angehängt«, schrie meine Großmutter, »im Kasten neben der Tür!«

»Mit welcher Schickse hast du dich herumgetrieben«, schrie meine Großmutter, »du Blinder, neben der Tür, hab ich gesagt!«

»Geh, gib a Ruh«, sagte mein Großvater resigniert, der seinen Schal gefunden hatte und sich anschickte zu gehen. Denn wie jeder wußte, der ihn auch nur ein bißchen kannte, waren alle seine Geliebten immer jüdisch und übrigens meistens ebenfalls verheiratet. Noch nie hatte er mit einer Schickse ein Verhältnis gehabt. Er kannte nur eine einzige Schickse näher – die Frau, mit der er verheiratet war.

Unter diesen Umständen kam mein Vater zur Welt: als Sohn eines jüdischen Vertreters für Weine und Spirituosen und einer katholischen Sudetendeutschen, die aus der Kirche ausgetreten war.

 

Ein paar Wochen später kam die Tante Gustl, eine der Schwestern meines Großvaters, um das Kind zu begutachten. Die Tante Gustl hatte einen reichen Christen geheiratet und benahm sich seither wie eine große Dame. Ihr Vater, mein Urgroßvater, hatte schon die konfessionsübergreifende Wahl seines Sohnes, meines Großvaters, zu einem Familienskandal gemacht. Obwohl meine Großmutter aus der Nähe von Freudenthal und nicht aus Bratislava stammte, begann er, wenn die Rede auf sie kam, mißmutig den alten Schüttelreim zu deklamieren: »Zum Vesuv ging a Bratislavaer Gojte, damit sie dort gratis Lava erbeute.« Man pflegte nur den notwendigsten Kontakt. Die Eltern meines Großvaters, die aus Tarnów stammten, waren dort geblieben, wo die Einwanderung sie angespült hatte: auf der »Mazzesinsel«, ganz nah beim Augarten, in einer dieser grauen Gassen, wo es auch im Sommer kühl und feucht ist und die Stiegenhäuser nach Moder und Kohl riechen.

Als die Tante Gustl ihren Vater von ihrer bevorstehenden Heirat unterrichtete, vertraute sie darauf, daß der laute, furchterregende Skandal von einst inzwischen zu einem kleinen, depressiven Zusammenbruch geschrumpft sein würde, denn die Tante Gustl war von Jugend an äußerst abgebrüht. »Is er a Jud?« fragte ihr Vater, und er muß der Tante Gustl in diesem Moment herrlich schwach und hilflos erschienen sein. Sie trug den neuen Fuchs mit den blinkenden Äuglein um die Schultern, den der rasend verliebte Verlobte ihr erst kürzlich verehrt hatte, und sie triumphierte, innen wie außen. »Er is ka Jud, er is a Bankdirektor«, antwortete sie mit einer Wendung, die in meiner Familie sprichwörtlich geworden ist und seither auf Menschen angewendet wird, die man für harmlose Trottel hält. Denn ein solcher war, wie sich bald herausstellte, der herzensgute, jung verstorbene Adolf »Dolly« Königsberger, auch »Königsbee« genannt.

Nach ihrer Hochzeit entfaltete sich die Hybris der Tante Gustl zu voller fleischiger Blüte. Als erste unzweideutige Maßnahme wechselte die Frau Direktor Königsberger zum Kartenspielen das Kaffeehaus, denn hinsichtlich der Kaffeehäuser gab es Klassenunterschiede. Weder im ›Bauernfeind‹ noch im ›Zögernitz‹ ward sie je mehr gesehen, man munkelte, sie säße an den Kartentischen der Ringstraße, dort, wo die Hofratsgattinnen und Fabrikantenwitwen vom guten Leben zu solcher Fülle angeschwollen waren, daß ihre mehrreihigen Perlenketten fast horizontal auf den weißgepuderten Dekolletés ruhten. Noch war die Tante Gustl nicht so üppig, doch sie hatte die Anlage dazu.

Die Tante Gustl beugte sich also prüfend über meinen Vater, so daß ihr Kreuz knapp über seiner kleinen Nase baumelte, und sagte: »Schaut aus wie der Zahlkellner vom ›Bauernfeind‹.« Mein Vater sah sie mit seinen babyblauen Augen, die diese Farbe sein Leben lang behalten sollten, an, griff nach dem Kreuz und riß es ab.

Mein Großvater hat sich dann geweigert, die kaputte Kette zu bezahlen, weil er es für unmöglich hielt, daß ein Säugling eine Kette abreißen konnte, an der nicht zumindest ein Glied schon schadhaft gewesen war. Sie solle froh sein, daß das Kind ihn abgerissen und sie den Mühlstein nicht im Kaffeehaus verloren habe, sagte er zu seiner Schwester, denn woher wolle sie wissen, wie ehrlich ihre Christen seien. Andererseits, höhnte er: Ein solches Trumm hätte sie wahrscheinlich überall aufschlagen hören.

Später, wenn die Rede auf die Tante Gustl kam, sagte er

 

Die ersten Jahre im Leben meines Vaters verliefen weitgehend normal. An der Hand seiner schönen, strengen Mutter ging er jeden Tag ins Kaffeehaus, wurde zwischen die Kartenpartnerinnen meiner Großmutter gesetzt, die ohnehin nichts anderes wahrnahmen als ihre Bridgekarten und, aus den Augenwinkeln, den Zahlkellner, und wurde angeherrscht, wenn er mit den Beinen baumelte. Zwischen den einzelnen Spielen, wenn sich die Aufmerksamkeit zweier Spielerinnen vorübergehend ganz dem tänzelnden Zahlkellner zuwenden konnte, während diejenige, die die Abrechnung führte, unkonzentriert ihre winzigkleinen Zahlen schrieb, zischte meine Großmutter gelegentlich: »Sitz gerade!«

Mein Vater war ein stilles, freundliches Kind. Bevor er sprechen konnte, konnte er Bridge spielen. Der Familienlegende nach soll sein erstes Wort »Rubber« gewesen sein. Die in höchstem Maße unkindliche Konzentration, mit der mein Vater stundenlang dem Lauf der Karten folgte, war erstaunlich und wäre in jeder anderen Familie aufgefallen. In dieser Familie dagegen wäre alles andere als Katastrophe empfunden worden.

Im Alter von vier Jahren besaß mein Vater ein eigenes Paket Karten. Als er ein Jahr später die ersten Versuche unternahm, den Bridgepartnerinnen meiner Großmutter verstohlen Tips zu geben, indem er bei bestimmten ausgespielten Karten die Augen verdrehte, wurde sein Bruder

Als mein Vater und mein Onkel nach einem solchen Tag nach Hause gingen, fürchteten sie das Geschrei meiner Großmutter. Sie würde meinen Onkel beschuldigen, daß er

»Was tut sie für mich?« fauchte meine Großmutter.

»Sie wäscht dich, sie versorgt dich, sie ist gut zu dir«, sagte mein gepeinigter Vater, dem die Bosheit meiner Großmutter der Nonne gegenüber genauso unangenehm war wie die Notwendigkeit, seine Mutter an ihre körperlichen Gebrechen erinnern zu müssen.

»Gut ist sie?! Was weißt denn du«, fauchte meine Großmutter, »sie ist eine Schlange im Wolfspelz!«

 

Meinem Vater war nur eine einzige Karte geblieben. Er hatte sie in Panik und ohne nachzudenken an sich gerissen und selbst unter all den Tritten und Knüffen nicht mehr losgelassen. Sie war, als er auf dem Heimweg seine Faust öffnete, kaum mehr als ein angstfeuchter Knödel.

 

Als sie nach Hause kamen, war nichts wie sonst. Schon im Stiegenhaus begegnete ihnen die glutäugige Tante Gustl, ein seltener Gast. Grußlos rauschte sie auf einer Parfumwolke dem Haustor entgegen, doch warf sie ihnen von dort noch einen letzten Blick zu, der fast menschlich war. In der Küche saß die Mutter und sah aus, als wäre sie endgültig eingefroren. Sie schaute die beiden eine Weile an, dann erst begann sie mechanisch zu schimpfen. Irgendwie hat ihr dabei aber die Kraft gefehlt, es war, als schimpfe sie aus Pflichtbewußtsein, um eine Tradition aufrechtzuerhalten, die es seit einer halben Stunde nicht mehr gab. Sogar an diesem Tag hat sie geschimpft, sagte man in meiner Familie später so anerkennend wie ein wenig schaudernd, grinste dann und nickte dazu.

Auch mein Großvater war zu Hause, er lief nervös auf und ab, sein plötzlich überflüssig gewordenes Auftragsbuch, mit dem er bis vor wenigen Tagen von Kaffeehaus zu Kaffeehaus, von Greißler zu Greißler, von Wirtshaus zu Wirtshaus gegangen war, um die Nachbestellungen an Wein und Spirituosen aufzunehmen, gedankenlos und nur noch aus Gewohnheit unter dem Arm. Äußerlich war er wie immer, gepflegt, feucht gekämmt, in einem frisch gebügelten Maßhemd mit Monogramm, immer ein bißchen ein Stutzer, ein Lebemann. Doch seine nervöse Unruhe übertraf das übliche Maß bei weitem.

Von diesem Tag an hat mein Onkel, der bisher davon nichts wissen wollte, ganz von selbst die Verantwortung für meinen kleinen Vater übernommen. Er zog ihm die kaputten Schuhe aus, wusch ihm die Knie und legte ihn schlafen.

Nach dem Ende seiner Laufbahn lebte Herr Hermann zurückgezogen. Anders als mein Großvater, der jedes Wochenende mit der Straßenbahn auf die Hohe Warte zum Match fuhr, ging er nur noch ganz selten, bei besonderen Anlässen, ins Stadion, meistens, wenn ihn die Funktionäre des »First Vienna Footballclub« liebedienerisch auf die Ehrentribüne einluden. Wahrscheinlich mußte Herr Hermann aufs Geld schauen. Herrn Hermanns Frau war kränklich, sein Sohn zum Fußball untalentiert. »Ob der auch schon spielt«, hatte er indigniert im Stiegenhaus meinem Großvater auf dessen Frage geantwortet, »und wie der spielt! – Nur wissen Sie was: Der spielt Geige!« Dieser Hermann-Pepi, wie er im Wiener Jargon verkehrt herum genannt wurde, hatte die Nachricht gebracht, und er brachte sie am selben Tag auch Herrn Eisenstein, der ein paar Häuser weiter in einem Souterrain das Ledergeschäft betrieb. Herr Eisenstein war, jedenfalls in den Augen meines achtjährigen

 

Die Welt war mit einem Schlag zu einem Abenteuer geworden, zu einem Glücksspiel, das er noch nicht kannte. Versonnen saß mein Vater hoch oben auf dem Wagen, der Möbel und ein paar Kisten durch die Stadt zog, weit weg von den Beserlparks am Gürtel hin in eine Gegend, wo es wunderbare große Wiesen gab, in den krummen Gassen aber nach Kohl und Moder roch. Schon hatte er den Gesichtsausdruck des unsportlichen Hermann-Buben vergessen, wie der mit seinem Geigenkasten plötzlich in der Wohnung stand, verlegen und doch auch mit einem kleinen, stechenden Selbstbewußtsein, das an diesem Tag zum ersten Mal zu bemerken war. Und bald würde er auch die paar düsteren Monate mit seiner Großmutter in der Wohnung beim Augarten vergessen, den beengten Raum, das Gejammere der alten Frau, die erst kürzlich verwitwet war – »immerhin, für den Großvater noch ein Glück«, kommentierte man in meiner Familie später immer –, er vergaß den unangenehmen Geruch, der aus ihren vielen schwarzen Röcken stieg, und das Gelächter, das sich ihm aufdrängte, wenn er daran dachte, daß sie, so dick, schwarz und asthmatisch, die fünf Stöcke nicht mehr hinunter- und hinaufsteigen und daher die Wohnung kaum mehr verlassen konnte. Er durfte noch ab und zu in den Augarten, scharf bewacht von seinem Bruder. Bald wurde es dazu zu kalt. Er vergaß das

Am Tag vor der Reise ließ meine Großmutter ihre beiden Söhne im Atelier »Purr & Kubla« fotografieren. Sie war so kühl und kerzengerade wie immer. Die Kinder trugen Anzüge und perfekt gebundene Kinderkrawatten, auf die Hemden hatte ihnen mein Großvater heimlich ihr Monogramm sticken lassen, eine Eigenmächtigkeit und völlig unnötige Ausgabe, die meine Großmutter mit den üblichen Vorwürfen geahndet hatte. Die abstehenden Ohren meines Vaters waren leider durch nichts zu kaschieren, mein Onkel, dessen Ohren ordentlich anlagen, wie meine Großmutter mit Genugtuung bemerkte, sah kaum älter aus, dabei war er schon fünfzehn. Der Fotograf behandelte meine Großmutter ausgesucht. Wegen ihrer klaren, korrekten, dialektfreien Sprache hielt man sie für eine Deutsche, das würde noch oft so sein, zur Zeit war es von Vorteil. Nur deshalb hatte sie überhaupt einen Termin bekommen, und weil die Frau Direktor Königsberger Stammkundin war, sonst wäre das, so kurz vor Weihnachten, wohl kaum möglich gewesen. Sie zeigte keine große Dankbarkeit.

»Purr & Kubla« war ein bekanntes Atelier, sie fertigten schöne starre Bilder an. Also muß es an der Eile und dem eingeschobenen Termin gelegen haben, vielleicht war der Meister auch wegen des majestätischen Anblicks meiner Großmutter oder wegen der bewegten Zeiten nicht ganz

Am nächsten Tag fuhr man zum Westbahnhof. Man nahm ein Taxi, wieder eine völlig unnötige Ausgabe, und das in diesen Zeiten, doch hat meine Großmutter sich diesmal nur mechanisch widersetzt. Den Moment des Abschieds von den Eltern in der Halle hat mein Vater sofort und für immer vergessen, denn am Bahnsteig warteten schon Scharen von anderen Kindern, und scheinbar nur auf ihn. Er begann sofort mit ihnen zu spielen, ein zutrauliches Strahlen im Gesicht. Plötzlich wurden einige grob, sie rupften am Quastl seiner warmen Zipfelmütze, »diesn Wollknäul, der da drang’hängt is, den wolltns ma runterreißn«, erzählte er später, er wehrte sich, er weinte, dann schrie er gellend, endlich drängte mein Onkel die schlimmsten Sekkierer weg. Schließlich, im Zug, war das Quastl dennoch verschwunden, abgerissen, zurückgeblieben, irgendwo am Bahnsteig am Westbahnhof. Mein Vater lachte schon wieder. Der Zug zischte. Er saß in einem Abteil neben einem hübschen kleinen tränenverschmierten Mädchen und zog lockend die Karten mit den Schellen und den Eicheln aus der Tasche. Das Mädchen hatte noch nie geschnapst. Sie hatte auch keine Einsätze zu bieten, keine Murmeln, keine Knöpfe, keine Manner-Toffees. Nach kurzer Überlegung spielte mein Vater trotzdem mit ihr. Sie war hübsch genug. Zwar gewann er Spiel um Spiel – »was willst da groß erwarten«, würde er später in vergleichbaren Fällen sagen, wo er sich für Schönheit vor Talent entschieden hatte –, doch schenkte er ihr am Ende sogar ein Manner-Toffee, quasi zum Trost. Draußen zog die Heimat vorbei. Die Betreuer waren sorgsam, die älteren Kinder, darunter mein Onkel, zornig und bedrückt. Mein Vater hat davon nichts bemerkt. In einem fernen Bahnhof reichten unwahrscheinlich freundliche Frauen den Kindern Obst und

 

Glühend vor Fieber erwachte mein Vater in einem Krankenhaus. Schwestern mit hohen weißen Hauben sprachen zu ihm, sie rüttelten ihn, sie schrien ihn an, doch er verstand sie nicht. Alle Kinder waren verschwunden, auch mein Onkel, sein Bruder, seine Karten sowieso. Mein Vater war zum ersten Mal in seinem Leben allein und tief verzweifelt. Er schluchzte babyblaue Tränen. Er biß vor Nervosität auf seinen Lippen herum. Wenn die Schwester das sah, schlug sie ihm im Vorbeigehen mit der flachen Hand auf den Mund. Als er ihr ängstlich von einem kleinen Bedürfnis berichtete, wandte sie sich verständnislos ab. Mein Vater pinkelte ins Bett. Das sollte nicht das Schlimmste bleiben. Das Schlimmste wurde von der Schwester bald am Geruch entdeckt. Dann saß er, achtjährig, auf einem kleinen Kindertopf, zwischen den hohen Betten. Die Holzpantoffeln der bösen Schwester klapperten auf dem Steinfußboden hin und her, die langen Bettenreihen entlang. Sie ließ ihn zur Strafe auf dem Topf sitzen. Seine nackten Füße wurden eiskalt. Hundert Jahre später, es war schon ganz finster, wurde er von einer Nachtschwester beim Kontrollgang dort gefunden. Sie schüttelte den Kopf, machte ein paar freundliche Geräusche und legte ihn wieder ins Bett. Sie wärmte ihm sogar noch kurz mit ihren Händen die kleinen Füße.

Mein Vater hatte auch als Erwachsener ungewöhnlich kleine Füße. »Die besten Fußballer haben kleine Füße«, sagte er gern, und dann zogen wir Kinder immer gleich die Schuhe aus und verglichen unsere Füße mit seinen. Mein Bruder hatte schon als Zehnjähriger größere Füße als mein Vater, davon nahm eines seiner vielen angeblichen Kindheitstraumata seinen Ausgang. Als er als Student im

Meine Schwester hatte mittelgroße Füße, sie behauptete daraufhin, ein mittelguter Fußballer zu werden. »Das ist doch nichts für Mädchen«, sagte mein Vater und schüttelte verständnislos den Kopf, »nimm lieber deinen Schläger und geh an die Wand.«

Wie mein Vater feststellen mußte, arbeitete die Nachtschwester, eine junge Inderin, ausschließlich nachts. Am nächsten Tag war die böse Schwester wieder da, das Klappern der Holzpantoffeln zeigte es schon von weitem an. Sie brachte Essen, das mein Vater nicht wollte. Er drehte den Kopf weg. Sie hielt seinen Kopf mit einer Hand am Kinn fest, zwängte ihm mit den Fingern den Mund auf und schob das Essen, einen braunen Brei, hinein. Mein Vater würgte. Sie stieß mit der Gabel nach, als ob sie eine Gans stopfe. Er schluckte. Beim fünften Mal erbrach er sich. Sie fragte ihn: »Did you like the food?« Er starrte sie an, ohne zu

Am nächsten Tag kam die Visite, kamen viele Ärzte mit Brillen und freundlichen Gesichtern, begleitet von einer summenden weißen Schwesternschar. Ein Arzt beugte sich über meinen Vater, griff ihm an die Stirn und auf die Wangen, fragte: »How are you doing?« Ganz hinten stand »seine« böse Schwester. Mein Vater konnte ihren Blick fühlen. »Very well, thank you«, flüsterte er.

»Scarlet fever«, sagte der Arzt zum anderen, »look at him. No doubt.«

»Scarlet fever«, sagte er freundlich zu meinem Vater, »that’s what you caught.«

»Very well, thank you«, flüsterte mein Vater. Der Arzt lachte und tätschelte ihm den Kopf. »Good boy«, sagte er.

Der Satz wurde symptomatisch für sein Leben. Mit diesem Satz begrüßte er erschöpft seine Pflegeeltern, nachdem er mit vielen anderen Kindern stundenlang auf einem Platz gestanden war und gewartet hatte, daß auch ihn jemand mitnahm. Mein Onkel hat das Verfahren später einen »Kinderbazar« genannt, »ohne Kritik«, wie er sagte, »aber trotzdem«. Dabei war er selbst es gewesen, der die Prozedur für meinen kleinen Vater in die Länge gezogen hatte, weil er sich erst strikt weigerte, ihn allein gehen zu lassen. Die meisten Paare, die da kamen, wollten einzelne Kinder, am liebsten kleine Mädchen. Den kleinen Buben mit den babyblauen Augen hätte auch so mancher genommen, doch niemand wollte zwei auf einmal, noch dazu, wo der zweite schon fünfzehn und nicht mehr schulpflichtig war. Ein jüdischer Schneider, der einen Lehrling suchte und

Der geeignete Mann war herzlich, aber linkisch. Er war »sehr vom Land«, wie mein Vater wohl über jeden anderen gesagt hätte, aber über seinen Pflegevater sagte er niemals etwas, das nur im geringsten ironisch gewesen wäre. Die geeignete Frau war härter als ihr Mann, von diesem schnippischen Selbstbewußtsein, das aus dem Ärger über die eigene Unsicherheit kommt. Der Mann dagegen war weich und freundlich, seine individuellen Sturheiten würden sich erst später erweisen. Er beugte sich zu meinem todmüden, eben erst genesenen Vater und fragte ihn, ob er denn nun seinem Bruder good-bye sagen und dann mit ihnen nach Stopsley kommen wolle. »Very well, thank you«, sagte mein Vater.

 

Mein Vater verlor völlig den Überblick über die Anwendung dieses Satzes, er konnte nicht mehr sagen, wann er gelogen und wann er wahr war. Im Zweifel hätte er den Satz und sich selbst immer für wahrhaftig gehalten. Sich einzugestehen, daß der Satz oft gelogen war, hätte die Erkenntnis nach sich gezogen, daß es eine Inkongruenz zwischen Sein und Sagen, zwischen Innen und Außen gab. Aber mein Vater liebte sein Leben lang die Kongruenz und die Harmonie. Also besänftigte er mit diesem Satz nicht nur eine fragende Umgebung, sondern am allermeisten sich selbst. Neun Jahre später, nach seiner Rückkehr, als er bei einer alten kranken Frau Professor Stunden nahm, um wieder Deutsch zu lernen, suchte er in ihren geduldigen, monotonen Lehrerinnen-Sätzen konzentriert nach der

Jahrelang hatte man nichts von ihr gehört, da rief eines Tages die Tante Gustl an und sagte mit anklagendem Ton, sie liege nun im Sterben. »Ich verlang nix«, sagte sie herrisch, »ich brauch nix. Ich will dich nur noch einmal sehen.«

»Um Himmels willen«, sagte mein Vater erschrocken, »ich komm sofort. Kann ich dir etwas mitbringen? Hast auf irgend etwas Lust?«

»Ich sag doch, ich brauch nix. Lust hab ich seit Ewigkeiten auf gar nix mehr. Komm einfach her«, befahl die Tante Gustl.

»Eine Kleinigkeit«, flehte mein Vater, der grundsätzlich mit leeren Händen keine Besuche machte, aber gleichzeitig immer panische Angst hatte, das Falsche zu bringen, »eine Süßigkeit?«

»Willst mich umbringen?«, fragte die Tante Gustl empört, »ich bin nur noch Haut und Knochen!«

»Na eben«, rief mein Vater, »du mußt doch essen!«

»Was brauch ich essen, wenn ich geh sterben?« fragte die Tante Gustl herausfordernd und lenkte dann gnädig ein: »Einen Apfelstrudel, wo du so liebenswürdig sein willst.«

Wie sich herausstellte, war meines Vaters Vetter, Tante Gustls umfassend mißratener Sohn Ferdinand, genannt Nandl, wieder einmal im Gefängnis. Diesmal war er, zum Gaudium der Lokalblätter, mit zwanzig Metern

Wegen seiner unzähligen Vorstrafen brachte ihm die Gummi- und Kolatschengeschichte umstandslos sechs Monate ein. Meinem Vater zufolge war Nandl der dümmste Verbrecher des Landes. Er hatte sich auf Scheckbetrügereien spezialisiert, die er so plump ausführte, daß er meistens innerhalb von Tagen verhaftet wurde. Mein Vater behauptete, daß bei jedem gefälschten Scheck, der auftauchte, und bei allen Schecks, die als gestohlen gemeldet wurden, als erstes überprüft werde, ob Ferdinand K. gerade im Gefängnis oder »draußen« sei. So, behauptete mein Vater, beginne in Österreich ausnahmslos jede Ermittlung in Sachen Scheckbetrug – mit der Überprüfung, ob Nandl als Täter in Frage komme oder nicht.

In einer typischen Formulierung hieß es in meiner Familie immer, »Nandls Schicksal ist angeboren«, denn Nandl sei zweifellos das Opfer eines Vererbungsdesasters: Zwar sei er so groß und gutaussehend wie sein Vater Dolly und könne so charmant und verführerisch sein wie seine Mutter, wenn sie auf etwas aus war (das war sie meistens), doch habe er Dollys begrenzten Verstand in der fatalen Kombination mit Gustls krimineller Energie geerbt. »Optisch geht er als Heiratsschwindler durch«, hatte meine Großmutter schon in Nandls Jugend, bevor er das erste Mal straffällig geworden war, bemerkt, »doch sogar dazu ist er zu dumm.«

 

»Kriminelle Energie«, fragte meine Schwester, während sie sich die Nägel lackierte, »ist die Tante Gustl denn kriminell?« Gerade in diesem Augenblick wurde das Thema gewechselt. Mein Bruder, der sich, seit er studierte, den Traditionen und Ritualen der Familie, besonders aber ihren Glaubens-, das heißt ihren Anekdotengrundsätzen heftig widersetzte, begann nämlich, eine Verteidigungsrede auf Dolly Königsbee zu halten. Dolly sei nicht beknackt, sondern im Gegenteil genial gewesen. »Er war nicht beschränkt, seine Genialität war es«, dozierte mein Bruder, »beschränkt auf ein einziges Gebiet, die Sprache.« Er stützte den Kopf in die Hand, wobei ihm seine »Johnny ohne« beinahe die Locken über dem Ohr angesteckt hätte.

»Sitz gerade«, bat mein Vater, »und rauch nicht soviel.« Mein Onkel schüttelte nur den Kopf. Er hielt meinen Bruder für »temporär querulantisch«, doch hätte er das nie laut gesagt. »Wie kann man sein genial, wenn man is sogar zu bleed fir Redensarten?« fragte mein Großvater jedes Mal aufs neue verständnislos. »Aber Opa«, sagte mein Bruder dann herablassend, »du glaubst doch nicht, diese Fehler waren zufällig?«

Dolly Königsbee war in den Anekdotenschatz meiner Familie eingegangen, weil es kaum eine Redewendung und kein Fremdwort gab, das er nicht verdreht und verunstaltet hatte. Sein Verhängnis war, daß er bei gleichzeitig hundsmiserablem Gedächtnis Fremdwörter liebte, er liebte sein »Lexikon der wichtigsten Redensarten«, sein »Handbuch geschliffener Sprache« und seine »Zitatensammlung der Antike«. Im Gegensatz zu seiner Frau war er nicht im geringsten eitel, doch er fand, es stehe einem Bankdirektor gut an, ab und zu ein klassisches Zitat einzuflechten, wenn

Deshalb liebte man in meiner Familie den Dolly Königsbee. Dutzende seiner grotesken Fehlbildungen waren im familiensprachlichen Umlauf, neue wurden hinzuerfunden; wenn ein Politiker oder ein Fußballer etwas verdrehte, was in den »Aufgelesen«- oder »Zitiert«-Rubriken der Zeitungen vermerkt wurde, johlte man in meiner Familie: »Das könnt’ vom Königsbee sein!« Die Pointenschleuder Königsbee hatte sich vom Menschen Adolf »Dolly« Königsberger völlig entkoppelt. Sprach man vom netten, aber hilflosen Vater Nandls, hieß er »Dolly«, sprach man vom gepiesackten Gatten der Tante Gustl, war er der »arme Dolly«, doch daneben existierte eine kultisch verehrte Kunstfigur namens Königsbee.

Die ältere Generation, die den früh verstorbenen Bankdirektor noch persönlich gekannt hatte, versuchte sogar seine rührend zufriedenen Mundwinkel aufzusetzen, wenn sie einen Satz mit der Wendung »wie der Königsbee gesagt hätte« begann; die jüngere Generation hatte damit zu kämpfen, daß dieser Einleitungssatz irgendwann wegfiel, weil die Urheberschaft allen hinreichend bekannt schien. So unterlief es meiner Schwester in ihrer Kindheit immer wieder, daß sie Formulierungen wie »um den Preis fleischen« oder »mit der Kirche ins Dorf fallen« verwendete oder Mitschüler als »Phariseure« beschimpfte, wie es innerhalb der Familie üblich war. Mein Bruder dagegen profitierte später sogar vom Königsbee: Er gab seinem berühmten Aufsatz über den Sportfunktionär Felix Popelnik, den er als KZ-Aufseher enttarnte, den Titel »Wie Felix aus der Asche?« – in Wahrheit ein klassischer Königsbee.

Sobald eine bestimmte Menge an zufällig passenden

»Der Königsbee war ein Genie«, schloß mein Bruder die hundertmal geübte Familienvorstellung befriedigt, »das hab ich verbal schon immer gesagt und alles andere ist letztlich primär.«

 

Die Tante Gustl thronte, gestützt von Pölstern, geschminkt und frisiert im Bett und stach gierig nach dem Apfelstrudel. Das Essen im Pflegeheim der Barmherzigen Schwestern ist seit jeher nicht berühmt. Trotzdem erstarrte sie beim ersten Bissen expressiv. »Was ist d-a-s?« fragte sie angewidert.

»Apfelstrudel«, antwortete mein Vater erschrocken.

»Von wo?!«

»Von der ›Aida‹«, sagte mein Vater.

»Wie kannst du nur«, sagte sie verächtlich, schüttelte den Kopf und aß langsam weiter. Rätselhaft ist bis heute, warum unter allem, was die Tante Gustl sich später noch an Quälereien für ihn ausgedacht hat, ausgerechnet das meinen Vater am meisten geärgert hat. »Ich brauch nix, ich verlang nix«, äffte er sie noch Jahre nach ihrem Tod grimmig nach, »aber der Apfelstrudel muß sein vom ›Demel‹, auch wenn ich lieg im Sterben.«